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Samstag, 07. Dezember 2019, 15:45 Uhr ~27 Minuten Lesezeit Das Ende der Kompromisse Wirkliche Klima- und Umweltpolitik muss radikal Prioritäten setzen und hat nichts mit einer Kohlendioxidsteuer zu tun. von Mohssen Massarrat Foto: worapot noicharoen/Shutterstock.com Der Klimawandel ist ein existenzielles Menschheitsproblem. Er kann deshalb nicht mit den gleichen politischen Instrumenten gelöst werden, die bei Alltagsproblemen vielleicht ausreichen. Also auch nicht durch Kompromisse zwischen unterschiedlichen Bedürfnissen, wenn einige davon illegitim und schädlich sind. Weder die Grundsätze der Wirtschafts- noch der Sozialverträglichkeit sollten die Politiker in ihrem Handeln maßgeblich beeinflussen. Auf das Schicksal der Geringverdiener muss bei der Konzeption

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Samstag, 07. Dezember 2019, 15:45 Uhr~27 Minuten Lesezeit

Das Ende derKompromisseWirkliche Klima- und Umweltpolitik muss radikal Prioritäten setzen und hat nichts miteiner Kohlendioxidsteuer zu tun.

von Mohssen Massarrat Foto: worapot noicharoen/Shutterstock.com

Der Klimawandel ist ein existenziellesMenschheitsproblem. Er kann deshalb nicht mit dengleichen politischen Instrumenten gelöst werden, diebei Alltagsproblemen vielleicht ausreichen. Also auchnicht durch Kompromisse zwischen unterschiedlichenBedürfnissen, wenn einige davon illegitim undschädlich sind. Weder die Grundsätze der Wirtschafts-noch der Sozialverträglichkeit sollten die Politiker inihrem Handeln maßgeblich beeinflussen. Auf dasSchicksal der Geringverdiener muss bei der Konzeption

der Öko-Wende Rücksicht genommen, mit derProfitlogik der Konzerne hingegen radikal gebrochenwerden. Dabei ist eine höhere CO2-Besteuerung nureine Scheinlösung. Wichtig wäre eine drastischeReduktion des Angebots fossiler Energieträger.

Die Grünen haben auf ihrem Bielefelder Parteitag Mitte November2019 beschlossen, einen Preis von 40 Euro pro Tonne CO2

einzuführen. Die Schülerbewegung Fridays for Future hält auchdiesen Preis für viel zu niedrig und schlägt, in Anlehnung an dasBundesumweltamt, einen Preis von 180 Euro pro Tonne CO2 vor. Bei

genauerem Hinsehen unterliegen alle drei Vorschläge meinesErachtens fundamentalen Irrtümern mit weitreichendenKonsequenzen.

Kompromiss zu einem existentiellenMenschheitsproblem?

Nun liegt das Klimaschutzpaket der Bundesregierung vor. Nachder Zustimmung des Bundestages dürfte es auch den Bundesrat —bestenfalls mit kosmetischen Änderungen versehen — passieren.Wie zu erwarten war, wurde in diesem Klimaschutzgesetz einSammelsurium von teils unzusammenhängenden Einzelmaßnahmenum den Fokus einer CO2-Steuer von 10 Euro pro Tonne CO2

zusammengeschnürt. Unter Klimaschutzexperten und in einem Teilder Medien besteht Konsens darüber, dass mit diesem Gesetz einewirkungsvolle Senkung von Emissionen kaum erreicht werden kann.Die überwiegende Mehrheit der Kritiker sieht das Problem in dergeringen Höhe der CO2-Steuer.

Die Bundesregierung versucht, ihr schwaches Klimaschutzgesetznach dem Motto Politik sei die Kunst, das Machbare möglich zu

machen, zu rechtfertigen. Bei politischen Entscheidungen zuAlltagsproblemen, vor allen Dingen bei Verteilungsfragen wie derRegelung von Mindestlohn, Grundrente, Vermögenssteuern etcetera, mag dieses Prinzip auch richtig sein. Denn jedeVerteilungsfrage erzeugt Gewinner und Verlierer, die sich zu Wortmelden und versuchen, auf ein Ergebnis zu ihren eigenen Gunstenhinzuwirken.

Der dabei erzielte Kompromiss resultiert letztlich aus denKräfteverhältnissen der betroffenen gesellschaftlichen Gruppen.

Der Klimawandel ist jedoch kein Verteilungsproblem,sondern ein existenzielles Menschheitsproblem, dassämtliche Gruppen gleichermaßen tangiert. DieGleichsetzung des Politikverfahrens zur Verhinderungder Klimakatastrophe mit dem Verfahren zur Lösungvon Alltagproblemen ist der erste Irrtum, dem dieBundesregierung unterliegt.

Der Klimaschutz kann wegen seiner existenziellen Bedeutung nichtdurch einen Kompromiss zwischen Parteien, zwischenUnternehmern und Gewerkschaften koordiniert werden. Vielmehrmuss er auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnissepolitisch entschieden und eingeleitet werden. Wenn eineKlimakatastrophe vermieden werden soll, dann müsste —menschliche Vernunft vorausgesetzt — zuallererst derwirkungsvollste Weg, und zunächst auch ohne Rücksicht auf dieKostenfrage, bestimmt und umgesetzt werden.

Im Kern geht es dabei also um nichts weniger als um denschnellstmöglichen weltweiten Ausstieg aus dem fossilen Pfad.Gemeint ist somit nicht ein bisschen Ausstieg, sondern dervollständige Ausstieg. Über den Zeitraum, in dem der Ausstieg

stattfinden muss, dürfen Naturwissenschaftler undNaturwissenschaftlerinnen streiten und sich beispielsweise aufeinen Zeitkorridor einigen. Der Ausstieg selbst dürfte jedoch nichtverhandelbar sein.

Vermengung vonKlimaschutzwirksamkeit mit Sozial-und Wirtschaftsverträglichkeit ist eineFalle

Keine Frage: eine wirksame Klimaschutzpolitik beziehungsweise derkonsequente Ausstieg aus dem fossilen Pfad ist ohne einengrundlegenden Strukturwandel unvorstellbar. Dieser stellt alleStaaten und die Weltgemeinschaft als Ganze vor neue soziale undökonomische Herausforderungen. Es ist selbstverständlich, dass einAusstieg aus der Braunkohle in Deutschland — und in jedem anderenLand auch — nicht zu Massenarbeitslosigkeit, zu Sozialabbau undzum Ruin ganzer Regionen führen darf.

Selbstverständlich ist auch, dass die bevorstehende gewaltigeHerausforderung keine ökonomischen Krisen heraufbeschwörenund auch möglichst keine Wohlstandsverluste, vor allem für dieunteren Bevölkerungsschichten, zur Folge haben dürfte. DieVermengung dieser Ziele, die sich in den Begriffen von sozialgerechtem oder wirtschaftlich verträglichem Klimaschutzwiderspiegeln, stellt meines Erachtens eine Falle dar und ist derzweite Irrtum der Bundesregierung und eines Teils derKlimaschutzbewegung. Dies, weil dadurch allen interessengeleitetenBremsern Tür und Tor geöffnet wird, unter dem Deckmantel hehrerZiele einen konsequenten Ausstieg aus dem fossilen Sektor zublockieren oder ihn zumindest hinauszuschieben.

Das dem Klimaschutzpaket der Bundesregierungzugrundeliegende Politikkonzept, sich zur Geisel einesKompromisses als einzig möglicher Handlungsmaximezu machen, sorgt für den Rest. Die Vermengung vonSachverhalten, die unterschiedliche Lösungsstrategienerfordern, suggeriert zudem, es gäbe tatsächlich einInstrument, mit dem man die ZieleKlimaschutzwirksamkeit sowie Sozial- undWirtschaftsverträglichkeit gleichzeitig verwirklichenkönnte.

Tatsächlich handelt es sich bei dem Ziel des sukzessiven Ausstiegsaus dem fossilen Pfad jedoch um eine eher technisch konzipierteHandlungsebene, während Sozial- und WirtschaftsverträglichkeitZiele sind, die flankierend dazu in allererster Linie auf derHandlungsebene der Verteilung von Wertschöpfung, beispielsweisedurch Subventionen, Steuernachlässe et cetera, entschiedenwerden müssen. Für den Ausstieg aus fossilen Energieträgern bedarfes auf nationaler und internationaler Ebene eines Masterplans, indem auf der Basis des jeweiligen CO2-Ausstoßes und der

geographischen Lage der Vorkommen eine Rangliste für effizienteAusstiegsschritte erstellt wird. Aufgrund der vergleichsweisehöheren CO2-Emission bei der Verbrennung müsste der Ausstieg

aus der Braunkohle rascher stattfinden. Und hinsichtlichgeographischer Standorte, vor allem ökologisch sensibler Regionen,erfordert der Ausstieg eine weitere Prioritätensetzung.

Die Politik müsste also für den konsequenten Ausstieg aus derfossilen Energie erst einmal — und zwar kompromisslos — einensolchen wissenschaftsbasierten Masterplan erstellen. DieEntscheidung darüber, wie die Umsetzung eines solchenMasterplans sozialverträglich und ökonomisch krisenfest umgesetztwerden kann, wird Gegenstand des politischen Aushandelns sein.Dabei muss dann selbstverständlich ein gesellschaftlicher Konsensdurch Kompromisse, allerdings nicht um das Ob, sondernausschließlich um das Wie des Masterplans, hergestellt werden.

Erst durch eine methodisch saubere Trennung derHandlungsebenen wird es also möglich sein, Mogelpackungen wiedas Klimaschutzpaket der Bundesregierung zu unterbinden.

Marktinstrumente können nurinnerhalb eines politisch vorgegebenenRahmens ihre produktive Wirkungentfalten

Der dritte und entscheidende Fehler, dem beinahe alle denKlimaschutz unterstützenden Parteien und Bewegungenunterliegen, ist die Illusion, dass die Märkte die Transformation vonder fossilen zur erneuerbaren Energieversorgung koordinierenkönnen — man müsse dafür lediglich den richtigen Preis für dieklimaschädlichen Gase politisch festlegen. Nicht nur dieKoalitionsparteien in der Bundesregierung und die FDP als dieohnehin marktradikale Partei, sondern auch die Grünen favorisiereneine CO2-Bepreisung als das Hauptinstrument der von ihnen

angestrebten Klimaschutzstrategie. Der Unterschied unter diesenParteien ist somit nicht struktureller Natur, er besteht lediglich inder Festlegung des „richtigen“ Preises. Einzig die Linkspartei hatsich mit Bezug auf das geeignete Instrument noch nicht festgelegt.

Marktradikale haben es offensichtlich bisher sehrerfolgreich geschafft, der Öffentlichkeit einzureden,Märkte könnten außer Naturkatastrophen wieErdbeben oder Vulkanausbrüche sämtlicheWeltprobleme mit Bravour und viel effizienter,unbürokratischer und auch kostengünstiger lösen.

Man müsse nur darauf verzichten, die Märkte politisch zureglementieren und sie dadurch ihrer Wirkungskräfte zu berauben.Marktradikale schreiben damit im Grunde den Märkten

gewissermaßen in einer Propagandisten-Überhöhung wundersameKräfte zu. Jenseits einer solchen beinahe religiös anmutendenErzählung sind Märkte jedoch weder alles optimierende undWohlstand vermehrende Effizienzmaschinen, noch sind sie alleszerstörende Bulldozer.

In Wahrheit sind Märkte nichts anders als Medien, in denen ganzunterschiedliche Marktteilnehmer, Produzenten und Konsumenten,Staat und Gesellschaft, Reiche und Arme, Starke und Schwache,einander gegenüber stehen und ganz banal das Ziel verfolgen, ihrejeweiligen Interessen durchzusetzen. Wären Märkte sich selbstüberlassen, so würden Marktergebnisse allein durch die Macht derStarken bestimmt sowie durch das Beharrungsvermögen der Kräfte,die sich ihrem Wesen nach jeglichem Wandel zum Besseren mitallen Tricks zu widersetzen wissen.

So ließe sich auch das Geheimnis lüften, weshalb marktradikaleKräfte in Wirklichkeit die Parteigänger der Reichen und derMächtigen sind, die ihre wahren Absichten trickreich hinter denvermeintlich wundersamen Kräften der Märkte zu verschleiernsuchen. Klimaschutz den Marktkräften zu überlassen, käme demSachverhalt gleich, den Bock zum Gärtner zu machen. Warum dasso ist, muss näher begründet werden.

Zwei wichtige Problemfelder werden von Protagonisten der CO2-

Steuer ganz einfach übersehen:

Erstens: Die Bepreisung von klimaschädlichen Stoffen lenkt vondem eigentlichen Ziel, dem Ausstieg aus fossilen Energieträgern, ab.Die zentrale Frage nach des Rätsels Lösung, wie hundertprozentigwirksame Schritte zum Ausstieg aussehen, verliert sich hinter dervermeintlichen Preislösung. Die Frage, warum man nicht dendirekten Weg zum Ausstieg anstrebt, stellt sich offenbar überhauptnicht, wenn der indirekte Weg über die Märkte und Marktpreise alseinzig denkbare Alternative in den Vordergrund rückt.

Die CO2-Steuer ist ein End-of-Pipe-Instrument, von dem man

schon entsprechend der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten wissenmüsste, dass es das angestrebte Ziel der Verbrauchssenkung, wennüberhaupt, nur bruchstückhaft, jedoch niemals in vollem Umfanghervorbringen wird. Eine CO2-Steuer von 40 Euro pro Tonne, wie

sie die Grünen vorschlagen, bedeutet lediglich eine Preissteigerungfür den Liter Benzin von 9,5 Cent. Selbst die von der Fridays-for-Future-Bewegung geforderten 180 Euro pro Tonne CO2 würden nur

zu einer Preiserhöhung von 42 Cent pro Liter Benzin führen.

Jeder Wirtschaftswissenschaftler, jede Wirtschaftswissenschaftlerinweiß aber, dass die Preise auf Einkommensgruppenunterschiedliche Wirkungen auslösen. Reiche Konsumentenreagieren auf Preissteigerung für Treibstoffe elastisch undkonsumieren wie bisher, ändern also in der Regel ihrKonsumverhalten nicht. Sie fahren weiter SUVs und fliegen durchdie Welt. Die 9,5 oder gar 42 Cent pro Liter Benzin und diegeringfügige Verteuerung der Flugpreise würden sie ohne mit derWimper zu zucken spielend in Kauf nehmen.

Im Unterschied dazu reagieren die unteren Einkommensgruppenauf die Steigerung der Treibstoffpreise unelastisch und haben keineandere Wahl, als ihren Treibstoffkonsum unmittelbar zu senkenoder — wenn dies beispielsweise für Pendler gar nicht möglich ist —auf den Konsum anderer Produkte zu verzichten, alsoWohlstandsverluste hinzunehmen (1). Der im Klimaschutzgesetz derBundesregierung eingebaute Überprüfungsmechanismus, beiNichterreichen der Ziele nachjustieren zu wollen, behebt dasGrundproblem des Preisinstrumentes in keiner Weise.

Welchen anderen Sinn hat also dieser Umweg — am direkten Wegdes Ausstiegs aus den fossilen Energien vorbei —, als Verwirrung zuschaffen und die wirklich wirksamen ordnungspolitischenStrategien unsichtbar werden zu lassen? Glücklicherweise schaffenes einige kluge Politiker, den Trick zu durchschauen und aus dem

manipulativ herbeigeführten Konsens der Marktradikalenauszubrechen. So beispielsweise Klaus Töpfer, ehemaligerUmweltminister unter der Regierung Kohl, der in der Talkshow vonMarkus Lanz vom 22. Oktober 2019 die CO2-Steuer als Lösung des

Klimaproblems radikal in Frage stellte. In Anlehnung an eine vonAlbert Einstein aufgestellte Regel, man könne doch ein Problemnicht dadurch lösen, dass man dafür Instrumente schafft, die dasProblem überhaupt verursacht haben, präzisierte Töpfer:

„Wir machen jetzt marktwirtschaftliche Instrumente für das, was die

Marktwirtschaft geschaffen hat“.

Zweitens: Die nationale, aber auch internationale CO2-Besteuerung

entspringt einer selektiven Sicht auf die komplexe Wirklichkeit. Mansteckt den Kopf in den Sand und tut so, als würden die globalenProduzenten von Öl, Gas und Kohle die Folgen der für sieexistenziellen Entscheidungen westlicher Industriestaaten zurVerbrauchssenkung brav und ohne Gegenmaßnahmen hinnehmen.Eine solche, im Grunde neokolonialistische Sicht unterschlägtschlicht folgende Tatsache: Die Öl produzierenden Staaten aus demSüden, deren Existenz von den Öleinnahmen abhängt, schauennicht tatenlos zu, wenn die Energie konsumierenden Staaten ihneneine wichtige Finanzierungsquelle rauben würden.

Wenn als Folge einer CO2-Bepreisung der Verbrauch tatsächlich

sinken sollte, muss vielmehr damit gerechnet werden, dass dieWeltmarktproduzenten von Öl, Erdgas und Kohle im globalenSüden, wie übrigens auch im globalen Norden, grundsätzlich mitÜberproduktion und Preissenkung auf dem Weltmarkt reagierenund den Schadstoffsenkungseffekt wieder wettmachen können.Niemand kann die Anbieter fossiler Energieträger daran hindern,ihre sinkenden Einnahmen durch Produktionssteigerung zukompensieren. Ein solcher Rebound Effekt, den CO2-Steuern mit

Sicherheit auslösen würden, wird in der gegenwärtigen

Klimaschutzdebatte systematisch ausgeblendet (2).

Damit steht fest, dass ein erfolgversprechender Klimaschutz nichtgegen, sondern nur mit den globalen fossilen Anbietern zuerreichen ist. Fest steht auch, dass nationale Klimaschutzstrategienso konzipiert werden müssten, als wären sie ein Baustein einerglobalen Gesamtstrategie.

Nicht Marktgesetze, sondernOrdnungspolitik hilft dem Klimaschutz.Achtstundentag und Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) als historischeBeispiele

Zu keinem Zeitpunkt haben ungezügelte Marktkräfte in derWeltgeschichte einen fortschrittlichen Strukturwandel, sondernvielmehr menschliches Leid und Elend hervorgerufen. Die Lage derArbeiter im 18. und 19. Jahrhundert ist der beste historische Belegfür diese These. Die naturwüchsige Migration der Landbevölkerungin die Städte im europäischen Industrialisierungsprozess führtebekanntlich zu dauerhaft expandierendenArbeitskraftüberschüssen, sinkenden Löhnen und steigenderArbeitszeit. 16-Stunden-Tag, Frauen- und Kinderarbeit auch in densich rasant vermehrenden Kohlebergwerken waren keine Seltenheit.Steigende Sterblichkeitsraten und sinkendes Lebensalter, insgesamtdie Verelendung eines großen Teils der Bevölkerung warenResultate ungezügelter Marktkräfte in allen entstehendenIndustriestaaten. Statt die Effizienz zu steigern und den Wohlstandanzuheben, suchten die kapitalistischen Unternehmer ihreProfitraten durch den einfachen Weg der Lohnsenkung und auf demRücken der arbeitenden Menschen zu steigern.

Erst als der Achtstundentag erkämpft und am 1. Mai 1848 inGroßbritannien eingeführt und allmählich in allen Industriestaatenzum Standard erhoben wurde, gewannen die arbeitendenMenschen ein Stück ihrer Menschenwürde zurück. Und nicht nurdas: Erst seit Beginn dieses Zeitalters und nach der Einführungneuer gesetzlicher Rahmen für den Schutz der Arbeit, sprich dermenschlichen Naturkraft, hat meines Erachtens auch dietatsächliche Ära einer flächendeckenden Innovation undWohlstandsvermehrung im Kapitalismus begonnen.

Durch den neuen, politisch gesetzten Rahmen hat sich die Richtungder Konkurrenz und Bewegung der Marktkräfte von immer mehrVerelendung und Zerstörung der menschlichen Naturkraft hin zuKonkurrenz um mehr Innovation und im Ergebnis auch mehrWohlstand geändert. Durch den Achtstundentag und folglich dieVerteuerung der Arbeitskraft — letztlich also durch den Zwang, dieProduktionskosten durch Produktivitätssteigerung senken zumüssen — hatte die Stunde eines innovativen und Wohlstandvermehrenden Kapitalismus geschlagen. Weitere Verbesserungenzum Schutz der menschlichen Arbeitskraft wie die Vierzigstunden-beziehungsweise Fünftagewoche, die Einführung von mehrUrlaubstagen, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall et ceteratrugen ihrerseits dazu bei, dass dem Kapitalismus einmenschlicheres Antlitz übergestülpt wurde (3).

Wie wir aber wissen, ist die neue Ära des Kapitalismusdazu übergegangen, den von der Arbeiterbewegungerkämpften höheren Standard für den Schutz dermenschlichen Naturkraft durch die Zerstörung derUmwelt und insgesamt der Naturkräfte wieder zusubstituieren, die Externalisierung der sozialen Kostenalso nunmehr durch eine Externalisierung derUmweltkosten zu ersetzen beziehungsweise zuerweitern.

Der massive Ausbau der Produktion zunächst von Kohle, dann von

Erdöl und Erdgas und schließlich der Erzeugung von fossilenEnergieträgern durch die Fracking-Technologie sowie letztlich dermenschengemachte Klimawandel insgesamt gehören allesamt zurneuen, auf Umweltzerstörung basierenden Ära des Kapitalismus —des Kapitalismus im Westen und des Staatskapitalismus im Osten.Daher stehen wir heute an einer neuen Schwelle, mit Hilfe vonwirksamen, mit dem Achtstundentag vergleichbarenordnungspolitischen Instrumenten und Regularien erneut dieRichtung der Marktkräfte für den Schutz der Umwelt und desKlimas zu verändern.

Das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), das erstmalig inDeutschland entwickelt und seit April 2000 in Kraft getreten ist, istim Lichte dieser historischen Betrachtung der erste wichtige Schrittin Richtung eines strukturellen Wandels hin zum Klimaschutz durchgezielte Lenkung der Marktkräfte zu einer Energiewende. Durchdieses Gesetz wurden einerseits die Betreiber verpflichtet, ihreStromnetze den Erzeugern von Solar- und Windkraftstrom zurEinspeisung von erneuerbarem Strom bereitzustellen, den Strom zueinem Rentabilität sichernden Preis zu vergüten und die Differenzdurch Umlage (EEG-Umlage) auf den Verbraucherpreis zufinanzieren.

Mitnichten wurde also die Energiewende durch die alsJahrhundertprojekt aufgebauschte ökologische Steuerreform,sondern nachweislich durch das EEG, das den Marktkräften dieNeuorientierung verordnet hat, eingeleitet. Jetzt ist eingesamtgesellschaftlicher, im Grunde gar ein globalerOrdnungsrahmen gefragt, der wie eine Stellschraube dieNeuausrichtung der Marktkräfte für den sukzessivflächendeckenden Ausstieg aus dem fossilen Energiepfad reguliert.

Gesetz zum Ausstieg aus fossiler

Energieversorgung

Wenn zur Vermeidung einer Klimakatastrophe ein Ausstieg aus demSystem fossiler Energieversorgung unabdingbar geworden ist — unddaran scheint niemand mit Ausnahme der AfD einen Zweifel zuhegen —, dann ist es doch für jeden mit Durchschnittsvernunftausgestatteten Menschen plausibel, weniger fossile Energieträgenauf die Märkte zu bringen, noch besser: überhaupt weniger vondiesem Material zu produzieren. Klar sollte doch sein: Der direkteWeg der Verknappung des Angebots oder gar der Produktion vonfossilen Energieträgern ist auf alle Fälle ein Weg, der unzweifelhaftwirksamer ist, als zunächst beliebige Mengen dieser Energieträgerzu produzieren und auf die Märkte zu tragen, um sie dann mitbeträchtlichem Aufwand wieder einzusammeln.

Auf eine solche ökonomisch ineffiziente und politisch schräge Ideekönnen nur jene kommen, denen die simple Idee der direktenVerknappung entweder schlicht nicht in den Sinn gekommen ist —oder aber diejenigen, die im Grunde ihres Herzens den Ausstieg garnicht wollen und glauben, durch eine sinnlose Debatte überPreisinstrumente wie CO2-Steuer oder Emissionshandel den

Zeitpunkt für den Ausstieg hinausschieben zu können.

Unter Umweltökonomen ist es auch unstrittig, dass steigendePreise zu sinkendem Rohstoffverbrauch führen können, aber nichtmüssen, wogegen die Senkung der Produktion zielgenau zurVerbrauchssenkung führt. Es ist schon merkwürdig, dass dieKlimaschutz befürwortende Fachwelt, dieUmweltschutzorganisationen und die Grünen bisher allesamt diesenplausiblen wie einfachen Regelsatz im Kontext mit dem Klimaschutzeinfach ausgeblendet haben und — vermutlich unter dem Einflussder neoliberalen Marktideologie — beharrlich die Preisinstrumentefavorisieren.

In der Tat werden die großen Konzerne so lange auch bei demfossilen Pfad bleiben, wie es ihnen möglich ist, hinreichend Kohle,Erdöl und Erdgas auf den Märkten frei erwerben zu können. Dieökonomische Rationalität im Kapitalismus zwingt die Konzernesogar, selbst die steigenden Preise für fossile Energien in Kauf zunehmen, anstatt gewaltige Investitionen für den Ausstieg zu tätigen.Warum sollten diese auch hohe Investitionen auf sich nehmen,wenn sie dies nicht müssen. Die Konkurrenz verstärkt, beigenügend verfügbaren konventionellen Energieträgern, sogar dasFesthalten an alten Technologien. Denn jeder fürchtetWettbewerbsnachteile, wenn er früher als die anderenInvestitionskosten für neue Technologien tätigt.

Auf den nationalen und internationalen Märkten dürfte auchweiterhin eher ein Überfluss an fossilen Rohstoffen vorliegen, weilauch die Anbieter fossiler Energieträger keine Notwendigkeiterkennen, freiwillig die Produktion zu drosseln. Ganz im Gegenteilmuss damit gerechnet werden, dass — wie oben erwähnt — dieProduzenten, unter dem Druck sinkender Einnahmen, ihreProduktion steigern, sodass der Überfluss an fossilenEnergieträgern auf den Weltmärkten aller Wahrscheinlichkeit nachzunehmen dürfte. Neuere Studien belegen in der Tat, dass diemultinationalen Ölkonzerne munter die fossile Energieproduktionausweiten und dafür in den nächsten Jahren über 50 MilliardenDollar investieren wollen (4). So gesehen nehmen diese Konzernedie CO2-Steuern als Klimaschutzmaßnahme überhaupt nicht ernst.

Solange also die Politik zulässt, dass Energiekonzerneso viel Kohle, Erdöl und Erdgas auf die Märkte bringen,wie sie dadurch weiterhin Profite erzielen, solangewürde für Stahl- und Zementproduzenten auch keine, jaüberhaupt keine Veranlassung bestehen, freiwillig aufdie zunächst kostspieligen erneuerbaren Energienumzusteigen.

Die Politik könnte durch diverse Subventionen, Anreizsysteme undunkoordinierte Regularien — wie dies durch das Klimaschutzpaketder Bundesregierung der Fall ist — zwar aktionistisch an vielenEinzelschrauben drehen und dadurch auch geringfüge Erfolgevorweisen. Ein solches Verfahren ist jedoch nicht nur sehrkostspielig und zeitraubend, es ersetzt auch niemals einenMasterplan, eine gesamtwirtschaftlich einzurichtendeStellschraube, die eine zusammenführende Kettenreaktion zumAusstieg auslösen könnte.

Erst wenn allen Unternehmen und Marktteilnehmern auf derAnbieter- wie auf der Nachfrageseite ein neuer ordnungspolitischerRahmen vorgegeben wird, erst wenn die Politik von ihrerKompetenz im Interesse des Gemeinwohls und des KlimaschutzesGebrauch macht und dem zügellosen Angebot fossiler Energieneinen Riegel vorschiebt, erst dann hätten die Unternehmen keineandere Alternative, als sehr ernsthaft und rasch in dieTransformation zu investieren anstatt business as usual zubetreiben. Die Eindeutigkeit, dass das Angebot an fossilen Energienmit hundertprozentiger Sicherheit sukzessive schrumpfen wird,schafft sogar die notwendige Planungssicherheit und unterWettbewerbsbedingungen auch die Gewissheit, dass alleMarktteilnehmer vor ein und dieselbe Alternative gestellt sind, derniemand entrinnen kann.

Ein glaubwürdiger Klimaschutz braucht insofern nach demTeilerfolg des EEG ein Gesetz zum flächendeckenden Ausstieg ausden fossilen Energien. Ein solches Gesetz müsste die sukzessiveVerknappung von Kohle, Erdöl und Erdgas in Deutschlandsystematisch koordinieren und wissenschaftsbasierte verbindlicheEckpunkte enthalten sowie sich an den wissenschaftlich ermitteltenKlimaschutzzielen des UN-Weltklimarats (IPCC) und an den imPariser Klimaschutzabkommen festgelegten Reduktionzielenorientieren.

Legte die Politik den notwendigen Rahmen für diesen konsequentenAusstieg durch sukzessive Verknappung des Angebots fest, sowürden zunächst die Energiepreise steigen und so könnte dannauch die von der FDP und anderen stets angemahnteTechnologieoffenheit und der Wettbewerb unter Hunderten vontechnisch herangereiften Optionen in allen Sektoren, im Verkehr,im Bau und in der Industrie, mit aller Wucht zum Tragen kommen.Auf diese Weise würde die Angebotsverknappungsstrategie zu einergesamtgesellschaftlichen Stellschraube mit dem wirkungsvollstenLenkungseffekt.

Diese würde sämtliche Marktakteure im Privatsektor zwingen,selbst, und zwar ohne staatliche Anreize, an der Transformation hinzu erneuerbaren Energien flächendeckend mitzuwirken. Nur soentstünde auch eine für alle beteiligten Akteure erkennbare undverbindliche Gesamtstrategie aus einem Guss, die wie ein Magnetdie Interessen — mögen sie noch so gegensätzlich sein —zusammenführte.

Die Verknappung von fossilen Energieträgern ist so gesehenhistorisch vergleichbar mit der Einführung der gesetzlichverknappten Arbeitszeit, dem Achtstundentag, im 19. Jahrhundert.Sie wird genauso wie damals eine neue Ära der technischenInnovation in Gang setzen und den verbindlichen Rahmen dafürbilden, damit die Marktkräfte ihre Wirkung umfassend undergebnisoffen entfalten können. Dies wird nicht nur im Privatsektor,sondern auch im öffentlichen Sektor stattfinden. Beispielsweisewerden die Kommunen dazu animiert, die kommunalenVerkehrssysteme auf der Basis von erneuerbarenEnergietechnologien zu konzipieren. Ob am Ende des Tages sichelektrische oder wasserstoffbetriebene Mobilität durchsetzt,bestimmt nicht die Politik allein, sondern auch Effizienz und Kostensind entscheidende Faktoren.

In diesem Kontext braucht die Politik keine Technologien

vorzuschreiben, wie das gegenwärtig beispielsweise durch einseitigeSubventionierung von Elektroautos beinahe flächendeckendgeschieht, ohne dass bisher nachgewiesen ist, dass die E-Technologie die beste Lösung darstellt. Sämtliche bisheraktionistisch geschaffenen, unzusammenhängenden und sichteilweise gegenseitig neutralisierenden Einzelmaßnahmen wärendann überflüssig und könnten entfallen. Die sündhaft teuren,Hunderte von Milliarden verschlingenden Anreizsysteme undSubventionen wären dann überflüssig, ebenso wie die vielenFachleute, die in zahlreichen Institutionen im Bund, in den Ländernund Kommunen — allein im Bundeswirtschaftsministerium sind es287 auf vier Abteilungen und 34 Referate verteilte Beamte —Unmengen von Daten sammeln und ihre Energie mit derKonstruktion von komplizierten wie unsinnigenFördermechanismen verplempern. Die Marktkräfte kämen so auchgenau dort zum Zuge, wo sie für die Entwicklung und Durchsetzungder besten und ökonomisch auch sinnvollsten Technologienwirklich gebraucht werden.

Für Deutschland müsste das vorgeschlagene Energiegesetz meinesErachtens folgende Eckpunkte beinhalten:

1 Das Angebot von sämtlichen fossilen Energieträgern — Erdöl, Erdgasund Kohle — wird von 866 in 2018 auf 563 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent bis zum Jahre 2030 gemäß dem PariserKlimaschutzabkommen, also um 55 Prozent im Vergleich zu 1990reduziert.

2 Die Reduktionsrate für die einzelnen fossilen Energien richtet sichnach dem jeweils spezifischen CO2-Ausstoßvolumen. Demnachmuss das Angebot an Braunkohle, die einen vergleichsweise deutlichhöheren CO2-Ausstoß als das Erdöl und einen noch höherenAusstoß als das Erdgas produziert, entsprechend schneller reduziertwerden als das Angebot von Öl; der Ölanteil müsste aus demselbenGrund rascher sinken als der Anteil von Erdgas.

3 Ein nationaler Klimaschutzrat, der aus Vertretern der betreffendenMinisterien, der Parteien und der Zivilgesellschaft zusammengesetztwird, legt unter Berücksichtigung sozial- und regionalpolitischer

Gesichtspunkte jährlich nach der unter Punkt 2 formulierten Regelden zulässigen Energiemengenmix und die jeweiligen Quoten fest,die in die Volkswirtschaft eingespeist werden dürfen.

4 Eine eigens geschaffene Klimaschutz-Agentur reguliert — inKooperation mit dem unter Punkt 3 beschriebenen Klimaschutzrat,zum Beispiel auf der Basis der durchschnittlichen Marktanteile derProduzenten und der Importeure in den letzten 10 Jahren — dieQuoten für die Produktion beziehungsweise den Import von fossilenEnergieträgern (5).

Mag sein, dass Marktradikale dieses Konzept alsÖkodirigismus abqualifizieren. Damit stellen sie jedochunter Beweis, dass es ihnen nicht um den Klimaschutz,sondern um die Verteidigung ihrer Ideologie geht.

Das ideologisch motivierte Spiel mit reinen Marktinstrumentenverschleiert eine Haltung, die praktisch auf ein Weiter so setzt.Tatsache ist jedoch, dass reine Marktinstrumente wieEmissionshandel und Ökosteuer bisher nur dazu beigetragen haben,kostbare Zeit zu verlieren, die der Klimaschutz aber längst nichtmehr hat. Jetzt muss mit marktradikalen Ideologien Schluss sein.Nur durch eine unzweifelhaft wirksame Regulierung kann auch derpolitische Wille dokumentiert werden, den menschengemachtenKlimakollaps in allerletzter Minute doch noch zu verhindern.

Parallel zu dem hier dargestellten Gesetz zum Ausstieg aus demfossilen Sektor müsste eine ähnliche Strategie für die Reduktion derin der Landwirtschaft durch Rinderzucht erzeugten Methangase, dieeine vielfach höhere klimaschädliche Wirkung als CO2 haben,

gesetzlich umgesetzt werden. Die Menschheit könnte denKlimaschutz auch als Chance betrachten, endlich auf dieökologische Landwirtschaft und nachhaltige Tierhaltungumzusteigen nach dem Motto Klasse statt Masse.

Sozialverträglicher Klimaschutz

Durch die zunächst notwendige Abkopplung des technologischunerlässlichen Ausstiegs aus dem fossilen Energiesektor vom Zielder Sozialverträglichkeit wird verhindert, dass dieKlimaschutzwirksamkeit gegen die Sozialverträglichkeit — also dieKlimaschutzbewegung gegen die Gewerkschaften — ausgespieltwird. Nachdem der Rahmen für die technologisch bestmöglichenAlternativen der Energiewende politisch gesetzt ist, müsste sich diePolitik auf die sozialverträgliche und regional sinnvolle Gestaltungder Energiewende, also auf jene Aufgabenbereiche konzentrieren,die den Marktkräften nicht überlassen werden dürfen. Zu diesenstaatlichen Aufgabenbereichen gehören:

1 Ausgleichzahlungen an untere Einkommensgruppen und besondersenergieintensive Sektoren, solange die Energiekosten als Folge desStrukturwandels im Übergangsstadium zum Zeitalter dererneuerbaren Energien steigen. Denn die Energiekosten dürftenaller Wahrscheinlichkeit nach in der Übergangsphase den genanntenGruppen erhebliche Belastungen auferlegen. Hier müssten diesedurch geeignete Ausgleichzahlungen entlastet werden. DieseAusgleichszahlungen würden allerdings in dem Maße entfallen, wiedie Energiekosten auf Grund der forcierten Innovation wieder zusinken beginnen. Dies ist mit an Sicherheit grenzenderWahrscheinlichkeit sowohl bei der Produktion von Solar- undWindkraftstrom, bei der Nutzung von Wasserstofftechnik wie auchbeim verringerten Energieverbrauch durch Einsatz effizientererTechniken zu erwarten. Die Erfahrung belegt, dass die Kosten fürden Solar- und Windkraftstrom dank steilerProduktivitätssteigerung in der Vergangenheit drastisch gesunkensind. Betrugen beispielsweise die Herstellungskosten desPhotovoltaik-Stroms 1977 über 76 Dollar pro Kilowattstunde, sosanken diese in den letzten beinahe 50 Jahren auf einenPreiskorridor, der heute um 5 bis 12 Cent pro Kilowattstundebeträgt. Hinzu kommt ein weiterer und bisher kaum beachteterkostensenkender Faktor bei der Nutzung von Sonnenenergie. ImUnterschied zu fossilen Energieträgern kann nämlich dieunerschöpfliche Sonnenkraft, damit also die Rohstoffquelle dererneuerbaren Energien, nicht monopolisiert werden. Langfristig

würden die durch monopolistisches Eigentum an denEnergierohstoffen Kohle-, Erdöl und Erdgas entstandenenGrundrenten als ein beachtlicher Kostenfaktor der gegenwärtigenEnergieversorgung gänzlich entfallen.

2 Die Bereitstellung der Infrastruktur für die Umstellung derVerkehrssysteme von Individualverkehr auf den öffentlichenVerkehr in den Kommunen, den Ländern und im Bund, insbesondereim Ausbau von Bahnverbindungen zwischen Stadt und Land, gehörtebenso zu den Aufgaben des öffentlichen Sektors. Dies bedarf einesumfangreichen Investitionsprogramms, das beispielsweise durch diefrei gewordene Subventionierung der fossilen Energien finanziertwerden könnte. Ferner müsste die Bundesregierung dieForschungsförderung massiv auf Energieeffizienzsteigerung underneuerbare Energietechnologien umstellen.

3 Auch die ethischen Fragen, wie beispielsweis die Kinderarbeit unddie Umweltfolgen etwa in Lateinamerika bei der Förderung vonLithium, Kobalt und anderen Rohstoffen für die Batterien derElektroautos et cetera gehören zum Aufgabenbereich der Politik beider Organisation der Energiewende. Anstelle von selektiven undkurzfristigen Entscheidungskriterien — Hauptsache schnellerAusbau der E-Mobilität — müssten Entscheidungskriterien zurAnwendung kommen, die ganzheitlich angelegt sind und sämtlicheökologischen und sozialen Folgen der Technikauswahl für denAusstieg aus dem fossilen Sektor in Betracht ziehen.

EU- und weltweiteVerknappungsstrategie

Diese radikale und meines Erachtens auch im Kern durchausmarktkonforme nationale Klimaschutzstrategie hilftzugegebenermaßen zuerst nur Deutschland, seiner Verpflichtungim Pariser Klimaabkommen nachzukommen, jedoch längst nichtdem Klima, das nur durch ein globales und radikales Handeln voreiner Katastrophe geschützt werden kann. Deshalb müsste dieselbeKlimastrategie der Verknappung des Angebots rasch EU-weit undselbstverständlich auch global umgesetzt werden. Dringend

erforderlich wäre dazu die Einigung der Weltgemeinschaft auf einenMasterplan zur schrittweisen Reduktion der Produktion von Öl,Kohle und Gas gemäß den vom Weltklimarat ermitteltenTreibhausgas-Reduktionsmengen.

Deutschland sollte mit der Umstellung auf die Verknappungspolitikbeispielhaft vorangehen und dadurch der globalenVerknappungsstrategie den notwendigen Anstoß geben. Zu einemglobalen Gesamtpaket für den Ausstieg aus der fossilenEnergieversorgung gehört zuallererst und umgehend die Einstellungder Nutzung von fossilen Vorräten in ökologisch sensiblen Regionen— in Regenwäldern, Lebensräumen indigener Völker,Offshoregebieten und Weltmeeren et cetera. Für die Regulierungder Verknappungsstrategie müssten dann circa 20 große Staaten,die Energierohstoffe fördern und exportieren und 100 weitereGlobal Player — Konzerne, die Kraftstoffe und Kohle vermarkten —in einen solchen Plan mit den erforderlichenSanktionsmechanismen völkerrechtlich eingebunden undkontrolliert werden. Angesichts der überschaubaren Anzahl derhandelnden Akteure kann mit einem vergleichsweise geringenAufwand verhindert werden, dass der Plan unterlaufen werdenkann.

Durch steigende Energiepreise als Folge von sinkendem Angebotvon fossilen Energieträgern bei weiterhin wachsenderEnergiegesamtnachfrage werden gewissermaßen gleich zwei sichergänzenden Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Erstens werdendie Eigentümerstaaten und Produzenten fossiler Energieträger fürein klimaschutzkompatibles Verhalten belohnt und entschädigt(Win-Win-Situation). Diese würden im Übrigen auch dann genugKapital in der Hand haben, um sich in der ihnen verbleibendenRestzeit auf die postfossile Ära umzustellen, die ohnehinunausweichlich sein wird.

Und zweitens würden klimafreundliche Energietechnologien auch

global wettbewerbsfähig, sodass dadurch die ökonomischenFundamente für eine globale Energiewende nachhaltig geschaffenwürden. Sämtliche globalen Subventionen — nach einer IWF-Studievom Oktober 2019 eine gigantische Summe von 5,3 TausendMilliarden Dollar — könnten zur Unterstützung der Energiewende inden armen Staaten des Südens, die weder über Energieressourcennoch über das erforderliche Kapital verfügen, einfließen. NeueTechnologien brauchen keine Subventionen mehr. Ab sofortentscheidet nicht mehr die Politik, welche Technologien für dieEnergieeinsparung und den Einstieg in das Zeitalter dererneuerbaren Energien Sinn ergeben, sondern allein dieVerbraucher und die Marktmechanismen.

Die zulässige Gesamtmenge an CO2 und anderen Gasen, die in die

Atmosphäre geblasen werden darf, damit die Erderwärmung die 1,5-Grad-Grenze der Erderwärmung nicht überschreitet, müsste nachEnergieart (Öl, Gas, Kohle) und Herkunft unter den Anbietern(Staaten beziehungsweise Konzernen) in einem globalen Planaufgeteilt werden. Kurzum, das Pariser Klimaschutzabkommenmüsste um einen völkerrechtlich belastbaren Vertragsabschnitterweitert werden. Darin wäre allerdings auch die Entschädigungaller betroffenen Akteure klar zu regeln, damit eine globale Einigungim Konsens — Voraussetzung des Masterplans – überhaupt möglichwird.

Aus Gründen der Klimagerechtigkeit wäre auch ein globaler Fondseinzurichten, in den beispielsweise sowohl die überflüssiggewordenen Subventionen einfließen als auch entsprechende Mittelaus allen Industriestaaten nach Maßgabe ihres bisher insgesamt indie Atmosphäre geblasenen CO2-Anteils. Man bedenke, dass die

unvermeidlich mit dieser Klimaschutzstrategie verbundenen Kostenden gigantischen klimaschädlichen Subventionen gegenüberstehen,die eingespart werden könnten. Man bedenke ferner, dass dieKosten einer sonst zu erwartenden Klimakatastrophe unermesslichsein dürften und den nachfolgenden Generationen als eine ethisch

unverantwortliche und unvorstellbare Last aufgebürdet würden, diewir als vorausgehende Generationen ihnen zugemutet haben. Ausdieser Sicht wäre es nachvollziehbar, dass die hier vorgeschlagenefossile Verknappungsstrategie eine ökonomisch kostenneutrale odergar gewinnbringende und zugleich auch eine sozial und ethischgerechte Alternative ist.

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Quellen und Anmerkungen:

(1) In der Ökonomie wird dieses Phänomen durch den BegriffElastizität erfasst. Man spricht von Preiselastizität der Nachfrageoder Verbrauchselastizität des Preises. Selbst die durchschnittlichePreiselastizität der Nachfrage bei Energie beträgt 0,2, ist also sehrniedrig, weil für eine unmittelbare Verbrauchssenkung die gesamteInfrastruktur (beispielsweise alternative Verkehrsmöglichkeiten etcetera) einfach fehlt und die Konsumenten daher nur dann ihrKonsumverhalten ändern können, wenn ihnen beispielsweiseMobilitätsalternativen bereitgestellt werden.(2) Verfechter von Ökosteuern in den 1990er Jahren, wiebeispielweise Ernst Ulrich von Weizsäcker, glaubten diesemRebound Effekt durch weitere Anhebung der Ökosteuern begegnenzu können. Doch übersahen sie, dass dadurch eine Spirale derSenkung der Weltmarktpreise zu Lasten der Produzenten auf dereinen Seite und der Anhebung der Ökosteuern auf der anderen Seiteund zu Gunsten der Konsumenten in Gang kommt, die allein denEffekt hätte, die Renteneinnahmen zu Gunsten der Industriestaatendes Westens umzuverteilen, jedoch keinen Klimaschutzeffekt.(Näheres dazu Mohssen Massarrat, 2000: Das Dilemma derökologischen Steuerreform, Marburg, S. 206ff.). Hans-Werner Sinnschlägt in seinem 2008 erschienenen Buch „Das grüne Paradoxon“vor, diesen Mechanismus bewusst zu einer Süd-Nord-Umverteilungvon Ölrenten einzusetzen. Siehe ausführlicher Mohssen Massarrat,2012: Klimaimperialismus. Hans-Werner Sinns Lösungsvorschlag fürdas „grüne Paradoxon“, in: Junge Welt vom 27.08.2012 (3) Die neoliberale Konterrevolution in den letzten 4 Dekaden ist

ganz im Sinne dieser Analyse ein historischer Rückschlag gegen denSchutz menschlicher Arbeitskraft und für die Entmenschlichung desKapitalismus selbst (Näheres dazu Mohssen Massarrat, 2017:Braucht die Welt den Finanzsektor?, Hamburg)(4) Frankfurter Rundschau vom 11.September 2019.(5) Das hier dargestellte Gesetz stützt sich auf langfristigeForschung des Autors, die sich unter anderem in folgendenausgewählten Quellen niedergeschlagen hat: Mohssen Massarrat,1993: Endlichkeit der Natur und Überfluss in der Marktökonomie,Marburg; derselbe, 2000: Das Dilemma der ökologischenSteuerreform; derselbe, 2008: Eine neue Philosophie desKlimaschutzes, in: Elmar Altvater/Achim Brunnengräber (Hrsg.),2008: Ablasshandel gegen Klimawandel, Hamburg; derselbe, 2015:Dekarbonisierung braucht einen Masterplan, in: FrankfurterRundschau vom 15.07.2015; derselbe 2018: Der Markt kann keineEnergiewende, in: Frankfurter Rundschau vom 16.Oktober 2018;derselbe 2019: Das Klima kann nur durch ein globales Handeln voreiner Katastrophe geschützt werden, in: Online-Ausgabe derFrankfurter Rundschau vom 6. Juni 2019.

Mohssen Massarrat, 1942 in Teheran geboren, lebt seit1960 in Deutschland, absolvierte zunächst einingenieurwissenschaftliches Studium, promovierte inPolitik- und habilitierte dann inWirtschaftswissenschaften. Bis zu seiner Pensionierungim Jahr 2007 war er Professor für Politik- undWirtschaftswissenschaften. Er veröffentlichte zahlreicheBücher und Artikel zu den Themen Kapitalismus, Energieund Ökologie, nachhaltige Entwicklung, globaleRessourcenkonflikte, Mittlerer Osten, Iran sowieFriedens- und Konfliktforschung. Zuletzt erschien von

ihm „Braucht die Welt den Finanzsektor?Postkapitalistische Perspektiven“.

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