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Sarah DessenJust Listen

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Sarah Dessen, geboren 1970,aufgewachsen in North Caro-lina, lebt mit ihrer Familie inChapel Hill, North Carolina,und unterrichtet Creative Wri-ting an der University ofNorth Carolina. Sie ist eineder meistgelesenen Jugend-buch-Autorinnen in den USAund auch in Deutschland

wächst ihre Fangemeinde mit jedem Buch. Viele Romanevon Sarah Dessen wurden preisgekrönt und stürmen seitihrem Erscheinen in den USA die Bestsellerlisten. Mehrüber die Autorin unter www.sarahdessen.com. WeitereTitel von Sarah Dessen bei dtv pocket: siehe Seite 4

Gabriele Kosack, geboren 1959 in Indonesien, hat sämtlichebei dtv junior erschienenen Bücher von Sarah Dessenübersetzt. Sie studierte in München Germanistik, Psycho-logie, Musikwissenschaft und lebt heute nach mehrjähri-gen Aufenthalten in New York sowie Berlin als freie Auto-rin, Übersetzerin und Schauspielerin in Köln. Bei dtvjunior erschien von ihr auch der Kinderroman ›Am liebs-ten alle zusammen‹.

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Sarah Dessen

Just Listen

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Gabriele Kosack

Deutscher Taschenbuch Verlag

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Von Sarah Dessen sind außerdem bei dtv pocket lieferbar:Crazy Moon

Zu cool für dichSomeone like you

Zwischen jetzt und immerAbout Ruby

Das gesamte lieferbare Programm vondtv junior und viele andere Informationen

finden sich unter www.dtvjunior.de

Deutsche Erstausgabe5. Auflage 2010

2008 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München© 2006 Sarah Dessen

Titel der amerikanischen Originalausgabe: ›Just Listen‹,2006 erschienen bei Viking Children’s Books

This edition published by arrangement with Viking Children’s Books,a member division of Penguin Young Readers Group,

a member of Penguin Group (USA) Inc.© der deutschsprachigen Ausgabe:

2008 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH und Co. KG, MünchenUmschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlaggestaltung: Jorge Schmidt und Tabea Dietrichunter Verwendung eines Fotos von Jan RoederGesetzt aus der Goudy Old Style 10,5/12,75

.

Gesamtherstellung: CPI – Ebner & Spiegel, UlmGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany ISBN 978-3-423-78222-7

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»Der beste Ausweg ist immer der Weg mittendurch.«

– Robert Frost –

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Kapitel 1

Ich hatte den Werbespot im April gedreht – also bevor al-les passiert war – und anschließend fast wieder vergessen.Doch seit einigen Wochen lief er im Fernsehen. Und plötz-lich gab es mich überall.

Auf den Bildschirmen, die über den Laufbändern undCrosstrainern im Fitnesscenter hingen. Auf dem Monitorin der Post, der einen davon ablenken soll, wie lange manschon in der Schlange wartet. Und ich flimmerte über denFernsehbildschirm in meinem Zimmer – jetzt, hier. Ichsitze auf der Bettkante, presse die Fingernägel in meineHandflächen und nehme mühsam Anlauf: Aufstehen, los-gehen …

»Wie jedes Jahr hat die Herbstsaison begonnen …«Ich starrte mich selbst – beziehungsweise eine fünf Mo-

nate jüngere Version meiner selbst – an und suchte nachden kleinsten Anzeichen von Veränderungen, nach irgend-einem sichtbaren Beweis für das, was mir seitdem passiertwar. Doch vor allem haute mich um, wie seltsam es sichanfühlte, mich selbst auf diese Weise zu sehen, also nichtin einem Spiegel oder auf einem Foto. Gewöhnt habe ichmich daran übrigens bis heute nicht.

»Im Stadion«, hörte und sah ich mich selbst sagen. Ichtrug ein babyblaues Cheerleader-Outfit, meine Haare wa-

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ren zu einem straffen Pferdeschwanz zurückgebunden undin der Hand hielt ich eines dieser altmodischen Megafone,die heutzutage kein Mensch mehr benutzt; ein K war da-rauf eingraviert.

»In der Schule.« Schnitt auf mich, in seriösem Falten-rock und kurzem braunen Pullover, der gekratzt hatte, daswusste ich noch genau. Außerdem hatte es sich merkwür-dig angefühlt, das Teil exakt zu einer Zeit anziehen zu müs-sen, als es draußen endlich warm wurde.

»Und auf Partys.« Ich beugte mich ein wenig vor, wäh-rend ich mich selbst auf dem Fernseher anstarrte. In dieserEinstellung trug ich ein Glitzershirt zu Jeans, saß auf einerBank und wandte mich über die Rücklehne zur Kameraum, während ich sprach. Im Hintergrund: eine GruppeMädchen, die lautlos miteinander schwatzten.

Der Regisseur, ein Milchbubi frisch von der Filmakade-mie, hatte mir das Konzept dieses seines Werks erläutert:»Das Mädchen, das alles hat!« Beim Sprechen hatte er mitden Händen einen kleinen, runden Kreis in die Luft ge-malt, als ließe sich etwas so Ungeheures, um nicht zu sagenUnglaubliches, in eine einzige Geste fassen. Auf jeden Fallbedeutete es offenbar, ein Megafon, immer die angesagtes-ten Klamotten sowie einen Haufen Freunde zu haben.Doch bevor ich die Chance hatte, über die feine Ironie vonLetzterem nachzudenken, fuhr mein Bildschirm-Ich bereitsfort.

»Die Ereignisse des kommenden Schuljahrs werfen ihreSchatten voraus«, verkündete ich, angetan mit einem rosa-farbenen Abendkleid; auf einer quer darüber drapiertenSchärpe stand BALLKÖNIGIN. Ein Junge im Smokingtrat neben mich, reichte mir den Arm. Strahlend hakte ichmich bei ihm ein. Er studierte an der Uni in unserer Stadt,

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drittes Semester, und war während der Dreharbeiten eherzurückhaltend gewesen, obwohl – gerade fiel es mir wiederein: Am Ende, bevor wir alle auseinandergingen, hatte ermich nach meiner Nummer gefragt. Wie hatte ich das bloßvergessen können?

»Die schönste Zeit in deinem Leben«, sagte mein Bild-schirm-Ich gerade. »Die schönsten Erinnerungen. Und daspassende Outfit für jede Gelegenheit – im Kaufhaus Kopf !«

Die Kamera zoomte immer dichter an mich heran, bisnur noch mein Gesicht zu sehen und der Rest des Bildesvöllig verschwommen war. Der Dreh hatte vor dem Abendstattgefunden, an dem das mit Sophie geschehen war, vordem langen, einsamen Sommer der Geheimnisse und desSchweigens, der hinter mir lag. Ich war am Ende, aber demMädchen dort auf dem Fernsehschirm ging es gut. Mansah es ihr an, erkannte es an der selbstbewussten Art undWeise, mit der sie mich und die übrige Welt anblickte undihren Mund öffnete, um weiterzusprechen.

»Sorg dafür, dass dieses Jahr dein bisher bestes wird«,sagte sie; ich merkte, dass ich beim Warten die Luft an-hielt, beim Warten auf den nächsten Satz, den letzten, deneinzigen, der tatsächlich der Wahrheit entsprach, auch undgerade jetzt, hier, in der Gegenwart: »Die Schule hat wiederangefangen. Auf geht’s.«

Und Freeze! Neben meinem nun stocksteif-stillen Eben-bild wurde das Kopf-Logo eingeblendet, das allerdings inkürzester Zeit von einem Werbespot für Eiswaffeln oderder neuesten Wettervorhersage abgelöst werden würde.Fünfzehn Sekunden folgten nahtlos auf die nächsten fünf-zehn, ein Spot nach dem anderen; doch das wartete ichnicht mehr ab, sondern schnappte mir die Fernbedienung,schaltete mich ab und verließ den Raum.

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Ich hatte über drei Monate Zeit gehabt, um mich seelischauf die erste Wiederbegegnung mit Sophie vorzubereiten.Aber als es schließlich so weit war, fühlte ich mich immernoch nicht wirklich bereit dazu.

Lange bevor es das erste Mal zur ersten Stunde läutete,stand ich schon auf dem Parkplatz und versuchte, alles anMut und überhaupt zu sammeln, was nötig sein würde, umauszusteigen und offiziell ins neue Schuljahr zu starten.Während meine Mitschüler schwatzend und lachend anmir vorbei Richtung Schulhof strömten, führte ich mir alleVielleichts vor mein geistiges Auge: Vielleicht war sie mitt-lerweile drüber weg; vielleicht hatte sich im Laufe des Som-mers irgendetwas ereignet, das unser kleines Drama ver-drängte oder gar ersetzte; vielleicht war das Ganze ohnehinlängst nicht so schlimm gewesen, wie ich geglaubt hatte.Alles reine Spekulation, natürlich, aber immerhin mög-lich. Eben vielleicht.

Ich wartete bis zur allerletzten Sekunde, bevor ich denSchlüssel aus dem Anlasser zog. Als ich mich der Tür zu-wandte und die Hand nach dem Griff ausstreckte, standsie direkt vor mir.

Einen Moment lang starrten wir einander nur an. So-fort fielen mir die Veränderungen an ihr auf: Ihr kurzesdunkles Haar war kürzer, sie selbst – sofern das überhauptmöglich war – noch schlanker und statt des dicken schwar-zen Kajals, mit dem sie im Frühling ihre Augen geschminkthatte, hatte sie sich auf einen natürlicheren Look in Bronzeund Pink verlegt. Ob ich mich in ihren Augen wohl eben-falls verändert hatte? Und falls ja, inwiefern?

Noch während ich diesen Gedanken dachte, öffnete So-phie ihre vollendet geschwungenen Lippen, verengte leichtdie Augen und sprach das Urteil, mit dem ich den ganzen

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Sommer lang gerechnet hatte. Ja, ich hatte im Grunde aufnichts anderes gewartet, als es zu hören.

»Schlampe!«Durch die Glasscheibe zwischen uns wurden weder die

Lautstärke verringert noch die Reaktionen der Leute ge-mildert, die in dem Moment vorbeiliefen. Ich nahm wahr,wie ein Mädchen, mit dem ich im Vorjahr zusammen Eng-lisch gehabt hatte, leicht die Augen zusammenkniff, wäh-rend ein anderes Mädchen – sie hatte ich an unserer Schuleallerdings noch nie gesehen – lauthals lachte.

Sophie selbst machte ein Pokerface. Warf sich ihre Ta-sche über die andere Schulter, drehte sich um und mar-schierte los, Richtung Schulhof. Ich merkte, dass ich rotgeworden war. Spürte die Blicke der anderen auf mir. Aufso etwas war ich nicht vorbereitet gewesen. Konnte mansich vermutlich auch gar nicht vorbereiten. Außerdem wür-de dieses Jahr, genauso wenig wie vieles andere, nicht ein-fach stehen bleiben und warten. Ich hatte gar keine andereWahl, als unter den neugierigen Blicken der anderen aus-zusteigen, die Ärmel hochzukrempeln und loszulegen, ganzkonkret. Und allein. Also tat ich es.

Ich hatte Sophie vor vier Jahren kennengelernt, zu Beginnder Sommerferien nach der Sechsten. Und zwar stand ich,zwei leicht feuchte Dollarscheine in der Hand, vor derSnackbar in unserem Freibad, um mir eine Cola zu kaufen,als ich spürte, wie sich jemand hinter mich stellte. Ichwandte den Kopf. Ein Mädchen, das ich nie zuvor gesehenhatte, stand hinter mir. Sie trug einen Hauch von Bikini inOrange und farblich dazu passende Flipflops mit extra-dicker Sohle. Olivfarbene Haut, dichter, hoch oben auf demKopf zum Pferdeschwanz gebundener Lockenschopf, sehr

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dunkle Sonnenbrille sowie ein gelangweilter, ungeduldigerGesichtsausdruck. Als wäre sie gerade vom Himmel gefal-len. Denn in unserem Viertel kennt im Prinzip jeder jeden.Ich wollte sie nicht anglotzen. Tat ich aber offensichtlich.

»Was?«, blaffte sie mich an. Ich sah mein Spiegelbild,klein und verzerrt, in ihrer Sonnenbrille. »Was gibt es soInteressantes zu sehen?«

Ich wurde rot – wie immer, wenn jemand seine Stimmegegen mich erhebt. Was laute Töne angeht, bin ich extremempfindlich, bis zu dem Punkt, dass ich mich sogar überirgendeine dämliche Gerichtsshow tödlich aufrege undumschalten muss, sobald der Richter anfängt, jemandenzusammenzubrüllen. »Nichts«, erwiderte ich und wandtemich rasch ab.

Der Typ von unserer örtlichen Highschool, der in die-sem Sommer an der Snackbar jobbte, winkte mich mit ei-nem müden Der-Nächste-Blick zu sich. Während er meineCola einschenkte, nahm ich die Gegenwart des Mädchenshinter mir wahr wie etwas physisch Schweres. Ich konzent-rierte mich darauf, meine beiden Dollarnoten auf demGlas der Theke so glatt wie möglich zu streichen. Nachdemich bezahlt hatte, ging ich davon, tunlichst ohne ein einzi-ges Mal von dem rauen Zementweg aufzublicken; lief umdas tiefe Ende des Beckens herum zu unserem Platz, womeine beste Freundin, Clarke Reynolds, auf mich wartete.

»Whitney ist schon los, nach Hause«, sagte Clarke undputzte sich die Nase. Vorsichtig stellte ich meinen BecherCola neben meinem Liegestuhl auf der Erde ab. »Ich habegesagt, dass wir laufen.«

»Okay«, antwortete ich. Meine Schwester Whitney hatteseit Kurzem ihren Führerschein und damit die Aufgabe,mich rumzukutschieren. Machte sie meistens allerdings

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nur hin. Das Zurückkommen überließ sie mir, egal ob vomFreibad – von dem man bequem zu Fuß gehen konnte –,oder dem Einkaufszentrum im nächsten Ort (nichts mitbequem zu Fuß gehen). Schon damals war Whitney eineechte Einzelgängerin. Die Welt bestand quasi aus ihrer Pri-vatsphäre; selbst wenn man ihr nicht total dicht auf diePelle rückte, drang man also bereits ein.

Erst nachdem ich mich wieder hingesetzt hatte, gestat-tete ich mir einen Blick zu dem Mädchen im orangefarbe-nen Bikini. Sie stand mittlerweile auch nicht mehr an derSnackbar, sondern gegenüber von uns auf der anderenSeite des Schwimmbeckens und sondierte die Lage an derLiegestuhlfront. In der einen Hand hielt sie ihren Becher,über ihrem anderen Arm hing ihr Handtuch.

»Hier.« Clarke gab mir das Kartenspiel, das sie in derHand hielt. »Du bist dran mit Geben.«

Clarke war meine beste Freundin, seit wir sechs gewesenwaren. Zwar lebten in unserem Viertel jede Menge Kinder,aber aus irgendeinem Grund waren die meisten entwederTeenager – wie meine Schwestern – oder vier Jahre alt undjünger, wofür es allerdings einen Grund gab: Babyboomer-Nachwuchs. Kurz nachdem Clarkes Familie aus Washing-ton D.C. hergezogen war, lernten unsere Mütter sich beieinem Meeting der Nachbarschaftshilfe kennen. Sobaldihnen klar wurde, dass wir gleich alt waren, steckten sie unszusammen. Und so war es bis heute geblieben.

Die Reynolds hatten Clarke mit sechs Monaten adop-tiert; sie kam ursprünglich aus China. Wir waren gleichgroß, doch mehr Ähnlichkeiten gab es zwischen uns nicht.Ich war mit meinen blonden Haaren und blauen Augeneine typische Greene, wohingegen niemand auf der ganzenWelt so dunkle, glänzende Haare und braune, fast schwarze

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Augen hatte wie Clarke. Ich war schüchtern und wollte esimmer allen recht machen; Clarke trat schon als kleinesMädchen richtig seriös auf, war ernsthaft und nachdenk-lich, sowohl was ihr Äußeres, als auch was Persönlichkeitund Verhalten betraf. Genau wie meine Schwestern hatteich gemodelt, seit ich denken konnte. Clarke dagegen warein jungenhafter Typ, beste Fußballerin in unserer Straßeund meisterhafte Kartenspielerin, vor allem Canasta. Ichhatte den ganzen Sommer über noch kein einziges Spielgewonnen.

»Kann ich einen Schluck von deiner Cola haben?«, fragtesie mich und nieste. »Ganz schön heiß hier.«

Ich nickte und beugte mich vor, um ihr meinen Becherzu geben. Clarke litt das ganze Jahr über unter Allergien,aber im Sommerhalbjahr wurde es am schlimmsten. VonApril bis Oktober war ihre Nase entweder verstopft odertropfte, sie musste sich ununterbrochen schnäuzen undnichts schien zu helfen, egal, wie viele Pillen sie schluckteoder Spritzen sie bekam. Ich war das alles seit Langem ge-wohnt: ihre näselnde Stimme, die unvermeidliche PackungPapiertaschentücher in ihrer Hand …

In unserem Freibad existierte eine streng geregelte, hie-rarchische Sitzordnung: Die Bademeister saßen an denPicknicktischen in der Nähe der Snackbar, die Mütter mitkleinen Kindern hockten um den flachen Teil des Beckensherum beziehungsweise am Nichtschwimmer-, auch ge-nannt Pipibecken. Clarke und ich zogen uns am liebsten inden Halbschatten hinter den Schaukeln zurück, währenddie männlichen Stars von der Highschool in der Nähe desSprungturms abhingen, darunter Chris Pennington, dreiJahre älter als ich und mit Abstand der bestaussehendeTyp sowohl im ganzen Viertel als auch – wie ich damals

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fand – der ganzen Welt. Die optimale und entsprechendbeliebteste Stelle zum Sonnenbaden waren die Liegestühle,die säuberlich nebeneinander zwischen der Snackbar undder ersten, abgeteilten Bahn im Becken standen; dort sa-ßen in der Regel nur die populärsten Mädchen aus unsererHighschool. Auch meine älteste Schwester Kirsten räkeltesich dort in einem knallpinken Bikini und fächelte sichmit einer Ausgabe von Glamour Luft zu.

Zu meiner Überraschung sah ich – nachdem ich geradedie Karten ausgeteilt hatte –, wie das Mädchen in Orangein Kirstens Richtung lief und sich in den Stuhl neben ihrlegte. Auf Kirstens anderer Seite saß ihre beste Freundin,Molly Clayton, die Kirsten prompt am Arm stupste undzu dem Mädchen rübernickte. Kirsten blickte kurz auf,hob den Kopf, checkte ihre Nachbarin ab, zuckte die Ach-seln, ließ sich wieder in ihren Liegestuhl zurückfallen undschlang einen Arm über ihr Gesicht.

»Annabel?« Clarke hatte ihr Blatt bereits aufgenommenund wartete nur darauf, mich wieder mal zu besiegen. »Dufängst an.«

»Stimmt.« Ich drehte mich wieder zu ihr um.Auch am nächsten Tag erschien das Mädchen im

Schwimmbad, dieses Mal in einem silbernen Badeanzug.Als ich ankam, hatte sie es sich bereits mit ausgebreitetemHandtuch, Zeitschrift auf dem Schoß und einer FlascheMineralwasser neben sich in dem Liegestuhl gemütlich ge-macht, auf dem am Tag zuvor meine Schwester gesessenhatte. Clarke hatte gerade Tennisstunde, deshalb war ichallein, als meine Schwester und ihre Freundinnen etwa eineStunde später eintrudelten – wie immer ein großer, lautstar-ker Auftritt; ihre Schuhe klatschten hörbar auf den Zement.Als sie ihren Stammplatz erreichten und das fremde Mäd-

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chen bemerkten, wurden sie langsamer, sahen einander an.Molly Clayton wirkte ziemlich genervt, aber Kirsten gingeinfach vier Stühle weiter und schlug dort ihr Lager auf.

Auch in den folgenden Tagen beobachtete ich, wie dieNeue systematisch und hartnäckig versuchte, sich in dieClique meiner Schwester hineinzudrängen. Was mit einemsimplen Liegestuhlmanöver begonnen hatte, eskalierte amdritten Tag, indem sie sich gleichzeitig mit den anderenMädchen an der Snackbar anstellte. Am Tag darauf sprangsie nur Sekunden nach ihnen ins Wasser und lungerte kei-nen halben Meter entfernt von ihnen am Beckenrand he-rum, während sie im Wasser rumplanschten und quatsch-ten und einander bespritzten. Es wurde Samstag, es wurdeSonntag – sie folgte ihnen mittlerweile auf Schritt undTritt, wie ein lebender Schatten.

Es war unter Garantie extrem nervig. Ich sah, wie Mollyihr ein paarmal giftige Blicke zuwarf; sogar Kirsten bat sieeinmal, sich bitte nicht so dicht an sie ranzudrängeln, alssie am tiefen Ende des Beckens herumschwamm. Was dasMädchen allerdings nicht weiter zu stören schien. Im Ge-genteil, sie heischte nun noch mehr um Beachtung, alswäre es vollkommen egal, was sie zu ihr sagten – Haupt-sache, sie sprachen mit ihr, Punkt.

»Ich habe gehört, dass eine neue Familie in das Hausan der Sycamore Road eingezogen ist«, sagte meine Muttereines Abends beim Essen, »da, wo früher die Daughtrysgewohnt haben.«

»Die Daughtrys sind weggezogen?«, fragte mein Vater.Meine Mutter nickte. »Schon im Juni. Nach Toledo.

Weißt du nicht mehr?«Mein Vater überlegte kurz. »Stimmt«, sagte er schließlich

und nickte. »Toledo.«

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»Außerdem habe ich gehört«, fuhr meine Mutter fortund reichte dabei die Schüssel mit Spaghetti an Whitneyweiter, die sie prompt zu mir rüberschob, »dass sie eineTochter in deinem Alter haben, Annabel. Ich glaube, ichhabe sie sogar schon mal gesehen, neulich, als ich bei Mar-gie war.«

»Wirklich?«, meinte ich.Meine Mutter nickte. »Sie hat dunkle Haare und ist ein

bisschen größer als du. Vielleicht ist sie dir ja schon malirgendwo hier in der Gegend über den Weg gelaufen.«

Ich überlegte einen Moment. »Keine Ahnung –«Aber ich wurde von Kirsten unterbrochen: »Das muss sie

sein!« Ihre Gabel landete mit einem vernehmlichen Schep-pern auf dem Tisch, so abrupt legte Kirsten sie ab. »DieStalkerin aus dem Schwimmbad. Ich hab’s geahnt! Ichwusste, dass sie jünger ist als wir, wesentlich jünger.«

»Moment.« Endlich hörte auch mein Vater richtig zu.»Im Schwimmbad gibt es einen Stalker?«

»Hoffentlich nicht«, sagte meine Mutter mit ihrer Ich-mache-mir-Sorgen-Stimme.

»Doch keine richtige Stalkerin«, meinte Kirsten. »Nurdieses Mädel, das immer um uns rumhängt. Ganz schönunheimlich, wie sie sich total dicht neben einen setzt, ei-nem überallhin folgt und ständig mitschneidet, aber selbstkeinen Ton sagt. Ich habe sie gebeten zu verschwinden,aber so was ignoriert sie einfach. Meine Güte! Ich kannkaum fassen, dass sie erst zwölf ist. Echt krank.«

»Echt theatralisch«, murmelte Whitney und spießte mitihrer Gabel ein Salatblatt auf.

Natürlich hatte sie recht. Kirsten machte aus allem einDrama, darin schlug sie bei uns zu Hause keiner. Sie gabgrundsätzlich Vollgas, sowohl in ihren Gefühlen als auch

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mit dem Mund, denn sie redete ohne Unterlass, sogarwenn ihr durchaus klar war, dass keiner zuhörte. Im Ge-gensatz dazu war Whitney extrem schweigsam, was dazuführte, dass die wenigen Worte, die sie von sich gab, vielmehr Gewicht hatten.

»Sei nett, Kirsten«, sagte meine Mutter.»Habe ich ja versucht, Mama. Aber wenn du sie sehen

würdest, würdest du sofort begreifen, was ich meine. Sie istwirklich eigenartig.«

Meine Mutter trank einen Schluck Wein. »Neu wo hin-zuziehen, ist oft schwierig. Vielleicht weiß sie einfachnicht, wie sie es anstellen soll, neue Freundinnen zu fin-den …«

»Allerdings!«, entgegnete Kirsten.»... aber das heißt, es liegt womöglich bei dir, ihr auf

halbem Weg entgegenzukommen«, fuhr meine Mutterfort.

»Sie ist zwölf«, entgegnete Kirsten, als wäre das in etwagleichbedeutend mit einer ansteckenden Krankheit odersonst irgendeiner Katastrophe.

»Wie deine Schwester«, sagte mein Vater.Kirsten nahm ihre Gabel und deutete damit auf ihn.

»Eben«, antwortete sie.Whitney schnaubte leise. Aber meine Mutter richtete

ihre Aufmerksamkeit bereits auf mich. Natürlich. »Viel-leicht könntest du dich ja ein wenig um sie bemühen, An-nabel«, schlug sie vor. »Sie einfach grüßen, wenn du sie malwieder siehst, oder etwas in der Art.«

Ich erzählte meiner Mutter nicht, dass ich mit der Neuenlängst zu tun gehabt hatte, und zwar vor allem deswegen,weil meine Mutter entsetzt darüber gewesen wäre, wie un-freundlich sie mich behandelt hatte. Was allerdings nichts

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an ihren Vorstellungen, was mein Verhalten betraf, geän-dert hätte. Meine Mutter war berühmt für ihre Manierenund erwartete die gleiche Höflichkeit von uns, egal unterwelchen Umständen. Unser Leben sollte perfekt sein, im-mer und ausnahmslos. Das galt auch für unser Benehmenund moralischen Werte. »Okay«, sagte ich deshalb. »Machich. Vielleicht.«

»Lieb von dir«, antwortete sie. Womit das Thema erle-digt war. Hoffte ich.

Doch als Clarke und ich am nächsten Nachmittag insSchwimmbad kamen, lag das Mädchen bereits wieder dichtneben Kirsten und – auf deren anderer Seite – Molly. Ichversuchte, das zu ignorieren, während wir uns an unseremStammplatz niederließen, kam aber nicht umhin, irgend-wann doch rüberzuschauen. Und, was war? Klar, Kirstenließ mich nicht aus den Augen. Stand auf, warf mir einenvielsagenden Blick zu, ging zur Snackbar. Die Neue heftetesich an ihre Fersen. Ich wusste, was nun von mir erwartetwurde.

»Bin gleich wieder da«, sagte ich zu Clarke, die einenStephen-King-Thriller las und sich die Nase putzte.

»Okay«, meinte sie.Ich stand auf und nahm die Route um den Sprungturm

herum. Als ich an Chris Pennington vorbeikam, ver-schränkte ich die Arme über der Brust. Er hatte seine Au-gen mit einem Handtuch bedeckt und fläzte sich in seinemLiegestuhl, während ein paar seiner Kumpel am Becken-rand miteinander rangen. Super. Nur weil meine Mutterdarauf bestand, uns zu perfekten guten Samariterinnen zuerziehen, musste ich mich wieder anmachen lassen, anstattdas zu tun, was ich an jenen Sommerferien-Schwimmbad-nachmittagen gewöhnlich tat: Chris Pennington beobach-

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ten – still und heimlich, versteht sich. Das war, abgesehenvom Schwimmen und beim Kartenspielen Verlieren,meine Hauptaktivität.

Ich hätte Kirsten erzählen können, dass ich mit derNeuen schon mal zusammengerasselt war, ließ es aber lie-ber bleiben. Denn anders als ich schreckte sie vor Konfron-tationen nicht zurück, im Gegenteil, sie steuerte zielstrebigauf solche Situationen zu und nahm dann prompt das Heftin die Hand. Sie war das Pulverfass unserer Familie; ichkann mich nicht erinnern, wie viele Male ich peinlich be-rührt und rot wie eine Tomate Zeugin gewesen war, wäh-rend Kirsten Verkäuferinnen, Autofahrern oder diversenExfreunden gegenüber klar und deutlich ihre Unzufrie-denheit zum Ausdruck brachte. Ich liebte sie, aber – umehrlich zu sein – sie machte mich nervös.

Whitney war das genaue Gegenteil: Sie kochte innerlich.Ließ ihre Wut nie raus. Man merkte es natürlich trotzdem,wenn sie sauer war. Merkte es an ihrem Gesichtsausdruck,ihren zu schmalen, harten Schlitzen verengten Augen, denbedeutsamen, schweren Seufzern, die einen so fertigma-chen, ja demütigen konnten, dass jedes noch so scharfeWort erträglicher gewesen wäre. Da Kirsten und Whitneybloß zwei Jahre auseinander waren, hatten sie ziemlich häu-fig Zoff. Nun hätte man natürlich meinen können, so einStreit wäre eine ziemlich einseitige Angelegenheit; dennalles, was man zunächst vernahm, war Kirstens Stimme, dieVorwürfe und Beleidigungen abfeuerte wie ein Maschinen-gewehr. Hörte man allerdings genauer hin, nahm man diePausen zwischendrin wahr, wenn Whitney schwieg, verstei-nert, anklagend schwieg; und die wenigen kritischen Be-merkungen, die sie machte, waren immer viel treffenderund letztlich kränkender als Kirstens endlose Tiraden.