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von

Hermann-Josef Fisseni

Lehrbuch derpsychologischenDiagnostikMit Hinweisen zur Intervention

3., überarbeitete und erweiterte Auflage

Göttingen • Bern • Toronto • Seattle • Oxford • Prag

Hogrefe

Umschlaggestaltung: NEUEFORM, GöttingenSatz: Grafik-Design Fischer, WeimarDruck: Schlütersche Druck GmbH & Co. KG, LangenhagenPrinted in GermanyAuf säurefreiem Papier gedruckt

ISBN 3-8017-1756-9

Prof. Dr. Hermann-Josef Fisseni, geb. 1932. 1955-1963 Studium der Philosophie und der katholischenTheologie in München und Frankfurt. 1964-1969 Studium der Psychologie in Bonn. 1973 Promotion. 1979Habilitation. Ab 1982 Professor für Psychologie an der Universität Bonn mit den ArbeitsschwerpunktenPsychodiagnostik und Persönlichkeitspsychologie. Seit 1998 emeritiert.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertungaußerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlagsunzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro-verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

© Hogrefe Verlag GmbH & Co. KGGöttingen • Bern • Toronto • Seattle • Oxford • Prag 1990, 1997 und 2004Rohnsweg 25, 37085 Göttingen

http://www.hogrefe.deAktuelle Informationen • Weitere Titel zum Thema • Ergänzende Materialien

Lehrbuch der psychologischen Diagnostik

Dieses Lehrbuch wurde für „Studierende“ geschrie-ben, welche das Fach „Psychologische Diagnostik undIntervention“ kennen lernen wollen.

Darum vermittelt das Buch Kenntnisse und Techniken,mit denen jemand vertraut sein sollte, wenn er in der Pra-xis „Psychologie anwenden“ will. Das Buch kann nur einFundament legen – der Studierende muss diese Grund-lage erweitern; das Nachwort bietet dafür Ratschläge an.

Die Gliederung des Buches wurde vonseiten der „dia-gnostischen Situation“ konzipiert, also von der An-wendung. In Diagnostik wie in Intervention muss der„Anwender“ Kenntnisse abrufen, die sich beziehenauf Regeln und Gesetze der Datensammlung und Da-tenintegration, auf Kenntnisse von Einzelverfahren,die er nur handhaben kann, wenn er die Konzepte ver-steht, nach denen sie entworfen wurden.

Die Kenntnisse von Diagnostik und Intervention stel-len wir uns als gestaffelt vor:– Darum umreißt das Buch zuerst Herkunft, Eigenart

und Aufgabenfelder der AnwendungsmethodologieDiagnostik und Intervention, charakterisiert ihrensozialen, finalen und ethischen Kontext (Teil I).

– Sodann behandelt es in drei Durchgängen größereLehreinheiten: Grundkenntnisse, spezielle Einzel-verfahren und spezielle Einzelfragen (Teil II bis IV).

– Schließlich stellen wir Beispiele integrativer multi-modaler Diagnostik und Intervention vor (Teil V).

Die gesamte Darstellung ist stärker an Individualdiag-nostik als an Reihenuntersuchungen oder Forschungs-aufgaben orientiert.

Was ist neu in dieser dritten Auflage?– Alle Kapitel wurden überarbeitet: korrigiert, ge-

kürzt, erweitert, je nachdem, wie weit sich das Wis-sen des Autors und seiner Helfer dem gewachsenendiagnostischen Kenntnisstand angenähert hat.

– In Kapitel 9.3 hat Ernst Fay ein neues Verfahren re-zensiert, den „Berliner Intelligenzstruktur-Test. BIS-Test (Form 4)“ von Jäger, Süß und Beauducel (1997).

– In Kapitel 18 hat Eftychia Volz-Sidiropoulou dieneue Literatur zur edv-gestützten Diagnostik aufge-arbeitet.

– In Kapitel 21 hat Michael Kavsek Verfahren be-schrieben, welche die frühe menschliche Entwick-lung erfassen.

– In Kapitel 23 hat Caroline Lemm das Vorgehen dar-gestellt, das angeraten ist bei einer Beurteilung derGlaubhaftigkeit von Zeugenaussagen beim Vorwurfdes sexuellen Missbrauchs.

– In Kapitel 24 hat Thomas Fuchs dem „Gutachten zurVerlängerung einer Psychotherapie“ Hinweise voraus-

geschickt, die den neuen Stand der offiziellen psycho-therapeutischen Richtlinien knapp zusammenfassen.

Für Ratschläge bei der Gestaltung dieser dritten Auf-lage muss ich vielen Helfern Dank abstatten.

Zuerst möchte ich drei Diplom-Psychologinnen desHogrefe Verlages nennen: Frau Susanne Weidinger,Frau Karen Fries und Frau Kerstin Kielhorn. Sie habenRechenfehler entdeckt, sie haben mich auf unklareSätze aufmerksam gemacht, viele Textstellen haben siekritisch kommentiert. Sie haben viele konkrete Verbes-serungen vorgeschlagen, haben treffendere Formulie-rungen angeregt, sie haben mich auf neue diagnostischeTitel aufmerksam gemacht und neue Texte beschafft.

Viele Leser – Studenten und Kollegen – haben mich aufFehler in der zweiten Auflage hingewiesen. In jedemFall habe ich mich gefreut: Hilfreiche Kritik kommtimmer „der Sache“ zugute.

Frau Diplom-Psychologin Barbara Redlin danke ichfür unermüdliches Korrekturlesen. Mit scharfen Augenhat sie – in jedem Kapitel – mindestens zehn Fehlerentdeckt, die mir entgangen waren.

Frau Dr. Ingrid Tismer-Puschner hat für viele KapitelKorrekturen vorgeschlagen. Vor allem hat sie – dankeiner vorzüglichen Kenntnis der Fachliteratur – unge-zählte Ergänzungen und Erweiterungen angeregt, sie hatselber Texte beschafft und wichtige Stellen markiert: Siehat mehr getan, als ihre Zeit ihr „eigentlich“ erlaubt hätte.

Herrn Dr. Dieter Vennen bin ich zu Dank verpflichtet fürseine geduldigen Korrektur- und Ergänzungsvorschläge;er vor allem hat immer wieder darauf gedrungen, in denlaufenden Text Beispiele aus der Praxis einzufügen.

Meine Frau Marlene hat die Entstehung des Werkesmit Geduld und Ironie begleitet. Sie hat mir geraten,Pausen einzulegen, um das Buch fertigzustellen. Siehat alle Texte gelesen und korrigiert. Außerdem hat sieimmer wieder das weitere Vorgehen mitgeplant – aufKosten ihrer freien Zeit.

Unser Sohn Bernhard hat für mich EDV-Probleme ge-löst, vor denen ich kapituliert hatte.

Herr Dr. Michael Vogtmeier, vom Hogrefe Verlag, hatmich ermutigt, die Arbeit zu einer dritten Auflage die-ses „Lehrbuches der psychologischen Diagnostik“ auf-zunehmen. Immer wieder hat er sich nach den Fort-schritten erkundigt und seine Freude geäußert, als dasEnde in Sicht kam.

Bad Breisig, März 2004 Hermann-Josef Fisseni

Vorwort zur dritten Auflage

01 Vorwort + Inhaltsverz. 29.03.2004 14:50 Uhr Seite V

01 Vorwort + Inhaltsverz. 29.03.2004 14:50 Uhr Seite VI

Inhaltsverzeichnis

I. Psychologische Diagnostik und Intervention:Gegenstandsbereich und Aufbau der Stoffdarbietung

1 Diagnostik und Intervention: Abgrenzung und Festlegung (Definitionen) . . . . 1

2 Psychologische Diagnostik und Intervention:Unterschiedliche Ursprünge und Modellvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

3 Psychologische Diagnostik und Intervention:Eine Darstellung ausgehend von der diagnostisch-interventiven Situation . . . 15

II. Diagnostik und Intervention: Grundkenntnisse

4 Abriss der klassischen Testtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

5 Hinweise zur kriteriumsorientierten Leistungsmessung . . . . . . . . . . . . . . . . 85

6 Grundgedanke des Rasch-Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

7 Verhaltensbeobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

8 Gesprächsführung: Anamnese, Katamnese, Exploration, Interview . . . . . . . 139

III. Psychologische Diagnostik und Intervention: Spezielle Einzelverfahren

9 Leistungstests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1759.3.2 Beispiel für die Bewertung eines LeistungstestsErnst Fay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

10 Persönlichkeitstests, Fragebögen, Persönlichkeitsinventare . . . . . . . . . . . . 203

11 Persönlichkeits-Entfaltungsverfahren oder projektive Verfahren . . . . . . . . . 217

Tabellarischer Vergleich von Leistungstests, Persönlichkeitstests und projektiven Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

IV. Einzelaspekte von Diagnostik und Intervention

12 Diagnostische und interventive Arbeit: Fachgerechte Anwendung und ihre ethisch-juristische Einbindung: Rolle der DIN 33430 . . . . . . . . . . . 235

13 Zwei Grundaufgaben für Diagnostik und Intervention:Klassifikation und Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

14 Zwei Wege der Entscheidungsfindung: Statistische und Klinische Urteilsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

01 Vorwort + Inhaltsverz. 29.03.2004 14:50 Uhr Seite VII

InhaltsverzeichnisVIII

15 Unterschiedliche Ansätze für Diagnostik und Intervention . . . . . . . . . . . . . . 255

16 Möglichkeiten und Grenzen von Erfolgs- und Prozesskontrolle . . . . . . . . . . 265

17 Schätzung von Kosten und Nutzen in Diagnostik und Intervention: Rolle der so genannten „Entscheidungstheorie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

18 Computerbasierte Psychodiagnostik Eftychia Volz-Sidiropoulou . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

V. Integration von Informationen:Anwendungsbeispiele aus Diagnostik und Intervention

19 Idealtypische Darstellung eines Verlaufs integrativer Diagnostik und Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

20 Erfassung eines Einzelmerkmals im Rahmen einer umfassenden Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

21 EntwicklungsdiagnostikMichael Kavsek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

22 Zu einer allgemeinen Form des psychologischen Gutachtens . . . . . . . . . . . 333

23 Zu einer speziellen Form des psychologischen Gutachtens: Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen beim Vorwurf des sexuellen MissbrauchsCaroline Lemm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

24 Zu einer speziellen Form des psychologischen Gutachtens:Antrag auf Verlängerung einer PsychotherapieThomas Fuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

25 Diagnostisch-interventive Aufgabe der Beurteilung von Stellenbewerbern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385

26 Das Assessment-Center . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395

Nachwort: Ratschlag an den Leser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409

Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439

01 Vorwort + Inhaltsverz. 29.03.2004 14:50 Uhr Seite VIII

Ernst Fay

Dr., geb. 1947. 1971–1976 Studium der Psychologie inFreiburg. 1984 Promotion. 1976–1996 Institut für Test-und Begabungsforschung der Studienstiftung des deut-schen Volkes, stellvertretender Direktor. Seit 1992 ge-schäftsführender Gesellschafter der ITB ConsultingGmbH in Bonn.E-Mail: [email protected]

Hermann-Josef Fisseni

Prof. Dr., geb. 1932. 1955–1963 Studium der Philoso-phie und der katholischen Theologie in München undFrankfurt. 1964–1969 Studium der Psychologie inBonn. 1973 Promotion. 1979 Habilitation. Ab 1982Professor für Psychologie an der Universität Bonn mitden Arbeitsschwerpunkten Psycho-diagnostik und Per-sönlichkeitspsychologie. Seit 1998 emeritiert.E-Mail: [email protected]

Thomas Fuchs

Dr., geb. 1961. 1984–1990 Studium der Psychologie inBonn. 1994–1998 Wissenschaftlicher Mitarbeiter ander Universität Bonn in der Abteilung Diagnostik undPersönlichkeitspsychologie. 1998 Promotion. Seit 1998Psychologischer Psychotherapeut in freier Praxis inBonn.E-Mail: [email protected]

Michael Kavsek

PD Dr., geb. 1962. 1983–1988 Studium der Psycholo-gie in Bonn. 1991 Promotion. 1999 Habilitation. Seit1989 Wissenschaftlicher Angestellter in der AbteilungEntwicklungspsychologie und Pädagogische Psycholo-gie des Psychologischen Instituts der Universität Bonn.E-Mail: [email protected]

Caroline Lemm

Dr., geb. 1965. 1985–1991 Studium der Psychologie mitden Nebenfächern Strafrechtspflege und Erziehungs-wissenschaften in Bonn. Seitdem hauptberuflich Gut-achterin für Familien- und Strafgerichte sowie beratendund als Dozentin tätig. 2000 Promotion. 2001 Zerti-fizierung als Fachpsychologin für RechtspsychologieBDP/DGPs.E-Mail: [email protected]

Eftychia Volz-Sidiropoulou

Dr., geb. 1967. 1985–1989 Studium der Philosophie,Pädagogik und Psychologie in Thessaloniki/Griechen-land. 1990–1994 Studium der Psychologie in Bonn.1997 Promotion. Arbeitsschwerpunkte Psychodiagnos-tik und Testentwicklung. Zuletzt Wissenschaftliche Mit-arbeiterin im Institut der Medizinischen Psychologie/Medizinischen Soziologie des Uniklinikums Aachen.Zur Zeit in Elternzeit.E-Mail: [email protected]

Die Autorinnen und Autoren des Bandes

01 Vorwort + Inhaltsverz. 29.03.2004 14:50 Uhr Seite IX

01 Vorwort + Inhaltsverz. 29.03.2004 14:50 Uhr Seite X

I. Psychologische Diagnostik und Intervention:Gegenstandsbereich und Aufbau der Stoffdarbietung

1 Diagnostik und Intervention:Abgrenzung und Festlegung (Definitionen)

2 Psychologische Diagnostik und Intervention:Unterschiedliche Ursprünge und Modellvorstellungen

3 Psychologische Diagnostik und Intervention: Eine Darstellung ausgehend von der diagnostisch-interventiven Situation

02 Kap. 01-03 29.03.2004 14:51 Uhr Seite 1

02 Kap. 01-03 29.03.2004 14:51 Uhr Seite 2

Inhaltsübersicht

1.1 Diagnostik und Intervention: Abgrenzungen (Definitionen) . . . . . . . . . . . . 4

1.2 Diagnostik und Intervention: Zur Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . 5

1.3 Finale, soziale, ethisch-juristische Struktur von Diagnostik undIntervention – Verweis auf DIN 33430 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

1.4 Konzept einer Normativen Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

1 Diagnostik und Intervention:Abgrenzung und Festlegung (Definitionen)

02 Kap. 01-03 29.03.2004 14:51 Uhr Seite 3

Díagnostik und Intervention sind einander zugeordnet.Diagnostik soll zur Intervention führen, Interventionsetzt Diagnostik voraus. Um diesen Zusammenhangzu verdeutlichen, erläutern wir– Abgrenzungen von Diagnostik und Intervention

(Kap. 1.1),– Beispiele zur Entstehungsgeschichte (Kap. 1.2),– finale, soziale, ethisch-juristische Struktur von Dia-

gnostik und Intervention (Kap. 1.3),– Konzept einer Normativen Diagnostik (Kap. 1.4).

1.1 Diagnostik und Inter-vention: Abgrenzungen (Definitionen)

Diagnostik

Das Wort Diagnostik geht zurück auf das griechischeVerb „diagignóskein“, das unterschiedliche Aspekteeines kognitiven Vorganges bezeichnet, vom Erkennenbis zum Beschließen. Das Verb bedeutet (1) „genaukennenlernen“, (2) „entscheiden“ und (3) „beschlie-ßen oder sich entscheiden“ (Kaegi, 1904, 184).

Diese drei Grundbedeutungen lassen vielfältige Asso-ziationen an Leistungen anklingen, die vom Psycholo-gen als Diagnostiker erwartet werden: etwa, dass ermenschliches Verhaltens „gründlich kennenlerne“, umbei Störungen zum Zwecke einer Abhilfe „Entschei-dungen“ oder gar „Beschlüsse“ anzubieten.

Doch taugen solche etymologischen Ableitungen undihre Assoziationen zu nicht mehr als zu Gedanken-spielen. Denn die Begriffe „Diagnose“ und „Diagnos-tik“ haben eine Geschichte durchlaufen, während dersich ihre Bedeutung gewandelt hat.

Die Sachbedeutung hat sich verengt im Rahmen einerFachsprache der Medizin: Diagnose und Diagnostikbezeichnen die Lehre und die Fertigkeit, Krankheitenzu erkennen und sie Ursachen oder Ursachensyndro-men zuzuordnen.

In der Psychologie bezeichnet Diagnostik – befreitvon dem Bezug zur Medizin – die Lehre von den Me-thoden und Verfahren der sachgemäßen Durchführungeiner Diagnose. Eine „Diagnose“ liefert Aussagen dar-über, welche Sachverhalte (in der Vergangenheit) fürein Verhalten (in der Gegenwart) verantwortlich sind(Dorsch, 1994, 156; Schröder, 1976, 3–5). „Diagnos-tik“ schließt heute auch Aussagen im Sinne einer Pro-gnose ein.

Den Bedeutungshof mögen drei „Definitionen“ veran-schaulichen:– „Psychologische Diagnostik ist das systematische

Sammeln und Aufbereiten von Informationen mit

dem Ziel, Entscheidungen und daraus resultierendeHandlungen zu begründen, zu kontrollieren und zuoptimieren. Solche Entscheidungen und Handlun-gen basieren auf einem komplexen Informations-verarbeitungsprozeß. In diesem Prozeß wird aufRegeln, Anleitungen, Algorithmen usw. zurückge-griffen. Man gewinnt damit psychologisch rele-vante Charakteristika von Merkmalsträgern undintegriert gegebene Daten zu einem Urteil (Dia-gnose, Prognose). Als Merkmalsträger gelten Ein-zelpersonen, Personengruppen, Institutionen, Situ-ationen, Gegenstände“ (Jäger & Petermann, 1995,11).

– „Psychodiagnostik ist eine Methodenlehre im Dien-ste der Angewandten Psychologie. Soweit Menschendie Merkmalsträger sind, besteht ihre Aufgabe darin,interindividuelle Unterschiede im Verhalten und Er-leben sowie intraindividuelle Merkmale und Verän-derungen einschließlich ihrer jeweils relevanten Be-dingungen so zu erfassen, dass hinlänglich präziseVorhersagen künftigen Verhaltens und Erlebenssowie deren evtl. Veränderungen in definierten Situ-ationen möglich werden“ (Amelang & Zielinski,2002, 3).

– „Psychodiagnostik läßt sich definieren als ein Vor-gehen, in dem menschliche Verhaltensdaten erho-ben und auf der Grundlage von theoretisch-psycho-logischen Annahmen so interpretiert werden, daßsie eine Erklärung für vergangene und eine Voraus-sage für zukünftige Verhaltensweisen erlauben.Außerdem sollen dem Diagnostizierten auf derGrundlage dieser Interpretationen geeignete Konse-quenzen oder Behandlungen als Vorschlag unter-breitet oder sogar für ihn herbeigeführt werden“(Ringelband & Birkhan, 2000, 796).

Über einzelne Elemente der drei „Definitionen“ mögenExperten unterschiedlicher Meinung sein und sich des-wegen auch streiten – insgesamt ergibt sich: Psychodi-agnostik ist eine Methodologie, deren Aufgabe darinliegt, psychologisches Wissen und psychologischeTechniken bereitzustellen, die dazu beitragen, (in Ein-zelfällen) praktische Probleme zu lösen (Westmeyer,1993, 508).

Intervention

Wie hebt sich von dieser Bestimmung das Konzept derIntervention ab?

Das Wort Intervention leitet sich von dem lateinischenVerb „intervenire“ ab, das soviel bedeutet wie: (1) „indie Quere kommen, dazwischentreten“, (2) „unterbre-chen, stören, hindern“ (Blase & Reeb, 1909, 434). ImEnglischen enthält das entsprechende Wort „interven-tion“ eine ähnliche Bedeutung: „interferring or becom-ing involved, e. g. to prevent something happening“(Hornby, 1989, 658). In beiden Fällen (Latein / Eng-

Kapitel 14

02 Kap. 01-03 29.03.2004 14:51 Uhr Seite 4

lisch) ergibt sich eine Grundbedeutung, die besagt,dass es um einen Eingriff geht, der einen Prozessver-lauf ändern und (dabei gegebenenfalls) Hindernissebeseitigen soll.

Dieser Grundbedeutung kommt es sehr nahe, wennIntervention verstanden wird als ein „psychologischesEingreifen, um die Entstehung oder das Andauern psy-chischer Störungen zu verhindern und diese letztlichabzubauen“ (Humboldt-Psychologie-Lexikon, 1990,173). Damit wird Intervention zwar noch nicht gleich-gesetzt mit Psychotherapie, aber doch in ihr Umfeldplatziert.

Muss indes das Konzept so eng gefasst werden:immer bezogen auf eine „Störung“? Lässt sich dasKonzept nicht auch in einem weiteren Sinn verstehen,nämlich so, dass es alle Maßnahmen bezeichnet, dieeinen psychischen Zustand verändern? Das Konzeptder Intervention nähert sich dann dem der Verhaltens-modifikation (Kaminski, 1970), es umfasst Ände-rungswissen ebenso wie die Vertrautheit mit Ände-rungstechniken.

Intervention bezeichnet in der erweiterten Fassung einpsychologisches Handeln, das– eine Verhaltensänderung anzielt, die– das seelische Wohlbefinden verbessert oder herstellt

und die– systematisch kontrolliert wird.

Amelang und Zielinski (2002, 433) definieren Inter-vention wie folgt:

Interventionen sind „Maßnahmen, die aus den ver-schiedensten Gründen eingeleitet werden. Sie setzenan diagnostischen Feststellungen an, mit dem Ziel,Veränderungen auf organisatorischer oder individuel-ler Ebene herbeizuführen. Im angloamerikanischenRaum ist dafür der Terminus ‚treatment‘, also Be-handlung, gebräuchlich. Die intendierten Effekte sinderwartungsgemäß dann besonders positiv, wenn diePassung zwischen Diagnose und Intervention in opti-maler Weise ausfällt.“

Kasten 1 zählt drei Beispiele für Intervention auf.

Resümee

Diagnostik und Intervention lassen sich verstehen alsAbschnitte desselben psychologischen Prozesses,eines Ablaufs, in dem Intervention aus der Diagnostikhervorgeht. Diagnostik bezeichnet eher den erkunden-den, Intervention eher den modifikatorischen Ab-schnitt dieser einheitlichen Handlungssequenz. Dis-junkt trennen lassen sich Diagnostik und Interventionjedoch nicht.

Kasten 1: Drei Beispiele für Intervention

– In der Klinischen Psychologie kann eineBeratung hinführen zu einer Therapie oderzu Schritten einer Gesundheitsprävention.

– In der Arbeits- und Organisationspsycho-logie kann ein Trainingsprogramm dazu bei-tragen, innerhalb eines Betriebes die Effi-zienz eines Einzelnen oder eines Teams zusteigern.

– In der Werbepsychologie kann eine Befra-gung dazu dienen, für ein bestimmtes Pro-dukt ein Image zu entwickeln, das potenzielleKäufer anzieht.

1.2 Diagnostik und Inter-vention: Zur Entstehungs-geschichte

Die Lehre von Diagnostik und Intervention ist weder einKind allein der Praxis noch allein der Theorie, sondernein „Mischling“ aus beidem, aber sie zielt darauf ab,Kenntnisse verschiedener Teildisziplinen der Psycholo-gie für die Praxis des Lebens nutzbar zu machen.

Außerhalb der Psychologie wurden Dienstleistungenumschrieben, welche die Psychologie erbringen könnte.Innerhalb der Psychologie wurden Theorien und Mo-delle entwickelt, die dazu anregten, theoretische Vor-stellungen in konkreten Anwendungen auf die Probezu stellen (Amelang & Zielinski, 2002, 1–24; Jäger &Petermann, 1995, 17–48; Perrez & Baumann, 1991,28; Thomae, 1977, 203–277; Wottawa & Hossiep,1987, 5).

In jedem Beispiel verschränken sich Diagnostik undIntervention; ausdrücklich benannt sei die Über-schneidung nur in zwei Fällen.

Außerhalb der Psychologie wurden Dienstleistungenangefordert. Beispielsweise kamen Anfragen aus demGerichtssaal, aus dem pädagogischen Feld, aus denPersonalbüros der Wirtschaft. Psychologen versuch-ten, solchen Erwartungen und Anforderungen zu ent-sprechen. Große Namen sind zu nennen:– Als einer der ersten Psychologen stellte William Stern

sein Fachwissen zur Verfügung, um die Aussagefä-higkeit und Aussagenehrlichkeit von Gerichtszeugenzu prüfen (Stern, 1904, 1926). Anwendungsbeispiel:Ein Psychologe habe die „Zurechnungsfähigkeit“eines Angeklagten festgestellt (Diagnostik). DiesesUrteil des Psychologen kann die Entscheidung derRichter beeinflussen und in die Urteilsbegründungeingehen (Intervention).

Diagnostik und Intervention: Abgrenzung und Festlegung (Definitionen) 5

02 Kap. 01-03 29.03.2004 14:51 Uhr Seite 5

– Im Auftrag des französischen Unterrichtsministeri-ums haben Binet und Simon den „Stufenleitertestder Intelligenz (l’échelle metrique de l’intelli-gence)“ entworfen und erprobt, um lernbehinderteKinder zuverlässiger von normalbegabten zu unter-scheiden (Binet & Simon, 1905).

– Im Auftrag der amerikanischen Armee haben Wood-worth und seine Mitarbeiter den „Persönlichen Da-tenbogen (Personal Data Sheet)“ entwickelt. Unterden Männern, die sich 1917 um Aufnahme in dasamerikanische Expeditionskorps für Europa bewar-ben, sollte der „Datenbogen“ ungeeignete – nämlichneurotische – Anwärter identifizieren (Woodworth,1919).

– Im Auftrag der Kultusminister der Länder derBundesrepublik Deutschland hat ein Psychologen-Team den „Test für medizinische Studiengänge(TMS)“ konzipiert und erprobt, damit zusätzlichzur Abiturnote ein Kriterium bei der Vergabe medi-zinischer Studienplätze herangezogen werden kann(Fay, 1982; Trost et al., 1995).

Innerhalb der Psychologie wurden theoretische An-nahmen und Modelle entwickelt, deren Anwendungsich in der Praxis anbot:– Psychologen, die Theorien über die Intelligenz ent-

wickelten, haben Anwendungsmodelle entworfenund in Messverfahren erprobt. Diesen Bemühun-gen entsprangen viele Intelligenztests (Guilford &Hoepfner, 1971; Horn, 1983; Spearman, 1938;Thurstone, 1938).

– Aus persönlichkeitstheoretischen Ansätzen hateine Vielzahl von Autoren eine Vielzahl von Fra-gebogen entworfen, die in der Praxis hilfreicheDienste leisten (Beckmann, Brähler & Richter,1990; Cattell et al., 1970; Eysenck, 1953; Guil-ford, 1959).

– Aus lerntheoretischen Konzepten, vor allem demoperanten Konditionieren, hat Skinner das Prinzipder „Unterrichtsmaschinen“, der programmiertenBücher, auch des programmierten Unterrichts ent-wickelt (Skinner, 1948, 1953).

– Interaktionistisch orientierte Theoretiker haben sogenannte „Situations-Reaktions-Inventare“ entwi-ckelt, um Verhalten in seinen situativen Facettenzu erfassen (Petermann & Petermann, 1980). An-wendungsbeispiel: Bei einem Jungen wird ermittelt,in welchen Situationen er auffällig aggressiv rea-giert (Diagnostik). Auf Grund des Testwertes wirddem Probanden zu einem Verhaltenstraining gera-ten, das seine Aggressivität mindern soll (Interven-tion).

Resümee

Die Hinweise aus der Entstehungsgeschichte solltenveranschaulichen, dass Diagnostik und Interventionweder allein aus der psychologischen Praxis noch al-lein aus der psychologischen Theorie hervorgegangen

sind. Ihre Charakteristik besteht darin, verschiedeneTeildisziplinen der Psychologie zu nutzen, um kon-krete Lebensfragen lösen zu helfen.

1.3 Finale, soziale, ethisch-juristische Struktur von Diagnostik und Inter-vention – Verweis auf DIN 33430

Der Diagnostiker ist dazu verpflichtet, nur solche Me-thoden anzuwenden, die in der „Wissenschaft Psycho-logie“ anerkannt sind. Die psychologisch-wissen-schaftliche Handlungssequenz schließt Qualitäten ein,die finaler, sozialer, ethisch-juristischer Natur sind.Diese Qualitäten werden der Diagnostik und der Inter-vention nicht erst im Nachhinein attribuiert.

Finale Struktur

Wenn Diagnostik ihre Hilfe anbietet, um Lebensfra-gen zu klären, und Intervention ein Programm anbie-tet, um Lebensprobleme zu bewältigen, dann sindfinale Strukturen und Entscheidungsmomente mitent-halten. Ermittelt wird ja nicht nur, was „geschehen“ istund wie die Bedingungen des „Geschehens“ aussehen(Kausal- und Bedingungsanalyse), bestimmt wirdauch ein Ziel, auf das hin etwas geschehen soll (Hand-lungsvorschläge) (Jäger, 1985, 227; 1986, 13; Wot-tawa & Hossiep, 1987, 1, 18).

Woher aber kommt „Finalität“ in die Diagnostik?Wenn sich Diagnostik begründet als Teilgebiet derPsychologie, dann muss die „Grundlage“ ihrerseits„finale“ Aussagen enthalten. Dazu nur zwei Hin-weise:– Motivationspsychologie schließt Zielorientierung

ein. Motivationale Prozesse haben Zielcharakter.Wer also in der Diagnostik Motivationsprozesseaufdeckt, bringt auch Ziele zur Sprache.

– Persönlichkeitspsychologen legen finale Definitio-nen vor, Ältere ebenso wie Jüngere. Ältere, etwaStern und Allport, bestimmen die „Person“ als„Zielursache“ (causa finalis). Jüngere, etwa Rotterund Mischel, definieren die „Persönlichkeit“ durch„Erwartungen“, die sich auf zukünftige Verstärkun-gen richten.

In sich selber schließt der diagnostisch-interventiveProzess finale Momente ein: Ein Klient oder Probandtrage ein Anliegen vor, er suche die Hilfe des Psycho-logen, um die „richtige“ Berufswahl zu treffen oder umeine „Verhaltensstörung“ zu korrigieren. In solchenFällen wird „etwas“, was noch nicht existiert („Berufs-bild“ oder „normales“ Verhalten) so antizipiert, dass es

Kapitel 16

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nur im antizipierenden Subjekt existiert und als inten-tionales Geschehen gegenwärtiges Verhalten auf er-wünschte zukünftige „Zustände“ ausrichtet.

Soziale Struktur

Zu den finalen kommen soziale Qualitäten hinzu. Di-agnostisch-interventive Aufgaben beginnen, wennsich ein Proband einer Frage gegenübersieht, für dieer den Rat des Psychologen sucht. Diese „Frage“wird zuerst in der Sprache des Betroffenen formu-liert (meist in der Umgangssprache), dann in dieSprache des Diagnostikers übersetzt. Dieser sprach-liche Vorgang setzt Probanden und Diagnostiker ineinen sozialen Kontext. Richtiger: In diesem Vorgangmanifestiert sich die diagnostisch-interventive Frageals eingebettet in einen sozialen Kontext, sowohlvonseiten des Probanden wie vonseiten des Psycho-logen.

Damit enthüllen sich Diagnostik und Interventionschon in ihrem Ansatz als partnerschaftliche Aufgabe.Nicht erst der Psychologe „erhebt“ die Interaktion zueinem sozialen Phänomen, von Anfang an ist das dia-gnostisch-interventive Handeln in einen partnerschaft-lichen Kontext gesetzt.

Ethisch-juristische Struktur

Diese finale und soziale „Struktur“ von Diagnostikund Intervention enthält ethisch-juristische Imperative(Amelang & Zielinski, 2002, 22–23; Booth, 1995,138–147; Hartmann, 1984; Haubl, 1984; Jäger, 1986,41–63; Klein, 1982; Petermann, 1995a, 147–154; Pul-ver, Lang & Schmid, 1978; Schmid, 1995,121–129;Schmidt, 1982; Schmidtchen, 1975, 36–40; Westhoff& Kluck, 1991; Wottawa & Hossiep, 1987, 73–89).

Der Psychologe hat in Diagnostik und Interventionmit Selbst- und Fremdbestimmung von Individuen zutun, demnach mit ihrer Freiheit und Personenwürde.Denn immer wieder werden ihm Informationen überpersönliche, ja intime „Gegebenheiten“ anvertraut,über Sachverhalte somit, die der Sphäre von Selbstbe-stimmung zugehören.

Diese Sphäre wird auch berührt, wenn der Untersu-cher eine Intervention vorschlägt, die etwa eine Be-rufs- oder Partnerwahl betrifft. Wiederum muss er sichfragen, wie weit seine Vorschläge die „Selbstverfü-gung“ des Probanden respektieren.

Die Selbstenthüllung des Probanden und die Kennt-nisnahme des Untersuchers vollziehen sich in einemvorgegebenen ethisch-juristischen Kontext.

Resümee

Eine diagnostisch-interventive Handlungssequenzschließt aus sich selber finale, soziale, ethisch-juristi-sche Momente ein, wird durch sie gleichsam mitkon-stituiert. Nicht erst von außen, etwa zufolge der Ent-scheidungen eines Psychologen, erweisen sichDiagnostik und Intervention einem Umfeld zugeord-net, in dem auch andere Imperative gelten als alleindie der Psychologie.

1.4 Konzept einer NormativenDiagnostik

Die vorausgegangenen Überlegungen laufen auf dieAussage hinaus, dass Diagnostik und Intervention ineinem bestimmten Sinne immer „normativ“ sind.Warum? Immer wieder muss der Psychologe erken-nen, was „gegeben“ ist, und muss sagen, was „gesche-hen“ soll. Ständig muss er „Vergleiche“ anstellen:zwischen einem IST-Zustand (etwa einer Störung) undeinem SOLL-Zustand (etwa einem Zustand des Wohl-befindens). Erwartet wird, dass der Psychologe überein „Kriterium“ verfügt, an dem er diese „Vergleiche“legitimiert.

Genau diese Funktion bezeichnet das Konzept der„Norm“: ein Begriff, der seiner lateinischen Herkunftnach – „norma“ – soviel besagt wie „Winkelmaß,Richtschnur, Regel, Vorschrift“ (Blaase & Reeb, 1909,548). Der Psychologe, der Diagnostik und Interven-tion betreibt, ist an vielfältige und vielschichtige „Re-geln und Vorschriften“, in diesem Sinne also an „Nor-men“ gebunden.

Diagnostik und Intervention: Abgrenzung und Festlegung (Definitionen) 7

Hinweis auf die DIN 33430:

Im Juni 2002 haben der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) und die Deut-sche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) unter dem Titel „DIN 33430“ Regelungen veröffentlicht, die sichprimär auf berufsbezogene Eignungsbeurteilungen beziehen, die jedoch darüber hinaus ein Gerüst für di-agnostische Arbeit überhaupt enthalten (Brücher-Albers, 2002, 305). Die Anforderungen an eine psycho-logisch fachgerechte Arbeit behandeln die Regelungen explizit; die ethisch-juristischen Ansprüche warenals Hintergrund der psychologischen Aufgaben miteinbezogen (Heyse, 2002, 299–300). Einzelheiten bie-tet Kapitel 12 (vgl. S. 235).

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Freilich bedeutet „normativ“ hier etwas anderes alsetwa bei Westmeyer (1972), der als „Normative Dia-gnostik“ ein Vorgehen beschreibt, das völlig regel- undtheoriegeleitet ist, weil– sowohl „diagnostische Frage“ und „diagnostische

Antwort“– als auch der Zusammenhang zwischen Frage und

Antworteindeutig quantifizierbar und in Wahrscheinlichkeitenangebbar sind.

Damit wird der diagnostische Akt unter dem Aspektder Informationsverarbeitung betrachtet. Bei einer sol-chen Sicht ist vollständige Transparenz ein hohes Ziel.

In Grenzen zu erreichen und zu erstreben scheint dieseTransparenz dann, wenn es um Verhaltensabläufegeht, die funktionalen Zusammenhängen gleich- odernahe kommen. Als Beispiel diene die kognitive Anfor-derung, die ein bestimmter Beruf stellt. Einem Stu-denten, der Ingenieur werden will, aber mathematischunbegabt ist, lässt sich nachweisen, dass sein Berufs-wunsch aus „funktionalen Gründen“ unrealistisch ist.Zwar müssen auch in solchen Fällen soziale und ethi-sche Aspekte berücksichtigt werden, aber sie bleiben„verhüllter“.

Für Fälle dieser Art stehen allerdings die Allsätze undVerknüpfungsregeln noch nicht zur Verfügung, die er-

forderlich wären. „Umfassende Anforderungsanalysenliegen für die Mehrzahl der Fragestellungen nicht vor“(Durchholz, 1981, 273). Eine Normative Diagnostikim Sinne Westmeyers erweist sich darum aus prakti-schen Gründen zur Zeit als unrealisierbar (Wottawa &Hossiep, 1987, 59–60). „Davon unberührt bleibt aberder begrüßenswerte Versuch, heuristische Varianteninnerhalb einer ,Logik der Diagnostik‘ zur Diskussiongestellt zu haben“ (Guthke, Böttcher & Sprung, 1990,40).

Doch gibt es auch Fälle, in denen es prinzipielleGründe sind, die gegen eine Anwendung NormativerDiagnostik sprechen. Gedacht ist an Verhaltenszusam-menhänge, in denen die Selbstbestimmung einer Per-son betroffen ist. Als Beispiel diene eine Partnerwahl.Falls die Rede von „Selbstbestimmung“ einen Sinnbehalten soll, dann gewiss den, dass in solchen „Wahl-akten“ das Verhalten etwas anderes ist als der Einzel-fall eines allgemeinen Gesetzes. Darum ist in einemsolchen Kontext Normative Diagnostik unangemessen– selbst wenn in solchen Wahlakten auch rein funktio-nale Zusammenhänge zu berücksichtigen sind.

Freilich kommen an dieser Stelle anthropologischeÜberlegungen und Überzeugungen mit ins Spiel; sozi-ale und ethisch-juristische Aspekte gewinnen eine grö-ßere Bedeutung als in Fällen, in denen der Diagnosti-ker nur „funktionale Zusammenhänge“ erfassen soll.

Kapitel 18

Der Wortbedeutung nach geht Diagnostik auf eingriechisches Verb zurück, das soviel besagt wie„kennen lernen, beschließen, entscheiden“. Der Sach-bedeutung nach bezeichnet Diagnostik eine Anwen-dungsmethodologie, die Regeln angibt, wie psycho-logische Charakteristika von Personen zu erfassenund Bedingungen ihres Verhaltens zu ermitteln sind.

Der Wortbedeutung nach geht Intervention auf einlateinisches Verb zurück, das soviel bedeutet wie„einen Eingriff vornehmen, um einen Handlungsver-lauf zu ändern und Störungen zu beseitigen“. DerSachbedeutung nach bezeichnet Intervention einpsychologisches Handeln, das eine Verhaltensände-rung anzielt, die das seelische Wohlbefinden verbes-

sern soll; die Änderung muss systematisch kontrol-lierbar sein.

Diagnostische Aussagen und interventive Maßnah-men haben praktische Bedeutung für den Betroffe-nen. Darum stehen sie immer in einem finalen, sozi-alen und juristisch-ethischen Kontext.

Entwickelt haben sich Diagnostik und Intervention ausAnregungen, die von außerhalb und innerhalb derPsychologie kamen. Von außerhalb wurden Dienstleis-tungen angefordert, etwa aus dem Gerichtssaal oderaus dem pädagogischen Feld. Innerhalb der Psycholo-gie wurden theoretische Annahmen und Modelle ent-wickelt, die eine Anwendung in der Praxis nahe legten.

Zusammenfassung

Verständnisfragen

1. Umschreibung psychologischer Diagnostik?2. Umschreibung psychologischer Intervention?3. Unterschiede zwischen Diagnostik und Interven-

tion?4. Beispiele zur Entstehungsgeschichte von Diagnos-

tik und Intervention?

5. Finale, soziale, juristisch-ethische Struktur vonDiagnostik und Intervention?

6. Unterschiedliche Bedeutungen des Konzeptes„Normative Diagnostik“?

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Inhaltsübersicht

2.1 Psychologische Diagnostik oder Intervention:Ursprünge in der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

2.2 Psychologische Diagnostik oder Intervention:Ursprünge in der Allgemeinen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

2.3 Psychologische Diagnostik oder Intervention:Ursprünge in der Persönlichkeitspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122.3.1 Konzepte zeitstabiler Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122.3.2 Prozessorientierte Konzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

2.3.2.1 Biografisch orientierte Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132.3.2.2 Psychodynamische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132.3.2.3 Kriteriumsorientierte Leistungsmessung . . . . . . . . . . . . . . . . 132.3.2.4 Interaktionistische Persönlichkeitsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . 13

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

2 Psychologische Diagnostik und Intervention:Unterschiedliche Ursprünge und Modell-vorstellungen

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Diagnostik und Intervention bilden kein einheitlichesSystem, sie gehen auf unterschiedliche Ansätze zu-rück. „Psychologische Diagnostik entwickelte sich inunserem Jahrhundert zunächst als eine besonders hoff-nungsvolle Teildisziplin der Psychologie. Heute stehtsie in vielfältigen Auseinandersetzungen mit divergen-ten persönlichkeits- und verhaltenstheoretischen Posi-tionen, beruht auf unterschiedlichen methodologi-schen Ansätzen und wird mit berufsethischen undgesellschaftspolitischen Problemen konfrontiert. Siehat sich gleichermaßen gegenüber Erwartungen wiegegen globale Disqualifikationen zu wehren“ (Groff-mann & Michel, 1982a, VII; vgl. Guthke, Böttcher &Sprung, 1990, 23–29; Jäger & Petermann, 1995,15–48, 77–117; Leichner, 1979, 8–9).

Auf wie viele Ursprünge geht die Diagnostik zurück?Je nach Autor, den man befragt, werden drei, vier oderfünf Ansätze genannt.1 Hier sei auf drei Ursprüngeverwiesen (Städtler, 1998, 864):– Psychiatrie (Kap. 2.1),– Allgemeine Psychologie (Kap. 2.2),– Persönlichkeitspsychologie (Kap. 2.3).

Das Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung undder Vorgabe einiger Verständnisfragen.

2.1 Psychologische Diag-nostik oder Intervention: Ursprünge in derPsychiatrie

Die Psychiatrie ist eine medizinische Disziplin, sie be-fasst sich mit Diagnose und Behandlung seelischerKrankheiten. Sie hat die Psychologie allgemein beein-flusst, im Besonderen aber Psychodiagnostik undIntervention. Der Einfluss lässt sich an Namen veran-schaulichen. Wir nennen nur zwei Beispiele: HermannRorschach und Sigmund Freud.

Rorschach (1884–1922) war Psychiater, er publizierteim Jahre 1921 ein Verfahren, das er „wahrnehmungs-diagnostisches Experiment (Deutenlassen von Zufalls-formen)“ nannte; dieses Verfahren sollte der Diagnos-tik von Schizophrenen dienen, wurde aber sehr raschvon Psychologen übernommen und von ihnen zueinem psychologisch-diagnostischen Verfahren entwi-ckelt, das von den zwanziger Jahren bis in die sechzi-ger Jahre eine dominierende Rolle spielte. Das wich-tigste Handbuch zum „Formdeuteverfahren nachRorschach“ hat Ewald Bohm, ein Psychologe, ge-

schrieben, das „Lehrbuch der Rorschach-Psychodia-gnostik“, gewidmet den „Psychologen, Ärzten und Pä-dagogen“ (Kap. 11, vgl. S. 217).

Was war so faszinierend an dieser Methode? Sie er-möglichte eine vielfältige (psychologische?) Erfas-sung von Merkmalen und von Merkmalsgruppen, sieerlaubte es, Personen unter vielen Perspektiven zuklassifizieren, sie führte (ver-führte?) zu tiefsinnigenInterpretationen menschlichen Verhaltens.

Sigmund Freud (1956–1939) war ebenfalls Psychiater,er entwickelte sein therapeutisches Verfahren und seinErklärungssystem, die Psychoanalyse, als ein Medizi-ner, der sich weit über die Wissenschaft Medizin hin-auswagte, weit hinein in das Feld der WissenschaftPsychologie – Freud sah keinen Zwiespalt zwischenseinem Beruf als Arzt und seinen Arbeiten als Psycho-loge und Psychotherapeut.

Die beiden Namen (Rorschach und Freud) sollten an-deuten, warum Psychologen – insbesondere Psychodi-agnostiker – von der Psychiatrie Themen, Methoden,Erklärungen übernahmen. Die Psychiater hatten aufeinem Übergangsfeld zwischen Medizin und Psycho-logie gearbeitet und dabei Methoden und Klassifika-tionen entwickelt, die für Psychologen nützlich seinkonnten. Diese Aussage sei mit einigen weiteren Bei-spielen gestützt!

Der französische Psychiater Charcot (1825–1893)hatte „festgelegt“, dass Neurosen psychogener Naturund darum mit psychologischen Methoden zu behan-deln seien – er selber verwendet die Hypnosetherapie(Freud war einer seiner Schüler).

Im deutschen Sprachraum hatten die Psychiater Krae-pelin (1856–1926) und Bleuler (1857–1939) Klas-sifikationschemata entwickelt, welche die so genann-ten Geisteskrankheiten in zwei große Formkreiseaufteilten:– Schizophrenie (Verlust der Einheit der Person) und– Zirkuläres Irresein (unregelmäßiger Wechsel von

Phasen manischer und depressiver Stimmung).

Der Psychiater Schneider (1887–1967) hatte Grenzfällezwischen gesund und krank unter dem Titel der„Psychopathien“ beschrieben: Psychopath war für ihnein Mensch, dessen Verhalten vom normalen Durch-schnitt abwich: Unter diesem „abnormen“ Verhalten lit-ten der Betroffene und seine Umgebung, dennoch wares nicht als krankhaft einzustufen (Fröhlich, 2000, 352).

Der Psychiater Kretschmer (1888–1964) hatte eine„Konstitutionstypologie“ entworfen, in der er vom

Kapitel 210

1 Ausführlich berichten Jäger und Petermann (1995, 15–154) über die Geschichte der Psychologischen Diagnostik und ihre Ver-schränkung mit anderen Disziplinen.

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Körperbau auf seelische Krankheiten schloss: Miteinem pyknischen (rundlichen) Körperbau korrelierte,so Kretschmer, überzufällig häufig das zirkuläre Irre-sein, mit einem leptosomen (schmalwüchsigen) Kör-perbau überzufällig häufig die Schizophrenie.

Heute sind die klassischen Kataloge psychiatrischerKrankheiten abgelöst worden durch zwei übergrei-fende Systeme:1. durch die ICD und2. durch das DSM.

Zu 1: ICD ist ein Kürzel für „International Classifica-tion of Deseases“, publiziert wurde die ICD von derWeltgesundheitsorganisation (World Health Organisa-tion). Die ICD liegt in zehnter Auflage vor: als ICD-10.

Zu 2: DSM ist ein Kürzel für „Diagnostic and Statisti-cal Manual of Mental Disorders“, welches die Ameri-kanische Psychiatrische Gesellschaft publiziert hat(American Psychiatric Association). Das DSM liegt invierter revidierter Fassung vor, sie heißt DSM-IV; imJahr 2000 (Deutsch: 2003) wurde eine Textrevisiondieser vierten Fassung veröffentlicht, die den Titel„DSM-IV-TR“ trägt.

ICD und DSM werden weltweit verwendet. AuchPsychologen orientieren sich an beiden Systemen, vorallem Vertreter der Klinischen und der ForensischenPsychologie (vgl. z. B. Schulte-Markwort u. a., 2002).

Worin bestand der Einfluss „der“ Psychiatrie auf „die“Psychologie? Um es zu wiederholen: Psychiater hat-ten Methoden, Klassifikationssysteme, Erklärungs-modelle, sie hatten diagnostische und therapeutischeVerfahren entwickelt, auf welche „die“ Psychologenzurückgreifen konnten.

Natürlich hat inzwischen die Psychiatrie ihrerseitsLeistungen von der Psychologie „entliehen“, speziellvon psychologischer Diagnostik und Intervention. Er-wähnt sei nur die Nutzung diagnostischer Fragebogen,um psychische Störungen zu identifizieren oder umden Verlauf und den Erfolg therapeutischer Prozessezu messen.

2.2 Psychologische Diag-nostik oder Intervention:Ursprünge in derAllgemeinen Psychologie

Die Allgemeine Psychologie hat der Diagnostik In-halte vorgegeben und ihr viele Methoden „zur Verfü-gung gestellt“. Die Allgemeine Psychologie suchtnach Prinzipien des Erlebens und Verhaltens, die uni-verselle Geltung besitzen und sich daher auf viele (aufalle?) Fälle menschlichen Verhaltens anwenden las-

sen. Sie hat Merkmale und Merkmalsgruppen metho-disch sorgfältig untersucht, welche die Neugier einerfachnahen Öffentlichkeit geweckt haben – es sei nurdas Stichwort „Intelligenzmessung“ erwähnt. Die Di-agnostiker brauchten bei der Allgemeinen Psychologiegleichsam „nur zuzugreifen“.

Exemplarisch seien einige „Inhalte“ genannt, welche„die“ Psychodiagnostiker übernommen und für derenMessung sie Tests und Fragebogen entwickelt haben.Es sei eine bunte, zufällige Reihe von Merkmalen ge-nannt: Angst, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Intelli-genz, Konzentration, Leistungsmotivation, prosoziales(antisoziales) Verhalten, sensumotorische Reaktionen,sprachgebundenes und zahlengebundenes Denken usw.

Vorrangige Methode der Allgemeinen Psychologie istdas Experiment, das sich kennzeichnet durch die klas-sische Trias:– die Möglichkeit willkürlicher Herbeiführung von

Verhaltensabläufen,– die Wiederholbarkeit der Abläufe und– die Variierbarkeit der Bedingungen, unter denen

das Verhalten sich zeigt.

Das Experiment ist das Paradigma einer streng kon-trollierten Untersuchung des Verhaltens. Auf die Dia-gnostik hat dieses Paradigma wie ein Vorbild gewirkt.Das Experiment weist Gesetzmäßigkeiten mensch-lichen Verhaltens nach, indem es das angezielte Ver-halten provoziert. Genau dies strebt auch die Dia-gnostik an: Im Idealfall will sie die Ausprägung einesMerkmals dadurch nachweisen, dass sie das Verhal-ten, das sie messen will, evoziert – vor allem gilt diesvon dem Instrument des Leistungstests (Kap. 9, vgl.S. 175).

Was der letzte Satz besagt, sollen Beispiel und Gegen-beispiel veranschaulichen. Beispiel: Ein Psychologewill prüfen, wie geschickt ein Proband Dreisatzaufga-ben lösen kann. Was tut er? Er legt dem Probandeneine Reihe von Dreisatzaufgaben vor. Er evoziert dasVerhalten, das er messen will. Gegenbeispiel: Wiede-rum will der Psychologe wissen, wie gut ein ProbandDreisatzaufgaben lösen kann. Doch tut er in diesemFall etwas anderes. Er befragt den Probanden, wie ge-wandt er Dreisatzaufgaben lösen kann. Er lässt sichdas Verhalten beschreiben, das er erfassen will. Im er-sten Fall muss der Proband tun, was gemessen werdensoll. Im zweiten Fall braucht er sein Verhalten nur zubeschreiben.

Zwischen Allgemeiner Psychologie und Diagnostikwar der Einfluss – natürlich – wechselseitig: Die All-gemeine Psychologie hat gewiss die Diagnostik berei-chert, aber sie hat von der Psychodiagnostik auchAnregungen übernommen, z. B. wenn sie in Experi-menten Tests oder diagnostische Fragebogen einsetzt,etwa um abhängige oder unabhängige Variablen zukontrollieren.

Psychologische Diagnostik und Intervention: Unterschiedliche Ursprünge und Modellvorstellungen 11

02 Kap. 01-03 29.03.2004 14:51 Uhr Seite 11

2.3 Psychologische Diag-nostik oder Intervention:Ursprünge in derPersönlichkeitspsychologie

Etwas ausführlicher seien zwei persönlichkeitspsy-chologische Ansätze skizziert, welche die Entwick-lung des diagnostisch-interventiven Instrumentariumsentscheidend geprägt haben:– Persönlichkeitstheorien, die zeitstabile Eigenschaf-

ten annehmen (Kap. 2.3.1),– und Theorien, die eine Person als Prozessgestalt

deuten (Kap. 2.3.2).

2.3.1 Konzepte zeitstabiler Eigen-schaften

Die Diagnostik wurde von Theoretikern mitgeprägt,die annahmen, menschliches Verhalten entspringe sogenannten Eigenschaften (Traits), die sich als relativzeitstabil erweisen. Dem Verhalten wird zwar eine ge-wisse Variationsspanne zuerkannt, vereinfacht gilt je-doch, dass sich eine Person in gleichen Situationengleichartig verhält. Zu ermitteln sind darum Eigen-schaften, denen konstantes Verhalten entspringt. „Einorthodoxer trait-Ansatz postuliert, daß Verhalten aus-schließlich vom trait-Wert abhängig ist; trait und Ver-halten stehen in monotoner Beziehung. Situationennehmen keinen modifizierenden Einfluß“ (Leichner,1979, 29). Allerdings ist zu ergänzen: „Der wechsel-seitige Einfluß von Eigenschaften und Situationen er-zeugt vorübergehend innere Bedingungen, die als Zu-stände (states) bekannt sind“ (Eysenck & Eysenck,1987, 35).

Diesem Ansatz wird eine bestimmte Art von Diagnos-tik zugeordnet – zusammengefasst in den Aussagender klassischen Testtheorie und realisiert in Verfahren,deren Konstruktion sich an ihr orientiert (Kap. 4, vgl.S. 25).

Das Instrumentarium der klassischen Testtheorie istheftig kritisiert worden (Fischer, 1974, 16–145; Gold-

fried & Kent, 1976; Grubitzsch, 1991; Pawlik, 1976;Schaller & Schmidtke, 1983, 491–508). Für be-stimmte Fragestellungen bleibt die Annahme relativzeitstabiler Eigenschaften jedoch sinnvoll: Beispielesind Eignungsprüfungen, Beratungen zum Verlauf derBildungskarriere, Fragen der Forensischen Psycholo-gie. Allein bestimmend war dieser Ansatz nicht.

2.3.2 Prozessorientierte Konzep-tionen

Persönlichkeitstheorien, die menschliches Verhaltenvor allem als Prozessgestalt interpretieren, unterschei-den sich vielfältig. Auf vier Spielarten sei verwiesen:– biografisch orientierte Modelle (Kap. 2.3.2.1),– psychodynamische Theorien (Kap. 2.3.2.2),– kriteriumsorientierte Leistungsmessung (Kap. 2.3.2.3),– interaktionistische Ansätze (Kap. 2.3.2.4).

Bevor wir einzelne Theorien skizzieren, seien Bei-spiele für „Beschreibungseinheiten“ genannt, die sichdazu eignen, Prozesse zu schildern. Fahrenberg (2002,274–285) hat sie vorgestellt:– Episode: „Eine persönlich bedeutsame Handlung,

eine soziale Auseinandersetzung, eine wichtige ‚Sze-ne‘ oder eine auffällige emotionale Reaktion wärenBeispiele für psychologische Episoden“ (2002, 274).

– Situationen: „Gemeint sein könnten: die objekti-ven, raumzeitlichen und physikalischen Merkmale,also Umgebungsmerkmale, die für das Erleben undVerhalten wichtig sind (wie anwesende Personenund Objekte)“ (2002, 275).

– Themen: Fahrenberg (2002, 278) verweist auf diezwei Klassen von Themen, die Thomae erarbeitet hat:• „Daseinsthemen sind die motivational-kognitiven

Orientierungssysteme, in denen Individuen ihreSinnsuche zentrieren (‚Ziele‘): Was beschäftigtmich und wie intensiv beschäftigt es mich?

• Daseinstechniken sind die typischen instrumen-tellen Verfahren, Daseinsthemen zu verwirk-lichen (‚Mittel‘): Wie erreiche ich meine Zieleund wie setze ich mich damit auseinander?“

– Skripts: „Die Skripts sind sehr komplexe, nur durchweitreichende Interpretation zu erschließende Pro-

Kapitel 212

Tun oder Beschreiben?

Es dürfte einleuchten, dass die Messung im ersten Fall (tun, was gemessen wird) dem Messobjekt „näher“ist, die Messung darum valider sein dürfte als im zweiten Fall (beschreiben, was gemessen wird). Dochkann der Psychologe nicht jedes Objekt evozieren, das er erfassen will, beispielsweise kann er keine Er-eignisse der Kindheit erneut „ins Leben rufen“. Wenn er über solche Ereignisse etwas erfahren will, musser seinen Probanden bitten, sie zu beschreiben.– Die Messung im ersten Fall (tun, was gemessen wird) ist affin dem so genannten Leistungstest (vgl.

Kap. 9, S. 175).– Die Messung im zweiten Fall (beschreiben, was gemessen wird) ist affin dem so genannten Persön-

lichkeitstest oder dem Interview (vgl. Kap. 8, S. 139 und Kap. 10, S. 203).

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