Schwierige Entscheidungen im Rahmen einer MS-Therapie

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neurologie Schwierige Entscheidungen im Rahmen einer MS-Therapie Anhand zweier Kasuistiken werden Fragen bezüglich der Diagnostik und Therapieeinleitung sowie des Themenkomplexes Absetzen einer MS-Therapie diskutiert. M. Guger 1 Einleitung Die Multiple Sklerose wird häufig auf- grund ihrer mannigfaltigen Präsentation die Erkrankung mit den 1.000 Gesichtern genannt. Dementsprechend ist die Dia- gnosestellung auch unter Zuhilfenahme sämtlicher Hilfsmethoden (MRT, Liquor, evozierte Potentiale) nicht immer ein- deutig. Aus diesem Grund wird in sämtli- chen Diagnosekriterien, zum Beispiel nach McDonalds und Poser, als oberste Prämisse der Ausschluss anderer Erkran- kungen gefordert. Erst dann sollte auf Ba- sis von Klinik und Hilfsmethoden die Dia- gnose Multiple Sklerose gestellt werden. Die möglichst gesicherte Diagnose Multi- ple Sklerose ist wiederum Voraussetzung für eine MS-spezifische erapie. Leider tritt diese Idealvorstellung zur Behand- lung einer Multiplen Sklerose nicht immer auf. Ich möchte in diesem Artikel 2 Fallbe- richte schildern. Der erste Bericht wird die Problematik der Entscheidungsfindung für eine MS-erapie beschreiben. Die zweite Schilderung befasst sich mit dem ema Absetzten einer MS-erapie. Kasuistik 1 Im ersten Fall handelt es sich um einen 24-jährigen Mann, der im November 2008 aufgrund einer akuten linksseitigen Hemi- parese vorstellig wurde. In der Anamnese war ein fraglicher Schlangenbiss, der Pati- ent ist Besitzer mehrerer Netzpythons, Geckos und Ratten, zu eruieren. Im zere- bralen MRT konnten 2 kontrastmittelauf- nehmende Läsionen periventrikulär mit einer Diffusionsstörung dargestellt wer- den (Abb. 1 und 2). Infratentoriell konnte keine weitere Läsion festgestellt werden, und in der Liquoraufarbeitung waren keine oligoklonalen Banden sowie ein un- auffälliger IgG-Index nachzuweisen. Die elektrophysiologische Diagnostik mittels VEP, Tibialis- und Medianus-SSEP war ebenso unauffällig. Es bestand bildge- bend sowie auch laborchemisch kein Hin- weis auf eine Vaskulitis. Im Rahmen der weiteren Differentialdiagnostik wurde eine transösophageale Echokardiogra- phie durchgeführt, wobei ein großes per- sistierendes Foramen ovale diagnostiziert wurde. Bei Verdacht auf paradoxe Embo- lie wurde eine thrombozytenaggregations- hemmende erapie begonnen, und der Patient wurde mit einer geringgradigen Parese der linken oberen Extremität ent- lassen. Im Jänner 2009 musste der Patient auf- grund einer Zunahme der linksseitigen He- miparese erneut stationär aufgenommen werden. Zu diesem Zeitpunkt zeigte sich im zerebralem MRT eine deutliche Progression von supratentoriel- len Läsionen mit Kontrastmit- telaufnahme, eine der Läsionen in der linken Temporalregion wies zudem eine schießschei- benartige Kontrastmittelauf- nahme auf (Abb. 3 und 4). 1 Abt. f. Neurologie und Psychiatrie, AKH Linz Foto: privat OA Dr. Michael Guger Abt. f. Neurologie und Psychiatrie, AKH Linz Abb. 5 und 6: Eine zerebrale MRT-Kontrolle im März 2009 zeigt erneut kontrastmittelaufnehmende Läsionen supratentoriell. Abb. 1 und 2: 2 kontrastmittelauf- nehmende Läsionen periventriku- lär mit einer Diffusionsstörung. Abb. 3 und 4: Deutliche Progression von supratentoriellen Läsionen mit Kontrastmittelauf- nahme, eine der Läsionen in der linken Temporalregion weist zudem eine schießscheibenartige Kontrastmittelaufnahme auf. 1 3 5 2 4 6 AKH Linz, Abt. f. Radiologie 3/2012 psychopraxis 28 © Springer-Verlag

Transcript of Schwierige Entscheidungen im Rahmen einer MS-Therapie

neurologie

Schwierige Entscheidungen im Rahmen einer MS-Therapie

Anhand zweier Kasuistiken werden Fragen bezüglich der Diagnostik und Therapieeinleitung sowie des Themenkomplexes Absetzen einer MS-Therapie diskutiert.

M. Guger1

Einleitung

Die Multiple Sklerose wird häufig auf­grund ihrer mannigfaltigen Präsentation die Erkrankung mit den 1.000 Gesichtern genannt. Dementsprechend ist die Dia­gnosestellung auch unter Zuhilfenahme sämtlicher Hilfsmethoden (MRT, Liquor, evozierte Potentiale) nicht immer ein­deutig. Aus diesem Grund wird in sämtli­chen Diagnosekriterien, zum Beispiel nach McDonalds und Poser, als oberste Prämisse der Ausschluss anderer Erkran­kungen gefordert. Erst dann sollte auf Ba­sis von Klinik und Hilfsmethoden die Dia­gnose Multiple Sklerose gestellt werden.

Die möglichst gesicherte Diagnose Multi-ple Sklerose ist wiederum Voraussetzung für eine MS-spezifische Therapie. Leider tritt diese Idealvorstellung zur Behand-lung einer Multiplen Sklerose nicht immer auf. Ich möchte in diesem Artikel 2 Fallbe-richte schildern. Der erste Bericht wird die Problematik der Entscheidungsfindung für eine MS-Therapie beschreiben. Die zweite Schilderung befasst sich mit dem Thema Absetzten einer MS-Therapie.

Kasuistik 1

Im ersten Fall handelt es sich um einen 24-jährigen Mann, der im November 2008 aufgrund einer akuten linksseitigen Hemi-parese vorstellig wurde. In der Ana mnese war ein fraglicher Schlangenbiss, der Pati-ent ist Besitzer mehrerer Netzpythons, Geckos und Ratten, zu eruieren. Im zere-bralen MRT konnten 2 kontrastmittelauf-nehmende Läsionen periventrikulär mit einer Diffusionsstörung dargestellt wer-den (Abb. 1 und 2). Infratentoriell konnte keine weitere Läsion festgestellt werden, und in der Liquoraufarbeitung waren keine oligoklonalen Banden sowie ein un-auffälliger IgG-Index nachzuweisen. Die elektrophysiologische Diagnostik mittels

VEP, Tibialis- und Medianus-SSEP war ebenso unauffällig. Es bestand bildge-bend sowie auch laborchemisch kein Hin-weis auf eine Vaskulitis. Im Rahmen der weiteren Differentialdiagnostik wurde eine transösophageale Echokardiogra-phie durchgeführt, wobei ein großes per-sistierendes Foramen ovale diagnostiziert wurde. Bei Verdacht auf paradoxe Embo-lie wurde eine thrombozytenaggregations-hemmende Therapie begonnen, und der Patient wurde mit einer geringgradigen Parese der linken oberen Extremität ent-lassen.

Im Jänner 2009 musste der Patient auf-grund einer Zunahme der linksseitigen He-miparese erneut stationär aufgenommen werden. Zu diesem Zeitpunkt zeigte sich im

zerebralem MRT eine deutliche Progression von supratentoriel-len Läsionen mit Kontrastmit-telaufnahme, eine der Läsionen in der linken Temporalregion wies zudem eine schießschei-benartige Kontrastmittelauf-nahme auf (Abb. 3 und 4).

1 Abt. f. Neurologie und Psychiatrie, AKH Linz

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OA Dr. Michael GugerAbt. f. Neurologie und Psychiatrie, AKH Linz

Abb. 5 und 6: Eine zerebrale MRT-Kontrolle im März 2009 zeigt erneut kontrastmittelaufnehmende Läsionen supratentoriell.

Abb. 1 und 2: 2 kontrastmittelauf-nehmende Läsionen periventriku-lär mit einer Diffusionsstörung.

Abb. 3 und 4: Deutliche Progression von supratentoriellen Läsionen mit Kontrastmittelauf-nahme, eine der Läsionen in der linken Temporalregion weist zudem eine schießscheibenartige Kontrastmittelaufnahme auf.

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Bei Verdacht auf Multiple Sklerose vom Baló-Typ wurde zweimalig eine Korti-sonstoßtherapie mit 1 g Methylpredniso-lon über 5 Tage durchgeführt, wobei der zweite Kortisonstoß oral ausgeschlichen wurde. Der EDSS zu diesem Zeitpunkt be-trug 3,5.

Eine zerebrale MRT-Kontrolle im März 2009 zeigte erneut kontrastmittelaufneh-mende Läsionen supratentoriell (Abb.  5 und 6), sodass wir bei klinischer und auch bildgebender Progression eine Therapie mit Natalizumab initiierten.

Seit diesem Zeitpunkt entwickelte der Patient keinen weiteren Schub, und auch in den bildgebenden Kontrollen war keine weitere Progression zu bemerken. Der EDSS blieb bei 3,5 stabil.

Fazit

Dieser Fall soll zum einen die diagnosti-sche Unsicherheit zu Beginn der Erkran-kung widerspiegeln. Zum anderen wird die schwierige Therapieentscheidung für Natalizumab aufgrund der raschen Pro-gression klinisch und bildgebend auf der einen Seite bei fehlenden oligoklonalen Banden und infratentoriellen Läsionen auf der anderen Seite aufgezeigt.

Kasuistik 2

Im zweiten Fallbericht möchte ich die Pro-blematik des richtigen Zeitpunkts für das Absetzen einer MS-Therapie hervorheben. Solange der Nutzen einer Behandlung im Vordergrund steht, kann diese zumeist ohne größere Bedenken weitergeführt werden. Beginnen jedoch unerwünschte Wirkungen zu überwiegen, muss eine The-rapie bezüglich des Nutzen/Risiko-Profils immer wieder neu evaluiert werden. In diesem konkreten Fall wird die Thematik Natalizumab und progressive multifokale Leukenzephalopathie behandelt.

Die progressive multifokale Leukenze-phalopathie unter Natalizumab tritt mit einem Risiko von etwa 1:1000 PatientIn-nen auf. Um dieses Risiko minimieren zu können, wird über Strategien zum Pausie-ren oder Beendigen einer Natalizumab-Therapie nachgedacht. Entzündungsakti-vität im Sinne von Schüben oder MRT-Aktivität findet sich nach Beendi-gung der Natalizumab-Therapie in etwa 32–70 %. Die mittlere Latenz vom Zeit-punkt des Absetzens bis zum Auftreten der Schubtätigkeit beträgt etwa drei Monate. Auffällig ist, dass 17 % der PatientInnen mit Entzündungsaktivität einen besonders schweren Schub erleiden, also vermutlich

ein Rebound-Phänomen zugrunde liegt. Für PatientInnen, welche nach Beendi-gung der Natalizumab-Therapie mit einer anderen Immunmodulation weiterbehan-delt werden, wird keine erhöhte Entzün-dungsaktivität beschrieben.

Bei einer 1964 geborenen Frau wurde im Alter von 32 Jahren eine schubförmig remittierende Multiple Sklerose diagnosti-ziert. Eine Immunmodulation mit Interfe-ron ß1a intramuskulär wurde von 2002 bis 2007 durchgeführt. Seit 2007 besteht ein sekundär chronisch progredienter Verlauf mit Schüben.

Im Juli 2008 war die Patientin das erste Mal in unserer neuroimmunologischen Ambulanz vorstellig. Dabei bestanden eine Schubfrequenz von 3 Schüben im letzten Jahr sowie ein EDSS von 6,5. Im MRT des Cerebrums und cervicalen Mye-lons fanden sich multiple kontrastmittel-aufnehmende Läsionen supra- und infra-tentoriell. Deshalb wurde im August 2008 mit Natalizumab begonnen. Die vierwö-chentliche Applikation erfolgte komplika-tionslos. In der klinischen Verlaufskon-trolle waren der EDSS stabil, und im MRT war keine neue Läsion festzustellen.

Da nun ein rein sekundär chronisch progredienter Verlauf vorlag, wurde im November 2009 ein Auslassversuch mit Natalizumab unternommen.

Ende März 2010 war die Patientin mit einer Gangverschlechterung vorstellig, was sich in einem EDSS von 7,5 widerspie-gelte. Auch bildgebend zeigte sich eine Progression im Sinne von > 9 kontrastmit-telaufnehmenden Herden supra- und infra tentoriell (Abb. 7 und 8).

Eine Stoßtherapie mit 1.000 mg Methylprednisolon über 5 Tage wurde durchgeführt. Trotz dieser Maßnahme kam es zu einer weiteren bildgebenden (>9 kontrastmittelaufnehmen -

de Läsionen) und klinischen Verschlech-terung bis zu einem EDSS von 9 (Abb. 9 und 10). Nach Ausschluss einer opportu-nistischen Infektion (PCR auf JC-Virus) wurde eine erneute Hochdosis-Kortison-therapie über 5 Tage durchgeführt.

Nach Besserung der Schubsymptoma-tik auf EDSS 8,5 wurde am 3. Mai 2010 die Therapie mit Natalizumab wiedereingelei-tet. Seit diesem Zeitpunkt hat die Patientin keine weitere Schubtätigkeit erfahren und der EDSS hat sich zuletzt bei 7,5 stabili-siert. Auch bildgebend besteht ein statio-närer Befund.

Fazit

Retrospektiv gesehen ist es durch den Ab-setzversuch von Natalizumab zu einer deutlichen Verschlechterung der Klinik gekommen. Diese Verschlechterung konnte auch durch das Wiedereinleiten von Natalizumab nicht mehr korrigiert werden, und die Patientin hat eine EDSS-Erhöhung von 6,5 auf 7,5 erfahren. In die-sem konkreten Fall hat die Angst vor einer progressiven multifokalen Leukenzepha-lopathie und damit das Absetzen einer wirksamen Therapie zum Nachteil der Patientin geführt. n

Literatur beim Verfasser

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Abb. 7 und 8: Progression im Sinne von > 9 kontrastmittel-aufnehmenden Herden supra- und infratentoriell.

Abb. 9 und 10: Trotz Stoßtherapie mit 1.000 mg Methylprednisolon über 5 Tage kam es zu einer weiteren Verschlechterung in der Bildgebung (>9 kontrastmittelauf-nehmende Läsionen) sowie zu klinischer Verschlechterung bis zu einem EDSS von 9.

Korrespondenz:OA Dr. Michael GugerAKH Linz, Abt. f. Neurologie und Psychiatrie Krankenhausstraße 9 A-4021 LinzTel.: +43 732 7806 – 73353E-Mail: [email protected]

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