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Einführung in die Germanistische Mediävistik (Sprachgeschichte und Grammatik) 1
MITTELHOCHDEUTSCH – SPRACHGESCHICHTE UND GRAMMATIK
Indogermanisch – Germanisch – Deutsch1
1. Die indogermanischen (indoeuropäischen) Sprachen
Die Geschichte der deutschen Sprache wird mit den ersten schriftlich erhaltenen
Überlieferungszeugen in deutscher Sprache erforschbar. Der so verstandene Beginn
deutscher Sprachgeschichte liegt im 8. Jahrhundert im ostfränkischen Teil des karo-
lingischen Reiches. Das Deutsche gehört wie die meisten der europäischen Spra-
chen zu den indogermanischen oder indoeuropäischen Sprachen, genauer: inner-
halb der indogermanischen Sprachen zur Gruppe der germanischen Dialekte. Die
Vorgeschichte des Deutschen kann durch Sprachvergleich über die germanischen
Sprachen bis in die indogermanische „Sprachfamilie“ zurückverfolgt werden.
Unter Indogermanisch (Idg.) oder Indoeuropäisch versteht man eine Gruppe ver-
wandter Sprachen im europäischen und (vorder-)asiatischen Raum, die etwa seit
dem Neolithikum (3. Jahrtausend v. Chr.) nachweisbar ist. Die räumliche Verbrei-
tung, wie sie sich heute darstellt, ist sicherlich bis zu einem gewissen Grad auf Wan-
derbewegungen ganzer Stämme und Völker zurückzuführen. Ursprung, Entstehung
und Entwicklung der idg. Sprachenverwandtschaft bedürfen aber einer genaueren
Erklärung. Die Entdeckung idg. Sprachgemeinsamkeiten führte in der älteren Indo-
germanistik über die Beschreibung des Vorhandenen hinaus zum Postulat eines idg.
„Urvolks“ mit „Urheimat“ und „Ursprache“. In kritischer Auseinandersetzung mit dieser
Annahme hat die Sprachwissenschaft mittlerweile unterschiedliche Theorien zur Ent-
stehung der idg. Sprachen entwickelt:
Die S t a m m b a u m t h e o r i e (AUGUST SCHLEICHER 1873) hält sich eng an das Konstrukt eines idg.
„Urvolks“ und postuliert, dass die einzelnen idg. Sprachen durch zunehmende Verzweigung und Ver-
ästelung aus dem „Stamm“ der vorausgesetzten idg. Ursprache herausgewachsen seien.
Die W e l l e n t h e o r i e (JOHANNES SCHMIDT 1872) hinterfragt das Konstrukt einer homogenen idg. „Ur-
sprache“ und ersetzt die Idee eines Stammbaums durch das Bild einer Welle mit konzentrischen Rin-
gen, die mit zunehmender Entfernung vom Mittelpunkt immer schwächer werden. Gemäß dieser
Theorie haben sich die verschiedenen idg. Sprachgruppierungen und Einzelsprachen aus einer nur
1 Die vorliegende Darstellung folgt Wilhelm Schmidt: Geschichte der deutschen Sprache. Ein Lehr-buch für das germanistische Studium, 6.Aufl. erarb. unt. d. Leit. v. Helmut Langer, Stuttgart/ Leipzig 1993, S. 27-62; und Hilkert Weddige: Mittelhochdeutsch. Eine Einführung, München 1996, S. 1-10.
Einführung in die Germanistische Mediävistik (Sprachgeschichte und Grammatik) 2
relativen ursprünglichen Spracheinheit ausgegliedert – dies durch wellenartige Verbreitung sprachli-
cher Neuerungen über mannigfaltige (später unterdrückte) Übergangsdialekte.
Die S u b s t r a t t h e o r i e (entwickelt in der roman. Sprachwissenschaft, von HERMANN HIRT 1894 auf
das Idg. übertragen) gebraucht das Bild von Sprachschichten, die sich überlagern (Substrat = sprach-
liche Grundlage; Superstrat = sprachliche Überlagerung) oder aneinander anlagern (Adstrat-Wirkung
bei Zweisprachigkeit): Die Sprache von idg. Eroberern habe sich auf fremdsprachige unterworfene
Völker übertragen.
Die E n t f a l t u n g s t h e o r i e (ANTOINE MEILLET 1918, OTTO HÖFLER 1956, J. KNOBLOCH 1961 ff.) rech-
net mit der Möglichkeit gleichartiger Spontanentwicklungen bei räumlicher Trennung. An die Stelle
einer ehemaligen Sprachgemeinschaft setzt sie die Annahme paralleler, aber unabhängiger „Entfal-
tung“. Die Auffassung einer idg. “Urspache“ erfährt hier ihre schärfste Kritik.
Als gemeinsame Wurzel überlieferter Einzelsprachen erweist sich „das“ Indogerma-
nische damit als bloße Abstraktion – es bleibt gleichwohl eine für die Sprachwissen-
schaft unentbehrliche Hilfskonstruktion, besonders für etymologische (den Ursprung
der Wörter ermittelnde) Zwecke.
Gemeinsamkeiten der idg. Sprachen bestehen in Lexik (Wortschatz; Verwandt-
schaftsnamen; Rechtsbegriffe wie Ehe; Gewässer-, Pflanzen-, Tiernamen; Bezeich-
nungen für technische Fertigkeiten und Geräte, etwa Pflug, Wagen; göttl. Wesen;
Dezimalsystem [10], vermischt mit Resten eines Sexagesimalsystems [6, 12, 60])
und in Morphologie (Formenbildung, etwa: ich b-in (ahd. b-im) – engl. I am (ae.
eom), got. im, anord. em, lat. s-um, gr. ei-mi, altbulg. jes-m’, tschech. jse-m, poln.
jest-em). Sprachtypologisches Kennzeichen der idg. Sprachen ist der flektierende
oder synthetische Sprachbau; die syntaktischen Beziehungen werden vor allem
durch Endungen und Vorsilben ausgedrückt, die zum Stamm der einzelnen Wörter
hinzutreten. Die modernen idg. Sprachen entwickeln hieraus eine Tendenz zum ana-
lytischen Sprachbau mit Hilfsverben, Pronomen, Artikeln etc. (vgl. lat. laudavi vs.
nhd. ich habe gelobt).
Das Indogermanische wird herkömmlicherweise in zwei Großgruppen eingeteilt: in
Ken tum- und Sa tem-Sprachen . Die Unterscheidung orientiert sich an der unter-
schiedlichen Behandlung der Gaumenverschlusslaute. Diese haben sich in einer
eher westlichen Gruppe als Verschlusslaute k, kh, g, gh erhalten, in einer eher östli-
chen Gruppe wurden sie in die stimmhaften bzw. stimmlosen Reibelaute s, sch ver-
Einführung in die Germanistische Mediävistik (Sprachgeschichte und Grammatik) 3
wandelt. Als Leitwort dient die Bezeichnung für 100, idg. *kmtóm2. Beispiele aus den
Kentum-Sprachen (eher westlich): gr. hekatón, lat. centum (sprich: kentum), germ.
(got.) hund (h aus k „verschoben“), toch. känt; Beispiele aus den Satem-Sprachen
(eher östlich): aind. !stám, avest. sat"m. lit. !imatas, altbulg. s’to, russ. sto.
Satem-Sprachen:
Die Anfänge der modernen Vergleichenden Sprachwissenschaft sind eng verbunden mit der Wieder-
entdeckung des altindischen S a n s k r i t (u.a. durch FRIEDRICH VON SCHLEGEL und FRANZ BOPP3), das
die älteste Stufe des indo-iranischen Zweigs der Satem-Sprachen repräsentiert.
Das altind. Sanskrit ist in den brahmanischen Veda-Texten (altind. weda – ’Wissen’, danach: lat.
videre, dt. wissen) überliefert, deren älteste Vertreter vermutlich bis ins 2. Jahrtausend v. Chr. zurück-
reichen. Jüngeren Datums ist die Sprachform des klassischen Sanskrit, einer Kunstsprache der
klassischen altind. Literatur und Wissenschaft, die in der Nachfolge des Grammatikers Panini in Re-
geln gefasst wurde (4. Jh.; auch religiöse Prosatexte sowie die Epen ›Mahabharata‹ und ›Ramayana‹
sind dieser Sprache überliefert). Neben dem verschriftlichten Sanskrit bestanden zahlreiche Volksdia-
lekte in mündlichem Gebrauch (Prakrit); hieraus gingen moderne Hauptsprachen hervor wie Hindi
(Indien), z.T. Urdu (Staatssprache Pakistans), Bengali (Bangladesch), Nepali, Sinhalisch (Sri Lanka)
sowie die Sprachen der Sinti, Roma und anderer von Nordwestindien westwärts gewanderter Noma-
denstämme.
Zu den i r a n i s c h e n S p r a c h e n gehört das Persische (älteste Form in den altpersischen Königsin-
schriften von Darius, Xerxes und Artaxerxes, 6. - 4. Jh. v. Chr. Einen östlichen Zweig bildet die religiö-
se Lehre Zarathustras (630-553) und seiner Nachfolger (Awesta – ‚Unterweisung’, ‚Grundtext’). Auch
afghanische und kurdische Dialekte gehören der iranischen Gruppe an.
Unter die Satem-Sprachen rechnet man ferner das Armenische, das Thrakische und Phrygische
(ausgestorben), das Albanische und besonders die baltisch-slawische Gruppe.
B a l t i s c h e S p r a c h e n : das ausgestorbene Altpreußisch (lit. bezeugt vom 14. bis 17. Jh.) sowie
Litauisch, Lettisch. S ü d s l a w i s c h e S p r a c h e n : Bulgarisch (mit dem Altkirchenslawischen der
Slawenapostel Kyrillus und Methodius – ab 10. Jh., kyrillische Schrift!), Slowenisch, Serbisch, Kroa-
tisch, Makedonisch. O s t s l a w i s c h e S p r a c h e n : Russisch (Weißrussisch, Ukrainisch, Großrus-
sisch). W e s t s l a w i s c h e S p r a c h e n : Polnisch, Kaschubisch, Tschechisch, Slowakisch, Sor-
bisch.
Kentum-Sprachen:
Hierzu gehören das H e t h i t i s c h e , das G r i e c h i s c h e , die i t a l i s c h e n S p r a c h e n , das K e l t i -
s c h e und das G e r m a n i s c h e . 2 Das Sternchen * (Asteriskus) besagt, dass es sich um eine erschlossene, nicht belegte Form han-delt; das Idg. selbst ist ja nicht erhalten. 3 Vgl.: Franz Bopp: Über das Conjugationssystem der Sansskritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache, Frankfurt a. M. 1816. – Bopp weist die Zusammengehörigkeit anhand morphologischer Gemeinsamkeiten nach.
Einführung in die Germanistische Mediävistik (Sprachgeschichte und Grammatik) 4
H e t h i t i s c h gilt als die älteste idg. Sprache (18.-13. Jh. v. Chr.; keilschriftlich erhalten auf ca. 10.000
Tonscherben, 1907 bei Ankara gefunden wurden).
Das G r i e c h i s c h e ist seit dem 8. Jh. v. Chr. bekannt; Hauptmundartgruppen: Ionisch, Achäisch,
Dorisch. Unter dem Einfluss des Attischen entstand seit den Eroberungen Alexanders des Großen
eine überregionale Gemeinsprache (Koine) im östlichen Mittelmeerraum.
Zu den i t a l i s c h e n S p r a c h e n rechnet man altitalische Dialekte, die seit dem 6. Jh. v. Chr. in In-
schriften überliefert sind, ferner das zwischen dem 5. und 2. Jh. spärlich bezeugte Umbrische und
Oskische (Stadtmundart von Pompeij). Größte Verbreitung und Bedeutung erlangte der latinische
Zweig, die Sprache Latiums und damit Roms; sie wurde seit Augustus Verkehrssprache im westlichen
Teil des römischen Reiches. Aus dem umgangssprachlichen Vulgärlatein entstanden bereits im 1. bis
5. Jh. die modernen romanischen Idiome, deren schriftliche Überlieferung allerdings erst später ein-
setzt: Französisch (9. Jh.); Italienisch (10. Jh.); Sardisch und Provenzalisch (11. Jh.); Katala-
nisch, Kastilianisch und Portugiesisch (alle 12. Jh.); Rumänisch/ Moldauisch (16. Jh.), Rätoro-
manisch (Schweiz, 12. Jh. bzw. 16. Jh.), Furlan (Friaul, 14. Jh.), Ladinisch (Südtirol, 18. Jh.). Im
Zuge kolonialer Ausbreitung wurden romanische Sprachen auch zu Muttersprachen neuer Kreol-
sprachen (etwa das Portugiesische in Afrika, Asien und Südamerika).
Das K e l t i s c h e war im letzten Jahrtausend vor Christus in weiten Teilen Mitteleuropas verbreitet, wie
sich aus Inschriften und Ortsnamen (u.a. mit hal – ‚Salz’) erschließen lässt. Allerdings wurde das Fest-
landkeltische nie handschriftlich fixiert, ja von seinen Sprechern zugunsten anderer (bes. romanischer
Sprachen) aufgegeben. Literarisch überliefert ist allein das Inselkeltische: Irisch, Kymrisch (Wales),
Gälisch (Schottland), Manx (Insel Man), Bretonisch (Bretagne, seit dem 8. Jh. belegt als Sprache
eingewanderter Britannier, gilt als „Inselkeltisch“!).
Das German ische – ebenfalls der Kentum-Gruppe zugehörig – löste sich späte-
stens in der Mitte des letzten Jahrtausends v. Chr. aus dem idg. Sprachzusammen-
hang. Seit dieser Zeit unterscheiden sich die germanischen Sprachen von den übri-
gen idg. Sprachen.
2. Die germanischen Sprachen
Der Begriff des „Germanischen“ ist beinahe ebenso problematisch wie der des „In-
dogermanischen“. „Urgermanisch“ gilt als Sprache eines germanischen „Urvolkes“,
das sich im Laufe der jüngeren Bronzezeit in einzelne Stämme aufgespaltet haben
soll, denen die überlieferten germanischen Sprachen zugeordnet werden. Zweifelhaft
Einführung in die Germanistische Mediävistik (Sprachgeschichte und Grammatik) 5
sind jedoch nicht nur die Hypothesen zum Ursprung, sondern auch die zur weiteren
Entwicklung und Gliederung der germanischen Stammessprachen.
Weitgehende Übereinstimmung herrscht in der Forschung mittlerweile bezüglich fol-
genden Sachverhalten:
Wohl schon im ausgehenden 2. Jahrtausend v. Chr. entstand im heutigen Dänemark
(Nordengland, Südskandinavien) vermutlich aus Vermischung einwandernder Indo-
germanen („Steitaxtleute“) mit ansässiger Bevölkerung („Megalithgräber“-Kultur) eine
Verkehrsgemeinschaft, deren Sprache das Germanische wurde. Mit einem Hilfsbe-
griff bezeichnet man diese Sprache auch als „Gemeingermanisch“. Letzteres dürfte
sich bereits um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends deutlich von be-
nachbarten idg. Sprachen unterschieden haben; dies v.a. durch folgende Besonder-
heiten:
• Festlegung des im Idg. frei beweglichen Wortakzents auf den Wortanfang
(Stammsilbe); führt zur Abschwächung der voll klingenden idg. Endsilben
• Tendenz des Übergangs vom synthetischen zum analytischen Sprachbau
• erste oder germanische Lautverschiebung der Konsonanten (vgl. PWG § 85)4
• Schaffung eins „schwachen“ Präteritums (glaube-te = glauben tat)
• systematische Verwendung des idg. Ablautsystems bei der Konjugation der
starken Verben
• Bildung eines Sprossvokals vor Liquiden und Nasalen: idg. c, d, e, f > germ.
ur, ul, um, un).
!
Das „Gemeingermanische“ ist in keinerlei literarischen Sprachdenkmälern bezeugt.
Anhaltspunkte liefern jedoch germanische Lehnwörter in benachbarten Sprachen,
etwa im Finnischen (finn. rengas ‚Ring’, kuningas ‚König’), aber auch im Lateinischen
(ganta ‚Gans’, flado ‚Faden’, harpa ‚Harfe’). Eine zweite gemeingermanische Quelle
sind die für kultische Zwecke gebrauchten Runeninschriften. Die Runenschrift be-
steht in ihrer älteren Form aus 24 Lautzeichen und wird nach den ersten sechs da-
von (analog zu Alphabet bzw. Abc) Fu[ark genannt.
4 Die Abkürzung PWG wird hier und im Folgenden für die mittelhochdeutsche Standardgrammatik verwendet: Hermann Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik, 24., von Peter Wiehl und Siegfried Grosse überarbeitete Auflage, Tübingen 1998 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte, A: Hauptreihe, Nr. 2).
Einführung in die Germanistische Mediävistik (Sprachgeschichte und Grammatik) 6
Im Laufe des ersten Jahrtausends v. Chr. dürften germanische Stämme der eisen-
zeitlichen „Jastorfkultur“ (benannt nach archäologischem Fundort nördlich von Ülzen
i. Niedersachsen) ihre Siedlungsgebiete allmählich nach Süden erweitert haben (v.a.
auf Kosten von Kelten, Trägern der „La-Tène-Kultur“, benannt nach dem Fundort in
der Schweiz). Zwischen dem 4. und 2. Jh. v. Chr. sind sie offensichtlich aus den Ge-
bieten von Oder und Weichsel weiter nach Osten und Süden vorgestoßen. Jedenfalls
treffen sie (als Kimbern und Teutonen) 113 - 101 v. Chr. erstmals auf die Römer und
sind um die Zeitenwende deren Anrainer. Nun werden sie auch zusammenfassend
als Germani bezeichnet (etwa in Cäsars ›De bello Gallico‹).
Mit der so genannten Völkerwanderung (Höhepunkt 4. - 6. Jh.) werden einzelne Ger-
manenstämme historisch greifbar. Sprachgeschichtlich ist zu dieser Zeit nicht mehr
mit „Gemeingermanisch“ zu rechnen. Vielmehr differenziert sich das Germanische in
verschiedene Stammessprachen aus, die vereinzelt auch schriftlich überliefert
werden. Die Erforschung von Herkunft oder gar Genealogie der Germanenstämme
bleibt in ihren Ergebnissen problematisch. Die nachfolgende Einteilung, welche die
Stellung der deutschen Sprache innerhalb der germanischen Sprachen verdeutlichen
soll, ist deshalb mit Vorbehalt zu nehmen. – Weitgehende Einigkeit herrscht mittler-
weile hinsichtlich einer übergreifenden Fünfteilung der germanischen Stämme bzw.
Stammessprachen (nach FRIEDRICH MAURER 1952):
1. Als O s t g e r m a n i s c h gilt danach das Gotische, das nach Struktur, Alter und Überlieferung den
„klassischen“ germanischen Sprachtyp repräsentiert. In dieser Sprache ist der älteste (nicht-runische)
germanische Text überliefert, die in Handschriften des 6. Jh. (bes. dem Codex Argenteus: silberne
Tinte auf purpur gefärbtem Pergament) erhaltene Bibelübersetzung des westgotischen Bischofs Wulfi-
la (311-382).
2. Unter N o r d g e r m a n i s c h versteht man die skandinavischen Sprachen. Das Altnordische (700 –
ca. 1250) teilt sich in einen westnordischen (Norwegisch, Isländisch) und in einen ostnordischen
Zweig (Schwedisch, Dänisch). Bedeutsam ist das Altnordische insofern, als es mit seinen literarischen
Denkmälern – ähnlich wie das Gotische – eine archaische Stufe des Germanischen darstellt: erhalten
Einführung in die Germanistische Mediävistik (Sprachgeschichte und Grammatik) 7
sind Götter- und Heldenlieder der ›Edda‹ (überliefert im Codex Regius um 1270), Prosa-Sagas, Preis-
lieder der Skalden. Im abgelegenen Island haben auch nach der Christianisierung im Jahre 1000 Ge-
lehrte wie Snorri Sturluson (1178-1241) noch unbefangen Heidnisches aufgezeichnet.
Die nachfolgenden drei Sprachgruppen werden auch als Süd- oder Westgermanisch (letzteres eine
Abstraktion für Zwecke der hist. Grammatik und Etymologie) zusammengefasst. Im Anschluss an
vorwanderzeitliche Kultverbände (beschrieben bei Tacitus, ›Germania‹) unterscheidet THEODOR
FRINGS zwischen: Ingwäonisch und Hermionisch; FRIEDRICH MAURER teilt dagegen ein in: Nordsee-
germanisch, Weser-Rhein-Germanisch und Elbgermanisch.
3. N o r d s e e g e r m a n i s c h (I n g w ä o n i s c h ) ist die Sprache der Angeln, Chauken, Sachsen und
Friesen. Diese Stämme siedelten an der Nordseeküste von Belgien bis Jütland, von wo die Angeln
und ein Teil der Sachsen im 4./ 5. Jh. n. Chr. nach England abwanderten. Ein altenglisches Helden-
epos ist z.B. der ›Beowulf‹ (nach 730). Die Sprache der auf dem Festland verbliebenen Sachsen, das
Altsächsische, ist die Vorstufe des späteren Niederdeutschen.
4. W e s e r - R h e i n - G e r m a n i s c h (I s t w ä o n i s c h ) sprachen die Stämme der Franken und Hes-
sen, welche die heutigen fränkischen und hessischen Gebiete, ferner das heutige Holland, Belgien
und Nordfrankreich besiedelten. In Frankreich unterlag diese Sprache im 9. Jh. dem Romanischen, in
den Niederlanden entwickelte sie sich über das Altniederfränkische zum späteren Niederländi-
schen. Auf deutschem Gebiet wurden Fränkisch und Hessisch zusammen mit dem Thüringischen zur
Grundlage des Mitteldeutschen (dem nördl. Teil des Hochdeutschen).
5. E l b g e r m a n i s c h (H e r m i o n i s c h ) ist die Sprache einer in der Völkerwanderungszeit von der
Elbe nach Süden vordringenden Stammesgruppe, den späteren Alemannen, Baiern, Langobarden
und Thüringern. Die bis zum Alpennordrand gelangenden Alemannen und Baiern bildeten zusammen
mit den Ostfranken sprachlich das Oberdeutsche (den südl. Teil des Hochdeutschen). Die Langobar-
den kamen bis nach Oberitalien (Lombardei) und wurden im 10. Jh. romanisiert.
Die Etymologie (griech. etymon ’das Wahre, Ursprüngliche’), die Lehre vom Ur-
sprung sprachlicher Zeichen (ihrer Zusammengehörigkeit in der Wortbildung, ihres
Laut- und Bedeutungswandels), ermittelt in den idg. und germ. Sprachen Vor- und
Vergleichsstufen des Deutschen. Eine streng diachronische Betrachtung der mittel-
hochdeutschen Sprachstufe ginge also über das Althochdeutsche zurück zum sog.
„Urgermanischen“ und von dort aus weiter zur idg. „Ursprache“. Auf diesem Wege
kann beispielsweise folgende Entwicklungsreihe rekonstruiert werden:
idg. *dhe-dhom - urgerm. de-don, *de-do - ahd. te-ta - mhd. te-
te - nhd. tat (1.Sg.Ind.Prät)
Die Rekonstruktion indogermanischer und urgermanischer Grundmorpheme gehört
zum Aufgabenbereich der indogermanischen und germanischen Sprachwissen-
Einführung in die Germanistische Mediävistik (Sprachgeschichte und Grammatik) 8
schaft. Für die Analyse der mittelhochdeutschen Sprachstufe reicht hingegen die
Kenntnis des Lautwandels aus. Damit kann die Entwicklung eines Wortes innerhalb
der Geschichte der deutschen Sprache, ferner dessen Zuordnung zu entsprechen-
den Wörtern im Lateinischen, Französischen, Englischen erklärt werden.
Über Sprachvergleich lässt sich etwa der folgende Lautwandel als Regel fassen:
idg. t > germ. [ > ahd./ mhd./ nhd. d vgl. lat. tres vgl. got. [reis mhd. drî/ nhd. drei frz. trois
Das anlautende /t/ in lat. tres und in dem (daraus abgeleiteten) frz. trois repräsentiert
noch den idg. Lautstand. Hingegen zeigen das got. /[/ und das engl. /th/ schon die
germ. Sonderentwicklung der ersten oder germ. Lautverschiebung. Von diesem ge-
meingermanischen Lautstand hat sich wiederum das hochdeutsche /d/ im Rahmen
der zweiten oder hochdeutschen Lautverschiebung abgesondert.
Beim Notieren dieses Sachverhalts sollte man den Unterschied zwischen Phonem (kleinster bedeu-
tungsentscheidender Einheit) und Morphem (kleinster bedeutungstragender Einheit) beachten. Es ist
korrekt, wenn man schreibt: idg. t > germ. [ > ahd./ mhd./ nhd. d. – Falsch aber wäre z.B. die Notiz:
lat. tres > engl. three; denn für engl. three, got. [reis und dt. drei lässt sich das urgerm. Zahlwort *[rijiz
erschließen, das sich nicht aus dem Lat. entwickelt hat, vielmehr werden sowohl lat. tres als auch
urgerm. *[rijiz zurückgeführt auf idg. *treies.
3. Zeitliche und räumliche Gliederung des Deutschen
Es gibt keine sprachlichen Kennzeichen, durch die sich „das“ Deutsche von den üb-
rigen germanischen Sprachen wesentlich unterschiede. Die dem Deutschen zugehö-
rigen Dialekte haben sich aus den Stammessprachen spätgermanischer Großstäm-
me entwickelt: Teile der Nordsee-, der Weser-Rhein- und der Elbgermanen wachsen
seit der Karolingerzeit infolge der Loslösung vom romanisierten westlichen Franken-
reich zu einer politischen, kulturellen und später auch sprachlichen Einheit zusam-
men, die mit dem Begriff deutsch5 bezeichnet wird.
5 Das Wort ist seit 786 zunächst als mittellat. theodiscus (= ‚vulgaris’, ‚volkssprachig’ – im Ggs. zum Latein) belegt. Es wird als deutscher Ausdruck in diutiscun ‚auf deutsch’ und in der auf den deutschen Sprachraum eingeschränkten Bedeutung zuerst bei Notker von St. Gallen (gest. 1022) gebraucht, später um 1110 im Annolied in Bezug auf Sprache, Land und Einwohner verwendet (diutschin sprec-
Einführung in die Germanistische Mediävistik (Sprachgeschichte und Grammatik) 9
Die Entstehung des „Deutschen“ aus den drei westgermanischen Sprachgruppen
spiegelt sich teilweise in der Dreigliederung des deutschen Sprachraums wider:
N iederdeu tsch (< Sachsen = Teil der Nordseegermanen), M i t te ldeu tsch (<
Franken, Hessen = Teile der Weser-Rhein-Germanen), außerdem Thüringer = Teil
der Elbgermanen), Oberdeu tsch (< Alemannen, Baiern = Teile der Elbgermanen,
außerdem Ostfranken = Teil der Weser-Rhein-Germanen). Diese Genese aus unter-
schiedlichen Stammessprachen erklärt einerseits die starke dialektale Zersplitterung
des Deutschen, andererseits die Tendenzen zur Ausbildung eines überregionalen
Idioms (im „klassischen“ Mittelhochdeutschen, ferner in den Kanzlei-, Drucker- und
Ausgleichssprachen des Frühneuhochdeutschen, schließlich in der neuhochdeut-
schen Einheitssprache).
Die niederdeutschen Dialekte sind in der Laut- und Formenbildung näher mit man-
chen nicht-deutschen Sprachen verwandt als mit den hochdeutschen Dialekten. Be-
sonderes Kennzeichen des Deutschen ist dessen sprachlich grundlegende Zweitei-
lung in Niederdeutsch im Norden und Hochdeutsch im mittleren und südlichen Teil
(mit Mitteldeutsch und Oberdeutsch)6.
Vor Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache unterscheidet man seit WIL-
HELM SCHERER im „Altdeutschen“ drei Sprachperioden7:
1. Althochdeutsch (Ahd., ca. 750-1050) ---- Altniederdeutsch
2. Mittelhochdeutsch (Mhd., ca. 1050-1350) ---- Mittelniederdeutsch/ Mittelniederländisch8
Frühmittelhochdeutsch (1050-1170)
„Klassisches“ Mittelhochdeutsch (1170-1250)
Spätmittelhochdeutsch (1250-1350)
3. Frühneuhochdeutsch (Frnhd., ca. 1350-1650)
chin, diutsche lant, diutschi man, diutschi liuti). – Näheres dazu bei Wilhelm Schmidt, Geschichte der deutschen Sprache (wie Anm. 1), S. 81 f. 6 Hoch bzw. nieder sind also rein geographisch, sprachraumbezogene Begriffe. Hochdeutsch bedeu-tet folglich nicht: Einheits-, Schrift- oder Standardsprache. 7 Wilhelm Scherer: Zur Geschichte der deutschen Sprache, 2. Aufl., Berlin 1878. 8 Vgl. zum Mittelniederländischen und Mittelniederdeutschen unten, S. 14.
Einführung in die Germanistische Mediävistik (Sprachgeschichte und Grammatik) 10
Sprachhistorischen Periodisierungskonzepten liegen überwiegend, zumal in Bezug
auf die althochdeutsche Epoche, sprachliche Kriterien zugrunde: besonders Laut-
wandel, seltener Veränderungen im Bereich von Wortformen, Wortschatz und Satz-
bau. Merkmale dieser Art sind für die Entwicklung vom Alt- zum Neuhochdeutschen:
• die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung, die sich in vorahd. Zeit (6./7.
Jh.) vollzieht und sich zu Beginn der ahd. Periode (um 750) durchgesetzt hat
(vgl. PWG §§ 86-91);
• die Nebensilbenabschwächung (PWG §§ 52-56) und der i-Umlaut (PWG
§ 41); beide Erscheinungen bahnen sich in ahd. Zeit an und haben zu Beginn
der mhd. Periode im Wesentlichen Geltung; Beispiel: ahd. Plural gasti vs.
Mhd. geste (‚Gäste’);
• die nhd. Diphthongierung (PWG § 42) und Monophthongierung (PWG § 43),
deren Anfänge in der Frühphase des Mhd. liegen, während ihre Ausbreitung
erst nach 1500 abgeschlossen ist; Beispiel: mhd. mîn niuwez hûs vs. nhd.
mein neues Haus (Diphthongierung), mhd. liebe guote brüeder vs. nhd. liebe
gute Brüder.
Die zeitliche und räumliche Gliederung des Althochdeutschen ist schwierig, da diese
Sprachstufe nur punktuell überliefert ist. Die verschiedenen erhaltenen Texte reprä-
sentieren prinzipiell die Schreibsprachen einzelner Klöster (etwa: Fulda, Weißenburg,
Murbach, Reichenau, St. Gallen, Freising, Regensburg, Salzburg), wo sich mit der
schriftlichen Fixierung bestimmte Schreibschulen und Schreibtraditionen bildeten;
letztere müssen aber durchaus nicht immer mit der Mundart ihrer Umgebung iden-
tisch sein.
Das in dieser Sprachform überlieferte Schrifttum9 ist zunächst Glossenliteratur, Übersetzungsliteratur
(aus dem Lateinischen). Zur Glossenliteratur gehören beispielsweise das lat.-ahd. Synonymenver-
zeichnis ›Abrogans‹ (um 750; benannt nach dem ersten Synonymenpaar: abrogans – dheomodi [‚de-
mütig’] und das nach Sachgruppen geordnete Wörterbuch ›Vocabularius Sancti Galli‹ (um 790). Ein
Beispiel für Interlinearversionen liefert die St. Galler Bearbeitung der Benediktinerregel (Anfang 9.
9 Dazu mit literaturgeschichtlichem Schwerpunkt: Max Wehrli, Geschichte der deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, Stuttgart 1980 (Geschichte der deutschen Lite-ratur von den Anfängen bis zur Gegenwart 1), S. 40-113; mit sprachgeschichtlichem Schwerpunkt: Peter von Polenz, Geschichte der deutschen Sprache, Berlin/ New York 1978 (Sammlung Göschen 2206), S. 37-41 (Anfänge deutscher Schreibsprache), S. 41-45 (Christianisierung des deutschen Wortschatzes).
Einführung in die Germanistische Mediävistik (Sprachgeschichte und Grammatik) 11
Jh.). Von hohem literarischem Rang sind die im Kloster Reichenau entstandenen ›Murbacher Hym-
nen‹ (ebf. Anfang 9. Jh.), d.h. die Wiedergabe von 26 ambrosianischen Hymnen (strophischen Kir-
chenliedern). Erste Prosatexte liegen vor im ahd. ›Isidor‹ (Übers. Eines Traktats des Bischofs Isidor
von Sevilla, gest. 636: De fide catholica contra ludaeos) und im ahd. ›Tatian‹ (Übers. einer urspr. wohl
syrischen Zusammenfassung der 4 Evangelien aus dem 2. Jh.). Selbständige Bibeldichtungen von
einzigartigem literarischen Wert stammen aus dem 9. Jh.: der anonyme altsächsische ›Heliand‹ und
die ahd. Evangelienharmonie Otfrids von Weißenburg. Als bearbeitender Übersetzter wichtiger wis-
senschaftlicher und theologischer Werke (Aristoteles, Boethius, Martianus Capella; Psalter) tritt an der
Wende vom 10. zum 11. Jh. Notker III. von St. Gallen („der Deutsche“, gest. 1022) hervor.
Der Ausdruck Mittelhochdeutsch meint keine überregionale Einheitssprache, sondern
ist Sammelbegriff für eine Vielfalt geschriebener Dialekte. Jedoch entwickelte die rit-
terlich-höfische Gesellschaft der Stauferzeit eine verfeinerte „Umgangssprache“, aus
der eine Literatursprache mit Ansätzen zu einer Gemein- oder Einheitssprache her-
vorging. Sie wurde als geschriebene, vielleicht auch gesprochene Dichtersprache
gepflegt und auch von Geistlichen in klösterlichen Schreibstuben und Schreibschulen
übernommen. Es handelt sich hierbei um eine über den Mundarten stehende Kunst-
sprache, die als „höfische Dichtersprache“ oder „klassisches Mittelhochdeutsch“ be-
zeichnet wird10. Diese Sprachform ist das Idiom Hartmanns von Aue, Wolframs von
Eschenbach, Gottfrieds von Straßburg, Walthers von der Vogelweide, des Minne-
sangs überhaupt sowie des (anonymen) ›Nibelungenlied‹-Dichters.
10 Vgl. PWG § 9.
Einführung in die Germanistische Mediävistik (Sprachgeschichte und Grammatik) 12
Karte A: Schriftdialekte in mittelhochdeutscher und mittelniderdeutscher Zeit (nach H. Paul, Mittel-
hochdeutsche Grammatik, Tübingen, 23. Auflage 1989, S. 7).
Neben dem Kunst- und Ausgleichsidiom der „höfischen Dichtersprache“ lassen sich
in schriftlichen Quellen durchaus die verschiedenen mittelhochdeutschen bzw. mit-
telniederdeutschen Dialekte erkennen. Die Sprachwissenschaft konnte daraus eine
Abgrenzung der Mundartlandschaften rekonstruieren, wie sie in Karte A ersichtlich
ist. Die Grenzen der einzelnen Dialekte lassen sich jedoch in der Regel nicht so
scharf ziehen, wie es die Karte vorgibt. Vielmehr existieren häufiger unterschiedlich
breite Übergangsstreifen, die sich im Laufe der Sprachgeschichte verschieben kön-
nen. Überhaupt ist die Einteilung des deutschen Sprachraums nur mit Hilfe der heu-
tigen Mundarten zuverlässig möglich, deren Raumverhältnisse jedoch nur mit Ein-
schränkung auf das Mhd. übertragen werden können.
Einführung in die Germanistische Mediävistik (Sprachgeschichte und Grammatik) 13
Karte B: Die deutschen Dialekte um 1965 (nach H. Protze und Th. Frings; in: Die deutsche Sprache,
hg. von E. Agricola u.a., Bd. 1, Leipzig 1969, S. 406).
Die heutige Binnengliederung des Deutschen in Sprachlandschaften (vgl. die aus
mündlichem Sprachgebrauch gewonnene Karte B) weist zurück auf Verkehrsge-
meinschaften, die sich im Spätmittelalter herausbildeten. Die Grenzen spätmittelalter-
licher Territorien (vgl. auf Karte A und B den sog. „Rheinischen Fächer“ der drei
geistlichen Kurfürstentümer Köln, Trier und Mainz) haben die Dialektgrenzen ent-
scheidend mitbestimmt.
Einführung in die Germanistische Mediävistik (Sprachgeschichte und Grammatik) 14
Die großen Sprachlandschaften im Mittelalter sind:
1. Oberdeutsch (Obd.)
Alemanisch (Hoch- oder Südalemannisch mit Kerngebiet Südbaden
und Schweiz; Niederalemannisch oder Oberrheinisch mit
Kerngebiet Elsass; Nordalemannisch oder Schwäbisch,
seit dem 13. Jh.)
Bairisch (Südbairisch in Tirol, Kärnten, Steiermark; Mittelbairisch in
Ober- und Niederbayern sowie in Ober- und Niederöster-
reich; Nordbairisch in der Oberpfalz nördlich von Re-
gensburg)
2. Mitteldeutsch (Md.)
Mittel ist hier geographischer Begriff, nicht zu verwechseln
mit der Zeit- und Periodenbedeutung bei Mittel-hochdeutsch.
Die Grenze zwischen dem Oberdeutschen und dem Mittel-
deutschen heißt nach dem der Rheinüberschreitung Speyer-
Linie (Karte A: Linie d). Sie verläuft heute westl. v. Stras-
bourg – Speyer – nach Norden Richtung Fulda – nördl. v. Ei-
senach – südl. v. Jena – nördl. v. Plauen; im Mittelalter lag
sie wohl etwas südlicher. Das Mitteldeutsche gliedert sich in:
Westmitteldeutsch
Mittelfränkisch (mit dem Ripuarischen um Köln
und mit dem Moselfränkischen um
Trier)
Oberfränkisch (mit dem Rheinfränkischen – v.a.
Pfälzisch, Hessisch – und mit dem
Ostfränkischen im oberen Mainge-
biet; letzteres wird häufig auch zum
Oberdeutschen gerechnet)
Ostmitteldeutsch
Thüringisch, Obersächsisch-Böhmisch, Schlesisch
Einführung in die Germanistische Mediävistik (Sprachgeschichte und Grammatik) 15
3. Niederdeutsch (Nd.)
Das Niederdeutsche hat nicht teil an der zweiten oder hoch-
deutschen Lautverschiebung. Die Grenze zwischen dem
Niederdeutschen und den Hochdeutschen heißt nach dem
Ort der Rheinüberschreitung Benrather Linie (Karte A: Linie
a). Sie verläuft heute etwa von Aachen – Benrath – bei Düs-
seldorf – Rothaargebirge – Kassel – südl. von Magdeburg –
Wittenberg – Frankfurt a.d. Oder; auch sie lag in mhd. Zeit –
bes. im Osten – südlicher. Das Niederdeutsche gliedert sich
zunächst in das Friesische, Niederfränkische und Nieder-
sächsische.
Mittelniederdeutsch:
Im Wirtschafts- und Herrschaftsgebiet der deutschen Hanse
entwickelt sich vom 14. Jh. an eine mittelniederdeutsche
Schreibsprache, die bis ins 16. Jh. als Verkehrssprache im
europäischen Norden dient. Mit dem Niedergang der Hanse
verliert diese Sprachform stetig an Bedeutung, bis im 17. Jh.
der Vorrang des Hochdeutschen entscheidend ist.
Mittelniederländisch:
(auch: Dietsch) entsteht bereits im 13. Jh. als Verkehrsspra-
che der reichen flandrischen und brabantischen Städte. Hier-
aus entwickelt sich das Niederländische als selbständige Na-
tionalsprache.
Da sich das Niederdeutsche neben dem Hochdeutschen nicht als Schriftsprache be-
haupten konnte, nähert sich die Geschichte der deutschen Sprache in ihrer nhd. Pe-
riode immer mehr der Gleichsetzung von Deutsch und Hochdeutsch. Für die Entste-
hungsweise dieser neuhochdeutschen Schriftsprache lieferte die Forschung unter-
schiedliche Erklärungsvorschläge:
THEODOR FRINGS (1886-1968)11 bietet, ausgehend von den Mundarten, einen dialekt-
geographischen Ansatz: Die Herausbildung der nhd. Schriftsprache beruhe auf den
11 Theodor Frings: Grundlegung einer Geschichte der deutschen Sprache, 3., erw. Aufl., Halle a.d. Saale 1957, bes. Kap. II, S. 42-45.
Einführung in die Germanistische Mediävistik (Sprachgeschichte und Grammatik) 16
ostmitteldeutschen Siedlermundarten; denn im ostmitteldeutschen Siedlungsraum
habe sich eine koloniale Durchschnitts- und Ausgleichssprache herausbilden kön-
nen: Der Weg zur nhd. Schriftsprache gehe nicht von oben nach unten, sondern von
unten nach oben.
Mit dieser Auffassung wendet sich FRINGS gegen die Überschätzung der Wirkung der
Kanzleisprachen (bes. durch KONRAD BURDACH) bezüglich der Prager Kanzlei Karls
IV., 1346-1378). Der Weg zum Neuhochdeutschen führt nach FRINGS von der Mund-
artebene der Siedler in die darüber liegenden Schichten der Schriftlichkeit.
Anders als FRINGS hebt WERNER BESCH gerade wieder die Rolle der spätmittelhoch-
deutschen Schreibdialekte hervor, indem er von Ausgleichsvorgängen auf schreib-
sprachlicher Ebene ausgeht:
„Unter Kaiser Friedrich III. [1440-1493] und dann unter Kaiser Maximilian
wächst die donauländische Schreibsprache, zeitgenössisch das „gemeine
teutsch“ genannt, zu einer Verkehrs- und Gemeinsprache von weiterer Gel-
tung heran und bringt die angrenzenden Gebiete immer stärker unter ihren
Einfluß.“12
Hinzu komme die Katalysatorrolle Martin Luthers:
„Luther bedient sich der schreibsprachlichen Großfläche des Südostens, wo
immer er kann. Ist er gezwungen, sprachlich auszuwählen, so trifft er seine
Wahl sehr oft im Blick auf diese Einheit.“13
Durch Luthers Autorität setzt sich nach BESCH eine ostmitteldeutsch-oberdeutsche
Allianz bei der Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache durch.
Luther selbst berief sich mit seinem Sprachgebrauch nicht auf die Mundarten, son-
dern auf die zu seiner Zeit gebräuchliche Form der Schriftlichkeit:
Ich habe keine gewisse, sonderliche, eigene Sprache im Deutschen, sondern
brauche der gemeinen deutschen Sprache, daß mich beide, Ober- und Nie-
derländer verstehen mögen.
Ich rede nach der sächsischen Canzeley, welcher nachfolgen alle Fürsten und
Könige in Deutschland; alle Reichsstädte, Fürsten-Höfe schreiben nach der
sächsischen und unsers Fürsten Canzeley, darum ists auch die gemeinste
deutsche Sprache. Kaiser Maximilian und Kurf. Friedirch, H. zu Sachsen ec. 12 Werner Besch: Sprachlandschaften und Sprachausgleich im 15. Jahrhundert. Studien zur Erfor-schung der spätmittelhochdeutschen Schreibdialekte und zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache, München 1967 (Bibliotheca Germanica 11), S. 362. 13 Ebd.
Einführung in die Germanistische Mediävistik (Sprachgeschichte und Grammatik) 17
haben im römischen Reich die deutschen Sprachen also in e ine gewisse
Sprache gezogen.14
Andererseits hat gerade Luther (im ›Sendbrief vom Dolmetschen‹) der gesprochenen
Sprache ihr Recht neben der geschriebenen zuerkannt:
man mus nicht die buchstaben inn der lateinischen sprachen fragen, wie man
sol Deutsch reden […], sondern, man mus die mutter jhm hause, die kinder
auff der gassen, den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen, und den
selbigen auff das maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen, so
verstehen sie es den und mercken, das man Deutsch mit in redet.15
Luthers Äußerungen zur Kanzleisprache und zur Sprache des „gemeinen Mannes“
verweisen auf das komplizierte Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, von
Volkssprache und Latein, von Illiterarizität (Laienkultur) und Literarizität (Kleriker- und
Gelehrtenkultur), das in der Geschichte der deutschen Sprache und Literatur von den
Anfängen einer schriftlichen Überlieferung bis zur frühen Neuzeit von zentraler Be-
deutung ist.
14 Martin Luther: Weimarer Ausgabe, Tischreden, Weimar 1912, Bd. 1, Nr. 1040, S. 524 f. 15 Martin Luther: Weimarer Ausgabe, Bd. 30/2, Weimar 1909, S. 637.