Sebastian Haffner - Weltbild...Sebastian Haffner Geschichte eines Deutschen Die Erinnerungen...

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Sebastian Haffner Geschichte eines Deutschen Die Erinnerungen 1914 –1933 Mit einer Vorbemerkung und einem Nachwort zur Editionsgeschichte von Oliver Pretzel Pantheon

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Sebastian Haffner

Geschichte eines DeutschenDie Erinnerungen 1914–1933

Mit einer Vorbemerkung und einem Nachwort zur Editionsgeschichte von Oliver Pretzel

Pantheon

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Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der VerlagsgruppeRandom House GmbH.

Erste AuflagePantheon-Ausgabe Februar 2014

Copyright © 2000 by Sarah Haffner und Oliver PretzelCopyright © 2000 by Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart / München Umschlaggestaltung: Jorge Schmidt, MüncheneISBN 978-3-641-15553-7

www.pantheon-verlag.de

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VORBEMERKUNG

Im März 2002 erfuhren meine Schwester Sarah Haffnerund ich vom Bundesarchiv, daß ein dort seit 2000 diePapiere unseres Vaters ordnender junger Historiker, Jür-gen Peter Schmied, zwei Manuskripte gefunden hatte, diezur »Geschichte eines Deutschen« gehören.

Es handelt sich beim ersten um die fehlende getippteFassung von Kapitel 25. Durch Einfügen dieser Fassung istes nunmehr möglich, den ursprünglichen Übergang vonKapitel 24 und den Urzustand der seinerzeit vom sterngekürzten Passagen wiederherzustellen.

Beim zweiten Fund handelt es sich um 38 handgeschrie-bene Seiten, die die Erzählung bis zum Dezember 1933fortsetzen und in sechs zusätzlichen Kapiteln das Referen-darlager in Jüterbog beschreiben. Diese Seiten bringen dasGesamtmanuskript auf die Länge, die mein Vater in seinemim Nachwort zitierten Brief vom 6. Oktober 1939 angege-ben hat. Obwohl sie nur in Form eines ersten Entwurfsvorliegen, sind sie hier unverändert abgedruckt.

Mit diesen beiden Ergänzungen entspricht nun dasBuch, bis auf das zurückübersetzte Kapitel 10, in vollemUmfang dem Zustand, den das Manuskript im Herbst 1939hatte, als es beiseite gelegt wurde.

Oliver PretzelApril 2002

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Deutschland ist nichts, aber jeder einzelne Deutsche ist viel.

(GOETHE, 1808)

Zunächst das Wichtigste: »was tun und treibenSie eigentlich in dieser großen Zeit?

Ich sage: groß: denn alle Zeiten scheinenmir Groß, wo sich der Einzelne zuletzt,

auf gar nichts stehend als auf seinen Beinen,dazu vom Zeitengeist halbtotgehetzt,Besinnen muß, ob nolens oder volens,auf nichts geringeres als eben SICH!Die Pause eines bloßen Atemholens

genügt bisweilen – Sie verstehen mich.«

(PETER GAN, 1935)

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PROLOG

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Die Geschichte, die hier erzählt werden soll, hat zumGegenstand eine Art von Duell.

Es ist ein Duell zwischen zwei sehr ungleichen Gegnern:einem überaus mächtigen, starken und rücksichtslosenStaat, und einem kleinen, anonymen, unbekannten Privat-mann. Dies Duell spielt sich nicht auf dem Felde ab, dasman gemeinhin als das Feld der Politik betrachtet; der Pri-vatmann ist keineswegs ein Politiker, noch weniger ein Ver-schwörer, ein »Staatsfeind«. Er befindet sich die ganze Zeitüber durchaus in der Defensive. Er will nichts weiter, alsdas bewahren, was er, schlecht und recht, als seine eigenePersönlichkeit, sein eigenes Leben und seine private Ehrebetrachtet. Dies alles wird von dem Staat, in dem er lebtund mit dem er es zu tun hat, ständig angegriffen, mitäußerst brutalen, wenn auch etwas plumpen Mitteln.

Unter furchtbaren Drohungen verlangt dieser Staat vondiesem Privatmann, daß er seine Freunde aufgibt, seineFreundinnen verläßt, seine Gesinnungen ablegt, vorge-schriebene Gesinnungen annimmt, anders grüßt als er esgewohnt ist, anders ißt und trinkt als er es liebt, seine Frei-zeit für Beschäftigungen verwendet, die er verabscheut,seine Person für Abenteuer zur Verfügung stellt, die erablehnt, seine Vergangenheit und sein Ich verleugnet, undvor allem für alles dies ständig äußerste Begeisterung undDankbarkeit an den Tag legt.

Das alles will der Privatmann nicht. Er ist wenig vorbe-reitet auf den Angriff, dessen Opfer er ist, er ist kein gebo-

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rener Held, noch weniger ein geborener Märtyrer. Er isteinfach ein Durchschnittsmensch mit vielen Schwächen,noch dazu das Produkt einer gefährlichen Epoche: Diesaber will er nicht. Und so läßt er sich auf das Duell ein –ohne Begeisterung, eher mit Achselzucken; aber mit einerstillen Entschlossenheit, nicht nachzugeben. Er ist selbst-verständlich viel schwächer als sein Gegner, dafür freilichetwas geschmeidiger. Man wird sehen, wie er Ablenkungs-manöver macht, ausweicht, plötzlich wieder ausfällt, wie er balanciert und schwere Stöße um Haaresbreite pariert.Man wird zugeben, daß er sich im Ganzen für einenDurchschnittsmenschen ohne besonders heldische odermärtyrerhafte Züge ganz wacker hält. Dennoch wird mansehen, wie er zum Schluß den Kampf abbrechen – oder,wenn man will, auf eine andere Ebene übertragen muß.

Der Staat ist das Deutsche Reich, der Privatmann binich. Das Kampfspiel zwischen uns mag interessant zubetrachten sein, wie jedes Kampfspiel. (Ich hoffe, es wirdinteressant sein!) Aber ich erzähle es nicht allein um derUnterhaltung willen. Ich habe noch eine andere Absichtdabei, die mir noch mehr am Herzen liegt.

Mein privates Duell mit dem Dritten Reich ist kein ver-einzelter Vorgang. Solche Duelle, in denen ein Privatmannsein privates Ich und seine private Ehre gegen einen über-mächtigen feindlichen Staat zu verteidigen sucht, werdenseit sechs Jahren in Deutschland zu Tausenden und Hun-derttausenden ausgefochten – jedes in absoluter Isolierungund alle unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Manche vonden Duellanten, heldischere oder märtyrerhaftere Natu-ren, haben es weiter gebracht als ich: bis zum Konzentrati-onslager, bis zum Block, und bis zu einer Anwartschaft aufkünftige Denkmäler. Andere sind schon viel früher erlegenund sind heute schon längst still murrende S.A.-Reservi-

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sten oder N.S.V.-Blockwalter. Mein Fall mag gerade einDurchschnittsfall sein. Man kann recht gut an ihm ablesen,wie heute die Chancen in Deutschland für den Menschenstehen.

Man wird sehen, daß sie ziemlich hoffnungslos stehen.Sie brauchten nicht ganz so hoffnungslos zu stehen, wenndie Außenwelt wollte. Ich glaube, daß die Außenwelt einInteresse daran hat, zu wollen, daß sie weniger hoffnungs-los stehen. Sie könnte – zwar nicht mehr den Krieg; dazuist es zu spät – aber ein paar Kriegsjahre dadurch sparen.Denn die Deutschen guten Willens, die ihren privatenFrieden und ihre private Freiheit zu verteidigen suchen,verteidigen, ohne es zu wissen, noch etwas anderes mit:den Frieden und die Freiheit der Welt.

Es scheint mir deswegen immer noch der Mühe wert,die Aufmerksamkeit der Welt auf diese Vorgänge im unbe-kannten Deutschland zu lenken.

Ich will in diesem Buch nur erzählen, keine Moral pre-digen. Aber das Buch hat eine Moral, welche, wie das»andere und größere Thema« in Elgars Enigma-Variatio-nen »durch und über das Ganze geht« – stumm. Ich habenichts dagegen, daß man nach der Lektüre alle die Aben-teuer und Wechselfälle wieder vergißt, die ich erzähle.Aber ich wäre sehr befriedigt, wenn man die Moral, die ichverschweige, nicht vergäße.

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Ehe der totale Staat fordernd und drohend auf mich zutratund mich lehrte, was es heißt, Geschichte am eigenenLeibe zu erleben, hatte ich schon eine ganz hübscheMenge von dem miterlebt, was man »historische Ereig-

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nisse« nennt. Alle Europäer der jetzt lebenden Generationkönnen das von sich sagen; und gewiß niemand mehr alsdie Deutschen.

Alle diese historischen Ereignisse haben selbstverständ-lich ihre Spuren hinterlassen: in mir so gut wie in allen mei-nen Landsleuten; und man versteht nicht, was spätergeschehen konnte, wenn man dies nicht versteht.

Aber es ist ein wichtiger Unterschied zwischen allem,was vor 1933 geschah, und dem, was dann kam: Allesfrühere zog an uns vorbei und über uns hin, es beschäftigteund es regte uns auf, und den einen oder andern tötete es oder ließ ihn verarmen; aber keinen stellte es vor letzteGewissensentscheidungen. Ein innerster Lebensbezirkblieb unberührt. Man machte Erfahrungen, man bildeteÜberzeugungen: Aber man blieb, was man war. Keiner,der, willig oder widerstrebend, in die Maschine des DrittenReichs geraten ist, kann das ehrlich von sich sagen.

Offenbar hat geschichtliches Geschehen einen verschie-denen Intensitätsgrad. Ein »historisches Ereignis« kann inder wirklichen Wirklichkeit, also im eigentlichsten, priva-testen Leben der einzelnen Menschen, fast unregistriertbleiben – oder es kann dort Verheerungen anrichten, diekeinen Stein auf dem andern lassen. In der normalenGeschichtsdarstellung sieht man ihm das nicht an. »1890: Wilhelm II. entläßt Bismarck.« Gewiß ein großes, fett-gedrucktes Datum in der deutschen Geschichte. Aberschwerlich ein Datum in der Biographie irgendeines Deut-schen, außerhalb des kleinen Kreises der Beteiligten. JedesLeben ging weiter wie zuvor. Keine Familie wurde ausein-andergerissen, keine Freundschaft ging in die Brüche, kei-ner verließ seine Heimat, nichts dergleichen. Nicht einmalein Rendezvous oder eine Opernvorstellung wurde abge-sagt. Wer unglücklich verliebt war, blieb es, wer glücklich

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verliebt war, blieb es, die Armen blieben arm, die Reichenreich... Und nun vergleiche man damit das Datum »1933:Hindenburg betraut Hitler.« Ein Erdbeben beginnt in66 Millionen Menschenleben!

Wie gesagt, die wissenschaftlich-pragmatische Ge-schichtsdarstellung sagt über diesen Intensitätsunterschieddes Geschichtsgeschehens nichts. Wer etwas darübererfahren will, muß Biographien lesen, und zwar nicht dieBiographien von Staatsmännern, sondern die viel zu rarenBiographien der unbekannten Privatleute. Dort wird ersehen: Das eine »historische Ereignis« zieht über das pri-vate – d. h. wirkliche – Leben hin wie eine Wolke übereinen See; nichts regt sich, nur ein flüchtiges Bild spiegeltsich. Das andere peitscht den See auf wie Sturm undGewitter; man erkennt ihn kaum mehr wieder. Das drittebesteht vielleicht darin, daß alle Seen ausgetrocknet wer-den.

Ich glaube, Geschichte wird falsch verstanden, wennman diese ihre Dimension vergißt (und sie wird fast immer vergessen). Man lasse mich daher einmal, zumSpaß, 20 Jahre deutsche Geschichte aus meiner Perspek-tive erzählen, ehe ich zum eigentlichen Thema komme:Geschichte Deutschlands als Teil meiner privaten Lebens-geschichte. Es wird ganz schnell gehen, und es wird dasVerständnis für alles folgende erleichtern. Außerdem wer-den wir uns dabei ein wenig näher kennenlernen.

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Der Ausbruch des vorigen Weltkrieges, mit dem meinbewußtes Leben wie mit einem Paukenschlag einsetzt, trafmich, wie er die meisten Europäer traf: in den Sommer-

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ferien. Um es gleich zu sagen: Die Zerstörung dieserFerien war das Ärgste, was mir der ganze Krieg persönlichantat.

Mit welcher gnädigen Plötzlichkeit der vorige Krieg ausbrach, wenn man es mit dem marternd langsamen Nä-herrücken des jetzt kommenden vergleicht! Am 1. August1914 hatten wir noch gerade beschlossen, das Ganze nichternstzunehmen und in unserer Sommerfrische zu bleiben.Wir saßen auf einem Gut in Hinterpommern, sehr welt-verloren, zwischen Wäldern, die ich, ein kleiner Schul-junge, kannte und liebte wie nichts anderes auf der Welt.Die Rückkehr aus diesen Wäldern in die Stadt, alljährlichMitte August, war das traurigste, unerträglichste Ereignisdes Jahres für mich, vergleichbar nur noch etwa dem Plün-dern und Verbrennen des Weihnachtsbaums nach demNeujahrsfest. Am 1. August lag es noch um zwei Wochenfern – eine Unendlichkeit.

In den Tagen zuvor freilich war einiges Beunruhigendesgeschehen. Die Zeitung hatte etwas, was sie nie gehabthatte: Überschriften. Mein Vater las sie länger als sonst,hatte ein besorgtes Gesicht dabei und schalt auf die Öster-reicher, wenn er sie ausgelesen hatte. Einmal hieß dieÜberschrift: »Krieg!« Ich hörte ständig neue Worte, derenBedeutung ich nicht kannte und mir umständlich erklärenlassen mußte: »Ultimatum«; »Mobilmachung«; »Allianz«;»die Entente«. Ein Major, der auf demselben Gut wohnteund mit dessen beiden Töchtern ich auf Neck- und Kriegs-fuß stand, bekam plötzlich eine »Order«, auch so ein neuesWort, und reiste Hals über Kopf ab. Auch einer der Söhneunseres Wirts wurde eingezogen. Alle liefen ein Stück hin-terher, als er im Jagdwagen zur Bahn fuhr, und riefen »Seitapfer!«, »Bleib heil und gesund!«, »Komm bald wieder!«Einer rief: »Hau die Serben!«, worauf ich, eingedenk des-

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sen, was mein Vater nach der Zeitungslektüre zu äußernpflegte, rief: »Und die Österreicher!« Ich war sehr erstaunt,daß alle plötzlich lachten.

Stärker als alles dies traf es mich, als ich hörte, daß auchdie schönsten Pferde auf dem Gut, »Hanns« und »Wach-tel«, wegkommen sollten, und zwar weil sie, welche Mengevon erklärungsbedürftigen Erklärungen!, zur »Kavallerie-reserve« gehörten. Die Pferde liebte ich jedes einzeln, unddaß die zwei schönsten plötzlich weg sollten, gab mir einenStich ins Herz.

Aber das Ärgste von allem war, daß zwischendrein auchimmer wieder das Wort »Abreise« fiel. »Vielleicht müssenwir morgen schon abreisen.« Das klang für mich genau so,als ob man gesagt hätte: »Vielleicht müssen wir morgenschon sterben.« Morgen – anstatt nach einer Unendlichkeitvon zwei Wochen!

Damals gab es bekanntlich noch kein Radio, und die Zei-tung kam mit 24 Stunden Verspätung in unsere Wälder. Esstand übrigens auch weit weniger darin, als heute in denZeitungen zu stehen pflegt. Die Diplomaten waren damalsnoch viel diskreter als heute... Und so konnte es geschehen,daß wir gerade am 1. August 1914 beschlossen, daß derKrieg gar nicht stattfinden würde und daß wir bleiben wür-den, wo wir waren.

Nie werde ich diesen 1. August 1914 vergessen, undimmer wird die Erinnerung an diesen Tag ein tiefes Gefühlvon Beruhigung, von gelöster Spannung, von »Alles wiedergut« mit heraufbringen. So seltsam kann das »Geschichte-Miterleben« vor sich gehen.

Es war ein Sonnabend, mit all der wundervollen Fried-lichkeit, die ein Sonnabend auf dem Lande haben kann.Die Arbeit war vorbei, Geläute heimkehrender Herden inder Luft, Ordnung und Stille über dem ganzen Gutshof,

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die Knechte und Mägde putzten sich in ihren Kammernfür irgendein abendliches Tanzvergnügen. Unten aber inder Halle mit den Hirschgeweihen an den Wänden undden Zinngeräten und blanken Steinguttellern auf den Bor-den fand ich, in tiefen Lehnstühlen sitzend, meinen Vaterund den Gutsherrn, unsern Wirt, vor, wie sie in besonne-nem Gespräch alles bedächtig erwogen. Selbstverständlichverstand ich nicht viel von dem, was sie redeten, und ichhabe es auch völlig vergessen. Nicht vergessen habe ich,wie ruhig und tröstlich ihre Stimmen klangen, die helleremeines Vaters und der tiefe Baß des Gutsherrn, wie ver-trauenseinflößend der wohlriechende Rauch ihrer langsamgerauchten Zigarren in kleinen Säulen vor ihnen in die Luftstieg, und wie, je länger sie redeten, alles immer klarer,immer besser und immer tröstlicher wurde. Ja, es wurdeschließlich geradezu unwiderleglich klar, daß es Krieg garnicht geben konnte, und infolgedessen würden wir unsnatürlich nicht ins Bockshorn jagen lassen, sondern bis zumEnde der Ferien hierbleiben, wie immer.

Als ich so weit zugehört hatte, ging ich hinaus, das Herzganz geschwellt von Erlöstheit, Zufriedenheit und Dank-barkeit, und sah mit geradezu frommen Gefühlen über denWäldern, die nun wieder mein Besitz waren, die Sonneuntergehen. Der Tag war bedeckt gewesen, aber gegenAbend hatte er sich immer mehr aufgeklärt, und jetztschwamm die Sonne, golden und rötlich, im reinsten Blau,einen wolkenlosen neuen Tag verheißend. So wolken-los, ich war gewiß, würde die ganze Unendlichkeit von 14 Ferientagen sein, die jetzt wieder vor mir lag! –

Als ich am nächsten Tag geweckt wurde, war das Packenschon in vollem Gang. Erst verstand ich überhaupt garnicht, was geschehen war; das Wort »Mobilmachung«,obwohl man es mir ein paar Tage vorher zu erklären ver-

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sucht hatte, sagte mir gar nichts. Es war aber wenig Zeit,mir überhaupt irgend etwas zu erklären. Denn mittagsmußten wir bereits mit Sack und Pack fahren – es war zwei-felhaft, ob später noch irgendein Zug für uns dasein würde.»Heute gehts Null komma fünf«, sagte unser tüchtigesDienstmädchen; eine Redensart, deren eigentlicher Sinnmir heutigentags noch dunkel ist, die aber jedenfallsbesagte, daß es drüber und drunter ging und daß jedersehen mußte, wo er bliebe. So konnte es auch geschehen,daß ich mich unbemerkt noch einmal davonmachen und indie Wälder laufen konnte – wo man mich gerade nochrechtzeitig vor der Abfahrt auffand, auf einem Baum-stumpf sitzend, Kopf in den Händen, fassungslos heulendund ohne jedes Verständnis für den Zuspruch, daß nunKrieg sei und daß jeder Opfer bringen müsse. Irgendwiewurde ich in den Wagen verstaut und fort gings hinter zweitrabenden braunen Pferden – nicht mehr Hanns undWachtel, die waren schon fort –, mit Staubwolken hinteruns, die alles verhüllten. Nie habe ich die Wälder meinerKindheit wiedergesehen.

Es war das erste und letzte Mal, daß ich ein Stück vomKriege als Wirklichkeit erlebte, mit dem natürlichenSchmerz des Menschen, dem etwas genommen und zer-stört wird. Schon unterwegs wurde alles anders, aufregen-der, abenteuerlicher – festlicher. Die Eisenbahnfahrt dau-erte nicht sieben Stunden wie sonst, sondern zwölf. Ständiggab es Aufenthalte, Züge voller Soldaten kamen an unsvorüber, und jedesmal stürzte alles zu den Fenstern, mitWinken und brausendem Rufen. Wir hatten kein Abteil füruns wie sonst, wenn wir reisten, sondern standen in Gän-gen oder saßen auf unseren Koffern, eingequetscht zwi-schen vielen Menschen, die alle unaufhörlich schnattertenund redeten, als wären es keine Fremden, sondern alte

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Bekannte. Am meisten sprachen sie über Spione. Ich lernteauf dieser Fahrt alles über das abenteuerliche Gewerbe derSpione, von dem ich noch nie gehört hatte. Über alleBrücken fuhren wir ganz langsam, und ich empfand jedes-mal ein angenehmes Gruseln dabei; konnte doch ein SpionBomben unter die Brücke gelegt haben! Als wir in Berlinankamen, war es Mitternacht. Nie in meinem Leben warich so lange aufgeblieben! Und unsere Wohnung war kei-neswegs auf uns vorbereitet, Bezüge über den Möbeln, dieBetten nicht instand. Man machte mir ein Lager auf einemSofa im tabakduftenden Arbeitszimmer meines Vaters.Kein Zweifel: Ein Krieg brachte auch vieles Erfreuliche mitsich!

In den nächsten Tagen lernte ich unglaublich viel inunglaublich kurzer Zeit. Ich, ein siebenjähriger Junge, der noch vor kurzem kaum gewußt hatte, was ein Krieg, geschweige was »Ultimatum«, »Mobilisierung« und »Kaval-leriereserve« ist, wußte alsbald, als hätte ich es immergewußt, ganz genau nicht nur das Was, Wie und Wo desKrieges, sondern sogar das Warum: Ich wußte, daß amKriege Frankreichs Revanchelüsternheit, Englands Han-delsneid und Rußlands Barbarei schuld waren – ganzgeläufig konnte ich alle diese Worte alsbald aussprechen.Ich fing einfach eines Tages an, die Zeitung zu lesen, undwunderte mich, wie überaus leicht verständlich sie war. Ichließ mir die Karte von Europa zeigen, sah auf einen Blick,daß »wir« mit Frankreich und England schon fertig werdenwürden, empfand allerdings einen dumpfen Schreck überdie Größe Rußlands, ließ mich aber dadurch trösten, daßdie Russen ihre beängstigende Zahl durch unglaublicheDummheit und Verkommenheit und beständiges Wodka-trinken wieder wettmachten. Ich lernte – und zwar, wiegesagt, so schnell, als hätte ich es immer gewußt – die

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Namen von Heerführern, die Stärke von Armeen, dieBewaffnung und Wasserverdrängung von Schiffen, dieLage der wichtigsten Festungen, den Verlauf der Fronten– und ich kam alsbald dahinter, daß hier ein Spiel im Gangewar, geeignet, das Leben spannend und aufregend zumachen wie nichts zuvor. Meine Begeisterung und meinInteresse für dieses Spiel erlahmten nicht bis zum bitterenEnde.

Ich muß hier meine Familie in Schutz nehmen. Eswaren keineswegs meine nächsten Angehörigen, die mirden Kopf verdrehten. Mein Vater litt unter dem Kriegevom ersten Augenblick an und blickte auf die Begeisterungder ersten Wochen mit Skepsis, auf die Haßpsychose, dieihr folgte, mit tiefem Ekel – wenn er auch selbstverständ-lich, loyal und patriotisch, Deutschlands Sieg wünschte. Ergehörte zu den vielen liberalen Geistern seiner Generation,die im Stillen fest überzeugt gewesen waren, daß Kriegeunter Europäern ein Ding seien, das der Vergangenheitangehörte. Er konnte mit dem Kriege, sozusagen, nichtsanfangen – und er verschmähte es durchaus, sich, wieso viele andere, etwas darüber vorzumachen. Ich hörte ihnein paarmal bittere und skeptische Worte sagen – nichtmehr nur über die Österreicher –, die mich in meiner neu-gewonnenen Kriegsbegeisterung befremdeten. Nein, meinVater – und ebenso meine übrigen Angehörigen – warenunschuldig daran, daß ich binnen weniger Tage zum fanati-schen Chauvinisten und »Heimkrieger« wurde.

Schuld war – die Luft; die anonyme, tausendfältig spür-bare Stimmung ringsum; der Sog und Zug der massenhaf-ten Einigkeit, die den, der sich hineinwarf (und sei erein siebenjähriger Junge) mit unerhörten Emotionen be-schenkte, und den, der draußen blieb, fast ersticken ließin einem Vakuum von Öde und Einsamkeit. Ich verspürte

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zum ersten Mal, damals mit naiver Lust und ohne eineSpur von Zweifel oder Konflikt, die Auswirkung der seltsa-men Begabung meines Volkes, Massenpsychosen zu bil-den. (Eine Begabung, die vielleicht ein Ausgleich für seingeringes Talent zum individuellen Glück ist.) Ich hattekeine Ahnung, daß es überhaupt möglich sein könnte,bei einer solchen festlich-allgemeinen Raserei sich auszu-schließen. Ich kam auch nicht im entferntesten auf denGedanken, daß etwas Schlimmes oder Gefährliches aneiner Sache sein könnte, die so offensichtlich glücklichmachte und so unalltäglich-festliche Rauschzustände ver-schenkte.

Nun war ein Krieg damals für einen Schuljungen in Ber-lin freilich etwas tief Unwirkliches: unwirklich wie einSpiel. Es gab keine Fliegerangriffe und keine Bomben.Verwundete gab es, aber nur von fern, mit malerischenVerbänden. Man hatte Verwandte an der Front, gewiß, undhin und wieder kam eine Todesanzeige. Aber dafür warman ein Kind, daß man sich schnell an ihre Abwesenheitgewöhnte; und daß diese Abwesenheit eines Tages endgül-tig wurde, machte schon gar keinen Unterschied mehr.Was es an wirklichen Härten und fühlbaren Unannehm-lichkeiten gab, zählte wenig. Schlechtes Essen – nun ja.Später auch zu wenig Essen, klappernde Holzsohlen anden Schuhen, gewendete Anzüge, Knochen- und Kirsch-kernsammlungen in der Schule, und, seltsamerweise, häu-figes Kranksein. Aber ich muß gestehen, daß mir das alleskeinen tiefen Eindruck machte. Nicht etwa, daß ich es»trug wie ein kleiner Held«. Sondern ich hatte gar nicht sobesonders daran zu tragen. Ich dachte so wenig an Essen,wie der Fußball-Enthusiast beim Cup-Final an Essendenkt. Der Heeresbericht interessierte mich viel stärker alsder Küchenzettel.

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Der Vergleich mit dem Fußball-Enthusiasten trägt sehrweit. Tatsächlich war ich damals, als Kind, ein Kriegsenthu-siast, wie man ein Fußballenthusiast ist. Ich würde michschlechter machen als ich war, wollte ich behaupten, daßich wirklich ein Opfer der eigentlichen Haßpropagandagewesen wäre, die während der Jahre 15 bis 18 die erlah-mende Begeisterung der ersten Monate hochpeitschensollte. Ich haßte die Franzosen, Engländer und Russen sowenig wie der Portsmouth-Anhänger die Leute von Wol-verhampton »haßt«. Selbstverständlich wünschte ich ihnenNiederlage und Demütigung, aber nur weil sie die unver-meidliche Kehrseite von Sieg und Triumph meiner Parteiwaren.

Was zählte, war die Faszination des kriegerischen Spiels:eines Spiels, in dem nach geheimnisvollen Regeln Gefan-genenzahlen, Geländegewinne, eroberte Festungen undversenkte Schiffe ungefähr die Rolle spielten wie Tor-schüsse beim Fußball oder »Punkte« beim Boxen. Ichwurde nicht müde, innerlich Punktetabellen zu führen. Ichwar ein eifriger Leser der Heeresberichte, die ich nacheiner Art »umrechnete«, nach wiederum sehr geheimnis-vollen, irrationalen Regeln, in denen beispielsweise zehngefangene Russen einen gefangenen Franzosen oder Eng-länder wert waren, oder 50 Flugzeuge einen Panzerkreu-zer. Hätte es Gefallenenstatistiken gegeben, ich würdesicher auch unbedenklich die Toten »umgerechnet« haben,ohne mir vorzustellen, wie das in der Wirklichkeit aussah,womit ich da rechnete. Es war ein dunkles, geheimnisvollesSpiel, von einem nie endenden, lasterhaften Reiz, der allesauslöschte, das wirkliche Leben nichtig machte, narkotisie-rend wie Roulette oder Opiumrauchen. Ich und meineKameraden spielten es den ganzen Krieg hindurch, vierJahre lang, ungestraft und ungestört – und dieses Spiel,

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nicht die harmlosen »Kriegsspiele«, die wir nebenbei aufStraßen und Spielplätzen aufführten, war es, was seinegefährlichen Marken in uns allen hinterlassen hat.

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Vielleicht findet man es nicht der Mühe wert, daß ich dieoffensichtlich unadäquaten Reaktionen eines Kindes aufden Weltkrieg so ausführlich darstelle. Gewiß wäre es nichtder Mühe wert, wenn es sich dabei um einen Einzelfallhandelte. Es ist aber kein Einzelfall. So oder so ähnlich hat eine ganze deutsche Generation in ihrer Kindheit oderfrühen Jugend den Krieg erlebt – und zwar sehr bezeich-nenderweise die Generation, die heute seine Wiederho-lung vorbereitet.

Es schwächt die Kraft und Nachwirkung dieses Erlebnis-ses keineswegs ab, daß die, die es erfuhren, Kinder oderjunge Burschen waren; im Gegenteil! Die Massenseele unddie kindliche Seele sind sehr ähnlich in ihren Reaktionen.Man kann sich die Konzeptionen, mit denen Massen ge-füttert und bewegt werden, gar nicht kindlich genug vor-stellen. Echte Ideen müssen, um massenbewegende histo-rische Kräfte zu werden, im allgemeinen erst bis auf dieFassungskraft eines Kindes heruntersimplifiziert werden.Und eine kindische Wahnvorstellung, gebildet in den Köp-fen von zehn Kinderjahrgängen und vier Jahre hindurch inihnen festgenagelt, kann sehr wohl zwanzig Jahre später alstödlich ernsthafte »Weltanschauung« ihren Einzug in diegroße Politik halten.

Der Krieg als ein großes, aufregend-begeisterndes Spielder Nationen, das tiefere Unterhaltung und lustvollereEmotionen beschert als irgendetwas, was der Frieden zu

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bieten hat; das war 1914 bis 1918 die tägliche Erfahrungvon zehn Jahrgängen deutscher Schuljungen; und das istdie positive Grundvision des Nazitums geworden. Von die-ser Vision her bezieht es seine Werbekraft, seine Simpli-zität, seinen Appell an Phantasie und Aktionslust; und vonihr bezieht es ebenso seine Intoleranz und Grausamkeitgegen den innerpolitischen Gegner: weil der, der diesesSpiel nicht mitmachen will, gar nicht als »Gegner« aner-kannt, sondern einfach als Spielverderber empfundenwird. Und schließlich bezieht es von ihr seine selbstver-ständlich kriegsmäßige Einstellung gegen den Nachbar-staat: weil jeder andere Staat wiederum nicht als »Nach-bar« anerkannt wird, sondern nolens volens Gegner zu seinhat – sonst könnte ja das ganze Spiel nicht stattfinden!

Vieles hat dem Nazismus später geholfen und seinWesen modifiziert. Aber hier liegt seine Wurzel: nicht etwaim »Fronterlebnis«, sondern im Kriegserlebnis des deut-schen Schuljungen. Die Frontgeneration hat ja im ganzenwenig echte Nazis geliefert und liefert heute noch imwesentlichen die »Nörgler und Meckerer«; sehr verständ-lich, denn wer den Krieg als Wirklichkeit erlebt hat, bewer-tet ihn meistens anders. (Ausnahmen zugegeben: die ewi-gen Krieger, die in der Wirklichkeit des Krieges mit allenSchrecken dennoch ihre Lebensform fanden und immerwieder finden – und die ewigen »gescheiterten Existen-zen«, die gerade die Schrecken und Zerstörungen des Krie-ges mit Jubel erlebten und erleben, als eine Rache an demLeben, dem sie nicht gewachsen sind. Zum ersten Typgehört vielleicht Göring; zum zweiten bestimmt Hitler.)Die eigentliche Generation des Nazismus aber sind die inder Dekade 1900 bis 1910 Geborenen, die den Krieg, ganzungestört von seiner Tatsächlichkeit, als großes Spiel erlebthaben.

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– Ganz ungestört! Man wird einwenden, daß sie immer-hin gehungert haben. Das ist richtig; aber ich habe schonerzählt, wie wenig der Hunger das Spiel störte. Vielleichtbegünstigte er es sogar. Satte und gutgenährte Menschenneigen nicht zu Visionen und Phantasien ... auf jeden Fall:Der Hunger allein desillusionierte nicht. Es wurde, sozu-sagen, verdaut. Was übrig geblieben ist, ist sogar einegewisse Abhärtung gegen Unterernährung – vielleicht einerder sympathischeren Züge dieser Generation.

Wir sind sehr früh daran gewöhnt worden, mit einemMinimum von Essen auszukommen. Die meisten jetztlebenden Deutschen haben dreimal eine unterdurch-schnittliche Ernährung gehabt: das erste Mal im Kriege,das zweite Mal in der Hochinflation, das dritte Mal jetzt,unter dem Motto »Kanonen statt Butter«. Sie sind in dieserHinsicht, sozusagen, trainiert, und nicht besonders an-spruchsvoll.

Es ist mir sehr zweifelhaft, ob die weitverbreiteteAnsicht stimmt, daß die Deutschen den Weltkrieg ausHunger abgebrochen hätten. Sie hungerten 1918 schondrei Jahre lang, und 1917 war ein schlimmeres Hungerjahrgewesen als 1918. Meiner Meinung nach brachen dieDeutschen den Krieg ab, nicht weil sie hungerten, sondernweil sie ihn als militärisch verloren und aussichtslos ansa-hen. Wie dem auch sei – die Deutschen werden jedenfallskaum den Nazismus oder den zweiten Weltkrieg aus Hun-ger abbrechen. Sie finden heute, daß Hungern halb undhalb eine sittliche Pflicht und jedenfalls nicht so schlimmist. Sie sind nachgerade ein Volk geworden, das sich seinernatürlichen Eßbedürfnisse geradezu geniert, und parado-xerweise gewinnen die Nazis aus der Tatsache, daß sie demVolk nichts zu essen geben, nebenbei sogar noch ein indi-rektes Propagandamittel.

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Sie schieben nämlich jedem, der »schimpft«, öffentlichals Motiv unter, er schimpfe, weil er keine Butter und kei-nen Kaffee bekomme. Nun wird zwar sehr viel in Deutsch-land »geschimpft«, aber die meisten schimpfen aus ganzanderen – und tatsächlich meist weit ehrenvolleren –Gründen als wegen der schlechten Ernährung, und siewürden sich schämen, wegen der schlechten Ernährung zuschimpfen. Es wird weit weniger in Deutschland geradeüber die Nahrungsmittelknappheit geschimpft, als mannach der Lektüre der Naziblätter glauben sollte. Die Nazi-blätter wissen aber recht gut, was sie tun, wenn sie dasGegenteil glauben machen: Denn ehe der unzufriedeneDeutsche in den Ruf kommen will, er sei aus niedererEßgier unzufrieden, verstummt er ganz.

Wie gesagt übrigens, ich halte das für einen der sympa-thischeren Züge der gegenwärtigen Deutschen.

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Ich verlor während der vier Kriegsjahre allmählich dasGefühl dafür, wie und was der Frieden sein könne. MeineErinnerung an die Zeit vor dem Kriege verblaßte all-mählich. Ich konnte mir einen Tag ohne Heeresberichtnicht mehr vorstellen. Ein solcher Tag hätte auch seinenHauptreiz entbehrt. Was bot denn der Tag sonst schon?Man ging zur Schule, man lernte Schreiben und Rechnenund später Latein und Geschichte, man spielte mit Freun-den, man ging mit seinen Eltern spazieren, aber war dasein Lebensinhalt? Was dem Leben Spannung und dem Tagseine Farbe gab, waren die jeweiligen militärischen Ereig-nisse; War eine große Offensive im Gange, mit fünfstelli-gen Gefangenenzahlen und gefallenen Festungen und

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»unermeßlicher Ausbeute an Kriegsmaterial«, dann warFestzeit, man hatte unendlichen Stoff für die Phantasie,und das Leben ging hoch, ganz ähnlich, wie später, wennman verliebt war. Waren nur langweilige Abwehrkämpfe,»im Westen nichts Neues«, oder gar »planmäßig durchge-führter strategischer Rückzug«, dann war das ganze Lebenangegraut, die Kriegsspiele mit den Kameraden ohne Reizund die Schularbeiten doppelt langweilig.

Jeden Tag ging ich zu einem Polizeirevier, ein paarStraßenecken von unserer Wohnung: Dort war an einemschwarzen Brett der Heeresbericht angeschlagen, schonmehrere Stunden, ehe er in der Zeitung stand. Ein schma-les weißes Blatt, manchmal länger, manchmal kürzer, mittanzenden Majuskeln besät, die aus einer offenbar reich-lich abgenutzten Vervielfältigungsmaschine stammten. Ichmußte mich etwas auf die Zehenspitzen stellen und denKopf in den Nacken legen, um alles zu entziffern. Ich tat esgeduldig und voll Hingabe, jeden Tag.

Wie gesagt, ich hatte keine rechte Vorstellung mehr vomFrieden, wohl aber hatte ich eine Vorstellung vom »End-sieg«. Der Endsieg, die große Summe, zu der sich alle dievielen Teilsiege, die der Heeresbericht enthielt, unvermeid-lich einmal zusammenaddieren mußten, war für michdamals ungefähr das, was für den frommen Christen dasJüngste Gericht und die Auferstehung des Fleisches ist,oder für den frommen Juden die Ankunft des Messias. Eswar eine unvorstellbare Steigerung aller Siegesnachrich-ten, in der die Gefangenenzahlen, Landeroberungen undBeuteziffern vor Ungeheuerlichkeit sich selber aufhoben.Danach war nichts mehr vorzustellen. Ich wartete mit einergewissen wilden und doch zagen Spannung auf den End-sieg; daß er einmal kam, war unvermeidlich. Fraglich warnur, was das Leben danach noch zu bieten haben konnte.

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Ich wartete tatsächlich auf den Endsieg auch noch in denMonaten Juli bis Oktober 1918, obwohl ich nicht so törichtwar, nicht zu merken, daß die Heeresberichte trüber undtrüber wurden und daß ich nachgerade gegen alle Vernunftwartete. Immerhin, war nicht Rußland geschlagen? Be-saßen »wir« nicht die Ukraine, die alles liefern würde, wasnötig war, um den Krieg zu gewinnen? Standen »wir« nichtimmer noch tief in Frankreich?

Unüberhörbar wurde es zwar auch mir in dieser Zeit,daß viele, sehr viele, ja fast alle Leute sich mit der Zeit eineandere Ansicht vom Kriege gebildet hatten als ich, obwohlmeine Ansicht doch ursprünglich diejenige aller gewesenwar – sie war doch erst meine geworden, eben weil sie die allgemeine war! Überaus ärgerlich, daß gerade jetzt fast alle die Lust am Kriege verloren zu haben schienen –gerade jetzt, wo eine kleine Sonderanstrengung nötiggewesen wäre, um die Heeresberichte aus der trübenDepression »vereitelter Aufrollungsversuche« und »plan-mäßiger Zurücknahme in vorbereitete Riegelstellungen«wieder in die strahlende Schön-Wetter-Sphäre von »Vor-stoß bis zu 30 Kilometer Tiefe«, »das feindliche Stellungs-system zertrümmert«, »30000 Gefangene« zu bringen!

Von den Läden, wo ich nach Kunsthonig oder Mager-milch anstand – denn meine Mutter und das Dienst-mädchen konnten es allein nicht mehr schaffen, und auchich mußte mich gelegentlich anstellen – hörte ich dieFrauen grollen und häßliche Worte tiefsten Unverständnis-ses äußern. Nicht immer begnügte ich mich, es anzuhören:Ich erhob furchtlos meine noch ziemlich hohe Kinder-stimme zu Vorträgen über die Notwendigkeit des »Durch-haltens«. Die Frauen lachten meist zunächst, wundertensich dann, und wurden rührenderweise mitunter unsicheroder gar kleinlaut. Siegreich verließ ich die Stätte des

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Redekampfes, selbstvergessen einen Viertelliter Mager-milch schwenkend ... Aber die Heeresberichte wolltennicht besser werden.

Und dann nahte, von Oktober ab, die Revolution heran.Sie bereitete sich ähnlich vor wie der Krieg, mit plötzlich inder Luft herumschwirrenden neuen Worten und Begriffen,und wie der Krieg kam sie dann zuletzt doch fast über-raschend. Aber hier hört der Vergleich auf. Der Krieg, wasimmer man über ihn sagen kann, war etwas Ganzes gewe-sen, eine Sache, die klappte, in seiner Art ein Erfolg,zunächst wenigstens. Von der Revolution kann man dasnicht sagen.

Es ist für die gesamte weitere deutsche Geschichte vonverhängnisvoller Bedeutung gewesen, daß der Kriegsaus-bruch, trotz allem fürchterlichen Unglück, das ihm folgte,für fast alle mit ein paar unvergeßlichen Tagen größterErhebung und gesteigerten Lebens verbunden gebliebenist, während an die Revolution von 1918, die doch schließ-lich Frieden und Freiheit brachte, eigentlich fast alle Deut-schen nur trübe Erinnerungen haben. Schon daß derKriegsausbruch bei prächtigem Sommerwetter und dieRevolution bei naßkaltem Novembernebel vor sich ging,war ein schweres Handicap für die Revolution. So etwasmag lächerlich klingen, aber es ist wahr. Die Republikanerfühlten es später selbst; sie haben nie so recht an den 9. November erinnert sein wollen, und haben ihn nieöffentlich gefeiert. Die Nazis, die den August 14 gegen denNovember 18 ausspielten, hatten immer ein leichtes Spiel.November 18: Obwohl der Krieg zu Ende ging, die Frauenihre Männer, die Männer ihr Leben zurückgeschenkt beka-men, ist seltsamerweise kein festliches Nachgefühl mit demDatum verbunden; vielmehr Mißmut, Niederlage, Angst,sinnlose Schießerei, Konfusion, ja und schlechtes Wetter.

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Ich habe persönlich von der eigentlichen Revolutionwenig gemerkt. Am Sonnabend meldete die Zeitung, derKaiser habe abgedankt. Irgendwie überraschte es mich,daß so wenig dabei war. Es war eben auch nur eine Zei-tungsüberschrift, und im Kriege hatte ich größere gesehen.In Wahrheit hatte er übrigens noch nicht einmal abge-dankt, als wir es in der Zeitung lasen. Da er es dann aberbald nachholte, war auch das nicht mehr so wesentlich.

Erschütternder als die Überschrift »Abdankung des Kaisers« war es schon, daß am Sonntag die Zeitung »Täg-liche Rundschau« plötzlich »Die Rote Fahne« hieß. Irgend-welche revolutionären Druckereiarbeiter hatten das durch-gesetzt. Im übrigen war der Inhalt wenig verändert, undnach ein paar Tagen hieß sie auch wieder »Tägliche Rund-schau«. Ein kleiner Zug, der nicht unsymbolisch für dieganze Revolution von 1918 ist.

An diesem Sonntag hörte ich auch zum ersten MalSchüsse. Während des ganzen Krieges hatte ich keinenSchuß fallen gehört. Jetzt aber, da der Krieg zu Ende ging, fing man bei uns in Berlin zu schießen an. Wir stan-den in einem unserer Hinterzimmer, öffneten die Fenster und hörten leise aber deutlich abgerissene Maschinen-gewehrfeuer. Mir war beklommen zu Mute. Irgend jemanderklärte uns, wie die schweren und wie die leichten Ma-schinengewehre klangen. Wir stellen Mutmaßungen an,was für ein Kampf da wohl stattfinde. Das Schießen kamaus der Gegend des Schlosses. Ob die Berliner Garnisonsich doch wehrte? Ob nicht alles so glatt ging mit der Revo-lution?

Wenn ich darauf etwa Hoffnungen gesetzt hatte – dennich war natürlich, was nach allem hier Erzählten keinenwundernehmen wird, von ganzem Herzen gegen die Revo-lution – so wurden sie am nächsten Tag enttäuscht. Es war

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eine ziemlich sinnlose Schießerei zwischen verschiedenenrevolutionären Gruppen gewesen, deren jede sich zumBesitz des Marstalls berechtigt fühlte. Von Gegenwehrkeine Spur. Die Revolution hatte offenbar gesiegt.

Andererseits, was bedeutete das nun? Wenigstens fest-liche Unordnung, Drunter und Drüber, Abenteuer undbunte Anarchie? Keineswegs. Vielmehr erklärte noch andiesem selben Montag der gefürchtetste unter unserenLehrern, ein cholerischer Tyrann mit böse rollenden Äug-lein, »hier«, in der Schule nämlich, habe jedenfalls keineRevolution stattgefunden, hier herrsche weiterhin Ord-nung, und zur Bekräftigung dessen legte er ein paar vonuns, die sich in der Pause beim Revolution-Spielen beson-ders hervorgetan hatten, über die Bank und verabreichteihnen eine demonstrative Tracht Prügel. Wir alle, die wirder Exekution beiwohnten, empfanden dunkel, daß sie einSymbol von böser und umfassender Vorbedeutung war. Aneiner Revolution stimmte etwas nicht, wenn bereits amTage darauf die Jungen in der Schule für Revolution-Spie-len verhauen wurden. Aus einer solchen Revolution konntenichts werden. Es wurde ja denn auch nichts aus ihr.

Inzwischen stand noch das Kriegsende aus. Daß dieRevolution gleichbedeutend mit dem Ende des Kriegessei, war mir wie jedermann klar, und zwar offensichtlichmit einem Ende ohne Endsieg, da ja die kleine dazu nötigeExtra-Anstrengung unverständlicherweise unterbliebenwar. Wie aber so ein Kriegsende ohne Endsieg aussehenwürde, davon hatte ich keinen Begriff; ich mußte es erstsehen, um es mir vorstellen zu können.

Da ja der Krieg sich irgendwo im fernen Frankreichabspielte, in einer unwirklichen Welt, aus der nur die Hee-resberichte wie Botschaften aus dem Jenseits zu uns her-überkamen, hatte auch sein Ende keine eigentliche Wirk-

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lichkeit für mich. Nichts änderte sich in meiner unmittel-baren, sinnlich wahrnehmbaren Umgebung. Das Ereignisspielte ausschließlich in jener Traumwelt des großen Spiels,in der ich vier Jahre lang gelebt hatte ... Aber freilich, dieseWelt war ja viel bedeutender für mich geworden als diewirkliche.

Am 9. und 10. November gab es noch Heeresberichte,üblichen Stils: »Feindliche Durchbruchsversuche abge-wiesen«, »... gingen unsere Truppen nach tapferer Gegen-wehr in vorbereitete Stellungen zurück ...« Am 11. Novem-ber hing kein Heeresbericht mehr am schwarzen Brettmeines Polizeireviers, als ich mich zur üblichen Stundeeinstellte. Leer und schwarz gähnte mich das Brett an, undich ermaß mit Schrecken, wie es sein würde, wenn dort, woich jahrelang täglich die Nahrung meines Geistes undden Inhalt meiner Träume geschöpft hatte, nichts mehrsein würde als, für immer und ewig, ein leeres schwarzesBrett. Inzwischen aber ging ich weiter. IrgendwelcheNachrichten vom Kriegsschauplatz mußte es doch schließ-lich geben. Wenn schon der Krieg aus war (womit manrechnen mußte) – wenigstens das Ende mußte doch nochstattgefunden haben, irgendetwas wie der Abpfiff beimSpiel, berichtenswert immerhin. Eine Anzahl Straßen wei-ter war ein anderes Polizeirevier. Vielleicht hing dort einBericht.

Auch dort hing keiner. Die Polizei war eben auch von der Revolution angesteckt worden, und die alte Ordnungwar zerstört. Ich konnte mich aber nicht abfinden. Ich triebweiter durch die Straßen, in einem feinen nässenden No-vemberregen, auf der Suche nach irgendwelchen Nach-richten. Ich kam in fremdere Gegenden.

Irgendwo fand ich einen kleinen Menschenhaufen vorder Auslage eines Zeitungsladens. Ich stellte mich an, drän-

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gelte mich sachte durch und konnte schließlich auch lesen,was alle, schweigend und mißmutig, lasen. Es war ein ver-frühtes Zeitungsblatt, das da aushing, und es hatte dieÜberschrift: »Waffenstillstand unterzeichnet«. Darunterstanden die Bedingungen, eine lange Liste. Ich las sie.Während ich las, erstarrte ich.

– Womit soll ich meine Empfindungen vergleichen – dieEmpfindungen eines elfjährigen Jungen, dem eine ganzePhantasiewelt zusammenbricht? Soviel ich nachdenke, esist schwer, im normalen, wirklichen Leben ein Äquivalentdafür zu finden. Gewisse traumhafte Katastrophen sindeben nur in Traumwelten möglich. Wenn jemand, der jahrelang große Summen zur Bank getragen hat, einesTages seinen Kontoauszug anfordert und erfährt, daß erstatt eines Vermögens eine erdrückende Schuldenlast be-sitzt, mag ihm ähnlich zumute sein. Aber so etwas gibt eseben nur im Traum.

Diese Bedingungen sprachen nicht mehr die schonendeSprache der letzten Heeresberichte. Sie sprachen erbar-mungslos die Sprache der Niederlage; so erbarmungslos,wie die Heeresberichte immer nur von feindlichen Nieder-lagen gesprochen hatten. Daß es so etwas auch für »uns«geben konnte – und zwar nicht als Zwischenfall, sondernals das Endergebnis von lauter Siegen und Siegen – meinKopf faßte es nicht.

Ich las die Bedingungen wieder und wieder, den Kopf imNacken, wie ich vier Jahre lang die Heeresberichte gelesenhatte. Schließlich löste ich mich aus der Menschenmengeund ging davon, ohne zu wissen, wohin ich ging. DieGegend, in die ich auf der Suche nach Nachrichten geratenwar, war mir fast fremd, und jetzt geriet ich in eine nochfremdere; ich trieb durch Straßen, die ich nie gesehenhatte. Ein feiner Novemberregen fiel.

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Wie diese fremden Straßen, war mir die ganze Weltfremd und unheimlich geworden. Das große Spiel hatteoffenbar außer seinen faszinierenden Regeln, die ichkannte, noch geheime Regeln besessen, die mir entgangenwaren. Es mußte etwas daran scheinbar und falsch gewe-sen sein. Wo aber war ein Halt, wo Sicherheit, Glaubenund Vertrauen, wenn das Weltgeschehen so hinterhältigwar, wenn Siege und Siege zu endgültiger Niederlage führ-ten und die wahren Regeln des Geschehens nicht verlaut-bart wurden, sondern sich erst nachträglich enthüllten, imniederschmetternden Ergebnis? Ich blickte in Abgründe.Ich empfand ein Grauen vor dem Leben.

Ich glaube nicht, daß die deutsche Niederlage irgend-jemandem einen tieferen Schock versetzt haben kann alsdem elfjährigen Jungen, der da durch die novemberfeuch-ten fremden Straßen irrte, ohne zu merken, wo er ging,und ohne zu merken, wie ihn der feine Regen allmählichdurchnäßte. Ich glaube insbesondere nicht, daß derSchmerz des Gefreiten Hitler tiefer gewesen sein kann,der, ungefähr um dieselbe Stunde, im Pasewalker Lazarettes nicht aushielt, die Bekanntgabe der Niederlage mit-anzuhören. Er reagierte zwar dramatischer als ich: »Mirwurde es unmöglich, noch länger zu bleiben,« schreibt er.»Während es mir um die Augen wieder schwarz ward,tastete und taumelte ich zum Schlafsaal zurück, warf michauf mein Lager und grub den brennenden Kopf in Deckeund Kissen.« Worauf er beschloß, ein Politiker zu werden.

Seltsamerweise eine weit kindlich-trotzigere Geste zu-gleich als meine. Und das gilt nicht nur für das Äußere.Wenn ich vergleiche, welche inneren Folgerungen Hitlerund ich aus dem gemeinsam erlebten Schmerz zogen: dereine Wut, Trotz und den Beschluß, ein Politiker zu werden,der andere Zweifel an der Gültigkeit der Spielregeln und

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Sebastian Haffner

Geschichte eines DeutschenDie Erinnerungen 1914-1933

eBookISBN: 978-3-641-15553-7

DVA Sachbuch

Erscheinungstermin: Oktober 2014

Ein einzigartiges Zeitzeugnis Als Kind und junger Mann erlebte Sebastian Haffner den Ersten Weltkrieg, die galoppierendeInflation 1923, die Radikalisierung der politischen Parteien, den unaufhaltsamen Aufstieg derNationalsozialisten. Ohne politisch oder rassisch verfolgt zu sein, emigrierte er 1938. Aus demNachlass wurden diese Erinnerungen seiner ersten drei Lebensjahrzehnte veröffentlicht, dieHaffner 1939 in England zu Papier gebracht hatte. Um zwei neu aufgefundene Manuskriptteileerweiterte Ausgabe.