Seminararbeit über die Gratifikationen adoleszenter LeserInnen

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PS STEP 5 Kommunikationswissenschaftliches Forschungs-Proseminar VLZ.Nr.220391_G5, SoSe 2008 Dr. Margit Böck Sind Bücher out oder auch für Jugendliche noch attraktiv? Forschungsarbeit über die Gratifikationen adoleszenter LeserInnen Nicole Kolisch ([email protected] ) Mtr. Nr. 9002037 Studienkennzahl 033641 Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft Universität Wien

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In einer Zeit des akzelerierenden medialen Wandels ändert sich auch der Wert des Mediums Buch für die RezipientInnen. Was dem veraltet anmutendem Medium (bislang?) seine Existenz sichert, sind stark individualisierte Nutzungsmuster: Buchlesen ist ein intimer Akt, der sehr unterschiedlich gestaltet und erlebt wird. Dadurch vermag das Buch eine Nische zu besetzen, die Konkurrenzmedien zumindest in dieser speziellen Form (noch) verwehrt ist.Die vorliegende Seminararbeit geht der Frage nach,welche Gratifikationen beim Buchlesen zu tragen kommen, insbesondere bei jugendlichen LeserInnen.

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PS STEP 5

Kommunikationswissenschaftliches Forschungs-Prosemi nar

VLZ.Nr.220391_G5, SoSe 2008

Dr. Margit Böck

Sind Bücher out oder auch für Jugendliche noch attr aktiv?

Forschungsarbeit über die Gratifikationen adoleszen ter LeserInnen

Nicole Kolisch ([email protected])

Mtr. Nr. 9002037

Studienkennzahl 033641

Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft

Universität Wien

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STEP 5, SoSe 08 - 2 - Kolisch Nicole Dr. Margit Böck Matr. Nr. 9002037 INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung ...........................................................................................................................3

2. Begriffsbestimmung............................................................................................................6

2.1 Was sind Jugendliche?................................................................................................ 6

2.2 Was ist „Lesen“?.......................................................................................................... 6

3. Theoretische Einordnung: Entscheidungen im Zentrum unseres Medienhandelns .............7

3.1 Medienhandeln als ökonomisches Handeln................................................................. 7

3.2 Medienhandeln als soziales Handeln........................................................................... 8

3.3 Medienhandeln als mehrstufiger Prozess (Strukturanalytische Rezeptionsforschung). 9

4. Hypothesen (Kontext).......................................................................................................10

4.1 Lesen als Fenster in der Zeit (Hypothese 1) ...............................................................10

4.2 Affektive Gratifikationen (Hypothese 2)......................................................................11

4.2.1 Die Spezifika pubertären Lesens .........................................................................11

4.2.2 Was ist Fantasie? ................................................................................................12

4.2.2.1 Empathie.......................................................................................................12

4.2.2.2 Projektion......................................................................................................12

4.2.2.3 Introjektion ....................................................................................................12

5. Forschungsverlauf und Methode ......................................................................................13

5.1 Methode .....................................................................................................................13

5.3 Datenerfassung und –auswertung ..............................................................................14

6. Ergebnisse .......................................................................................................................15

7. Überprüfung der Hypothesen ...........................................................................................17

8. Fazit .................................................................................................................................18

9. Literaturliste......................................................................................................................19

10. Anhang...........................................................................................................................22

10.1 Ergebnisse der Fragen 8, 11 und 12a im Detail ........................................................22

10.2 Fragebogen ..............................................................................................................23

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abbildung 1: Buchlesen als „Fenster in der Zeit“ ..................................................................15

Abbildung 2: Medienzuwendung in affektiven Situationen ....................................................16

Abbildung 3: Erlebte Gratifikationen beim Buchlesen ...........................................................17

Abbildung 4: Häufigkeiten-Tabelle / Frage 8.........................................................................22

Abbildung 5: Häufigkeiten-Tabelle / Frage 11.......................................................................23

Abbildung 6: Häufigkeiten-Tabelle / Frage 12a.....................................................................23

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STEP 5, SoSe 08 - 3 - Kolisch Nicole Dr. Margit Böck Matr. Nr. 9002037

„Dabei hat wahrscheinlich jeder schon die Erfahrung gemacht, dass Literatur in der Naturgeschichte eines Lebens eine Rolle spielen kann, die so wichtig ist wie die Rolle des Vaters, des ersten Gewitters oder der ersten Eisenbahnfahrt.“ – Martin Walser

1. Einleitung

Im Zuge der disziplinären Auseinandersetzungen mit dem Thema „Lesen und Jugendliche“

besteht Einigikeit darüber, dass Lesen in der Multi-Media-Umwelt von Jugendlichen nur eine von

vielen Möglichkeiten der Mediennutzung darstellt (vgl. Bonfadelli / Fritz 1995: 10).

„Dementsprechend ist auch der im öffentlichen Diskurs immer wieder beschworene Gegensatz von »Buch- vs. Fernseh-Jugendlichen« in der Praxis kaum mehr aufrecht zu halten. Während die habitualisierte Nutzung der audiovisuellen und auditiven Medien im täglichen Rhythmus für praktisch alle Jugendlichen die Regel ist, äußern sich jedoch beim Medium »Buch« individualisiertere Nutzungsmuster.“ (Bonfadelli /Fritz 1995: 10, Hervorhebungen im Original)

Es ist anzunehmen, dass „in einer Zeit des akzelerierenden medialen Wandels“ (Böck 2000:

10) gerade diese sehr individualisierten Nutzungsmuster für die Existenzsicherung des

Mediums „Buch“ sorgen. Buchlesen ist ein intimer Akt, der sehr unterschiedlich gestaltet und

erlebt wird. Dadurch vermag das Buch eine Nische zu besetzen, die Konkurrenzmedien

zumindest in dieser speziellen Form (noch) verwehrt ist.

„Das (...) gerne zitierte »Gesetz von Riepl« (1913), wonach neue Medienanwendungen die

älteren nicht vollständig verdrängen“ (Riepl 1913: o.S., zitiert nach Rössler 2003: 517), trifft

zum derzeitigen Zeitpunkt also auch auf das Buch zu.

Franz et al. (1999: 81) weisen ebenfalls darauf hin, dass „Lesen nicht in Konkurrenz,

sondern in funktionaler Interdependenz mit der Nutzung anderer Medien erfolgt“.

Das soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Buch seine Nische verteidigen und

seinen Platz gegen audiovisuelle Medien behaupten muss. Die Ergebnisse der JIM-Studie

2007 zeigen, dass zwar 92% der Jugendlichen in ihrer Freizeit mehrmals wöchentlich

fernsehen und 84% den Computer nützen, aber nur 37% in dieser Häufigkeit Bücher lesen

(vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2007: 12).

Haas (2008: 64) warnt davor, dass Gesetz der Komplementarität als „Beruhigungspille“ oder

Sicherheit gegen jedwede Veränderung zu interpretieren: „Komplementarität meint

Fortbestand, aber auch (...) Auf- bzw. Abstieg in der Hierarchie des

Kommunikationssystems.“ (Ebd.)

Klar ist, dass Jugendlichen nur ein bestimmtes Kontingent an Freizeit zur Verfügung steht,

sodass sie – folgt man der Argumentation des Constrained-Choices-Ansatzes (vgl.

Bonfadelli / Fritz 1995: 39) – vor einer „Entscheidungssituation mit mehreren

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STEP 5, SoSe 08 - 4 - Kolisch Nicole Dr. Margit Böck Matr. Nr. 9002037 Wahlmöglichkeiten (z.B. verschiedene Medien)“ (ebd.) stehen, „wobei Kosten und Nutzen

der verschiedenen Alternativen so gegeneinander abgewogen werden, dass die zu

erwartenden Gratifikationen möglichst hoch sind.“ (Ebd.)1

Im Sinne einer Leseförderung, die die Freude am Lesen in den Mittelpunkt stellt (vgl. Böck

2000: 10 bzw. 220) wird es daher zunehmend wichtiger, jene Gratifikationen

herauszustreichen, die das Buch als Pluspunkte gegenüber audiovisuellen Medien für sich

beanspruchen kann.

Darausfolgend lautet meine Forschungsfrage:

Welchen persönlichen „Nutzen“, den Konkurrenzmedien nicht bieten können, erleben

Jugendliche beim Buchlesen?

Bonfadelli und Fritz (1995: 37) sprechen in diesem Zusammenhang von der Frage nach der

„typischen funktionsakzentuierten Nutzung“ eines spezifischen Mediums.

Inwiefern werden z.B. die Harry-Potter-Bücher gegenüber den Harry-Potter-Filmen als

überlegen empfunden?2

Folgende Hypothesen sollen untersucht werden:

Hypothese 1:

Beim Lesen gelingt es Jugendlichen, sich dem internalisierten „Fremdzwang der sozialen

Zeitinstitution“ (Elias 1997: XVIII) zu entziehen.

Bücher dienen der Entschleunigung. In einer Welt, in der die Maxime „Speed kills“

handlungsbestimmend ist, nutzen Jugendliche Bücher, um die Zeit zu „verlangsamen“:

LeserInnen werden von Büchern nicht „überrollt“, sie können im Gegenteil das

Rezeptionstempo selber bestimmen, können zurückblättern etc.

1 Diese Wahlmöglichkeiten sind jedoch nicht völlig frei, sondern durch äußere Umstände, wie etwa Lesekompetenz oder Gerätebesitz eingeschränkt, also „constrained“. 2 Die Frage “Which do you prefer reading the Harry Potter books or watching the films?” wurde in einer Online-Diskussion behandelt. Zum Zeitpunkt der Konsultation durch die Verfasserin gaben neun von zehn TeilnehmerInnen an, die Bücher den Filmen vorzuziehen: 27.2.2008, http://www.answerbag.com/q_view/617966 (20.3.2008)

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STEP 5, SoSe 08 - 5 - Kolisch Nicole Dr. Margit Böck Matr. Nr. 9002037 Hypothese 2:

Je höher die Investition (Konzentration, Eigenleistung3, Verfügbarkeit des Mediums), desto

höher die affektive Gratifikation.

Bücher erlauben den RezipientInnen, sich stärker einzubringen, wodurch es besser gelingt

der Außenwelt zu entfliehen als das z.B. bei Fernsehserien der Fall ist. Daraus resultiert ein

größeres Maß an „Involvement“ (Krämer 2004: 662) und in Folge umfassendere affektive

Gratifikationen.

Die Relevanz der Fragestellung liegt in ihrem Potential für die Leseförderung.

„Heute leben wir in einer Schriftkultur: auch wenn wir gerne sprechen und reden, schauen und hören, so wird doch alles, womit es uns ernst ist – Religion, Recht, Wissen – schriftlich niedergelegt. Fast immer begegnet es uns bereits in schriftlicher Form. Wenn Gesprochenes bedeutungsvoll sein soll, dann geht ihm Schrift als Konzept voraus und es folgt ihm Schrift als Protokoll.“ (Haas 2008: 50)

Lesen ist somit Grundvoraussetzung für unsere Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen.

Auch in der vielzitierten Informations- und Multimediagesellschaft ist es nicht obsolet,

sondern die „Basistechnik dafür, dass wir die neuen Medien aktiv nutzen und nicht ihren

Imperativen und Manipulationsversuchen schutzlos ausgeliefert sind. Lesen steht nicht im

Widerspruch zur Rezeption anderer Medien, sondern ist die Voraussetzung dafür.“

(Falschlehner 1997: 93). Wie die meisten Kulturtechniken entwickelt sich Lesen allerdings

entlang der Gebrauchsmodalität: Lesekompetenz, also die Technik des Lesens, wird in der

Schule vermittelt. Inwiefern sie aber von den Schülern (weiter-)entwickelt und vertieft wird,

hängt von der jeweiligen Leseakzeptanz, also der Freude am Lesen, ab. Letztere ist stark

unterschiedlich ausgeprägt. Während Falschlehner beobachtet, dass viele Jugendliche

„lesen, solange sie müssen“ und es freiwillig „nicht mehr so gerne“ tun (vgl. Falschlehner

1997: 24), weist Graf darauf hin (2007: 78), dass viele, jedoch nicht alle Lektürebiografien

„einen Abschwung der Lesekurve in der Pubertät“ aufweisen.

Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, herauszufinden, welche Lesemotivationen jenen

Lektürebiografien zu Grunde liegen, die ebendiesen Abschwung nicht zeigen.

Lesemotivation kann im Anschluss an das „Erwartungs-Bewertungs-Modell gesuchter und

erhaltener Gratifikationen“ (Palmgreen 1984: 56, zitiert nach Burkart 2002: 234) als Produkt

von Erwartungen und Bewertungen der RezipientInnen auf der Suche nach Gratifikationen

gesehen werden.

Wer also die Erwartungen und Bewertungen kennt, die Jugendliche in Bezug auf Bücher

entwickeln, vermag sie unter Umständen zu nutzen, um Bücher auch Nicht- oder Wenig-

Lesern schmackhaft zu machen.

3 vgl. Böck 2000: 9

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STEP 5, SoSe 08 - 6 - Kolisch Nicole Dr. Margit Böck Matr. Nr. 9002037 2. Begriffsbestimmung

2.1 Was sind Jugendliche?

„Obwohl es altersmäßig keine eindeutigen Kriterien gibt, wird die Jugendphase gegenüber der Kindheit meist durch den Beginn der Pubertät (12./13. Altersjahr) relativ homogen, aber gegen oben hin durch die Übernahme des Erwachsenenstatus (Eintritt ins Erwerbsleben, Familiengründung etc.) weit offener (17. bis 25. Altersjahr) abgegrenzt.“ (Bonfadelli / Fritz 1995: 26)

Die vorliegende Arbeit konzentriert sich aus rein forschungspraktischen Gründen auf die

Lesemotivation von Schülern und setzt die Obergrenze daher bei 18. Jahren an.

2.2 Was ist „Lesen“?

Lesen wird in der Literatur definiert als „rezeptiver Gebrauch von Literalität“ (Bonfadelli / Fritz

1995: 27), als „ein primär kognitiver Prozess, der immer zwei Momente verbindet: die

visuelle Wahrnehmung schriftlicher Zeichen und die Bedeutungsgenerierung“ (Graf 2007:

15). Diese Definitionen schließen das informationsorientierte Lesen von

Gebrauchsanleitungen und Stadtplänen ebenso mit ein, wie das Abrufen von Homepages

oder Kontostandinformationen.

Die Forschungsfrage, die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt, ist deutlich enger gefasst:

Sie bezieht sich ausschließlich auf das „Buchlesen“ - und hier vor allem auf das

stimmungsorientierte Lesen, das für die LeserIn „affektive, soziale und habituelle Funktionen“

(Bonfadelli / Fritz 1995:37) erfüllt.

Nicht berücksichtigt wird jedoch der literarische Anspruch der gelesenen Bücher, ob es sich

also um sogenannte Klassiker, um „pädagogisch wertvolle“ Lektüre oder um

„Schundromane“ handelt.

Diesbezüglich orientiert sich diese Arbeit an Falschlehner (14.11.2007): „Es gibt kein

schlechtes Buch. Das einzig schlechte Buch ist das, das nicht gelesen wird.“4

4 Interview mit Gerhard Falschlehner (Geschäftsführer des Österreichischen Buchklubs der Jugend) am 14.11.2007. Selektives Transkript liegt bei der Verfasserin auf.

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STEP 5, SoSe 08 - 7 - Kolisch Nicole Dr. Margit Böck Matr. Nr. 9002037

3. Theoretische Einordnung: Entscheidungen im Zentr um unseres Medienhandelns

Die Perspektive der vorliegenden Arbeit ist rezipientInnenzentriert (vgl. Burkart 2002: 220)

und begreift Buchlesen in Anschluss an den Nutzen- und Belohnungsansatz als „aktives und

zielorientiertes (intentionales) menschliches Handeln“ (Burkart 2002: 219), bei dem „nicht

mehr die Frage »Was machen die Medien mit den Menschen?«, sondern deren – wohl

inzwischen meist zitierte – Umkehrung »Was machen die Menschen mit den Medien?«“

(ebd.) in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses rückt.

Die vielfältigen Angebote einer Multimedia-Umwelt zwingen RezipientInnen zu einem

ökonomischen Umgang mit den knappen Ressourcen Aufmerksamkeit, Zeit und Motivation

(vgl. Just / Latzer 2003: 86). Es gilt also, jeden Tag aufs Neue Entscheidungen zu treffen

bezüglich des eigenen Mediennutzungsverhaltens. Diese Entscheidungen sind einerseits

motiviert durch den jeweils empfundenen „Nutzen“ hinsichtlich der zu erwartenden

„Belohnung“, andererseits geprägt durch eine Reihe von Einflüssen, die im folgenden kurz

beleuchtet werden.

3.1 Medienhandeln als ökonomisches Handeln

In Anschluss an Franck, der 1998 das Schlagwort einer „Ökonomie der Aufmerksamkeit“

geprägt hat5, haben einige Autoren das Verhalten von RezipientInnen im Kontext

ökonomischer Überlegungen betrachtet. In der Ökonomie wird gemeinhin von rational

handelnden Individuen ausgegangen, wobei „rationales Handeln“ die Verbindung von

Eigennutz und Rationalität meint (vgl. Heinrich 2001: 67), also auf persönliche

Nutzenmaximierung abzielt. „Individuen wählen stets die Möglichkeiten, die ihnen am

vorteilhaftesten erscheinen. (...) Entscheidend ist die Wahl zwischen Alternativen, die

Bewertung anhand von Kosten und Nutzen und die Reaktion auf Anreize (...)“ (Heinrich

2001: 67). Sind also die vermeintlichen oder tatsächlichen Kosten, die für Jugendliche mit

dem Lesen verbunden sind höher als der empfundene Nutzen, wird das Buch der

Medienkonkurrenz unterliegen („Es ist einfach anstrengender zu lesen, als sich vom

Fernseher beriseln [sic!] zu lassen“, „Einige Bücher, z.B. Harry Potter, sind zu teuer“6).

5 Franck, Georg (1998): Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München/Wien: Hanser 6 Die gewählten Beispiele entstammen den beantworteten Fragebögen (Frage Nr. 14)

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STEP 5, SoSe 08 - 8 - Kolisch Nicole Dr. Margit Böck Matr. Nr. 9002037 Überwiegen hingegen Nutzen und Anreize, vermag das Buch zu bestehen („Bücher lesen ist

viel cooler als fernsehen, denn ich lese das Buch wann und wo ich bin, beim TV bin ich an

das Programm gebunden.“7)

Allerdings gilt es, Einschränkungen dieser Rationalität zu berücksichtigen. Rationalität

impliziert z.B. nicht vollständige Information „und angesichts dieser beschränkten Information

ist es rational, dass die Individuen sich nicht als Maximierer, sondern als Satisfizierer

verhalten. Sie streben nicht generell nach einem Optimum, dass sie ja nicht kennen, sondern

nach Verbesserungen des gegenwärtigen Zustandes; sie denken in marginalen

Veränderungen.“ (Heinrich 2001: 68)

3.2 Medienhandeln als soziales Handeln

Entscheidungen von RezipientInnen finden nicht unter Laborbedingungen und auch nicht

innerhalb eines geschlossenen Systems von Medien statt, sondern eingebettet in den

sozialen Alltag. So geht bei Kindern- und Jugendlichen z.B. ein Anstieg der Nutzung

elektronischer Medien nicht automatisch zu Lasten der Lesezeit, sondern betrifft etwa die

freie Spielzeit (vgl. Falschlehner 1997: 15)

Handlungstheoretische Rezeptionsmodelle betten daher Mediennutzung in den sozialen

Kontext ein: Sie gehen davon aus, dass die Rezeption von Medien aus der Alltagspraxis

entsteht, von der Alltagspraxis begleitet wird und auf die Alltagspraxis zurückwirkt (vgl.

Charlton / Schneider 1997: 22). Hier bietet die strukturanalytische Rezeptionsforschung (s.u.)

eine differenzierte Möglichkeit der Betrachtung.

7 siehe Fußnote 5

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STEP 5, SoSe 08 - 9 - Kolisch Nicole Dr. Margit Böck Matr. Nr. 9002037

3.3 Medienhandeln als mehrstufiger Prozess (Strukturanalytische Rezeptionsforschung)

In der strukturanalytischen Rezeptionsforschung wird das Rezeptionsgeschehen „als ein

mehrschrittiger Prozess angesehen, in welchem sich ein sozial situierter und biographisch

vorgeprägter Rezipient in Beziehung zu einem kulturellen Sinnangebot setzt.“ (Charlton /

Schneider 1997: 23)

Die LeserInnen bringen ihre persönlichen Relevanzsysteme auf verschiedenen Ebenen ein,

zunächst durch thematische Selektion: Sie „suchen nach ihren identity themes (...) sowie

nach ihren vertrauten Coping-Strategien zur Lebensbewältigung (Charlton / Schneider 1997:

24, Hervorhebung im Original). Das Muster setzt sich bei der eigentlichen

Auseinandersetzung mit dem Medium fort:

„Indem Rezipienten Texte in ihrem persönlichem Lebenskontext verorten, können sie auch Lesarten entwickeln, die von der gebräuchlichen Auffassung abweichen (...) Ergebnis dieser Auseinandersetzungen ist eine mehr oder weniger bewusst reflektierte Spiegelung der eigenen Lebenssituation an den medialen Geschichten und Deutungsmustern.“ (Ebd.)

So gewinnen beispielsweise Bücher ihre konkreten Inhalte erst im Prozess der Aneignung

durch die LeserInnen. In der Berücksichtigung derartiger Verarbeitungs- und

Umgangsweisen der RezipientInnen mit den Medienangeboten liegt ein wesentlicher

Unterschied zur Wirkungsforschung. (Vgl. Theunert 1994: 394)

Die beschriebenen Ansätze zeigen, dass Mediennutzung im Rahmen des Nutzen- und

Belohnungsansatzes „deutlich anders konzipiert [wird] und (...) darum auch anders

operationalisiert und gemessen werden [muss] (...). Erfasst werden müssen dabei die

medienbezogenen Absichten des Rezipienten, die hinter der Medienzuwendung stehen.“

(Bonfadelli 1994: 356)

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STEP 5, SoSe 08 - 10 - Kolisch Nicole Dr. Margit Böck Matr. Nr. 9002037

4. Hypothesen (Kontext)

„Bücher erfüllen für den Leser bzw. die Leserin kognitive, affektive, soziale und habituelle

Funktionen“ (Bonfadelli / Fritz 1995:37). Es würde jedoch den Rahmen dieser

Forschungsarbeit sprengen, sich gleichermaßen mit allen Gratifikationen des Buchlesens zu

beschäftigen. Im folgenden sollen die beiden eingangs erwähnten Hypothesen untersucht

werden.

4.1 Lesen als Fenster in der Zeit (Hypothese 1)

Im Alltag von Jugendlichen ist Zeit ein „Regulierungsmechanismus von zwingender Kraft“8

(Elias 1997: 10).

Elias (1997: 125) spricht von der fast unerbittlichen Selbstregulierung, die für Menschen

charakteristisch ist, die in „hoch zeitregulierten Gesellschaften“ aufwachsen:

„Jeder Heranwachsende lernt in solchen Gesellschaften recht früh, die »Zeit« als Symbol für eine soziale Institution kennen, deren Fremdzwang der Heranwachsende schon sehr bald zu spüren bekommt. Wenn er oder sie nicht lernt, während der ersten zehn Jahre des Lebens eine dieser Institution gemäße Selbstzwangapparatur zu entwickeln, wenn, mit anderen Worten, ein heranwachsender Mensch in einer solchen Gesellschaft nicht frühzeitig lernt, das eigene Verhalten und Empfinden selbst entsprechend der sozialen Institution der Zeit zu regulieren, dann wird es für einen solchen Menschen recht schwer, wenn nicht unmöglich sein, in dieser Gesellschaft die Position eines Erwachsenen auszufüllen.“ (Elias 1997: XVIII)

So kommt es schließlich zu einer „Verwandlung des Fremdzwangs der sozialen

Zeitinstitution in ein das ganze Leben umgreifendes Selbstzwangmuster des einzelnen

Individuums“ (ebd.)

Auch bei der Wahrnehmung spielt der Zeitfaktor eine wesentliche Rolle. Das Tempo, in dem

zwei aufeinanderfolgende Signale im Gehirn eintreffen, bestimmt die Art ihrer Verarbeitung

(vgl. Falschlehner 1997: 62). Hören setzt Rezipienten also unter einen gewissen „Zeitdruck“,

da das Rezeptionstempo vom Sprecher vorgegeben wird. Das Betrachten von Bildfolgen

(„laufende Bilder“) verstärkt diesen Druck zusätzlich: Durch rasche Szenenwechsel, rasante

Schnitte, Kamerawechsel, Um- und Überblendungen unter der „Halbsekundengrenze“

können Bilder nicht mehr verarbeitet werden (vgl. Falschlehner 1997: 63). „Auch die Zeit zur

inneren Verbalisierung des Geschehen fehlt.“ (Ebd.)

Im Gegensatz dazu spielt der Faktor Zeit beim Lesen keine Rolle. LeserInnen bestimmen

das Verhältnis von Informationsmenge und Zeit selbst.9

8 Das zeigt sich auch immer wieder in den Antworten, z.B. „Ich komme wenig zum Lesen (wegen Schule)“ oder „Die Schule nimmt die Zeit zum Lesen weg“ 9 „Bei gedruckten Medien gilt: Der Rezipient bestimmt den Ort, die Zeit der Nutzung und das Lesetempo.“ (Haas 2008: 40)

Page 11: Seminararbeit über die Gratifikationen adoleszenter LeserInnen

STEP 5, SoSe 08 - 11 - Kolisch Nicole Dr. Margit Böck Matr. Nr. 9002037 Durch innehalten, zurückblättern, doppelt lesen, nachsinnieren und nicht zuletzt durch das

Malen von Bildern im Kopf setzen LeserInnen ihr höchst persönliches Lesetempo und ihren

höchst persönlichen Rhythmus um – und entziehen sich somit einem äußeren Zeitdiktat.

Wenn Bücher, wie Falschlehner (1997: 6) schreibt „alternative Lebensmodelle, Gegenwelten

zum eigenen Leben“ sein können, so sind gleichermaßen alternative Zeitmodelle.

4.2 Affektive Gratifikationen (Hypothese 2)

„Rezipienten wählen gezielt spezielle Medienangebote aus, um ihre affektive Befindlichkeit

(Stimmung, Gefühlshaushalt) zu beeinflussen.“ (Haas 2008: 42) Dabei ist allerdings zu

berücksichtigen, dass nicht alle RezipientInnen gleich mit den gleichen Medieninhalten

umgehen und – „im Gegensatz zum Fernsehen, dessen Nutzung weitgehend habitualisiert

ist“ (Bonfadelli / Fritz 1995: 11) – gerade Leseverhalten in starkem Ausmaß durch die

jeweilige Persönlichkeitsstruktur der LeserIn geprägt wird. Darüber hinaus markiert auch die

Pubertät eine Art „Ausnahmezustand“ im Rahmen der persönlichen Lektürebiografien.

4.2.1 Die Spezifika pubertären Lesens

„Die Individualität des Mediums „Buch“ kommt bestimmten Lebensphasen bzw.

Lebensumständen entgegen.“ (Bonfadelli / Fritz 1995: 68)

Bücher erfüllen für Jugendliche höchst unterschiedliche Funktionen. So können sie schon

allein dadurch, dass verschiedene Jugendkulturen schwerpunktmäßig unterschiedliche

Medien nutzen, der Abgrenzung und der Bildung von Subkulturen dienen, z.B. einer

„Subkultur des Wissenserwerbs“ vs. einer „Subkultur des Vergnügens“ (vgl. Sander /

Vollbrecht 1994: 373).

Bücher schaffen Expertise, folglich Identität. Wer sämtliche Passwörter der „dicken Dame“

kennt, vermag sich damit nicht nur Zutritt zu den Schlafräumen der Gryffindors zu schaffen,

sondern auch zu einer Welt, die Hogwarts-Kenner von Nicht-LeserInnen unterscheidet.

Darüber hinaus wird Lesen aber auch deshalb als Teil der pubertären Identitätsbildung

gesehen, weil es Möglichkeiten bietet mit Hilfe von Projektion, Introjektion und Empathie (s.

u.) bestimmte Entwicklungsaufgaben zu bewältigen (vgl. Eggert / Garbe 2003: 131f).

Auch die von Messner und Rosebrock postulierte These, dass Lesen ein „Refugium für das

Unerledigte“ sei, eine „Art Nische und Enklave“ (Messner / Rosenbrock 1987: 157, zitiert

nach Eggert / Garbe 2003: 133), in der „eine Befriedigung vom in sonstigen Leben unerfüllt

bleibenden Wünschen und Bedürfnissen zu finden“ (ebd.) sei, weist auf die Bedeutung der

Lektüre für den Prozess der Adoleszenz hin.

Konstituierendes Moment beider Überlegungen ist die Fantasie der Jugendlichen.

Page 12: Seminararbeit über die Gratifikationen adoleszenter LeserInnen

STEP 5, SoSe 08 - 12 - Kolisch Nicole Dr. Margit Böck Matr. Nr. 9002037 4.2.2 Was ist Fantasie?

„Der psychoanalytisch fundierte Phantasiebegriff eröffnet einen interpretativen Zugang zum

Verständnis des hohen Anteils fiktionaler Texte in der selbstbestimmten, lustvollen

Lektürepraxis von Kindern und Jugendlichen.“, attestieren Eggert und Garbe (2003: 69f)

Dieses psychoanalytische Konzept von „Phantasie“ differenziert drei unterschiedliche

Formen jugendlichen Rezeptionsverhaltens: Projektion, Introjektion und Empathie.

4.2.2.1 Empathie

Unter Empathie versteht Schön (1990: 261f, zitiert nach Eggert / Garbe 2003: 130f) die

Übernahme fremder affektiver Zustände: „Während Projektion die Empfindung dessen zur

Folge hat, was wir selbst in der Position eines anderen fühlen würden, besteht Empathie in

der Empfindung jener Emotion, die die andere Person fühlt.“

4.2.2.2 Projektion

Projektion bedeutet, dass die LeserIn „in den Text Vorstellungen hinein [legt], die ihrem

Bewusstsein entstammen. Sie sieht im Buch, die Probleme, die sie selbst beschäftigen.“

(Graf 2007: 112). Das Buch fungiert für den Leser als Spiegel: „Literarische Figuren

bestätigen das Selbstbild.“ (Ebd.)

4.2.2.3 Introjektion

Introjektion bezeichnet einen umgekehrten Prozess: Die fiktionalen Figuren werden als

Identitätsangebot gesehen. „Der Leser nimmt Vorstellungen aus Büchern ins Ich hinein, so

dass sie Teil des Verhaltens und Denkens werden.“ (Ebd.)

Der bekannteste Lesemechanismus „Identifikation“ umfasst ebenfalls alle drei Begriffe (vgl.

Graf 2007: 111)

Darüber hinaus weist Graf (2007: 113) auf eine weitere Kategorie des Phantasiebegriffs hin:

Die Simulation künstlicher Welten. Das „Hineinversetzen in eine Romanhandlung expandiert

zu einer Form der Welt-Imagination“ (ebd., Hervorhebung im Original).

Narrative Texte (im Gegensatz zu Sachbüchern oder Gebrauchsanleitungen) lassen den

LeserInnen bei der Ausstattung fiktiver Welten bewusst große „Gestaltungsfreiräume“

(Charlton / Pette 1999: 108) offen, d.h. die Leserinnen „haben einen individuellen Spielraum

für Bedeutungskonstruktionen, der z.B. über das in der Alltagskommunikation als tolerierbar

angesehene Ausmaß an rhetischer Unschärfe hinausgeht.“ (Ebd.)

Page 13: Seminararbeit über die Gratifikationen adoleszenter LeserInnen

STEP 5, SoSe 08 - 13 - Kolisch Nicole Dr. Margit Böck Matr. Nr. 9002037

Durch diese Mechanismen eröffnet adoleszentes Lesen eine Reihe von

Rückzugsmöglichkeiten und –räumen in einer schwierigen Lebensphase (vgl. Graf 2007:

85).

5. Forschungsverlauf und Methode

„Bei aller Sorgfalt, die man theoretischen Erörterungen angedeihen lassen kann, sind

Theorien im Grunde Entscheidungen über die Bedeutung und Bedingungen von erfassbaren

Erscheinungen der sozialen Wirklichkeit.“ (Atteslander 2003: 26)

Individuelle Einstellungen und erlebte / erhoffte Gratifikationen jugendlicher Leser sind

derartige Erscheinungen. Erfassbar werden sie durch Sprache.

Zur Überprüfung der Hypothesen wurde daher die Methode der Befragung gewählt, wenn

auch im Bewusstsein der Einschränkung, dass durch Sprache „immer nur ein Ausschnitt des

Erlebbaren und Erlebten erfasst wird“ (Atteslander 2003: 127).

5.1 Methode

„Die Befragung ist die in den empirischen Sozialwissenschaften am häufigsten angewandte

Datenerhebungsmethode. Man schätzt, dass ungefähr 90% aller Daten mit dieser Methode

gewonnen werden.“ (Bortz, Döring 2006: 236) Im vorliegenden Fall wurde eine schriftliche

Befragung gewählt, da dies von den Befragten im allgemeinen als anonymer erlebt wird, was

sich günstig auf die Bereitschaft zu ehrlichen Angaben, insbesondere bei emotionalen

Themen auswirken kann (vgl. Bortz, Döring 2006: 237).

Bei der Erstellung des Erhebungsinstruments wurden geschlossene und vereinzelte offene

Fragen verwendet.

Um die Hypothesen an der eingangs erwähnten „sozialen Wirklichkeit“ zu überprüfen, muss

man sie erst in (quantifizierbare) Indikatoren übersetzen. Für die Forschungspraxis gilt es,

Entscheidungen treffen, welche Indikatoren praktikabel sind (vgl. Atteslander 2003: 53).

Daher wurden auch qualitative Merkmale (wie erlebte Gratifikationen und individuelles

Zeitempfinden beim Buchlesen) aus Gründen der Praktikabilität in quantifizierbare

Ratingskalen übersetzt, die „der abgestuften Messung von Einstellungen, Meinungen oder

Verhaltensweisen dienen“ (Möhring / Schlütz 2003: 90).

Hierbei wurden die Antwortvorgaben verbalisiert, da lt. Möhring / Schlütz die Reliabilität bei

komplett verbalisierten Skalen steigt.

Page 14: Seminararbeit über die Gratifikationen adoleszenter LeserInnen

STEP 5, SoSe 08 - 14 - Kolisch Nicole Dr. Margit Böck Matr. Nr. 9002037 5.2 Grundgesamtheit und Stichprobe

Als Grundgesamtheit wurden zunächst Schüler zwischen 12 und 18 Jahren definiert.

Nach einem Pretest wurde die Befragung im Zeitraum Mai / Juni 2008 an zwei Wiener

Gymnasien durchgeführt, wobei das Verfahren der Klumpenstichprobe10 zur Anwendung

kam. Atteslander (2003: 307) nennt hierbei vor allem die deutliche Zeit- und Kostenersparnis

als Vorteil des Verfahrens. Die Größe der Stichprobe war 30 SchülerInnen, davon 22

Mädchen und 8 Buben (Durchschnittsalter 14,1).

Zur Beantwortung der Fragebögen meldeten sich die SchülerInnen freiwillig und aus

persönlichem Interesse am Thema, weswegen davon auszugehen ist, dass es bereits hier

zu einer Filterung kam und Schüler mit geringer Lesemotivation in der Stichprobe

unterrepräsentiert sind. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stand jedoch nicht die

Erhebung des allgemeinen jugendlichen Leseverhaltens, sondern die Frage nach persönlich

erlebter Gratifikation. Diese – das liegt in der Natur der Sache - ist nur von LeserInnen

beantwortbar, weshalb eine Überrepräsentation von motivierten LeserInnen auf Kosten

allgemeiner Repräsentativität durchaus im Interesse des Forschungsdesigns war.

5.3 Datenerfassung und –auswertung

Die gesammelten Daten wurden mit SPSS ausgewertet. Datensätze, bei denen es zu Item-

Non-Response kam, wurden aufgrund der geringen Stichprobengröße beibehalten und

entsprechend kodiert.

10 „Mit Klumpenstichprobe werden Stichproben bezeichnet, die jeweils „Klumpen“ von nebeneinanderliegenden Elementen in das Sample einbeziehen.“ (Atteslander 2003: 307)

Page 15: Seminararbeit über die Gratifikationen adoleszenter LeserInnen

STEP 5, SoSe 08 - 15 - Kolisch Nicole Dr. Margit Böck Matr. Nr. 9002037

6. Ergebnisse

Die Vermutung, dass Buchlesen ein „Fenster in der Zeit“ (siehe 4.1) darstellt, konnte insofern

bestätigt werden, dass 90% der Befragten angaben, sie hätten „schon einmal ganz die Zeit

vergessen“, während sie ein Buch gelesen haben. Ebenfalls gaben 90% der SchülerInnen

an, sie hätten das Gefühl, die Zeit verginge anders (z.B. langsamer oder schneller) während

der Lektüre. 71% nutzen Bücher, wenn sie sich zurückziehen und „ihre Ruhe haben“ wollen

(siehe Abbildung 1). Damit liegt das Buch als Rückzugsmöglichkeit weit vor den

Konkurrenzmedien Fernsehen (18%) und Computerspiel (11%).

Abbildung 1: Buchlesen als „Fenster in der Zeit“

Beim Lesen in affektiven Situationen, also bei zustandsorientierter, nicht zweckorientierter

Lektüre (vgl. Bonfadelli / Fritz 1995: 59) spielt neben der Rückzugsmöglichkeit auch die

Entspannung eine bedeutende Rolle. 46% gaben an, zu einem Buch zu greifen, wenn sie

sich entspannen wollen, und ebenfalls 46% entscheiden sich vor dem Schlafengehen für das

Medium Buch. In beiden Fällen liegt das Buch damit allerdings an zweiter Stelle hinter dem

Medium Fernsehen, für das sich in den gegebenen Situationen 50% entscheiden. Ähnlich

knapp beieinander liegen Buch und TV bei den Fragen, welches Medium die SchülerInnen

wählen würden, wenn sie traurig oder gelangweilt sind (siehe Abbildung 2). Hingegen

schneiden bei der Frage, von welchem Medium sich SchülerInnen Spannung und

Abwechslung erhoffen, Bücher deutlich schlechter ab (25%), während TV (32%) und

Computerspiel (43%) hier am meisten bei der Zielgruppe punkten (die genaue Fragestellung

findet sich im Anhang).

Tabelle: Buchlesen als „Fenster in der Zeit“ (Hypothese 1)

Während dem Buchlesen schon einmal ganz die Zeit vergessen

90 %

Gefühl, dass die Zeit während des Buchlesens anders vergeht

90 %

Buchlesen als Rückzugsmöglichkeit („Ruhe haben“)

71 %

12-18 Jährige (Durchschnittsalter: 14), Befragungszeitraum: Mai / Juni 2008; n = 30

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STEP 5, SoSe 08 - 16 - Kolisch Nicole Dr. Margit Böck Matr. Nr. 9002037

Abbildung 2: Medienzuwendung in affektiven Situationen

Bei den erlebten Gratifikationen steht das Hineinversetzen in die fiktiven Charaktere an

erster Stelle. 47% gaben an, sich „sehr gut“ in die Figuren hineinversetzen zu können,

weitere 47% „eher gut“. (In Tabelle 3 wurden die Kategorien „trifft sehr zu“ und „trifft eher zu“

aus Gründen der Übersichtlichkeit zu einer Kategorie zusammengefasst.)

Fast ebenso gut gelingt es den SchülerInnen, beim Lesen „Abenteuer in einer anderen Welt

zu erleben“ (30% „trifft sehr zu“, 50% „trifft eher zu“). Die Aussage „Wenn in einem Buch

etwas Schönes passiert, macht mich das glücklich“ bestätigen 83%, während 76% angaben,

beim Buchlesen manchmal „laut lachen zu müssen“. Im Gegensatz dazu bekannten sich nur

50% der Befragten dazu, auch schon einmal bei einem Buch geweint zu haben – von den

LeserInnen, die diese Frage mit „trifft sehr zu“ beantworteten, waren 90% weiblich, was die

Vermutung nahe legt, es könne sich um ein Problem der sozialen Erwünschtheit handeln.

70% haben schon einmal eine Buchfigur sehr bewundert, jedoch wären nur 46% gerne

selber so wie ihre Lieblingsfigur. 53% der SchülerInnen waren „schon einmal richtig wütend

auf eine Figur aus einem Buch“.

Letztlich erwies sich auch bei der Frage nach den affektiven Gratifikationen die

Entspannungsfunktion von Büchern als vorrangig: 70% gaben an, besser einschlafen zu

können, wenn sie am Abend im Bett lesen.

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STEP 5, SoSe 08 - 17 - Kolisch Nicole Dr. Margit Böck Matr. Nr. 9002037

Erlebte Gratifikationen beim Buchlesen (in %)

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100

Besser Einschlafen

Laut lachen

Glücklich, wenn etwas Schönes passiert

Schon einmal weinen müssen

Wütend auf eine Buchfigur

Buchfigur sehr bewundert

Wäre gern so wie HeldIn

Gut hineinversetzen

Erlebe Abenteuer in anderer Welt

Abbildung 3: Erlebte Gratifikationen beim Buchlesen

7. Überprüfung der Hypothesen

Hypothese 1 konnte bestätigt werden (siehe oben).

In Bezug auf Hypothese 2 erwies sich das Erhebungsinstrument als unzureichend, da zwar

die affektiven Gratifikationen erhoben wurden, nicht jedoch das Ausmaß der persönlichen

Investition beim Buchlesen. Auch der Vergleich mit der erforderlichen Investition bei der

Nutzung von Konkurrenzmedien (TV, Computerspiel) blieb aus. Somit war es nicht möglich,

eine Korrelation zwischen unabhängiger und abhängiger Variabel aufzuzeigen.

Die Ergebnisse verweisen deutlich auf die Bedeutung der affektiven Gratifikationen für

jugendliche LeserInnen. Diese in Zusammenhang mit der jeweiligen Medienlogik und

erforderlichen Investition zu stellen, bleibt offen und böte Anlass für eine Folgeuntersuchung.

12-18 Jährige, Befragungszeitraum: Mai / Juni 2008; n = 30

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STEP 5, SoSe 08 - 18 - Kolisch Nicole Dr. Margit Böck Matr. Nr. 9002037

8. Fazit

Will man gezielt Leseförderung betreiben, so scheint es eine sinnvolle Strategie, die Anreize

für das individuelle Lesen von Jugendlichen nach Möglichkeit so zu setzen, dass Buchlesen

als gesellschaftlich erwünschtes „Handeln (weitgehend) überflüssig wird, d.h. dass die

Individuen das gewünschte Verhalten schon aus Eigennutz zeigen“ (Heinrich 2001: 67).

Eine Möglichkeit für Rückzug und Entspannung einerseits, sowie eine Erweiterung der

eigenen Welt um fiktionale Welten und Identitäten – das sind die vorrangigsten Nutzen, die

adoleszente LeserInnen aus der Lektüre ziehen.

Allerdings müssen Jugendliche diese „Funktionspotentiale einer Rezeptionsform“ (Böck

2000: 27) erst kennen, bevor sie selbige für sich nutzbar machen können.

Die vorliegende Befragung hat gezeigt, auf welch vielschichtige Arten LeserInnen Bücher

nützen. Offen bleibt die Frage, wie jene Gratifikationen, die für LeserInnen klar erkennbar

und gewissermaßen selbstverständlich sind, auch Nicht-LeserInnen vermittelt werden

könnten. „Es gibt Bücher für allermann [sic!] und somit ist das Lesen für jeden offen“, schrieb

ein 13-jähriger Bub auf seinen Fragebogen. Das jedoch auch jenen zu vermitteln, für die das

Lesen keine sichtbaren Gratifikationen birgt, stellt eine wachsende Herausforderung für

PädagogInnen und Erziehungsberechtigte dar.

Page 19: Seminararbeit über die Gratifikationen adoleszenter LeserInnen

STEP 5, SoSe 08 - 19 - Kolisch Nicole Dr. Margit Böck Matr. Nr. 9002037

9. Literaturliste

Atteslander, Peter (2003): Methoden der empirischen Sozialforschung. 10., neu bearbeitete

und erweiterte Auflage. Berlin, New York: Walter de Gruyter

Aufenanger, Stefan (1994): Strukturanalytische Rezeptionsforschung – Familienwelt und

Medienwelt von Kindern. In: Hiegemann, Susanne / Swoboda, Wolfgang H. (Hrsg.):

Handbuch der Medienpädagogik. Theorieansätze, Traditionen, Praxisfelder,

Forschungsperspektiven. Opladen: Leske + Budrich, S.403-412.

Böck, Margit (2000): Das Lesen in der neuen Medienlandschaft. Zu den Lesegewohnheiten

und Leseinteressen der 8- bis 14-Jährigen in Österreich. Innsbruck / Wien: Studien-Verlag.

Bonfadelli, Heinz (1994): Standardisierte Jugend-Media-Forschung. In: Hiegemann, Susanne

/ Swoboda, Wolfgang H. (Hrsg.): Handbuch der Medienpädagogik. Theorieansätze,

Traditionen, Praxisfelder, Forschungsperspektiven. Opladen: Leske + Budrich, S.341-359.

Bonfadelli, Heinz / Fritz, Angela (1995): Lesen im Alltag von Jugendlichen. In: Bonfadelli,

Heinz et al. (Hrsg.): Leseerfahrungen und Lesekarrieren. Studien der Bertelsmann Stiftung

(Lesesozialisation Bd. 2). Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung, S.7-214.

Bortz, Jürgen / Döring, Nicola (2006): Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und

Sozialwissenschaftler. 4., überarbeitete Auflage. Berlin, Heidelberg: Springer.

Burkart, Roland (2002): Kommunikationswissenschaft. 4., überarbeitete und aktualisierte

Auflage. Wien / Köln / Weimar: Böhlau Verlag.

Charlton, Michael / Schneider S. (Hrsg.) (1997): Rezeptionsforschung. Theorien und

Untersuchungen zum Umgang mit Massenmedien. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Charlton, Michael / Pette, Corinna (1999): Lesesozialisation im Erwachsenenalter: Strategien

literarischen Lesens in ihrer Bedeutung für Alltagsbewältigung und Biographie. In: Groeben,

Norbert (Hrsg.): Lesesozialisation in der Mediengesellschaft (Internationales Archiv für

Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 10. Sonderheft). Tübingen: Max Niemeyer Verlag,

S.103-117.

Page 20: Seminararbeit über die Gratifikationen adoleszenter LeserInnen

STEP 5, SoSe 08 - 20 - Kolisch Nicole Dr. Margit Böck Matr. Nr. 9002037 Eggert, Hartmut / Garbe, Christine (2003): Literarische Sozialisation. 2., aktualisierte Auflage.

Stuttgart: Metzler.

Elias, Norbert (1997): Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II. Frankfurt am Main:

Suhrkamp.

Falschlehner, Gerhard (1997): Vom Abenteuer des Lesens. Salzburg / Wien: Residenz-

Verlag.

Graf, Werner (2007): Lesegenese in Kindheit und Jugend. Einführung in die literarische

Sozialisation. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

Haas, Hannes (2008): Medienkunde. Grundlagen Strukturen Perspektiven. Wien: WUV

Universitätsverlag.

Heinrich, Jürgen (2001): Medienökonomie. Band 1: Mediensystem, Zeitung, Zeitschrift,

Anzeigenblatt. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Just, Natascha / Latzer, Michael (2003): Ökonomische Theorien der Medien. In: Weber,

Stefan (Hrsg.): Theorien der Medien. Konstanz: UVK-Verlag, S. 81-107

Krämer, Nicole C. (2004): Mensch-Computer-Interaktion. In: Mangold, Roland et al.:

Lehrbuch der Medienpsychologie. Göttingen: Hogrefe, S.643-671

Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2007): JIM-Studie 2007.

http://www.mpfs.de/index.php?id=110 (6.7.2008)

Möhring, Wiebke / Schlütz, Daniela (2003): Die Befragung in der Medien- und

Kommunikationswissenschaft. Eine praxisorientierte Einführung. Wiesbaden: Westdeutscher

Verlag.

Riepl, Wolfgang (1913): Das Nachrichtenwesen des Altertums mit besonderer Rücksicht auf

die Römer. Leipzig: Teubner. Zitiert nach: Rössler, Patrick (2003): Online-Kommunikation. In:

Bentele, Günter / Brosius, Hans-Bernd / Jarren, Otfried (Hrsg.): Öffentliche Kommunikation.

Handbuch Kommunikations- und Medienwissenschaft. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag,

S. 504-522.

Page 21: Seminararbeit über die Gratifikationen adoleszenter LeserInnen

STEP 5, SoSe 08 - 21 - Kolisch Nicole Dr. Margit Böck Matr. Nr. 9002037 Sander, Uwe / Vollbrecht, Ralf: Wirkungen der Medien im Spiegel der Forschung – Ein

Überblick über Theorien, Konzepte und Entwicklungen der Medienforschung. In: Hiegemann,

Susanne / Swoboda, Wolfgang H. (Hrsg.): Handbuch der Medienpädagogik. Theorieansätze,

Traditionen, Praxisfelder, Forschungsperspektiven. Opladen: Leske + Budrich, S.361-386.

Theunert, Helga (1994): Quantitative versus qualitative Medien- und

Kommunikationsforschung? In: Hiegemann, Susanne / Swoboda, Wolfgang H. (Hrsg.):

Handbuch der Medienpädagogik. Theorieansätze, Traditionen, Praxisfelder,

Forschungsperspektiven. Opladen: Leske + Budrich, S.387-401.

Schön, Erich (1990): Die Entwicklung literarischer Rezeptionskompetenz, Ergebnisse einer

Untersuchung bei Kindern und Jugendlichen. In: SPIEL, Jg.9, H.2, S.229-276. Zitiert nach:

Eggert, Hartmut / Garbe, Christine (2003): Literarische Sozialisation. 2., aktualisierte Auflage.

Stuttgart: Metzler.

Walser, Martin (1969): Erfahrungen und Leseerfahrungen. Frankfurt a.M.. Suhrkamp-Verlag.

Zitiert nach: Graf, Werner (2007): Lesegenese in Kindheit und Jugend. Einführung in die

literarische Sozialisation. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

Page 22: Seminararbeit über die Gratifikationen adoleszenter LeserInnen

STEP 5, SoSe 08 - 22 - Kolisch Nicole Dr. Margit Böck Matr. Nr. 9002037

10. Anhang

10.1 Ergebnisse der Fragen 8, 11 und 12a im Detail

(in %, auf ganze Zahlen gerundet)

12-18 Jährige, Befragungszeitraum: Mai / Juni 2008, n = 30 Frage 8: Welche der folgenden Aussagen trifft auf dich zu? trifft

überhaupt nicht zu

trifft eher nicht

zu

trifft eher zu

trifft sehr zu

Beim Lesen erlebe ich Abenteuer in einer anderen Welt.

3% 17% 50% 30%

ich kann mich beim Lesen gut in die Figuren hineinversetzen.

0% 7% 47% 47%

Ich wäre gerne so, wie der Held / die Heldin aus meinem Lieblingsbuch.

17% 37% 23% 23%

Ich habe schon einmal eine Buchfigur sehr bewundert.

14% 17% 35% 35%

Ich war schon einmal richtig wütend auf eine Figur aus einem Buch.

23% 23% 30% 23%

Ich hab schon einmal bei einem Buch weinen müssen.

20% 30% 17% 33%

Wenn in einem Buch etwas Schönes passiert, macht mich das glücklich.

7% 10% 40% 43%

Manchmal sind Bücher so lustig, dass ich laut lachen muss.

7% 17% 41% 35%

Ich habe mit Freunden einmal etwas nachgespielt, dass ich in einem Buch gelesen habe.

47% 20% 27% 7%

Wenn ich am Abend im Bett lese, kann ich besser einschlafen.

10% 20% 50% 20%

Abbildung 4: Häufigkeiten-Tabelle / Frage 8

Page 23: Seminararbeit über die Gratifikationen adoleszenter LeserInnen

STEP 5, SoSe 08 - 23 - Kolisch Nicole Dr. Margit Böck Matr. Nr. 9002037 Frage 11: Würdest du in den folgenden Situationen lieber ein Buch lesen, Fernsehen (TV) oder Computerspielen? Buch TV Computerspiel Wenn ich mich entspannen will 46% 50% 7%

Wenn mir langweilig ist 39% 39% 23%

Wenn ich traurig bin 41% 45% 14%

Wenn ich meine Ruhe haben will 71% 18% 11%

Wenn ich Spannung und Abwechslung möchte 25% 32% 43%

Vor dem Schlafengehen 46% 50% 0%

Abbildung 5: Häufigkeiten-Tabelle / Frage 11

(siehe auch Abbildung 2)

Frage 12a: Viele Bücher werden auch verfilmt (z.B. Harry Potter, Die Chroniken von Narnia, Herr der Ringe). Liest du lieber die Bücher oder siehst du dir lieber die Filme an? Lese lieber die Bücher

24%

Sehe lieber die Filme

31%

Egal. Ich mag beides gleich gern.

45%

Abbildung 6: Häufigkeiten-Tabelle / Frage 12a

10.2 Fragebogen (Querformat, daher gesondert als Dokument angefügt)