Seminararbeit Neo-Mutazilismus

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Ruprecht – Karls – Universität Heidelberg Seminar für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients HS: Rationalismus im Islam Dozentin: Prof. Dr. Susanne Enderwitz Sommersemester 2010 Inna Veleva 69117 Heidelberg Rohrbacherstr. 40 Tel: 0163 904 7 049 E-Mail: [email protected] 1. HF Politikwissenschaft (9. Semester) 2. HF Islamwissenschaft (9. Semester) Die Problematik der islamisch-theologischen Rationalismus-Debatte Inwiefern ist der ägyptische Philosoph Muammad ʽAbduh als Inspirator und Begründer eines vermeintlichen Neo-Muʽtazilismus zu bezeichnen?

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Ruprecht – Karls – Universität Heidelberg Seminar für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients HS: Rationalismus im Islam Dozentin: Prof. Dr. Susanne Enderwitz Sommersemester 2010

Inna Veleva 69117 Heidelberg Rohrbacherstr. 40 Tel: 0163 904 7 049 E-Mail: [email protected]

1. HF Politikwissenschaft (9. Semester)

2. HF Islamwissenschaft (9. Semester)

Die Problematik der

islamisch-theologischen

Rationalismus-Debatte

Inwiefern ist der ägyptische Philosoph

Muḥammad ʽAbduh als Inspirator und Begründer

eines vermeintlichen Neo-Muʽtazilismus zu

bezeichnen?

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Die Problematik der islamisch-theologischen Rationalismus-Debatte

Inwiefern ist der ägyptische Philosoph Muḥammad ʽAbduh als Inspirator und Begründer eines

vermeintlichen Neo-Muʽtazilismus zu bezeichnen?

Gliederung

I. Exzerpt auf englischer Sprache………………………….………………………...…………2

II. Einleitung…………..…………………………………………………………….…………3

III. Hauptteil……………………………………………………………........................………4

1. Die Muʿtazila…………………………………………………………………………..4

1.1. Der Entstehungskontext der Muʿtazila…………………………..…………….4

1.2. Die muʿtazilitische Glaubenslehre anhand ihrer fünf Hauptprinzipien….…….5

1.2.1. Die Einheit Gottes (tauḥīd)………………………………………………...6

1.2.1.1. Die muʿtazilitische These zur Erschaffenheit des Koran…………..7

1.2.2. Die Gerechtigkeit Gottes (ʿadl)…………………………………………….8

1.2.3. Die Verheißung und die Drohung (al-waʿd wa-l-waʿīd)…………………..9

1.2.4. Das Zwischenstadium zwischen den Gläubigen und den Ungläubigen (al-

manzila baina l-manzilatain)………………………………………..……10

1.2.5. Das Rechte gebieten, das Verwerfliche verbieten (al-amr bi-'l-maʿrūf wa 'l-

nahy ʿan al-munkar)……………………………………………………..11

2. Die Ašʿarīya…………………………………………………………………………..11

2.1. Der Entstehungskontext der Ašʿarīya……………………...…………………12

2.2. Die Glaubenslehre der Ašʿarīya………………………………………………13

3. Geschichte des Neo-Muʽtazilismusbegriffes in der westlichen Islamwissenschaft

anhand der Ansichten fünf tonangebender Orientalisten……………………………..16

4. Der vermeintliche Neo-Muʽtazilismus von Muḥammad ʽAbduh……………………20

4.1. Der Lebenslauf Muḥammad ʽAbduhs……………………………………..…20

4.2. Die theologischen Erkenntnisse ʽAbduhs in „Risālat at-tauḥīd“…………….22

IV. Fazit………………………………………………………………………………24

V. Literaturverzeichnis…………………………………………………………..…..25

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I. Exzerpt auf englischer Sprache

The following research paper deals with the topic of Islamic Rationalism. The intention of the

author is to illuminate the phenomenon of ‘Neo-Muʽtazilism’, while focusing on the question

of Muḥammad ʽAbduh’s dubious identification with the Muʽtazilite ideology of theological

rationalism.

After illustrating the historical evolution of the Muʽtazila the author proceeds by introducing

the diversity of its theological doctrine with emphasis on the five distinctive principles of

Muʽtazilism, i.e. the uniqueness of God (al-tawḥīd), the justice of God (al-ʿadl), the notion of

‘the promise and the threat’ (al-waʿd wa 'l-waʿīd), the theory of the ‘intermediate state’ (al-

manzila bayna 'l-manzilatayn) and finally the religious obligation of commanding the good

and forbidding the evil (al-amr bi-'l-maʿrūf wa 'l-nahy ʿan al-munkar).

Further in her analysis the author dwells upon the ideological origin of the religious teachings

of the As̲h̲ʿariyya, emphasizing its moderate position, which is aimed at the reconciliation of

the radical rationalist kalām of the Muʽtazila with the orthodox dicta of revelation. The chosen

intermediate course offered a constructive compromise solution which consists in

accentuating the omnipotence of God and in the meantime preserving the use of dialectic

without subjecting the revelation to a logical reasoning process.

The third chapter of the research paper is dedicated to the controversial debate between

leading orientalists concerning the reputed existence of a specific Muʽtazilite revival. Having

criticized their unflinching determination to portray certain Muslim philosophers as so-called

Neo-Muʽtazilites in regard to the inconsistent methodology of their classification scheme, the

author then continues discussing the topic of Muḥammad ʽAbduh’s alleged reversion to the

Muʽtazilite school of thought.

Exemplifying ʽAbduh’s challenging theological beliefs, as they were advocated by him in his

distinguished treatise “Theology of Unity” (Risālat al-tawḥīd) the author investigates

ʽAbduh’s rather optimistic concept of Islamic dogmas as being thoroughly compatible with

modern science. Nevertheless, after the recapitulation of the sociopolitical context, in which

ʽAbduh presented this rational theosophy of his, the mere notion of ʽAbduh’s being

considered himself the ultimate originator of “La Renouveau du Moʽtazilisme” as formulated

by Caspar still remains quite equivocal due to the lack of a sufficient supporting evidence.

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II. Einleitung

Ziel meiner wissenschaftlichen Arbeit ist die Problematik der islamischen Rationalismus-

Debatte zu beleuchten, wobei ich mich mit den Auswirkungen der rationalistisch fundierten

Lehren der Muʿtaziliten und ihrer ašʽaritischen Nachfolger auf den modernen islamisch-

theologischen Diskurs auseinandersetzen werde. In der Untersuchung konzentriere ich mich

auf den wissenschaftlich-analytischen Umgang führender Orientalisten mit diesem

‚rationalistischen Erbe des Islam‘1, wobei der thematische Schwerpunkt auf den

islamwissenschaftlichen Rezensionen zu dem umstrittenen Begriff ‚Neo-Muʽtazilismus‘ liegt.

Nach einer Veranschaulichung der durchaus inkonsequenten Kategorisierungssystematik

werde ich abschließend die prekäre Fragestellung erörtern, inwiefern der ägyptische

Philosoph und Sozialreformer Muḥammad ʽAbduh als Begründer der auf interpretativen

Wegen konstatierten muʿtazilitischen Renaissance charakterisiert werden kann.

Im folgenden Absatz möchte ich die Struktur der von mir präsentierten Argumentationskette

verdeutlichen. Im ersten Kapitel meiner Arbeit werde ich die Glaubenslehre der kontroversen

Theologenschule der Muʿtazila anhand der fünf ausformulierten Hauptprinzipien erläutern,

wobei ich noch auf ihren spezifischen Entstehungskontext eingehe. Im zweiten Punkt widme

ich mich der Versöhnungsrolle vom ašʿarītischen Lager als Vermittler zwischen dem

muʿtazilitischen Kalām und der orthodoxen sunnitischen Dogmatik. Um die Relevanz dieser

gewissen Kompromissideologie zu veranschaulichen, werde ich zuerst den Aufstieg der

ašʿarītischen Denkschule aufzeichnen und anschließend die historisch bedingte ideologische

Ausrichtung der Ašʿarīya skizzieren. Im dritten Kapitel der Arbeit polemisiere ich die

islamwissenschaftliche Debatte um die vermeintliche Existenz einer neo-muʽtazilitischen

Strömung, indem ich die widersprüchlichen Ansichten fünf tonangebender

Islamwissenschaftler miteinander vergleichend analysiere. Die Frage nach der vermutlichen

Zugehörigkeit Muḥammad ʽAbduhs zu einem abstrakten neo-muʽtazilitischen Ideenlager wird

anhand der in seiner bedeutendster Schrift „Risālat at-tauḥīd“ niedergelegten theologischen

Einsichten noch detaillierter in dem letzten Kapitel diskutiert.

1 Die folgende Formulierung wurde übernommen von Thomas Hildebrandt, vgl. Thomas Hildebrandt, Neo-Mu‘tazilismus?, Intention und Kontext im Umgang mit dem rationalistischen Erbe des Islam, Leiden: Brill, 2007 [im Folgenden: Thomas Hildebrandt, Neo-Mu‘tazilismus?];

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III. Hauptteil

1. Die Muʿtazila

Um die Frage nach der angeblich muʿtazilitischen Ausrichtung Muḥammad ʽAbduhs zu

beleuchten, sollten zuallererst der Entstehungskontext und die Glaubenslehre der heftig

umstrittenen Theologenschule der Muʿtazila erläutert werden.

1.1. Der Entstehungskontext der Muʿtazila

Die religiöse Bewegung der Muʿtazila wurde in der zweiten Hälfte des 2./8. Jahrhunderts in

Baṣra von Wāṣil Ibn ʿAṭāʾ (st. 131/748) gegründet, nachdem er sich infolge einer

ideologischen Diskussion zum Sonderstand des schwer gesündigten Muslims (murtakib al-

kabīra) von der Denkschule seines qadaritisch geprägten Mentors al-Ḥasan al-Baṣrī (st.

110/728) abgespalten hatte2. Der Name der rationalistisch fundierten Strömung entstammt aus

dem arabischen Verb iʿtazala, welches sich auf den aufgeführten Akt des Abtrennens seitens

Wāṣil Ibn ʿAṭāʾ bezieht3. Obwohl ein zusätzlicher Anhänger von al-Ḥasan al-Baṣrī – ʿAmr

Ibn ʿUbaid (st. 144/761) – ebenfalls als Gründungsvater der Muʿtazila bezeichnet wird, sollte

darauf hingewiesen werden, dass er sich dem muʿtazilitischen Kreis um Wāṣil Ibn ʿAṭāʾ erst

nach dem Tode seines Lehrers angeschlossen hat4.

In dieser Entstehungsphase der separatistischen Denkschule lassen sich jedoch keine

fundamentalen Meinungsunterschiede gegenüber der bislang den theologischen Diskurs

dominierenden qadaritischen Ideologie registrieren, als deren Hauptmerkmale die Ablehnung

der Prädestinationslehre und die Beteuerung der individuellen Verantwortlichkeit des

Menschen aufzulisten sind. In diesem Sinne machte die rhetorische Ausformulierung der

geänderten Stellung vom Begeher schwerer Sünden den entscheidenden Streitpunkt zwischen

den ansonsten ähnlich ausgerichteten Denkschulen aus.

Während der Frevler nach al-Ḥasan al-Baṣrī als ein ‚Hypokrit‘ (munāfiq) abgestempelt

werden sollte, beharrte Wāṣil Ibn ʿAṭāʾ auf dem von ihm vorgeschlagenen Terminus

‚Missetäter‘ (fāsiq), was den Bestand einer gewissen Zwischenstufe für den vom

2 Vgl. dazu: Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu‘tazilismus?“, S. 123 3 Nachdem sich Wāṣil Ibn ʿAṭāʾ aus der DebaEe zurückgezogen haEe, sollte al-Ḥasan al-Baṣrī die Protestaktion seines abtrünnigen Schülers mit den folgenden Worten kommentiert haben: „Wāṣil hat sich von uns abgetrennt“ (iʿtazala ʿannā), Vgl. dazu: Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 123 Noch zur Ursprung des Begriffs Muʿtazila: Daniel Gimaret, „Muʿtazila“. In: Encyclopaedia of Islam, Second

Edition 4 Daniel Gimaret, „Muʿtazila“. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition

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gottgefälligen Pfade abgerutschten Muslim suggerierte5. Die konzipierte Sonderstellung stellt

den muʿtazilitischen Versöhnungsversuch dar, die divergierenden Positionen der Ḫāriǧīya6,

gemäß der der Sünder als ein Ungläubiger (kāfir7) gilt, und der Murǧiʾa8, die dem Sünder die

Zugehörigkeit zum Islam nicht abspricht und ihn weiterhin als Gläubiger (muʾmin9)

behandelt, miteinander in Einklang zu bringen. Die von Wāṣil Ibn ʿAṭāʾ ausformulierte

‚Zwischenstellung zwischen den beiden Zuständen‘ (manzila baina l-manzilatain), die zu den

fünf Grundprinzipien der Muʿtazila zählt, ermöglicht die Einordnung der Gesündigten

zwischen den Gläubigen und den Ungläubigen, wobei er weiterhin als Mitglied der

muslimischen Gemeinschaft galt, jedoch aufgrund seiner Sünden der gerechten Strafe des

ewigen Höllenfeuers unterlag10.

Ausgehend von den vorzüglichen Beziehungen von Wāṣil Ibn ʿAṭāʾ zu den ʿAliden Medinas

und der privilegierten Stellung der Muʿtazila-Schule unter den frühen ʿAbbasiden vermutete

Nyberg11, dass sich hinter der neu etablierten Missionsbewegung eine politische Agenda

verbarg. Trotz dieser bedenklichen Spekulationen scheint die religiös begründete Bestrebung

nach einer grenzübergreifenden theologischen Aufklärung der Gesellschaft die intrinsische

Motivation der Muʿtazila dominiert zu haben12.

1.2. Die muʿtazilitische Glaubenslehre anhand ihrer fünf Hauptprinzipien

Die ideologischen Grundlagen der Glaubenslehre der Muʿtazila lassen sich am prägnantesten

anhand der fünf von Abū 'l-Hud̲ail13 ausformulierten Hauptprinzipien (uṣūl ḫamsa) skizzieren,

von denen jedoch die ersten zwei – der Glaube an die Einheit (tauḥīd) und an die

Gerechtigkeit (ʿadl) Gottes – den Kern des rationalistischen Gedankenguts der selbst

5 Ebd.: „Muʿtazila”

6 Giorgio Levi Della Vida, "Ḵh̲ārid̲ji̲tes". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition, Brill, 2010. Brill Online. 7 Camila Adang, "Belief and Unbelief". In: Encyclopaedia of the Qurʾān, Washington DC. Brill, 2010. Brill Online.

8 Wilferd Madelung, "Murd̲ji̲ʾa." Encyclopaedia of Islam, Second Edition

9 Camila Adang, "Belief and Unbelief". In: Encyclopaedia of the Qurʾān.

10 Vgl. dazu: Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 124 11 Henrik Samuel Nyberg, "al-Muʿtazila ". In: First Encyclopaedia of Islam 1913-1936, Vol. 3, Brill 1987; S. 850-56 12 Vgl. dazu: Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 126 13 Vgl. dazu: Suleiman A. Mourad, „Abū 'l-Hud̲ail“. In: Encyclopaedia of Islam, Third Edition

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ernannten ahl al-ʿadl wa-t-tauḥīd14

(buchstäblich: ‚Vertreter der Gerechtigkeit und der

Einheit Gottes‘) ausmachten15.

1.2.1. Die Einheit Gottes (tauḥīd)

Die muʿtazilitische tauḥīd-Lehre übertrifft deutlich die reine Ausführung vom klassischen

Monotheismus, indem sie die absolute Einzigartigkeit und Transzendenz Gottes akzentuiert

und jede Form von Anthropomorphismus (tašbīh bzw. taǧsīm)16 strikt ablehnt17. Das

‚Reinhalten‘ (tanzīh) dieser abstrakten Gottesvorstellung erfolgt mittels einer Verneinung

jeglicher die Körperlichkeit Gottes voraussetzenden Tätigkeiten, da – wie die Sure 42 Vers 11

noch lautet – nichts Seinesgleichen existieren könnte (laisa ka-miṯlihī šaiʾ18). Verleugnet wird

auch die rein theoretische Möglichkeit zum Erlangen der segnenden Gottesschau im Paradies

(ruʾyat Allāh19), da ein wörtliches Erblicken das Diktum der unbestreitbaren Materielosigkeit

Gottes verletzen würde. In diesem Sinne sollten die koranischen Verse, in denen Gott

menschliche Eigenschaften bzw. Körperteile zugeschrieben wurden, ausschließlich

allegorisch interpretiert werden.

Daraus ergab sich für die Muʿtazila auch die theologische Herausforderung, die auf Gott

bezogenen anthropomorphistischen Attribute (Ṣifāt)20 auf der Basis rationaler Argumente als

‚von Ewigkeit her neben Gott bestehende Entitäten‘ abzuwehren, um die sich dadurch

anschleichende Gefahr des Polytheismus (širk)21 zu vermeiden22. Die in der aufgeflammten

Attributendebatte herausstechende Schule von Abū 'l-Hud̲ail analysierte diese auf Gott

projizierten Prädikate als integralen Bestandteil Seines göttlichen Wesens, indem sie sich auf

die folgende Konstruktion berief: „Gott ist wissend durch ein Wissen, das Er selbst ist“ ergo

„durch Sich selbst“23. Infolge der angeblich drastischen Leugnung (taʿṭīl) der göttlichen

Attribute wurde die Schule seitens ihrer Kontrahenten dessen beschuldigt, Gott nur auf eine

14 Vgl. dazu: Daniel Gimaret, "Tawḥīd (a.)". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 15 Vgl. dazu: Daniel Gimaret, „Muʿtazila“. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 16 Vgl dazu: Josef van Ess, "Tash̲̲bīh wa- Tanzīh". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 17 Vgl. dazu: Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 135

18

19 Gemäß der Sure 75 Vers 22-23: „An jenem Tag wird es strahlende Gesichter geben, die auf ihren Herrn schauen“ (Wuǧūhun yauma ʾiḏin nāḍira ilā rabbihim nāẓira) 20 Vgl. dazu: Gerhard Böwering, „God and his Attributes”. In: Encyclopaedia of the Qurʾān, Washington DC. Brill, 2010. Brill Online 21 Vgl. dazu: Daniel Gimaret, „Shirk“. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 22 Vgl. dazu: Daniel Gimaret, „Muʿtazila“. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 23 Vgl. dazu: Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 136;

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abstrakte Essenz reduziert zu haben, was Sein Eingriffspotenzial im Laufe der

Weltgeschehnisse beträchtlich einschränke24. Am ausgeprägtesten sind jedoch die

ideologischen Diskrepanzen in Bezug auf die muʿtazilitische These zur Erschaffenheit des

Korans, die sich ebenfalls von der geschilderten rationalistisch fundierten Grundeinstellung zu

den göttlichen Attributen ableiten lässt25.

1.2.1.1. Die muʿtazilitische These zur Erschaffenheit des Koran (Ḫalq al-

Qurʾān26)

In ihrer Bemühung, die Doktrin der Einheit und der Einzigartigkeit Gottes möglichst

unversehrt zu bewahren, predigte die Muʿtazila-Schule, dass der Koran in seiner Eigenschaft

als Rede Gottes (kalām Allāh27) als ein Resultat göttliches Handelns zu betrachten sei und

aufgrund dessen nicht als präexistent (qadīm) bzw. ewig (azalī) gelten könnte28. Nach dieser

muʿtazilitischen Begründungslogik wird die These der Unerschaffenheit des Korans

unvermeidlich mit dem christlichen Trinitätsglauben assoziiert und somit als Verstoß gegen

das sakrale Monotheismusprinzip perzipiert29. Ohne den göttlichen Ursprung der koranischen

Texte zu bezweifeln, beteuerten die Muʿtaziliten, dass das Heilige Buch als ein Akzidens

Gottes (ʿaraḍ) definiert werden sollte, da die darin konkretisierte und schriftlich fixierte

Botschaft keinen ewigen Bestandteil des göttlichen Wesens ausmachen könnte30.

Um es zu beglaubigen, dass der Koran wie der Rest der Schöpfung von Gott geschaffen

(maḫlūq) sei, beriefen sich die Muʿtaziliten bei diversen Beweisversuchen auf koranische

Verse, aus denen sich die Endlichkeit des Korans erschließen ließ, wie es die Sure 41, Vers 42

besagt: „weder von vorn noch von hinten kann etwas falsches in den Koran gelangen“31. Ein

unwiderrufliches Argument zugunsten dieser muʿtazilitischen Theorie sollte die Sure 43, Vers

3 liefern, welche lautet: „Wir haben es zu einem arabischen Koran gemacht, auf daß ihr

24 Ebd.: „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 136 25 Vgl. dazu: Daniel Gimaret, „Muʿtazila“. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 26 Richard C. Martin, "Createdness of the Qurʾān". In: Encyclopaedia of the Qurʾān 27 Louis Gardet, "Kalām". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 28 Daniel Gimaret, „Muʿtazila“. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 29 Wilferd Madelung, „The Origins of the controversy concerning the creation of the Koran“. In: Orientalia hispanica sive studia F.M. Pareja, Barral, J. M (ed.), Band I, Leiden 1974, S. 504 30 Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 137

تَنزِيٌل مْن َحِكيٍم محَِيدٍ ۖ◌ يِه اْلَباِطُل ِمن بـَْنيِ َيَدْيِه َوَال ِمْن َخْلِفِه ال يَْأتِ 31

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darüber nachdenken möget“32. Von vornherein artikuliert das rhetorische Prädikat ‚ǧaʿala‘

den Akt des Erschaffens des göttlichen Werks33. Außerdem wird dem Koran in diesem Vers

noch die Transzendenz ausdrücklich abgesprochen, da Gottes Wort – im Gegensatz zu dem

jeglicher Erkenntnis entzogenen Gottes Wesen – ganz intendiert als zugänglich für den

menschlichen Verstand konzipiert wurde34.

Unter dem Kalifen al-Maʾmun wurde die umstrittenste muʿtazilitische Doktrin von der

Erschaffenheit des Korans zum Staatsdogma erklärt, wodurch die Institutionalisierung von

einem Inquisationstribunal veranlasst wurde, das die Gegner von der offiziellen Lehre der

sog. ‚großen Prüfung‘ (miḥna35) unterziehen sollte36.

1.2.2. Die Gerechtigkeit Gottes (ʿadl)

Das Bekenntnis zur göttlichen Gerechtigkeit (ʿadl37) nimmt eine zentrale Stellung in der

muʿtazilitischen Ideologie ein, vornehmlich aufgrund der daraus abstrahierten und durchaus

innovativ interpretierten Folgetheorien bezüglich der Prädestinationslehre38. Im Vordergrund

des muʿtazilitischen Gerechtigkeitsverständnisses steht die Eigenverantwortlichkeit der

Menschen, welche aus ihrer von Gott genehmigten Entscheidungsfreiheit resultiert. Nach

diesem noch als ‚Theorie des iḫtiyār‘39 bekannten Prinzip kann das mit Handlungsfähigkeit

(qudra bzw. istiṭāʿa qabla l-fiʿl40) gesegnete Individuum sein Schicksal selbstständig und

ohne Einmischung gestalten, weshalb es auch die Verantwortung für die eigene

Willensäußerung übernehmen sollte41. Zwar seien die Menschen von Gott weiterhin nach

qadaritischer Auffassung zu einem moralischen Verhaltenskodex aufgefordert (taklīf42), für

dessen korrekte und gewissenhafte Befolgung die gebührende jenseitige Belohnung (ṯawāb43)

noch laut dem Heiligen Koran gewährt worden war. Dennoch wird eine kategorische

Prädetermination grundsätzlich abgelehnt, zumal Gottes Ratschluss (qadar44) an sich nicht

إِنا َجَعْلَناُه قـُْرآنًا َعرَبِيا لَعلُكْم تـَْعِقُلونَ 3233 Aṭ - Ṭabarī: Annalen, Serie III, S. 1113ff 34 Vgl. dazu: Gerhard Endreß, Der Islam, Eine Einführung in seine Geschichte, München: Beck, 1997 [im Folgenden: Gerhard Endreß, Der Islam]; hier S. 62 35 Martin Hinds, "Miḥna". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 36 Gerhard Endreß, „Der Islam“, S. 63 37 Emile Tyan, "ʿAdl". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition. 38 Daniel Gimaret, „Muʿtazila“. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 39 Louis Gardet, "Ikh̲̲_yār". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 40 Matthias Radscheit, "Responsibility". In: Encyclopaedia of the Qurʾān 41 Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 138f. 42 Daniel Gimaret, "Taklīf (a.)". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 43 Wim Raven, "Reward and Punishment". In: Encyclopaedia of the Qurʾān 44 Louis Gardet, "al- Ḳaḍā; Wa 'l-ḳadar". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition

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mehr als das göttliche Vorauswissen impliziere. Folgendermaßen lässt sich auch das kritische

Theodizee-Problem entschärfen, indem die bösen Handlungen der Menschen ausschließlich

auf ihre unabhängige Entscheidungskraft zurückzuführen seien45. Währenddessen sei Gott

nach einem objektiv bestehenden Wertesystem dazu verpflichtet, seine Schöpfung für die

Gehorsamkeit zu belohnen und bei einem Regelverstoß dementsprechend zu bestrafen

(ʿiqāb46). Das Heikle an der skizzierten Interpretationsmöglichkeit wird von dem

bedenklichen Aspekt ausgemacht, dass Gott nach dieser muʿtazilitischen Auslegung

konkreten Normvorschriften unterworfen war, an deren er sich trotz seiner Omnipotenz zu

richten hätte47.

1.2.3. Die Verheißung und die Drohung (al-waʿd wa-l-waʿīd)

Das ‚Verheißung und Drohung‘ Diktum akzentuiert die Unausweichlichkeit der höllischen

Qualen für jeden mit ewigem Höllenfeuer gedrohten Sünder, es sei denn er bereue aufrichtig

die begangenen Freveltaten48. Das für die sunnitische Orthodoxie provokante an dieser These

sei die sich daraus für Gott ergebende Unterwerfungspflicht, die von ihm angekündigten

Strafmaßnahmen konsequent durchzuführen49. Gänzlich abgestritten wird noch die durchaus

komfortable Möglichkeit, dass am Tag des Jüngsten Gerichts ein Gläubiger, ein Heiliger oder

der Prophet selbst, bei Gott für einen Sünder Fürsprache (šafāʿa50) einlegen könnte. Das

geschilderte Prinzip tangiert außerdem die Problematik der Glaubensdefinition (die sog. Frage

der asmāʾ wa-l-aḥkām). Neben dem reinen Glaubensbekenntnis (qaul bzw. šahāda) sollte

auch das menschliche Handeln (ʿamal) mit einbezogen werden, wobei eine nominelle

Zugehörigkeit zum Islam keine Garantie für den Eintritt ins Paradies leisten könnte51.

1.2.4. Das Zwischenstadium zwischen den Gläubigen und den Ungläubigen (al-

manzila baina l-manzilatain)

Das speziell für den schwer gesündigten Muslim konzipierte Zwischenstadium (al-manzila

baina l-manzilatain) korreliert eng mit der Beweisführung hinsichtlich der Unabwendbarkeit

der göttlichen Bestrafung, die für den diese Sonderstellung belegenden Frevler (fāsiq)

45 Tibi Bassam, Der wahre Imam, Der Islam von Mohammed bis zur Gegenwart, München: Piper, 1996 [im Folgenden: Bassam Tibi, Der wahre Islam]; S. 119 46 Wim Raven, "Reward and Punishment". In: Encyclopaedia of the Qurʾān 47 Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 139 48 Ebd.: „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 139 49 William Montgomery Watt/ Michael Marmura (Hrsg.), Der Islam II, S. 233 50 Arent Jan Wensinck/ Annemarie Schimmel, "S̲H̲afāa". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 51 Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 139

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gleichfalls als unvermeidbar gilt52. Die muʿtazilitische Schule argumentierte gegen die

Kompromisslosigkeit der Ḫāriǧiten, nach derer Auffassung der Gesündigte als ein

Ungläubiger (kāfir) abgestempelt werden sollte. Nichtdestotrotz könnten sich die

gerechtigkeitsorientierten Muʿtaziliten mit der allzu liberalen Einstellung der Murǧi´iten

ebenso wenig anfreunden, da sie sogar den schweren Verbrecher muslimischer Konfession

einem Gläubigen gleichsetzen würden53. Die Eleganz des muʿtazilitischen Lösungsvorschlags

bestand darin, die skizzierten theologischen Differenzen – mittels der rationalistisch

begründeten Einführung von einer Spezialkategorie für die sündigen Muslime – zu

überbrücken54. Der muslimische Glaube ließ sich für die Muʿtaziliten nicht isoliert von den

menschlichen Handlungen auf Erde betrachten, da die gebotene bedingungslose Obedienz

Gottes vielmehr als die bloße Einhaltung der islamischen Lehrsätze verlangte55.

1.2.5. Das Rechte gebieten, das Verwerfliche verbieten (al-amr bi-'l-maʿrūf wa 'l-

nahy ʿan al-munkar)

Das fünfte Prinzip (al-amr bi-'l-maʿrūf wa 'l-nahy ʿan al-munkar) adressiert die muslimische

Pflicht „zum Rechten aufzufordern und vom Verwerflichen abzuhalten, wo es Gelegenheit und

Fähigkeit dazu gibt – durch Zunge, Hand und Schwert – wie man es eben zu tun vermag“56

.

Nach muʿtazilitischer Auslegung ist hinter der im Koran festgeschriebenen Maxime vom

‚Befehlen des sich Geziemenden und Verhindern des Verwerflichen‘ vielmehr zu

interpretieren als nur die nachdrückliche Anweisung zur Förderung einer moralischen und

gottgefälligen Lebensweise57. Die Ausformulierung dieser Aufforderung ist für die

Muʿtaziliten durchweg politisch konnotiert und postuliert laut ihrer Argumentation auch die

staatsbürgerliche Obliegenheit, gegen einen ungerechten Herrscher Widerstand zu leisten,

wenn er den verwerflichen Pfad einschlägt und die Sittlichkeit vernachlässigt58.

2. Die Ašʿarīya

Eine adäquate Abhandlung der Vermittlungs- und Versöhnungsrolle der ašʿarītischen Schule

als eine Kompromissideologie zwischen dem muʿtazilitischen Kalām und der orthodoxen

sunnitischen Dogmatik erfordert zunächst die Beleuchtung der gesellschaftshistorischen

52 Daniel Gimaret, „Muʿtazila“. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 53 Sabine Schmidtke, „Neuere Forschungen zur Mu'tazila“. In: Arabica 45, 1998, S. 383 54 Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 140 55 Daniel Gimaret, „Muʿtazila“. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 56 William Montgomery Watt/ Michael Marmura (Hrsg.), Der Islam II, S. 234 57 Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 140 58 Ebd.: „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 140

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Brisanz dieser Ideologie anhand ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer theologischen

Auffassungen.

2.1. Der Entstehungskontext der Ašʿarīya

Der Aufstieg der ašʿarītischen Schule steht evident in Verbindung mit dem ultimativen

Scheitern der ausgesprochen elitären muʿtazilitischen Glaubenslehre, sich in der orthodox

geprägten islamischen Gesellschaft durchzusetzen59. Statt die untereinander verfeindeten

islamischen Glaubenseinrichtungen miteinander in Einklang zu bringen, hatte die Einführung

der als Abschreckungsmittel intendierten Miḥna vielmehr eine alienierende Wirkung60. Mit

dieser aggressiven Zwangsmaßnahme provozierten die Muʿtaziliten eine Welle der Empörung

seitens der erbitterten Anhänger von der fest verwurzelten religiösen Hauptströmung, die eine

rationalistisch fundierte Argumentationsweise ganz prinzipiell ablehnten, da sie mit einer

buchstabentreuen und an die Offenbarung ausgerichteten Gläubigkeit unvereinbar war61. Der

öffentliche Aufruhr ließ sich auch nicht mit der vom Kalif al-Mutawakkil62 (847-61)

favorisierten Restaurationspolitik63 beschwichtigen, obwohl er die ‚Sunna des Propheten‘ zur

Konstitution der Orthodoxie proklamierte und sich zum Herrn über die Religionslehre

erklärte64.

Andererseits war es keine Option, die von der muʿtazilitischen Schule systematisierten

Diskussionsanregungen und den somit erzielten Erkenntnisgewinn komplett auszublenden.

Die Verwirklichung einer nachhaltigen Versöhnung zwischen den rivalisierenden

Ideologielagern bedürfte einer Reform der rigiden orthodoxen Dogmatik, mittels welcher die

begrenzte Aufnahmefähigkeit des doktrinären Repertoires hinsichtlich innovativer

Argumentationslinien allmählich erweitert werden könnte65. Folgendermaßen sollte die

Angreifbarkeit der sunnitischen Orthodoxie gegenüber rationalistisch gestifteten

Beweisführungen zielbewusst und präventiv reduziert werden. Dennoch ist eine

Kompromissformulierung zwischen der rationalistisch-dialektischen Methode der

mutakallimūn und dem traditionalistisch-juristischen Dogmatismus der Hadithgelehrten erst

59 William Montgomery Watt/ Michael Marmura (Hrsg.), Der Islam II, S. 302 60 Tilman Nagel, „Geschichte der islamischen Theologie“, S. 123 61 Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 147 62 Hugh Kennedy, "al- Mutawakkil ʿAlā 'llāh , Abu 'l-Faḍl Ḏja̲ʿfar b. Muḥammad". In: Encyclopaedia of Islam. Second Edition 63 Vgl. dazu: Tilman Nagel, „Geschichte der islamischen Theologie“, S. 176f. 64 Gerhard Endreß, „Der Islam“, S. 63 65 Claude Cahen, Fischer Weltgeschichte, Bd.14, Der Islam: Bd. I, Vom Ursprung bis zu den Anfängen des Osmanenreiches, Frankfurt: Fischer (Tb.), 2003 [im Folgenden: Claude Cahen, Der Islam I]; hier S.217f.

Page 13: Seminararbeit Neo-Mutazilismus

12

dem Gründervater der Ašʿarīya gelungen66 – Abū l-Ḥasan al-Ašʿarī67 (st. 324/935), dessen

Lehre sich als die am weitesten verbreitete Theologie für den sunnitischen Islam zu etablieren

vermochte68.

2.2. Die Glaubenslehre der Ašʿarīya

Als relevant für die historisch bedingte ideologische Ausrichtung der Ašʿarīya wird noch die

Tatsache betrachtet, dass der Gründungsvater Abū l-Ḥasan al-Ašʿarī vorweg selber zu den

Schülern des großen muʿtazilitischen Systematikers Abū ʿAlī Muḥammad al-Ğubbaʾi69 zählte.

Infolge einer angeblich tiefgreifenden konservativen Umorientierung, entschloss er sich

letzten endlich zu der Glaubensrichtung der ḥanbalitisch geprägten Traditionswächter

überzutreten70, der sog. „ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa“ [„Leute der Sunna und der

Gemeinschaft“71], wobei er seine endgültige Abwendung vom muʿtazilitischen Lager auf eine

spektakuläre Art angekündigt haben sollte: „He who knows me, knows who I am, and he who

does not know me, let him know that I am Abū l-Ḥasan al-Ašʿarī, that I used to maintain that

the Quran is created, that eyes of men shall not see God, and that the creatures create their

actions. Lo! I repent that I have been a Muʿtazilite. I renounce these opinions and I take

engagement to refute the Muʿtazilites and expose their infancy and turpitude”72.

In seiner Anstrengung, die – in Anbetracht des von der sunnitischen Restauration

gekennzeichneten Stimmungswechsels am Abbasidischen Hof73 ohnehin diskreditierte –

muʿtazilitische Schule zu desavouieren, instrumentalisierte er ganz raffiniert die

Überzeugungskraft der dialektisch-rationalistischen Rhetorik zugunsten der von ihm

verfochtenen orthodoxen sunnitischen Position74. Dessen ungeachtet hat die unverschleierte

Weiterverwendung von den muʿtazilitischen Grundbegriffen des dialektisch stilisierten Kalām

die Forscher zur Spekulation veranlasst, dass al-Ašʿarī in Wirklichkeit die diffamierte

66 Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 147 67 William Montgomery WaE, "al- Ash̲̲ʿarī, Abu 'l- Ḥasan , ʿAlī b. Ismāʿīl". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 68 Claude Cahen, „Der Islam I“, S. 218 69 Louis Gardet, "al- ḎJu̲bbā;ī , Abū ʿAlī Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 70 Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 147 71 Gerhard Endreß, „Der Islam“, S. 64 72 Dieses Zitat wurde übernommen von Seyyed Hossein Nasr, Islamic Philosophy from its Origin to the Present, Philosophy in the Land of the Prophecy, New York: State University of New York Press, 2006 [im Folgenden: Seyyed Hossein Nasr, Islamic Philosophy from its Origin to the Present]; S. 124 73 Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 146 74 Seyyed Hossein Nasr, “Islamic Philosophy from its Origin to the Present”, S. 124f.

Page 14: Seminararbeit Neo-Mutazilismus

13

rationalistische Disziplin lediglich modifizieren wollte, um sie an den veränderten

gesellschaftspolitischen Kontext anzupassen75.

Im Gegensatz zu den muʿtazilitischen Überzeugungen predigte al-Ašʿarī, dass Gottes

Attribute wirkliche und ewige Eigenschaften der göttlichen Essenz porträtieren. Die von den

Muʿtaziliten denunzierten koranischen Anthropomorphismen figurierten laut der ašʿarītischen

Lehre als Ausdruck des göttlichen Mysteriums und seien aufgrund dessen ohne spekulative

Auslegung zu akzeptieren76 – nämlich ‚ohne Frage nach dem wie‘ (bi-lā kaif77). Diese

vorbehaltlose Wahrnehmung der unergründlichen göttlichen Natur postulierte eine

bedingungslose Inkaufnahme der im Jenseits zu erwartenden Gottesschau in Form eines

unfehlbaren Erblickens mit den leiblichen Augen, ohne dass eine Inkarnation Gottes (ḥulūl78)

in menschlicher Form vorausgesetzt wird79.

Was die umstrittene These zur Erschaffenheit des Korans angeht, so präsentierte die Ašʿarīya

eine Kompromisslösung, welche besagte, dass der Koran als Rede Gottes zu den ewigen

Wesensattributen zähle und ergo als Bewusstseinsinhalt (kalām nafsī) unerschaffen sei80. In

seiner Eigenschaft als Rezitation (kalām lafẓī) gelte die Heilige Schrift im materiellen

Buchformat jedoch als der erschaffene Text des offenbarten Wortes81.

Eine bedeutende Rolle in der ašʿarītischen Ideologie spielt die These von der durch Gottes

Allmacht eingeschränkten Willensfreiheit der Menschen: „Sie behaupten, dass niemand das

Vermögen zu einer Handlung hat, bevor er sie [von Gott dazu befähigt] ausführt, oder dass er

vermöchte, sich Gottes Wissen zu entziehen oder etwas zu tun, wovon Gott weiß, dass er es

nicht tun wird. Und sie bekennen, dass es keinen Schöpfer gibt außer Gott, dass Gott es ist,

der auch die Schlechtigkeiten der Menschen erschafft, dass es Gott der Erhabene ist, der die

Taten der Menschen erschafft und dass die Menschen nichts schaffen können“82. Um den

Widerspruch zwischen der Prädestination des menschlichen Schicksals und dem im Koran

verankerten Verantwortlichkeitsprinzip der gerechten Vergeltung zu beseitigen, berief sich

75 Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 146 76 Seyyed Hossein Nasr, “Islamic Philosophy from its Origin to the Present”, S. 125 77 Gerhard Endreß, „Der Islam“, S. 64 78 Louis Massignon, "Ḥulūl". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 79 Seyyed Hossein Nasr, “Islamic Philosophy from its Origin to the Present”, S. 125 80 Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 148 81 Claude Cahen, „Der Islam I“, S. 218 82 al-Ašʿarī: Maqālāt al-Islāmiyyīn, folgende Übersetzung wurde übernommen von: Hellmut Ritter, Die dogmatischen Lehren der Anhänger des Islam, Istanbul, 1929 [im Folgenden: Hellmut Ritter, Die dogmatischen Lehren der Anhänger des Islam]; S. 290-293

Page 15: Seminararbeit Neo-Mutazilismus

14

die Ašʿarīya auf die ausgeklügelte Theorie der ‚Aneignung‘ (ʾiktisāb)83. Laut dieser

Kompromissvariante ‚erschaffe‘ (yaḥluqu) Gott die menschlichen Taten, wobei er die

Menschen dazu befähigte, sich gewisse Handlungen anzueignen (kasb)84. Da von Gott

lediglich die Kraft zur Ausführung dieser Handlungen entstammte, blieb die Verantwortung

für die Verrichtung einer schlechten Tat weiterhin dem Menschen überlassen, welcher in

Genuss der delegierten Entscheidungskompetenz kam und im Jenseits zur Rechenschaft dafür

gezogen werden sollte85.

Obwohl die vordergründigen rhetorischen Differenzen in der illustrierten ašʿarītischen

Artikulation oberflächlich einem symbolischen Begriffsstreit ähneln, steckt hinter den

ašʿarītischen Ausformulierungen vielmehr die Motivation, die bedingungslose

Gottgläubigkeit mit der kritischen Vernunft zu versöhnen und dabei die absolute

Unantastbarkeit der Omnipotenz Gottes zu akzentuieren86.

Obwohl sich die von Abū Manṣūr al-Māturīdī87 (st. 333/944) gegründete und der Ašʿarīya

nahestehende Ideologieschule noch mehr auf die rationalistische Dialektik der fünf

Grundprinzipien des ʾiʿtizāl einließ, war der durch die Konsolidierung des Konservatismus

katalysierte Prozess der Diskriminierung und Verunglimpfung der Muʿtazila schon

unumkehrbar geworden88. Eine der Konsequenzen dieser forcierten Verleumdungskampagne

war die ‚Versteinerung‘ der arabisch-sunnitischen Theologie, welche mit einer

Obsoletisierung des gesellschaftskritischen Aspekts des Kalām einherging.

Die Mehrheit der gewagten Erneuerungsversuche auf dem Gebiet der Theologie wurde mit

unüberwindlichem Misstrauen konfrontiert – es sei denn, die Reinigung von Dogma und

Praxis war das vorher proklamierte Ziel89. Erst Muḥammad ʽAbduh90 erkühnte sich, dem

eingeschlafenen gesellschaftlichen Kalām-Diskurs mithilfe seiner fortschrittlichen Schriften

erneut Triebkraft zu verleihen. Um sachlich darüber urteilen zu können, inwiefern dieses

progressive Unterfangen jedoch eine ausreichende Begründung wäre, ʽAbduh einer neo-

muʿtazilitischen Strömung einzuordnen, sollte zuallererst der wissenschaftliche Ursprung des

vom akademischen Zirkel erfundenen Begriffs ‚Neo-Muʿtazilismus‘ erläutert werden.

83 Claude Cahen, "Kasb". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 84 Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 148 85 Seyyed Hossein Nasr, “Islamic Philosophy from its Origin to the Present”, S. 125 86 Claude Cahen, „Der Islam I“, S. 218 87 Wilfred Madelung, "al- Māturīdī, Abū Manṣūr Muḥammad b. Muḥammad b. Maḥmūd al-Samarḳandī". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 88 Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 150 89 Ebd.: „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 150 90 Joseph Schacht, "Muḥammad ʿAbduh". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition

Page 16: Seminararbeit Neo-Mutazilismus

15

3. Geschichte des Neo-Muʽtazilismusbegriffes in der westlichen

Islamwissenschaft anhand der Ansichten fünf tonangebender Orientalisten

Der Begriff ‚Neo-Muʽtazilismus‘ wurde vom ungarischen Islamforscher Ignaz Goldziher91 in

seiner detaillierten theologisch-philosophischen Analyse „Die Richtungen der islamischen

Koranauslegung“ von 1920 eingeführt, in welcher er den in der zweiten Hälfte des 19.

Jahrhunderts in Indien entstandenen Modernismus der parallel in Ägypten zu beobachtenden

modernistischen Strömung vergleichend gegenüberstellte92. Die in Indien aufblühende

Bewegung sei darauf fokussiert gewesen, das aus regionaler Perspektive befremdlich

wirkende wissenschaftlich-politische Denkschema des Westens mittels einer

Neuinterpretation islamischer Glaubensinhalte unter der einheimischen muslimischen

Bevölkerung zu popularisieren93. Im Unterschied dazu sei die mit den Namen von

Muḥammad ʽAbduh (1849-1905) und Muḥammad Rašīd Riḍā94 (1865-1935) assoziierten

ägyptische Ideenströmung auf die langfristige Intention ausgerichtet gewesen, den Islam als

ein fortschrittliches Modell für gesellschaftlichen Aufschwung und politische Emanzipation

neu zu interpretieren95.

In diesem Zusammenhang bezeichnete Goldziher die sich auf muʽtazilitische Vorbilder

berufenden indischen Modernisten als ‚Neo-Muʽtaziliten‘, während er den auf Koran und

Sunna zurückblickenden ägyptischen Modernismus als ein ‚Kultur-Wahhāismus‘ abstempelte,

da die ägyptischen Theoretiker die orientalisch-arabische Ausprägung des Islam als Gegenpol

zu dem zwielichtigen westlichen Zeitgeist artikulierten96. Die Kritik an Goldzihers

problematischer Differenzierung richtete sich vor allem an den somit künstlich kreierten

Spannungsfeld zwischen dem Neo-Muʽtazilismus und der Theologie, gemäß welchem der auf

theologische Erwägungen konzentrierten ägyptischen Schule die Bezeichnung ‚neo-

muʽtazilitisch‘ abgesprochen wurde. Ausgehend aus einem fragwürdigen Verständnis von

Theologie im Sinne von religiöser Dogmatik, vertrat Goldziher die Ansicht, dass die von ihm

in theologischen Materien als „leichtgeschürzt“ eingeschätzte indische Bewegung vielmehr

mit einem angeblich erneuerten Muʽtazilismus konvergierte97. Dass die Theologie an sich

jedoch ein unbestreitbarer Bestandteil der muʽtazilitischen Ideologie ausmachte, scheint vom

ungarischen Orientalisten komplett ausgeblendet worden zu sein, zumal er die intensive 91 Peter Haber, „Der ungarische Orientalist“, verfügbar unter: http://www.hist.net/haber/texte/103920.pdf 92 Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 14f. 93 Ebd.: „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 14f. 94 Werner Ende, "Rash̲̲īd Riḍā". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 95 Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 14f. 96 Ebd.: „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 15 97 Ebd.: „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 15f.

Page 17: Seminararbeit Neo-Mutazilismus

16

Auseinandersetzungen des indischen Modernisten Sayyid Aḥmad Ḫān98 (1817-1898) mit dem

theologischen Begriff des kalām gleichermaßen unkommentiert herausließ99.

Dessen ungeachtet bezeichneten Bernard Michel und Muṣṭafā ʽAbd ar-Rāziq in der von ihnen

1925 publizierten französischen Version von Muḥammad ʽAbduhs wichtigster theologischer

Schrift – Risālat at-tauḥīd100 – den revolutionären Reformator als einen modernen

Muʽtaziliten, was jedenfalls nicht auf einer seitens des ägyptischen Dialektikers verbalisierten

Selbstbekennung zum neo-muʽtazilitischen Kreis beruhte. Vielmehr ist diese übereilte

Fehlinterpretation auf eine relativ oberflächliche Auslegung der zwar äußerst facettenreichen

und vielschichtigen Ideologie ʽAbduhs zurückzuführen, zumal die theologischen

Gesichtspunkte des aufgeklärten Autors auf ihre wechselseitige Übereinstimmung mit

muʽtazilitischen Aussagen recht nachlässig überprüft wurden101. In diesem Kontext entspringt

die in der Einleitung rein spekulativ diagnostizierte Zugehörigkeit ʽAbduhs zu einer breiteren

neo-muʽtazilitischen Strömung aus der von Michel und Muṣṭafā ʽAbd ar-Rāziq höchst

unpräzise gefassten Definition neo-muʽtazilitischen Denkens102, laut welcher alle

rationalistisch geprägten muslimischen Gesellschaftskritiker des bedenkenlosen

Traditionalismus – abgesehen von deren inhaltlichen Überzeugungen – als die

zeitgenössischen Träger der sog. „Geist der Muʽtazila“ charakterisiert werden sollten103.

Gerade diesem unsterblichen muʽtazilitischen Geist wird vom französischen Orientalisten

Robert Caspar in seinem Artikel von 1957 „Une somme inédite de théologie mo’tazilite“ der

Verdienst für den nachhaltigen Einfluss der Muʽtazila auf die gesellschaftlichen

Entwicklungsperspektiven zugeschrieben104. Akzentuiert wird das im Muʽtazilismus

verankerte unauslöschliche Streben nach einer Erneuerung der hinsichtlich jeglicher

Reformtendenzen eher unduldsamen islamischen Religion, in der Absicht den Islam mittels

einer Neuauslegung für die dynamischen Herausforderungen der Moderne zu adaptieren: „cet

esprit de recherche, d'effort pour justifier sa foi par la raison, esprit d'accueil envers les

richesses du monde non musulman pur en faire bénéficier l'islam et placer les nations

98 Johannes Marinus Simon Baljon, "Aḥmad K̲H̲ān". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 99 Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 16 100 Buchstäbliche Übersetzung aus dem Arabischen: Abhandlung/Sendschreiben über die Einheit Gottes 101 Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 16 102 „l’esprit de la mutazilah continua à exercer son influence en inspirant plus ou moins directement les

tendances rationalistes qui n’ont jamais cessé de se manifester; et cela jusqu’à nos jours, car on peut qualifier

de néo-moutazilites les hommes qui essaient actuellement de donner à l’Islam une vie nouvelle, en faisant appel

à une saine critique contre le exagérations d’un traditionalisme aveugle, en essayant de dégager ses principes

fondamentaux et à le concilier avec les exigences de la vie et de la science modernes“ Michel/Abdel Razik 1925 (Das Zitat wurde übernommen von Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 17) 103 Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 17f. 104 Ebd.: „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 28

Page 18: Seminararbeit Neo-Mutazilismus

17

musulmanes au niveau des pays modernes“ (Caspar 1957, S. 200f.)105. Obwohl Caspar

eigentlich aus dem feststehenden Sachverhalt auszugehen scheint, dass Muḥammad ʽAbduh

ganz absichtlich eine direkte Bezugnahme auf die muʽtazilitische Lehre unterlassen hatte,

proklamierte er trotzdem den ägyptischen Denker auf der Basis einer kreativen Interpretation

von ʽAbduhs theologischen Aussagen im oben erwähnten Risālat at-tauḥīd als „précurseur et

inspirateur“ der muʽtazilitischen Erneuerung106. Der französische Islamwissenschaftler wird

registriert haben, dass der moderne islamische Zeitgeistdiskurs vielmehr von der Philosophie

dominiert wird – als von beliebigen abstrakten theologischen Reflexionen wie im Fall der den

Muʽtazilismus kennzeichnenden unfruchtbaren Diskussionen um die Attributlehre und die

Natur des Koran107. Darum bemüht, eine muʽtazilitische Fundierung bei den entsprechenden

Punkten auch in der von ʽAbduh präsentierten Ideenlehre zu konstatieren, konzentrierte sich

Robert Caspar bei seiner Untersuchung ausschließlich auf diejenigen Positionen des

vielseitigen Gelehrten, die eine Relation zur grassierenden Debatte um das Spannungsfeld

zwischen Vernunft und Moral sowie Naturgesetzlichkeit und Kausalität aufwiesen108.

Wenngleich er dann logischerweise Muḥammad ʽAbduh als Stammvater des angeblich

wiederbelebten muʽtazilitischen Lagers porträtiert, stellt er schließlich fest, dass die

potentielle Etablierung eines Neo-Muʽtazilismus als historisches Phänomen der Moderne

dagegen erst auf das zukünftige Engagement muslimischer Geschichtswissenschaftler

angewiesen sei109. Trotz dieses skeptisch konnotierten Fazits erweist sich Caspars Studie als

ein ausschlaggebender Faktor für die spätere Popularisierung des umstrittenen Begriffs ‚Neo-

Muʽtazilismus‘.

Als wesentlicher Kritikpunkt an Caspars Herangehensweise wird die aus akademischer Sicht

recht bedauernswerte Tatsache pointiert, dass trotz der handfest formulierten Intention des

französischen Orientalisten, ein islamisches Phänomen zu beleuchten, seine Analyse fast

ausschließlich auf arabische Autoren beschränkt bleibt. Gegen die durchaus angreifbare

Ausblendung des indischen Beitrags zur modernen Aufarbeitung der muʽtazilitischen

Tradition protestierte am eifrigsten der deutsch- und marokkanisch-stämmige Islamforscher

Detlev Khālid in seinem Artikel von 1969 „Some aspects of Neo-Muʽtazilism“110.

105 Das Zitat wurde übernommen von Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 28 106 Ebd.: „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 22f. 107 Ebd.: „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 28f. 108 „le grand réformateur prit, consciemment ou non, ouvertement ou non, des positions semblables à celles des

mo'tazilits, ou du moins très proches d'elles“ Caspar 1957, S. 162 (Das Zitat wurde übernommen von Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 22) 109 Ebd.: „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 28f. 110 Detlev Khālid, „Some Aspects of Neo-Muʽtazilism”. In: Islamic Studies 8 (1969), S. 319-347

Page 19: Seminararbeit Neo-Mutazilismus

18

Nichtdestotrotz zeichnet sich seine Schrift ebenfalls durch starke apologetische Zügen aus,

zumal der muslimische Autor die kuriose Faszination Caspars über den unerschöpflichen

Erfindungsgeist der muʽtazilitischen Schule vollkommen zu teilen scheint, mit Hilfe dessen

die umstrittene Bewegung ganz strategisch „the weapons of the opponents“ zur

Rehabilitierung des Islam instrumentalisierte: „It were the Muʽtazila who formulated for the

Muslim community the answers to menacing questions of the older civilizations“111

. Im

Unterschied zum französischen Islamwissenschaftler bezweckte Khālid mit seiner

Untersuchung, das Verhältnis zwischen dem indischen und dem arabischen Neo-

Muʽtazilismus ausführlich zu erläutern, wobei er eindeutig vielmehr auf eine

Veranschaulichung der indischen Einflüsse für die rationalistisch geprägte Geistesentfaltung

der Araber fokussiert war112. Trotzdem wurde laut Khālid diese von ihm in Indien registrierte

Renaissance muʽtazilitischer Auffassungen letzten endlich vom Werk des arabischen Autors

Aḥmad Amīn113 „Zuʽamāʾal-iṣlāḥ fī l-ʽaṣr al-ḥadīṯ“ gekrönt, in welchem die

Berührungspunkte zwischen der indischen und der ägyptischen Denkströmung am

deutlichsten herausstechen würden114. Nachdem jedoch der aufgeblühte Neo-Muʽtazilismus

mit Aḥmad Amīn seinen Gipfelpunkt angeblich erreicht hatte, wird von Khālid den

schleichenden Niedergang des fragilen Phänomens konstatiert, wobei der deutsch-

marokkanische Orientalist den rasanten Abstieg der rekonstruierten muʽtazilitischen Tradition

mit dem Aufstieg des Säkularismus und mit den durchdringenden mystischen Tendenzen

verknüpfte: „Once freedom of thought in Muslim lands had broken the shackles of

traditionalism Iʽtizāl as a tool of acculturation became less attractive. Where secularism was

instituted as official or semi-official doctrine, the Muʽtazilite model lost its relevance

altogether, or at least to the extent institutionalized secularism was challenged or not”115.

Erwähnenswert ist außerdem Khālids historisch abgeleitete These vom vermeintlichen

Versöhnungspotenzial des Neo-Muʽtazilismus, der aufgrund seines pragmatischen

111 Detlev Khālid, „Some Aspects of Neo-Muʽtazilism”, S. 319 112 „That ʽUbayd-Allāh Sindhī could so frankly disclose the Muʽtazilite inclination of his chosen Imām Walī-Allāh

was mainly due to Sayyid Aḥmad Khān (1817-1898). Starting with him Indian Muslim modernists loved to call

themselves neo-Muʽtazila, and to claim resuscitaFon of the aims and aspiraFons of that enlightened party of

Islam. Thus adherence to Muʽtazilite concepFons was openly confessed in India much earlier than in Egypt. In

this context too the role of Jamāl al-dīn al-Afghānī is to be regarded of central importance”, Detlev Khālid, „Some Aspects of Neo-Muʽtazilism”, S. 323 113Hamilton Alexander Rosskeen Gibb, "Aḥmad Amīn". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 114 Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 35 115 Detlev Khālid, „Some Aspects of Neo-Muʽtazilism”, S. 334

Page 20: Seminararbeit Neo-Mutazilismus

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Rationalismus eine durchaus elegante Lösung für die religiösen Differenzen zwischen den

untereinander zerstrittenen Glaubensrichtungen des Islam anzubieten scheint116.

Die Frage, inwiefern ein ähnlicher Konfliktschlichtungsaspekt entscheidende Rolle auch in

ʽAbduhs vermeintlichen Neo-Muʽtazilismus spielt, wird erst nach einer Abhandlung des

akademischen Werdegangs von diesem bemerkenswerten Philosophen erörtert.

4. Der vermeintliche Neo-Muʽtazilismus von Muḥammad ʽAbduh

4.1. Der Lebenslauf Muḥammad ʽAbduhs

Geboren 1949 im Dorf Maḥallat Naṣr der Buḥayra Provinz im unterägyptischen Nildelta,

wuchs Muḥammad ʽAbduh in einer bescheidenen Bauernfamilie auf117. Nach dem

Auswendiglernen des Koran in einer traditionellen Madrasa118 provozierte sein Onkel

Scheich Darwīš eine gewisse Sympathie bei dem wissbegierigen Jugendlichen für die

mystischen Lehren der Sufis, wobei ʽAbduhs allzu große Begeisterung über die gepredigte

Enthaltsamkeit von materiellen Angelegenheiten und die strikte Einhaltung des asketischen

Lebensstils im Endeffekt auch die zunehmende Besorgnis von ʽAbduhs Onkel auslösten, der

die vollkommene Abspaltung seines Neffen von den aktuellen Weltgeschehnissen

befürchtete119. Seinem Mentor Ğamāl ad-Dīn al-Afġānī120 war es zu verdanken, dass ʽAbduh

seine Neugier am gesellschaftspolitischen Leben wiederentdeckte. Während seiner

Studienzeit an der al-Azhar Universität in Kairo begegnete ʽAbduh den öffentlichen

Aktivisten und Philosoph al-Afġānī, der von einer heterogenen Anhängerschaft aus

ägyptischen und ausländischen Intellektuellen umgeben war121. Unter seinem unbestreitbaren

Einfluss entwickelte ʽAbduh ein Interesse für europäische Literatur und Philosophie. So sehr

er jedoch vom technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt des Westens fasziniert war,

teilte er eifrig al-Afġānīs Ablehnung des westlichen ungezügelten Materialismus und der

moralischen Verdorbenheit dieser lasterhaften Gesellschaft. Angesichts der erdrückenden

kulturellen Dominanz der europäischen Großmächte und im Hinblick auf die in Ägypten 116 „The supra-sectarian structure of IʽFzāl was another important element responsible for the high expectations

neo-Muʽtazilism aroused in Muslim modernists. The concept of al-mazila bayna l-manzilatayn (literally stand

between the two positions) with which the Muʽtazila undertook to reconcile divergent views is appealing due to

its spirit of moderation”, Detlev Khālid, „Some Aspects of Neo-Muʽtazilism”, S. 336 117 Anke von Kügelgen, "ʿAbduh, Muḥammad", In: Encyclopaedia of Islam, Three 118 Buchstäbliche Übersetzung: Ort des Unterrichts (dars), vgl. Jens Pedersen/ Munibur Rahman/ Robert Hillenbrand, "Madrasa". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 119 Thomas Hildebrandt, „Waren Ğamāl ad-Dīn al-Afġānī und Muḥammad ʿAbduh Neo-Muʽtaziliten?“, In: Die Welt des Islams, New Series, Vol. 42, Issue 2 (2002), S. 212 120 Ignaz Goldziher, "ḎJa̲mālal-Dīnal-Afg̲h̲ānī, al-Sayyid Muḥammad b. Ṣafdar", In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 121 „a group of intellectual malcontents and religious rebels” Kedourie, Elie: Afghani and ʿAbduh: An Essay on Religious Unbelief and Political Activism in Modern Islam, London 1966, S. 18-20

Page 21: Seminararbeit Neo-Mutazilismus

20

bestehenden sozialgesellschaftlichen Missstände propagierte ʽAbduh die Rückbesinnung auf

die wahren Glaubensfundamente des Islam, die an erster Stelle mittels einer gravierenden

Bildungsreform zu lancieren sei. Nachdem er sein Studium 1877 mit dem akademischen Titel

eines Gelehrten (ʿālim) absolvierte, wurde er 1878 als Geschichtsprofessor an der Hochschule

Dār al-ʽUlūm eingestellt, wobei er noch an der Sprachschule des Khediven (Madrasat al-

alsun al-ḫīdīwīya) arabische Literatur unterrichtete122. Außerdem betätigte sich ʽAbduh mit

journalistischen Beiträgen an der al-Ahrām Zeitung, in denen er an die gehemmte

Aufklärungsbereitschaft seiner Landsleute appellierte und sie zum religiösen Patriotismus

aufrief123. Auf Grund der demonstrierten Protesthaltung gegenüber der ausländischen

Fremdregierung wurde der oppositionell gesinnte Akademiker 1879 in seinen Heimatort ins

Exil geschickt, während sein Tutor al-Afġānī wegen seiner Widerstandsaktivitäten aus dem

Land ausgewiesen wurde124. Im Folgejahr durfte ʽAbduh nach Kairo zurückkehren und wurde

ironischerweise zum Chefredakteur der offiziellen Regierungszeitung „al-Waqāʾiʿ al-

Miṣriyya“ ernannt, welche er zum Sprachrohr seiner revolutionären Agitationskampagne

transformierte125. Infolge der ihm unterstellten systemwidrigen Parteilichkeit zugunsten der

nationalistischen Rebellen im ʿUrābī-Aufstand126 gegen die in innerstaatliche

Angelegenheiten intervenierenden europäischen Hegemonialmächte wurde ʽAbduh im

Dezember 1882 festgenommen, woraufhin er Ägypten verlassen musste127. Nach einem

kurzen Aufenthalt in Beirut reiste er 1884 nach Paris weiter, wo er erneut auf seinen

Vertrauten Ğamāl ad-Dīn al-Afġānī stieß. Als Produkt deren erfolgreichen Zusammenarbeit

erschien die im politischen Raum kontrovers diskutierte reformistische Zeitschrift „al-ʿUrwa

al-Wuṯqā“, in welcher die beiden enthusiastischen Aktivisten zur Vereinigung aller Muslime

gegen den Despotismus der imperialistischen Fremdherrschaft agitierten. Nach einer

Kurzvisite in England, wo er sich mit Regimerepräsentanten hinsichtlich der jeweiligen

Konfliktkonstellation in Ägypten und Sudan auszutauschen vermag, verließ er 1884 Paris und

verlegte seine Propagandaaktivitäten nach Tunesien. Im Jahr 1885 kehrte er nach Beirut

zurück, wo er seine möglicherweise signifikanteste Schrift verfasste – „Risālat at-tauḥīd“, auf

deren essentielle Bedeutung ich beim nächsten Punkt näher eingehen werde128. Nach seiner

Rückkehr in Kairo arbeitete er als Richter (qāḍī) und wurde 1899 zum Großmufti von

Ägypten ernannt, wobei er das Amt bis zu seinem Tod 1905 ausübte. Die Autorität, die ihm 122 Thomas Hildebrandt, „Waren Ğamāl ad-Dīn al-Afġānī und Muḥammad ʿAbduh Neo-Muʽtaziliten?“, S. 220 123 Anke von Kügelgen, "ʿAbduh, Muḥammad", In: Encyclopaedia of Islam, Three 124 Ebd.: "ʿAbduh, Muḥammad" 125 Thomas Hildebrandt, „Waren Ğamāl ad-Dīn al-Afġānī und Muḥammad ʿAbduh Neo-Muʽtaziliten?“, S. 220 126 Zum Thema “The Revolt of Arabi Pasha” vgl. noch: http://www.war-art.com/revolt_of_arabi_pasha.htm 127 Anke von Kügelgen, "ʿAbduh, Muḥammad", In: Encyclopaedia of Islam, Three 128 Ebd.: "ʿAbduh, Muḥammad"

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diese Auszeichnung verlieh, nutzte Muḥammad ʿAbduh ganz konsequent, um seine

Reformvorschläge für den Bildungsbereich, Justiz- und Sozialwesen überzeugend bei den

relevanten Behörden zu vermarkten, wofür er auch von seinem prominentesten Schüler Rašīd

Riḍā129 berechtigt als ‚imām muṣliḥ‘ (reformistischer Führer) zelebriert wurde130. Bis zu

welchem Grad der von ihm inspirierte Erneuerungsprozess als muʽtazilitisch angehaucht gilt,

wird von mir anhand seines bedeutsamsten Werks Risālat at-tauḥīd erörtert.

4.2. Die theologischen Erkenntnisse ʽAbduhs in „Risālat at-tauḥīd“

Die Einordnung ʽAbduhs in das vermeintliche ‚neo-muʽtazilitische‘ Lager ist vorwiegend auf

die in seinem geschichtsträchtigem Werk „Risālat at-tauḥīd“ niedergelegten theologischen

Einsichten und philosophischen Reflexionen zurückzuführen. Zwar mag die sich in der

gesamten Risāla herauskristallisierende Vernunftfreundlichkeit zu überhasteten

Schlussfolgerungen eingeladen haben, aber genau unter diesen Umständen sollte darauf

hingewiesen werden, dass die Rationalität nicht sui generis der Muʽtaziliten allein vorbehalten

ist. ʽAbduhs Akzentuierung von der entscheidenden Rolle der Vernunft kontrastiert stark zur

muʽtazilitischen Kanonisierung des Rationalitätsprinzips und zeugt vielmehr vom

modernistischen Charakter der von ihm verfassten religionskritischen Minimaltheologie, in

welcher rationalistische Anregungen diverser Glaubensrichtungen des Islam miteinander in

Einklang gebracht werden sollten131.

Eine vermeintliche muʽtazilitische Orientierung ʽAbduhs wird außerdem anhand seiner

Position bezüglich der kontroversen Frage nach der menschlichen Willensfreiheit

argumentiert. ʽAbduh geht fest davon aus, dass der Mensch seine selbstgewählten

Handlungen mittels einer ihm innewohnender Kraft (qudra) immerhin wissentlich ausführt

(huwa mudrik li-aʽmālihī al-iḫtiyārīya)132 und in vollem Bewusstsein über die Tragweite und

Auswirkungen dieser von Gott verliehenen Vollmacht (al-iḫtiyār al-mamnūḥ li-l-insān133)

sein Schicksal gestaltet, obwohl seine Handlungsfreiheit durch die Unberechenbarkeit äußerer

Faktoren eingeschränkt sei. Gewiss mögen die von ʽAbduh verwendeten Begriffe qudra und

iḫtiyār134

muʽtazilitisch konnotiert sein, zumal dadurch nominal auf die muʽtazilitische

Maxime der göttlichen Gerechtigkeit Bezug genommen wird. Trotzdem wird diese etwa 129 Werner Ende, "Rash̲̲īd Riḍā". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition 130 Anke von Kügelgen, "ʿAbduh, Muḥammad", In: Encyclopaedia of Islam, Three 131 Thomas Hildebrandt, „Waren Ğamāl ad-Dīn al-Afġānī und Muḥammad ʿAbduh Neo-Muʽtaziliten?“, S. 239f. 132 Ebd.: „Waren Ğamāl ad-Dīn al-Afġānī und Muḥammad ʿAbduh Neo-Muʽtaziliten?“, S. 249 133 Vgl. Aʽmāl Bd. 3, S. 375. In: al-Aʽmāl al-kāmila li-l-imām aš-šaiḫ Muḥammad ʿAbduh (6 Bde.) hg. von Muḥammad ʿAmāra, Beirut (al-Muʾassasa al-ʿarabīya li-d-dirāsāt wa-n-našr) 1972-74, hier zit. nach der überarb. Aufl. In 5 Bdn.: Kairo (Dār aš-šurūq) 1993. 134 Louis Gardet, „Ikhtiyār“. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition

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voreilige Annahme durch die Tatsache relativiert, dass die angesprochenen Fachausdrücke

ebenfalls in den philosophischen Traktaten Ibn Sīnās wie auch in māturīditischen und

ašʽaritischen Diskussionen vorkommen. Der delikaten Frage nach dem problematischen

Spannungsverhältnis zwischen der menschlichen Wahlfreiheit und der göttlichen Allmacht

entweicht er mittels einer fein geschliffenen Unpräzisheit, indem er auf eine genauere

Erläuterung des für die Menschheit unergründlichen ontologischen Zusammenhangs

verzichtet (huwa min ṭalabi sirri l-qadari l-laḏī nuhīnā ʽana l-ḫauḍi fīhi135). In seinem

Wunsch jedoch das menschliche Verantwortlichkeitspotential aufrechtzuerhalten, tendiert er

trotz seiner Selbstenthaltungstaktik vielmehr dazu, die Plausibilität der ašʽaritischen kasb

Theorie zu unterstreichen und verteidigt sie sogar gegen Vorwürfe des Polytheismus mit dem

Argument, dass das theoretische Beigesellen eines selbstständig handelnden Menschen

keinesfalls als širk denunziert werden durfte136.

Weiterhin sollte ʽAbduhs Standpunkt im religiösen Streit über die angebliche Erschaffenheit

des Koran für viele Islamforscher eine ideologische Nähe zur muʽtazilitischen Strömung

aufgewiesen haben. Der erste Widerspruch zu dieser irreführenden Behauptung ergibt sich

aus der Tatsache, dass ʽAbduh im Gegensatz zu den Muʽtaziliten die „Rede Gottes“ (kalām

Allāh) selbst zu den göttlichen Attributen zählt, während die Muʽtaziliten ausschließlich die

zur Beschreibung Gottes benötigten Adjektiven als ṣifāt anrechneten137. Dessen ungeachtet

erweckt ʽAbduhs Argumentationskette laut Caspar nur vordergründig eine Assoziation zur

klassisch-ašʽaritischen Differenzierung zwischen dem göttlichen Wort als ewigen

Bewusstseinsinhalt (kalām nafsī) und dem als erschaffen geltenden rezitierten Koran (kalām

lafẓī). Die von ʽAbduh an der ḥanbalitischen Position ausgeübte Kritik, derer er

„Zurückhaltung und des übertriebenen Anstand“ vorwirft, wird vom interpretationswilligen

französischen Orientalisten als ein Zeichen von ʽAbduhs Sympathien mit der rationalistisch

geprägten Schule identifiziert138. Völlig ausgeblendet wird bei dieser Theorie eine die

gesamte Risāla charakterisierende Ambition des ägyptischen Philosophen, unfruchtbare

theologische Dispute zu vermeiden und mittels einer konfliktentschärfender Rhetorik von

vornherein überflüssige Streitigkeiten zwischen den untereinander verfeindeten

Glaubenslagern beizulegen. In diesem Kontext erweist sich die in „Risālat at-tauḥīd“

präsentierte Theologie als ein Sammelbecken diverser voneinander inhaltlich divergierenden

jedoch im Grunde rationalistisch fundierten religiösen Auffassungen.

135 Aʽmāl Bd. 3, S. 403 136 Thomas Hildebrandt, „Waren Ğamāl ad-Dīn al-Afġānī und Muḥammad ʿAbduh Neo-Muʽtaziliten?“, S. 239f. 137 Ebd.: „Waren Ğamāl ad-Dīn al-Afġānī und Muḥammad ʿAbduh Neo-Muʽtaziliten?“, S. 252 138 Ebd.: „Waren Ğamāl ad-Dīn al-Afġānī und Muḥammad ʿAbduh Neo-Muʽtaziliten?“, S. 254f.

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IV. Fazit

Durch ihren ursprünglichen Erscheinungskontext scheint die rationalistisch fundierte

Muʿtazila den islamisch-theologischen Diskurs sicherlich insoweit geprägt zu haben, dass

jegliche darauffolgenden dogmenkritischen Reformströmungen beinahe automatisch einem

neo-muʿtazilitischen Ideenlager zugeordnet werden. Bei einer strengeren Überprüfung der

voreilig konstatierten ideologischen Berührungspunkte zu der denunzierten Denkschule wird

die wissenschaftliche Fragwürdigkeit des künstlich konstruierten Phänomens ‚Neo-

Muʿtazilismus‘ ersichtlich, zumal keine eindeutigen Kriterien für die Klassifizierung

moderner muslimischer Autoren als Vertreter des vermeintlichen muʿtazilitischen

Renaissance existieren. Da die suggerierte Wiederbelebung muʿtazilitischer Auffassungen

vorwiegend auf eigenwilligen Interpretationshypothesen apologetisch argumentierender

Orientalisten basiert, sollte die überhastete Spekulation auf einen aufblühenden ‚Neo-

Muʿtazilismus‘ – sei es auch im Licht der für den islamischen Modernismus kennzeichnenden

Vernunftfreundlichkeit – ebenfalls unterlassen werden.

Umso verkehrter wäre es, Muḥammad ʿAbduhs Einsatz für ein flexibleres Islamverständnis

als Stützpunkt seiner angeblichen muʿtazilitischen Orientierung zu identifizieren. Zwar

tendiert der vielseitig engagierte Theoretiker in der oben behandelten theologischen Schrift

„Risālat at-tauḥīd“ durchaus rationalistisch verbalisierte Konzepte zu propagieren. Dessen

ungeachtet sollte in Betracht gezogen werden, dass sich der ägyptische Gelehrte trotz seiner

reformistischen Rhetorik immerfort klassisch-ašʽaritischer Begriffe bediente und eine

ausdrückliche persönliche Sympathie für die muslimische Philosophie demonstrierte.

Außerdem sind seine taktisch-zurückhaltenden Formulierungen auf eine konstruktive

Versöhnungsstrategie zurückzuführen, die inhaltlich unergiebigen theologischen

Streitigkeiten unter den etablierten islamischen Glaubensrichtungen um des religiösen

Konsenses willen zu relativieren.

Seine Ablehnung des islamischen Fatalismus und die wiederholte Akzentuierung der

menschlichen Willensfreiheit sind vorerst vom im modernistischen islamischen Denken

dominierenden liberalisierenden Zeitgeist inspiriert. Insofern lässt sich sein vielmehr

māturīditisch begründeter Rationalismus nicht mit einem auf rein interpretativen Wegen

konstatierten ‚muʿtazilitischen Erwachen‘ alias ‚Neo-Muʿtazilismus‘ verwechseln.

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