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S H IVA R E A
Mit Yoga den Puls des Lebens spüren
Das Feuer des Herzens hüten
Aus dem Englischen übersetzt von Ingrid Ickler
I N H A LTviii Vorwort zur deutschen Ausgabe
von Christine May
x Vorwort von Sally Kempton
xii Anmerkungen der Übersetzerin
1 Einführung
T E I L E I N SDas Feuer des Herzens hüten: Unsere Vorfahren
und die Entwicklung unseres energetischen Her-
zens
13 Kapitel 1 Das Herzensfeuer betrachten:
vom Wissen unserer Vorfahren bis zu neues-
ten Erkenntnissen der Wissenschaft
33 Kapitel 2 Den Kosmos verkörpern:
vom Urfeuer zum inneren Herzaltar
51 Kapitel 3 Das Herzensfeuer verkörpern:
die Wissenschaft vom energetischen Herzen
T E I L Z W E IHerzensfeuer-Meditationen
71 Kapitel 4 Meditation in Bewegung:
sich mit der Quelle der Bewegung verbinden
97 Kapitel 5 Yoga-Alchemie: energetisches Vinyasa
und der Flow des Rasa
115 Kapitel 6 Herzensfeuermeditationen
und Praxis im Alltag
T E I L D R E ILeben im Rhythmus
149 Kapitel 7 Das Feuer der Schöpfung hüten:
Ayurveda und das innere Feuerhüten
167 Kapitel 8 Lebendiges Vinyasa:
Zyklen von Rhythmus und Flow
191 Kapitel 9 Zeit außerhalb der Zeit:
Rückzug und Regeneration
T E I L V I E RVinyasa leben: das solar-lunare Jahresmandala
215 Kapitel 10 Wintersonnenwende:
Wiedergeburt des Lichts
233 Kapitel 11 Tagundnachtgleiche im Frühling:
Das Leben beginnt wieder neu
243 Kapitel 12 Sommersonnenwende:
das Licht auf Höchststand
255 Kapitel 13 Tagundnachtgleiche im Herbst: die Rückkehr
273 Danksagung
275 Glossar der Sanskritbegriffe
277 Fußnoten
278 Literaturhinweise
279 Bildnachweise
E I N L E I T U N G 1
Mit Siebzehn, nach meinem Highschool-
Abschluss, verließ ich meine Heimat in Memphis,
Tennessee, und reiste über Belgien, Griechenland
und Ägypten nach Kenia. Bevor ich in New York an
die Uni gehen wollte, hatte ich vor, dort neun Mona-
te als Entwicklungshelferin zu arbeiten. So weit der
Plan. Schließlich blieb ich eineinhalb Jahre in Kenia,
das Studium verschob ich auf unbestimmte Zeit.
Die Zeit in Kenia wurde zu einem Schlüsselerleb-
nis für mich, das mein Leben in eine neue Richtung
lenkte. Zurück in Memphis, ich war eigentlich auf
der Suche nach einem Buch über meinen Namen
gewesen, stieß ich in der Bibliothek auf ein Yoga-
buch − und begann, Yoga zu praktizieren. Gleich-
zeitig entwickelte ich das brennende Verlangen,
einen Sinn in meinem Leben zu finden. Mitte der
1980er-Jahre herrschte in Äthiopien eine schreck-
liche Hungersnot; ich wollte unbedingt nach Afrika
zurückkehren, um dort zu helfen. Während der ers-
ten Monate lebte ich mit den anderen Helfern tief
im Busch nahe dem Mount Kenya, in einer in drei
Räume aufgeteilten Hütte, die aus Lehm, Stroh und
dem Dung der Kühe unseres Nachbarn gebaut war.
Wir hatten weder Strom noch fließendes Wasser.
Der Rhythmus dieses einfachen Lebens erschütter-
te meine verwöhnte Teenagerseele zutiefst und be-
sänftigte sie zugleich. Unser oberflächliches Stadt-
leben in den USA, das uns immer mehr von unseren
Wurzeln entkoppelt, hatte ich hinter mir gelassen,
weil ich nach etwas anderem zu suchen begann.
In meinem neuen Leben als Entwicklungshelferin
kam ich wieder mit den natürlichen Rhythmen der
Erde in Kontakt. Das Wasserholen am Fluss stärkte
meine Nackenmuskeln und führte mir den Wert von
Wasser deutlich vor Augen. Das Ernten der Nah-
rung und der lange Fußmarsch zum nächsten Markt
ließen das Essen leckerer schmecken. Und als wir
zusammen mit etwa einhundert Dorfbewohnern
Anlagen bauten, um das Regenwasser aufzufangen,
und dabei auf Swahili „Harambe Pamoja Kujenag
Kenya“ („Lasst uns als Kenianer zusammenarbei-
ten“) sangen, begann sich mein Körper mit dem kol-
lektiven Körper zu verbinden. Ich ging mit dem Mond
ins Bett, stand mit der Sonne auf und passte mei-
nen Lebensrhythmus dem Rhythmus der Natur und
des Kosmos an. Meine Lehrer und Freunde im
Murang’a-Tal kamen mit kaum mehr als 400 Dollar
im Jahr aus und waren dennoch glücklich, denn sie
lebten in Harmonie mit Natur und Umgebung.
Doch obwohl ich ein Teil dieses Ganzen wurde,
begann ich mich zu fragen, ob meine Arbeit tatsäch-
lich etwas bewirkte. War ich wirklich diejenige, die
half? Oder war es nicht vielmehr so, dass ich mehr
zurückbekam, als ich geben konnte?
Eines Tages, als ich gerade von unserer Hütte
unterwegs war ins Dorf, wurde ich krank − erst
Schüttelfrost, dann hohes Fieber. Es war ein schwe-
rer Malariaanfall, der fünf Tage dauern sollte. Die
Auswirkungen der Krankheit spüre ich bis heu-
te. Ich lag die meiste Zeit allein in der Hütte und
hatte Schmerzen im ganzen Körper. Mir ging es so
schlecht, dass ich zu keiner Bewegung fähig war. Die
Zeit stand still. Ich öffnete mich für alle Erinnerun-
gen, die in mir aufstiegen, um am Leben zu bleiben.
E I N F Ü H R U N G
2 E I N L E I T U N G
Ich erinnerte mich an das Geräusch der Wellen in
Hermosa Beach, wo ich mit meinen Eltern gelebt
hatte, an die chaotischen und lebendigen Siebziger
in der Bay Area, wo mein Vater in Berkeley an der
University of California (UCLA) unterrichtete, und
an meine Teenagerjahre in Memphis, mitten in der
Bluesszene der Beale Street. Ich erinnerte mich an
die Menschen, die ich getroffen hatte, an meine Fa-
milie, meine Freunde, meine Lehrer, die erste Lie-
be, die Enttäuschung und die vielen kostbaren Mo-
mente des Glücks: Was hatte ich in dieser kurzen
Lebensspanne nicht alles schon erlebt!
Am Abend des vierten Tages war mein Fieber trotz
der Medikamente immer noch so hoch, dass mei-
ne kenianischen Kollegen sich entschlossen, mich
am nächsten Morgen in die fünf Meilen entfernte
Klinik zu tragen, wenn mein Fieber nicht sinken
würde. Wir begannen zu beten − auf Kikuyu, Swa-
hili und Englisch. Während ich zwischen den Anfäl-
len ganz leise meine Gebete sprach, spürte ich eine
heilige Ruhe und betrat einen Ort, den ich noch nie
zuvor betreten hatte: einen Ort der Initiation. In
der Stille der Nacht begann sich ein intensives Ge-
fühl vom Brustkorb aus in meinem ganzen Körper
auszubreiten. War das der Tod oder meine Wie-
dergeburt? Ich wusste es nicht. Diese innere Kraft
verdrängte alle Gedanken oder Vorstellungen über
das, was gerade geschah. Es war ein einzigartiges
Gefühl der Heiligkeit, die Präsenz einer höheren
Macht, eine heilende Kraft, die in meinem Herzen
wuchs und mein ganzes Wesen verwandelte. Noch
heute kann ich dieses Gefühl wahrnehmen, wenn
ich ganz tief in mich hineinhöre. Als diese vertraute
Wärme aus der Mitte des Herzens in meine Glieder,
dann in den Raum und weiter in den Nachthimmel
entwich, fühlte ich mich merkwürdig glücklich und
ohne Angst. Ich war ganz und gar von Dankbarkeit
erfüllt, denn in diesem Augenblick wusste ich, dass
ich nicht allein auf dieser Welt bin.
Damals verstand ich nicht genau, was vor sich
ging, und blieb die ganze Nacht in diesem Zustand,
bis ich endlich einschlief, zum ersten Mal seit Tagen.
Als ich aufwachte, fühlte ich mich verwandelt. Ich
hatte kein Fieber und keine Anfälle mehr, war einer-
seits unglaublich schwach, aber auch voller Euphorie.
Ich werde nie vergessen, wie ich am nächsten Mor-
gen in die grüne, lebendige Natur hinaustrat; Blät-
ter bewegten sich im Wind, Hähne krähten, am Ho-
rizont zeigten sich die ersten Sonnenstrahlen.
Ich hatte einen dieser magischen Momente erlebt,
die alle lebensverändernden Situationen begleiten:
eine schwere Krankheit, eine Geburt oder eine exis-
tenzielle Krise. Als ich auf dem Weg war, dieses Le-
ben und diesen Körper zu verlassen, wurde ich an
das innere Feuer erinnert, an die Wärme im Zent-
rum unseres Herzens, die wir alle in uns tragen, und
habe ein Versprechen abgegeben, das ich bis heute
halte: dem Feuer meines Herzens zu folgen, dieser
Energie, dieser Flamme der Liebe zum Leben, die im
Zentrum meines Wesens brennt.
E I N L E I T U N G 3
D E R I N N E R E R U F
Mein Herz brennt vor Liebe. Alle können diese
Flamme sehen. Mein Herz pulsiert vor Leiden-
schaft, wie die Wellen im Ozean. Wo auch immer ich
bin, bin ich zuhause. In diesem Raum der Liebenden
kann ich mit geschlossenen Augen die Schönheit
tanzen sehen. Hinter den mit Liebe durchzogenen
Schleiern tanze auch ich im Rhythmus der sich
bewegenden Welt.
RUM I
Dieses Buch ist ein Geschenk meines Herzens an
eure Herzen. In meinen dreißig Jahren als Yogini
habe ich erfahren, dass der menschliche Körper ein
Universum ist − eins mit dem Kosmos. Unsere Kör-
per bestehen aus den gleichen Bestandteilen wie die
Welt, die uns umgibt: Erde, Felsen, Pflanzen, Flüsse,
Ozeane und Sonnenlicht. Der schöpferische Puls,
der das Universum antreibt, lebt auch in uns.
Das Universum wurde aus Feuer geboren, durch
eine so machtvolle Explosion, dass die damals ent-
standene Sonne mit ihrer Wärme bis heute die Erde
am Leben hält. Unser Körper enthält Spuren der Ele-
mente des Urknalls von vor 13,7 Milliarden Jahren,
der Geburt unserer Galaxie. Jedes Mineral, jeder
Stoff, jedes Element aus unserer Umgebung findet
sich auch in unseren Knochen, in unserem Blut,
unserem Schweiß und unseren Tränen wieder. Im
Zentrum unseres wunderbaren Körpers schlägt das
Herz, unsere Sonne, mit seiner elektromagnetischen
Strahlung, die mit jeder Zelle des Körpers kommuni-
ziert und sich mit unseren Gehirnströmen und dem
Herzschlag der anderen um uns herum synchroni-
siert. Das elektromagnetische Feld unseres Herzens
ist fünftausend Mal stärker als das jedes anderen
Organs. Bei Herztransplantationspatienten, deren
Vagusnerv abgetrennt wurde, stellt dieses Feld die
Verbindung zwischen Herz und Gehirn sicher.
Im Herzen brennt ein FeuerFeuer ist der Kern unserer Existenz. Vom Urfeuer
des Urknalls bis hin zur Sonnenenergie hängt alles
Leben von Licht und Wärme ab. Ohne sie gibt es kei-
ne Schöpfung und kein Überleben. In diesem Buch
geht es um die Frage, wie das Energiezentrum des
Körpers, unser Herzensfeuer, funktioniert. Genau
wie die Sonne der Lebensimpuls für unser Sonnen-
system ist und sie die Planeten mit Wärme versorgt
und so alles Leben möglich macht, pumpt unser Herz
Blut und Nährstoffe durch unseren Körper und sen-
det elektromagnetische Wellen aus, die uns mit der
Umwelt verbinden. Es gibt unzählige Beispiele dafür,
wie unsere Umgebung und unser Körper miteinander
verbunden sind. Alle Abläufe in unserem Körper, was
wir essen, wann wir schlafen, wann wir arbeiten und
wann wir ausruhen, streben danach, in Harmonie mit
den Rhythmen der Natur und unserer Energiequelle,
der Sonne, zu sein. So wie die Tage im Frühling und
im Sommer länger werden und neue Lebensenergie
freisetzen, damit die Bäume austreiben und die Na-
tur wieder grün wird, wächst auch in unserem Körper
die Lebenskraft. Und wenn die Welt um uns herum,
ob im Winter oder während der Nacht, dunkler wird,
ziehen wir uns zurück, ruhen uns aus und reflektie-
ren. Diese Rhythmen sind in unserem Körper festge-
legt, und wenn es uns gelingt, sie mit den Rhythmen
der Welt um uns herum in Einklang zu bringen, dann
erleben wir Frieden, Harmonie, Kreativität und ha-
ben die Chance auf ein langes, erfülltes Leben.
In der durchgetakteten Arbeitswelt, in der das
Leben immer mechanisierter und urbaner wird,
4 E I N L E I T U N G
wird ein anderer Rhythmus von uns verlangt. Wir
im Westen haben unseren natürlichen Rhythmus
gegen Dauerstimulation und ein hohes Stresslevel
eingetauscht, was zu einem erhöhten Herzinfarktri-
siko geführt hat; dies ist in den USA heute die Todes-
ursache Nummer eins − und in Deutschland ist der
Herzinfarkt die zweithäufigste Todesursache, nach
der chronisch ischämischen Herzkrankheit. Noch
vor hundert Jahren erlitten vergleichsweise wenige
Menschen einen Herzinfarkt. Um dem sich immer
weiter fragmentierten Alltag des 21. Jahrhunderts zu
begegnen, müssen wir neue Wege gehen. Neu ist das
Hüten des Herzensfeuers allerdings nicht, sondern
eine Rückkehr zu der Lebensweise unserer Vorfahren.
Für sie standen die Rhythmen der Natur im Mittel-
punkt des Lebens. Dieses Buch ruft das alte Wissen
wieder in Erinnerung, dessen Wahrheitsgehalt unser
Körper bereits kennt. Wenn wir unser Leben im
Einklang mit dem Feuer in unserem Herzen leben,
können wir zum unmittelbaren Erleben der Schöp-
fungskraft zurückkehren, erfahren bewusst das Ent-
stehen und Vergehen, nehmen Tempo aus unserem
Leben und erlauben den Rückzug nach innen. Nur
wenn wir uns zurückziehen, können wir in die tiefe
Ruhe und Weite eintauchen, die wir unbedingt brau-
chen, um im Frieden mit unserem Körper zu sein und
uns als Ganzheit zu erleben. Alles in der Natur und
auch in uns durchläuft einen Prozess des Ausbreitens
und des Sich-Zusammenziehens, genau wie der Herz-
schlag, der uns am Leben erhält: Das Herz pulsiert.
Ich nenne diese Rückkehr zu den Rhythmen der
Natur „im Flow sein mit dem Puls des Lebens“. Yoga
ist so viel mehr als die Körperübungen, die heute
weltweit in Sportstudios praktiziert werden. Yoga ist
allumfassend und ein Weg, durch den wir mit dem
Rhythmus von Sonne und Mond in Einklang kom-
men können, der unseren Biorhythmus bestimmt.
Auf diese Weise erleben wir das Leben im Fluss. Das
Wort Yoga bedeutet „Joch“ oder anders: „Vereini-
gung“. Durch das Yoga des Herzens, das Thema die-
ses Buches, versuchen wir uns wieder mit dem natür-
lichen Fluss unseres Körpers zu vereinen. Weisheit
und Wärme unserer Herzensfeuer leiten uns dabei.
V I N YA S A L E B E N : D I E G R U N D L A G E N D I E S E B U C H E S„Das Feuer des Herzens hüten“ ist ein Lebenshilfe-
buch mit Meditationen, die auf unserer Herzensin-
telligenz sowie auf dem Rhythmus der Jahreszeiten
beruhen. Es lädt euch auf eine Reise zu den Ursprün-
gen der Meditation ein, die auf die Tradition des
Feuerhütens zurückgeht, einer mehr als zwei Mil-
lionen Jahre alten Praxis, die begann, als die Stein-
zeitmenschen entdeckten, das Feuer für sich zu
nutzen. Alle Wesen, egal ob Tier oder Mensch, kom-
men in einen fokussierten, besinnlichen und me-
ditativen Zustand, wenn sie an einem Feuer sitzen.
Aus einem Kreis um das Feuer entwickelte sich die
Frühform der Meditation: Man schaute in die Flam-
men, es wurde gesungen, getanzt und musiziert.
In diesem Buch habe ich mehr als 108 unter-
schiedliche Meditationen gesammelt, gesungene
und bewegte, aber auch Methoden aus der ayur-
vedischen Tradition, um unser inneres Feuer, Sam-
agni, in Harmonie zu bringen, und auch Rituale wie
die Sonnenwendfeier. Die Meditationen entsprin-
gen eigenen Erfahrungen, aber auch der Weisheit
alter Traditionen, mit denen ich mich auseinander-
gesetzt habe: Yoga, Tantra, Bhakti, Ayurveda und
Natya (Tanz). Durch mein kulturanthropologisches
Studium an der UCLA (am Institut für Kunst und
Kulturen der Welt) gewann ich früh ein universel-
les und breites Verständnis von Yoga. Als Studentin
habe ich mich auf die Suche nach meinen Wurzeln
E I N L E I T U N G 5
gemacht, nicht nur, was den Yogapfad angeht, son-
dern auch, was die Traditionen unserer Vorfahren
betrifft. Mein eigener Yogaweg hat mich all das ge-
lehrt, was ich in diesem Buch vorstellen möchte.
Meine ganze Dankbarkeit gilt dabei vor allem mei-
nen Lehrern.
T A N T R A , B H A K T I U N D D A S H Ü T E N D E S H E R Z E N S F E U E R S Die Basis dieses Buches bildet das Tantra, der Ur-
sprung des Yoga, wie wir ihn heute praktizieren.
Der Tantrismus ist ein zentrales Element in mei-
ner eigenen Praxis und in meiner Lehrtätigkeit. Die
nicht dualistische Philosophie des Tantra kommt
ursprünglich aus Nordindien und erfuhr ihre Blüte-
zeit vom neunten bis zwölften Jahrhundert. Diese
oft missverstandene Philosophie ist charakterisiert
durch eine positive Hinwendung zum Körper und
zum Leben sowie durch eine tägliche Praxis (Sa-
dhana). Im Tantra liegt der Schwerpunkt auf der
direkten Erfahrung des Göttlichen, in der die Po-
larität von Shiva und Shakti aufgehoben ist. Shiva
wird primär als reines, unwandelbares Bewusstsein
verstanden, als der Urgrund allen Seins, während
Shakti für die Manifestation der universellen Ener-
gie steht. Der tantrische Yogaansatz geht davon
aus, dass wir die Erfüllung nicht in der Außenwelt
finden, sondern in der eigenen Körperlichkeit, und
zwar selbst im alltäglichen Leben.
Nach der Lehre des Tantra spiegeln sich die Kos-
mologie des Universums und die Rhythmen der
Erde direkt in unserem Körper wider. Alle wichti-
gen Tage des Jahres, der Mondzyklus oder auch die
Jahreszeiten haben eine direkte und wahrnehmba-
re Beziehung zum Körper. Wenn wir diese natür-
lichen körperlichen Abläufe übergehen, schaffen
wir Blockaden und Stillstand, und das, was Körper,
Geist und Herz uns sagen wollen, bleibt unter-
drückt.
Ein zentrales Element der tantrischen Meditati-
on ist die lebendige Herzensenergie, die durch die
Transformation des Atems, des Bewusstseins und
durch Mantra entsteht. Sinnbild für diese lebendige
Herzensenergie ist der Feueraltar (Hrid Kund). Die
Meditation berührt damit das gesamte Spektrum
des Lebens und alle Sinne, da wir eine direkte trans-
formierende Erfahrung der inneren Quelle erleben.
Das Feuer des Bewusstseins weist uns den Weg.
Oft wird der Begriff „Bhakti“ auf die Liebe bezo-
gen, ausgehend vom Ursprung des Wortes Bhaj, das
Anbetung bedeutet. Bhakti bezeichnet aber auch
eine Bewegung aus dem 14. und 15. Jahrhundert,
in der Kirtan, Tanz und Unterweisungen eine große
Rolle spielten und aus der sich die heutige Kirtan-
bewegung entwickelt hat. Innerhalb des Tantra ist
Bhakti eine mystische Tradition, mit Texten, Sutras
und Liedern, von Abhinavagupta bis Lalleshwari,
von Triumoolar bis Kabir, deren Erkenntnisse über
das Herz auch in diesem Buch zu finden sind. Au-
ßerdem habe ich Meditationen, Vorschläge für Op-
fergaben und Pujas gesammelt, die dem Feuerhüten
und der befreienden Kraft der Liebe, dem lebendi-
gen Bhakti, gewidmet sind.
Tantra lädt uns ein, den Körper als einen heiligen
Ort zu erfahren und das ganze Universum als den
Körper anzusehen, indem wir das Feuer ehren, das
in unserem Herzen brennt.
AY U R V E D A U N D D A S F E U E R D E R V I T A L I T Ä T Ayurveda ist eine der ältesten Heilkünste der Welt.
Auf der Grundlage dieser Verbindung von Religion,
Philosophie und Medizin soll der Körper in seinen
natürlichen Fluss kommen, um Gesundheit und
6 E I N L E I T U N G
Wohlbefinden zu fördern. Ayurveda kommt aus In-
dien und basiert auf der genauen Beobachtung des
Körpers und der Vorstellung, dass der Körper, genau
wie die uns umgebende Welt, ein fein austariertes
Instrument ist, das alle fünf Elemente enthält, aus
denen auch unser Planet besteht: Äther, Luft, Feu-
er, Wasser, Erde. Es beruht auf einem Prinzip, das
Dr. Vasant Lad, ein herausragender Ayurvedaarzt
und Autor, die „Dreieinigkeit des Lebens“ nennt:
Körper, Geist und spirituelles Bewusstsein. Das
Wort ayu bedeutet „tägliches Leben“, während veda
mit „Wissen“ übersetzt werden kann. In einfachen
Worten heißt das, dass Ayurveda uns lehrt, dass
unsere Körper Mikrokosmen im Universum sind.
Gesundheit und Krankheiten haben einen direkten
Bezug zum Makrokosmos, also zur Umwelt, zu den
Jahreszeiten, zur Zeit – zu allem, was uns umgibt.
Der Körper ist die Natur im Kleinen. Die Erde ver-
fügt über eine immense schöpferische und heilende
Kraft, wenn sie im Gleichgewicht ist. Gleiches gilt
für unseren Körper, aber eben nur, wenn wir mit den
natürlichen Rhythmen im Einklang sind. Ayurveda
stellt diese intensive Beziehung des Menschen mit
dem Kosmos in den Mittelpunkt. Nach Dr. Lad zeigt
sich die kosmische Energie in allem Lebendigen und
Nicht-Lebendigen. Unser Körper ist ebenso komplex
wie der Kosmos selbst.
Schon lange ist Ayurveda Teil meines Lebens und
meiner Ausbildungen. Einmal im Jahr ziehe ich mich
für einige Zeit ins südindische Kerala zu einem Re-
treat zurück und beschäftige mich außerdem mit
Kalarippayat, einer südindischen Kampfsportart,
die eng mit dem Ayurveda verwandt ist. Es ist mir
ein wichtiges Anliegen, die Prinzipien dieses Heil-
systems mit anderen zu teilen, da es mein Leben
so nachhaltig verändert hat. Deshalb stelle ich in
diesem Buch auch viele Übungen vor, die auf die Be-
dürfnisse des Körpers zu einer bestimmten Jahres-
oder Tageszeit eingehen und helfen, „im Rhythmus
zu leben“.
P R A N A - F L O W - E N E R G E T I C - V I N YA S AAls ich 1990 begann, Vinyasa Yoga zu unterrichten,
war ich fest in der Tradition des Ashtanga-Vinya-
sa nach Sri Pattabhi Jois, Iyengar und Desikachar
verwurzelt, den drei Schülern von Sri T. Krishna-
macharya aus dem indischen Chennai. Während
der letzten zwanzig Jahre habe ich mich vermehrt
einer ganzheitlichen Sicht des „gelebten Vinyasa“
zugewandt und mich mit den Wurzeln und unter-
schiedlichen Formen beschäftigt. Vinyasa wurde
ursprünglich im frühen Tantra als „die Sequenz des
Bewusstseins“ verstanden oder die Art, wie sich das
Leben in Spanda, dem schöpferischen Puls des Le-
bens, entfaltet.
Mit Vinyasa bezeichnet man alle Kreisläufe der
Natur, von der kleinsten Schwingung bis hin zu ei-
nem ganzen Lebenszyklus, wie etwa die Reise eines
kleinen Samenkorns, aus dem ein ausgewachsener
Baum wird. Als großer Verehrer von Nataraja, Shi-
vas göttlichem Tanz, gab mir mein Vater den Namen
Shiva. Dieser Name war Anlass, schon als Teenager
Yoga zu üben, später dann als Freiwillige nach Kenia
zu gehen und dem Ruf meines Herzens zu folgen,
nachdem es sich damals durch die Malaria geöffnet
hatte, um schließlich in den Slums von Nairobi in
einem Ashram-Waisenhaus zu arbeiten, das von
Nonnen geführt wurde, die Yoga praktizierten. Das
Feuer des Yoga war in mir entfacht. Meine Praxis
wird durch eine organische Verbindung mit dem
Atem, der Energie der Zellen und der Ebbe und Flut
des Bewusstseins des Herzens bestimmt, was mich
vor einem Burn-out durch exzessives Üben ganz am
Anfang meiner Ausbildung bewahrte.
E I N L E I T U N G 7
Heute lehre ich Vinyasa als lebendigen Flow, als Tanz
des Lebens, eine sich fortwährend verändernde und
weiterentwickelnde Sequenz, die auf Prana (Lebens-
energie) und unserem energetischen Körper basiert.
Durch meine Ausbildung in Odissi (klassischem indi-
schen Tanz), Kalarippayat (indischem Kampfsport)
in Kerala und mein Studium am Institut für Kunst
und Kulturen der Welt an der UCLA habe ich ein
tiefes Verständnis für Meditation in Bewegung und
für Namaskars (bewegte Gebete) gewonnen. Durch
meinen ersten Lehrer, Daniel Odier, und das Er-
lernen von Trancetänzen in Jamaika, Haiti, Mali,
Ghana, Marokko, Bali und Kerala beschäftigte ich
mich näher mit Sahaja Yoga (natürlichem Flow),
und mir wurde immer bewusster, dass ich eine Art
Gefäß für Bewegung bin. Mein Körper konnte nicht
mehr nach der perfekten Ausübung einer Asana
streben. Der Puls des Lebens in jedem Atemzug und
in der Verbindung mit dem Herzen eroberte mei-
nen Körper zurück. Deshalb finden sich in diesem
Buch nicht nur eine große Auswahl von ganz unter-
schiedlichen Meditationen, sondern auch Anleitun-
gen für eine Prana-Flow-Energetic-Vinyasa-Praxis
sowie ein Mandala von mehr als vierzig Namaskars:
Vinyasa-Sequenzen im Rhythmus von Sonne und
Mond, die die Vinyasa-Meditationen ergänzen.
D E R A N F A N G : D A S F E U E R D E S H E R Z E N S H Ü T E NDieses Buch lädt dich auf eine Reise durch die Tra-
dition des Feuerhütens ein, einer mehr als 800 000
Jahre alten Tradition. Unsere Vorfahren haben den
Kosmos beobachtet, Rituale, Feste und tägliche
Übungen entwickelt, um sich mit den Rhythmen
der Natur zu verbinden. Und sie haben uns dieses
inspirierende Erbe hinterlassen, das ich weiterge-
ben möchte. Unser Körper ist durch und durch mit
der Natur synchronisiert, um in Balance zu bleiben.
Wenn wir „das Feuer hüten“, sammeln wir unsere
Lebensenergie in unserem Wesenskern, unserem
Herzen, das verlässlich schlägt. Wie die Sonne ver-
fügt auch unser Herz über einen immerwährenden
Energiefluss, der Leben spendet und Leben erhält.
Durch das Feuerhüten geben wir den solaren und
lunaren Aspekten in uns, der dynamischen Energie
und der Entspannung, wieder Raum. In vielen aktu-
ellen Yogaströmungen spielt das Feuerhüten keine
Rolle; im Vordergrund steht die Asana-Praxis. Doch
diese ist nur ein Aspekt des Yoga. Aus diesem Grund
habe ich das Feuerhüten zur zentralen Metapher
dieses Buches gemacht. Sie steht für die unzähligen
Arten und Weisen, wie wir in Kontakt mit unserer
innersten Wahrheit treten und nach ihr leben kön-
nen. Feuerhüten ist etwas Archaisches, es braucht
Disziplin und viel Aufmerksamkeit. Man muss be-
weglich bleiben, denn das Leben ist Veränderung,
sowohl äußerlich als auch innerlich, und damit
müssen wir umgehen. Feuerhüten ruft uns zum Ak-
tivsein auf: Wir müssen aufwachen, unser ganzes
Potenzial leben, damit wir dazu beitragen können,
das Gute in die Welt zu bringen.
Dieses Buch gliedert sich in vier Teile: Im ersten
Teil erforschen wir die Bedeutung des Herzens in
verschiedenen Kulturen und Zeitaltern und die
Sicht von Mystikern und Philosophen aus Ost und
West. Wir verfolgen, wie sich das Herz im Westen
zu einer rein mechanischen Pumpe entwickelt hat
(und wir uns damit auch vom Herzensfeuer entkop-
pelt haben) und in jüngster Zeit als energetisches
Herz wiederentdeckt wurde. Um unsere „Feuerhü-
terkraft“ wiederzufinden, erforschen wir, wie kraft-
voll das Leben im Einklang mit den Rhythmen der
Natur und den Elementen des Universums ist. Mit
dem Fluss der Natur (versinnbildlicht durch den
8 E I N L E I T U N G
Tanz von Shiva und Shakti im Yoga) sind auch wir
im Fluss.
Im zweiten Teil werden wir durch bewegte Me-
ditationen, inspiriert durch den Tanz von Shiva
und Shakti als Archetyp, die Kunst des Feuerhütens
praktizieren. Ich stelle einfache, leicht zugängliche,
aber doch hochwirksame Bewegungen wie Pranams,
Mudras, Kriyas und Namaskars vor. Außerdem be-
trachten wir den Einfluss der Zeit, des Rhythmus
und unseres körperlichen Zustands auf unsere Pra-
xis. Im diesem Teil finden sich auch einige Meditati-
onen, um das Feuer zu hüten.
Im dritten Teil verbinden wir unsere körperliche
Energie mit den täglichen, monatlichen und jahres-
zeitlichen Rhythmen und betrachten die Sandhyas,
die heiligen Momente der Morgen- und Abenddäm-
merung, die sehr wirksam sind. Über die aus Shivas
Tanz entsprungenen Elemente kommen wir zu den
Prinzipien des Ayurveda und zu praktischen Anlei-
tungen für ein Leben im Einklang mit dieser Lehre.
Wir lernen, unseren Lebensrhythmus den natürli-
chen Rhythmen von Tag und Nacht, von Sonne und
Mond anzupassen. Wir nehmen uns Zeit für unser
Herzensfeuer und praktizieren Rituale, mit denen
wir es wiederbeleben.
Im vierten Teil schließlich geht es um die Anwen-
dung des Wissens nach einem von mir entwickelten,
sechs Wochen umfassenden Kalender. Er integriert
die Sonnen- und Mondzyklen im heiligen Mandala
des Jahres in diesen sechswöchigen Zyklus. Wir be-
ginnen in der inspirierenden Dunkelheit des Win-
ters, wenn am wenigsten Licht im Außen zur Ver-
fügung steht, unsere Wiedergeburt erfahrbar wird
und wir unser inneres Licht, unser Herzensfeuer,
neu entfachen. Dann folgt das Wiedererwachen im
Frühling, darauf das schöpferische Feuer des Som-
mers und schließlich im Herbst die Zeit des Loslas-
sens. In diesem Teil des Buches finden sich auch Lis-
ten über Ernährungs-, Körper- und Yogarhythmen
für jede Jahreszeit. Außerdem betrachten wir einige
heilige Tage und Rituale im Jahresverlauf.
Das Buch hat damit seine Struktur, dennoch
kannst du es auf jeder Seite aufschlagen und dich
von der dort vorgestellten Meditation, einem Ab-
satz, einem Sutra oder einem Bild inspirieren las-
sen. Wenn dich die Theorie nicht interessiert, dann
überspringst du einfach Teil eins und beginnst mit
dem zweiten Teil, der Praxis. Und wenn du keine
Körperübungen aus dem Yoga praktizieren kannst
oder willst, dann widmest du dich eben den Medi-
tationen.
Ich bin dankbar für die vielen Lehrer und Freun-
de, die mich auf dem Weg des Herzensfeuers beglei-
tet haben. Daraus ist mein Programm „Das Feuer
des Herzens hüten: Sadhana Yoga leben“ hervorge-
gangen, das ich an der „Samudra Global School of
Living Yoga“ unterrichte; einer Schule die ich im
Jahr 2002 gegründet habe.
D A S E R W A C H E N D E S H E R Z E N S : B H A K T I U N D D I E M Y S T I K D E S H E R Z E N SSeit ich den Yogaweg gehe, ist das Hüten des
Herzensfeuers mein persönliches Dharma.
Besonders deutlich nehmen wir das Erwachen des
Herzensfeuers in Krisenzeiten wahr, dann, wenn wir
am Boden liegen und der Panzer unseres Herzens
aufbrechen muss. Das mystische Herz erwacht,
indem wir erfahren, dass jeder von uns das Feuer
entfachen kann, wenn er den Funken der Liebe, der
Verbindung, der Inspiration, der Wahrheit oder der
Leidenschaft in sich spürt und hütet. Wir können
dieses Feuer in den Augen unseres Gegenübers
erkennen und so erwachen und dem Leben in all
E I N L E I T U N G 9
seinen Formen dienen – das ist dann unser ganz
persönliches, heiliges Handeln in der Welt. Oder,
wie es mein Mentor Andrew Harvey sagt:
„Die Menschheit steckt in einer noch nie dage-
wesenen evolutionären Krise, einer tiefen, dunk-
len, globalen Nacht. Doch gerade diese Nacht
birgt Potenzial, kann der Geburtskanal für eine
neue göttliche Menschheit sein, die durch die
Tragödie zur Einsicht gelangt und durch Gnade
erleuchtet ist … Die schöpferische Kraft des
göttlichen Menschen ist die Kraft der Muttergot-
tes, die sich sowohl in einer neuen und radikal an-
deren Mystik ausdrückt wie auch in einem radika-
len, von Heiligkeit inspirierten Handeln auf jeder
Ebene und in jedem Bereich.“
In den Lehren und der Praxis des Yoga spielte das
Herz schon immer eine zentrale Rolle, sowohl in
praktischer als auch in mystischer Hinsicht. Lasst
uns zur Kraft und zur Fülle unserer Herzen zurück-
kehren. Zum Herzen als Quelle des Feuers und der
Wärme. Zum Herzen als intelligente Energie und als
Sitz elektromagnetischer Strahlung. Zum Herzen
als erleuchtender Führer hin zu Liebe, Kreativität
und tiefer Erkenntnis. Möge die Reise nun begin-
nen, indem wir die direkte Verbindung zu unserem
ureigenen Herzensfeuer schaffen, das immer schon
da war.
Gewaltiges Feuer des Herzens
Unbändige Freude
im Herzen der Wirklichkeit.
Alles wird frei im Hier und Jetzt,
es gibt nichts zu tun
und nichts nicht zu tun,
Bewegung und Stillstand
sind leuchtendes Bewusstsein.
Frei vom Streben, frei vom Tun,
überflutet die Essenz dein ganzes Sein.
Dein kosmischer Körper
zeigt sich in seiner Ganzheit,
Der Kosmos selbst
vibriert in ihm!
Der Nektar seiner Manifestation
zeigt sich in jedem glänzenden Licht.
Weder Menschen
noch Materie entzieht es sich,
Sonne, Mond, Steine, Bäume,
der Himmel und die Erde
Der Körper und der Geist
tun nichts als zu verkünden,
dass dieses Herz
bis in die Unendlichkeit schlägt
SAHAJANANDA BHAIRAVA¹
13
Vom Wissen unserer Vorfahren bis zuneuesten Erkenntnissen der Wissenschaft
K A P I T E L E I N S
Das Herzensfeuer betrachten
14 T E N D I N G T H E H E A R T F I R E
…das alle Schleier bis zu ihren Grundfesten
niederbrennt. Wenn die Schleier verbrannt
sind, dann wird das Herz alles verstehen.
Ursprüngliche Liebe wird sich in neuen,
frischen Formen in der Tiefe der Seele
entfalten, im Zentrum des Herzens.
RUMI
In unseren Herzenbrennt ein Feuer …
E N V I S I O N I N G T H E H E A R T F I R E 15D A S H E R Z E N S F E U E R B E T R A C H T E N 15
Gezeiten, Atem und Blutkreislauf – alles hat einen
Rhythmus. Wir werden in ein Universum von Abläu-
fen hineingeboren und unser Herz als großer Diri-
gent unseres Körpers gibt unserem Lebensfluss eine
Partitur.
Als unser Universum vor etwa vierzehn Milliarden
Jahren durch den Urknall entstanden ist, explodierte
eine Art Blase und verwandelte sich in Licht, Raum
und Materie. Noch heute pulsiert alles auf der Erde in
diesem Licht, unser Körper eingeschlossen.
Das Herzensfeuer verbindet uns mit dem Beginn
der Schöpfung, mit Ritam oder dem kosmischen
Rhythmus, der aus dem lodernden Tapas dieser Ur-
hitze entstanden ist. Der Urknall schuf Surya (die
Sonne), Chandra (den Mond), den Himmel und die
Zyklen der kosmischen Zeit. In unserem Herzschlag
spiegelt sich der Puls der Schöpfung (Spanda). Unser
Herz schlägt als die innerste Essenz des Bewusstseins
(Hridaya), als Fluss der Liebe (Rasa) und als Licht des
wahren Selbst (Jyotir). Jeder von uns trägt ein gewal-
tiges Potenzial an Kraft und Liebe im Körper.
Wer nach diesen natürlichen inneren und äußer-
lichen Abläufen lebt und sich am fließenden Rhyth-
mus unserer Welt ausrichtet, der lebt in Einklang mit
ihnen.
Wenn wir tief in die Wahrnehmung unseres Körpers
eintauchen, nehmen wir in der Brust einen feinen
Nachklang dieses Lichts als eine starke, durchdrin-
gende Wärme wahr. Sie breitet sich aus und zieht sich
wieder zurück, wird schwächer und wieder stärker.
Auch wenn wir nicht oft innehalten, um dem nach-
zuspüren, benutzen wir doch viele Redewendungen,
die die enge Verbindung zum Herzen widerspiegeln.
Beispielsweise wenn wir anderen einen Rat geben:
„Hör auf dein Herz“, „Vertrau deinem Herzen“, „Folge
deinem Herzen“. Unser Herz fühlt sich „schwer“ an
oder wir sind „leichten Herzens“, und wir schwören
auf das Herz („Hand aufs Herz“). Steht eine wichtige
Veränderung an oder etwas, bei dem wir über uns hi-
nauswachsen müssen, so „fassen wir uns ein Herz“.
Selbst wenn wir das Herz nur als eine kraftvolle Stoff-
wechselpumpe betrachten, wie wir das in der Schule
gelernt haben, wohnt also tief in unserem Inneren
das Wissen, dass das Herz noch viel mehr ist. In allen
spirituellen Traditionen weltweit gibt es die Vorstel-
lung des Herzensfeuers als Sinnbild für Verbindung
und innerer Weisheit, die nach außen strahlt, jenseits
der Grenzen von Zeit, Raum und Kultur.
U N S E R L E B E N W I R D V O N R H Y T H M U S B E S T I M M T . W I R W E R D E N I M R H Y T H -M U S G E B O R E N , E R H Ä LT U N S A M L E B E N U N D S O R G T F Ü R E N T W I C K L U N G .
Alle spirituellen Wege treffen sich an einem einzi-
gen heiligen Ort – im Herzen des Suchenden. Egal
ob Sufismus, christliche, buddhistische, hinduisti-
sche, jüdische, islamische oder schamanische Tradi-
tion, allen ist der Glaube an den universellen Puls
des Herzens gemeinsam, an die Quelle des Feuers,
das uns mit dem Geheimnis der Existenz verbindet.
Mystiker aller Traditionen – jedenfalls solche, bei
denen die Gläubigen direkt mit der Quelle kommu-
nizieren und nicht den Umweg über Priester oder
andere Vermittler brauchen – werden vom Herzens-
feuer angezogen wie von einem Pfad glühender
Asche in dunkler Nacht. Sie schwingen sich auf den
heiligen Puls ein, der ihnen hilft, durch die Schleier
der Illusion die Wahrheit zu sehen, zu hören und die
Einheit zu spüren, die im Herzen wohnt: Dort ver-
schwinden alle Unterschiede und alles Vergiftende,
und der Nektar der bedingungslosen Liebe wird kulti-
viert. Das Herz als Spiegel des Göttlichen zu verste-
hen ist eine Vorstellung und eine Metapher, die sich
in allen mystischen Kulturen der Welt wiederfindet,
vom heiligen Herzen der Christen bis zum Bild des
Herzens als Kessel in der keltischen Tradition.
Das mystische Herz quer durch alle Kulturen
Wer mehr
hiervon sprechen will,
der lege sich
in dieses Feuer
und sehe und koste,
wie die Gottheit fließt.
MECHTHILD VON MAGDEBURG
C H R I S T L I C H E M Y S T I K — D A S F L A M M E N D E H E R Z D E R L I E B E
Die Verehrung des flammenden Herzens Jesu – mal
vom Körper getrennt und von Dornen umhüllt dar-
gestellt, mal strahlend im Körper – ist der Ausdruck
der Spiritualität zahlloser Heiliger und Gläubiger.
Das Herz Jesu strahlt das Licht der göttlichen Lie-
be aus, die Schmerz und Leid verwandelt. Innerhalb
der katholischen Kirche als das Heiligste Herz Jesu
bekannt, ist es für katholische Christen seit über
2000 Jahren der Ausdruck der göttlichen Liebe.
E N V I S I O N I N G T H E H E A R T F I R E 17
Das Herz ist wie eine Kerze.
Es sehnt sich danach, entzündet zu werden.
Vom Geliebten getrennt,
sehnt es sich danach, wieder eins zu werden,
aber du hast den Schmerz zu tragen.
Du kannst Liebe nicht lernen.
Liebe kommt auf den Schwingen
der Gnade zu dir.
R UMI
D A S H E R Z E N S F E U E R B E T R A C H T E N 17
S U F I S M U S U N D DA S F E U E R D E R L I E B E
Im Sufismus ist das Herz der heilige Raum, in dem
wir Gott als den Geliebten treffen. Das Feuer der
Liebe verbrennt alles Trennende, die Masken und
Hüllen der Seele. Durch Meditation und Chanten,
Bewegung und Gebet haben die großen Heiligen
wie Dschelaluddin Rumi und Rabia versucht, in
der brennenden Liebe den Einen zu finden.
J U D E N T U M — K A B B A L A — A I S H : D A S H E I L I G E F E U E R D E S H E R Z E N S
In der jüdischen Tradition und im Alten Testament
ist es das Herz, mit dem wir verstehen. Alle Gebete
kommen aus dem Herzen und bleiben im Herzen. In
der Kabbala, dem mystischen Zweig des Judentums,
wird das Herz leve genannt, was hebräisch ausge-
sprochen ähnlich klingt wie love. Die Talmud Sotah
lehrt, dass die hebräischen Wörter für Mann und
Frau das Wort Aish enthalten, was „heiliges Feuer“
bedeutet. Das Herz wird als innerer Altar betrachtet,
wo das Aish als Herzensfeuer der ewigen Liebe
aufsteigt.
D A S A LC H E M I S T I S C H E F E U E R D E S TA O
Im Taoismus ist das Herz ein alchemistisches Feuer,
genährt durch das Wasser. Feuer und Wasser ver-
binden sich zur ewigen Liebe. Das Herzensfeuer gilt
als natürlicher „Herrscher“ oder „Taktgeber“, der
den ewigen Geist wachsen lässt. Die Praktiken des
Tao, die mit dem Herzen zu tun haben, konzentrie-
ren sich darauf, Energie durch die Kombination der
männlichen und weiblichen Essenz zu erneuern, die
als Feuer (Sonne) oder Wasser (Mond) symbolisiert
werden.
Wenn das Innere und das Äußere
erleuchtet sind und alles klar ist,
dann bist du eins mit dem Licht
der Sonne und des Mondes.
LIU I -MING, ZUM TAO ERWACHEN
Feuer im Kopf, um uns zu beflügeln.
Feuer im Kessel, um uns zu heilen.
Feuer in der Schmiede des Herzens,
um uns zu härten.
K ELTIS C HES GE D I CH TVO N HED GE W Y TCH
D E R K E S S E L D E S H E R Z E N S D E R K E LT E N
In der keltischen Tradition wird das Herz als Kessel
dargestellt, ein Sinnbild für Heimat und Licht, das
auch Nwyvre, das heilige Feuer, genannt wird. An
acht heiligen Tagen im Jahreskreis werden das Feu-
er der Gemeinschaft und das Herdfeuer wieder neu
entzündet. Es ist ein Ritual, um das Herzensfeuer
neu zu entfachen und das Land und die Familie zu
segnen.
D A S H E R Z E N S F E U E R B E T R A C H T E N 19
S C H A M A N I S C H E U N D I N D I G E N E T R A D I T I O N E N
Schamanismus ist eine spirituelle Praxis, die auf der
ganzen Welt verbreitet ist, unabhängig von Religio-
nen oder philosophischen Schulen. Auch in der mo-
dernen Welt wird Schamanismus praktiziert, von den
Urvölkern meist noch in seiner ursprünglichen Form.
Im Zentrum der panschamanischen Rituale steht die
Feuerzeremonie. Damit wird das Feuer aller Wesen
gewürdigt, zusammengebracht vom Feuer im Schoß
der Erde (Mutter) und dem Feuer der Sonne (Vater)
im Feuer des Herzens.
V A J R AYA N A : T A N T R I S C H E R B U D D H I S M U S U N D B O D H I C I T T A
In der mystischen Tradition des Vajrayana, auch als
tantrischer Buddhismus bekannt, können wir nur
dann klar sehen, wenn wir Bodhicitta praktizieren, die
grenzenlose Liebe und das allumfassende Mitgefühl
mit allen Wesen. Dafür müssen wir die ursprüngliche
Form der Weisheit und des Mitgefühls nähren, und
diese liegt in unserem Herzzentrum. Der Weg zur
Befreiung beginnt im Herzen. Dort wohnt das Licht
des Bewusstseins. In der tantrischen Tradition gibt
es eine alchemistische Meditation, in der ein Yogi die
glühend rote Sphäre der weiblichen Hitze im Zentrum
des Nabels visualisiert; dieser Punkt explodiert und
die Kraft des Weiblichen fließt durch den zentralen
Nervenkanal nach oben, bis zur Krone des Kopfes.
Dort wird ein männlicher Samen visualisiert, der nun
schmilzt und nach unten tropft. Die weibliche und die
männliche Energie werden voneinander angezogen
und treffen sich im Herzen, wo sie explodieren in
Glückseligkeit und Leere, die durch den ganzen
Körper strahlen, ihn reinigen und Bodhicitta
aktivieren, den „Herzgeist der Erleuchtung“.
Unser Herz ist unser erster Lehrer.
WEIS HEIT DER C HE R OK E E
20 D A S F E U E R D E S H E R Z E N S H Ü T E N
Hridaya: das Licht des Herzens in den Veden
Das Herz lässt den Menschen
in tiefe Geheimnisse und Mysterien sehen.
AU S D E N V E D E N
Die Veden, die ältesten Texte des Hinduismus, be-
schreiben eine besondere Verbindung zwischen dem
heiligen Feuer und dem kosmischen Körper. Das
Herz ist Hrid und Hridaya das Licht des Bewusst-
seins. Diese Vorstellung zieht sich durch die Schrif-
ten und meint eine tiefe Einsicht (Dhi), durch die
man zum Seher wird (Rishi). Der Rig-Veda verbindet
den Opferaltar des Feuers mit dem menschlichen
Herzen, als Weltachse zwischen Mikrokosmos und
Makrokosmos.
Die Upanishaden: den Knoten um das Herz lösen
Das strahlende Selbst wohnt verborgen
im Herzen. Alles im Kosmos, klein wie groß,
lebt im Selbst, der Quelle des Leben.
M U N DA K A U PA N I S H A D E N
In diesen grundlegenden Schriften der Hindus, den
108 Upanishaden, wird das Herz immer wieder als
der geheime Ort der unsterblichen Seele oder des
Selbst (Atman) angesehen, Ausdruck des Absolu-
ten (Brahman) im Mikrokosmos. Die Upanishaden
schreiben vor, dass die Unwissenheit des eigenen un-
sterblichen Selbst aufgegeben werden muss und im
Feuer auf dem Altar des Herzens verwandelt wird.
Die Yogapraxis dient dazu, den Knoten um das Herz
zu lösen. Wenn das innere Selbst enthüllt und durch
das Feuerritual im Lotus des Herzens erkannt wur-
de, ist das reine Selbst befreit.
D A S H E R Z E N S F E U E R I M Y O G A : I N D I S C H E T R A D I T I O N
In den alten Yogatraditionen ist das Herz Hridaya, die
Quelle des universellen Lichts und des menschlichen Be-
wusstseins. Die Wurzel des Wortes ist Hrid, „Zentrum“,
Hridaya bezieht sich zum einen auf das Organ selbst, zum
anderen auf das energetische Feld des Bewusstseins, das
sowohl in jedem Körper als auch in der gesamten Schöp-
fung lebt und mit dem Herzchakra, Anahata Chakra, ver-
bunden ist.
In dieser Tradition ist das Herz als Mikrokosmos der
zentrale Altar des Körpers, und entsprechend ist es auch
im Makrokosmos: der Herd im Herzen des Hauses, das
Allerheiligste im Zentrum des Tempels und im Herzen
des ganzen Kosmos die Sonne. All diese Elemente atmen
und pulsieren gemeinsam. Wenn wir uns vor dem äuße-
ren Feuer verbeugen, verbeugen wir uns auch vor dem
inneren Feuer. Dadurch verbinden wir uns mit dem Her-
zen der Schöpfung. Yoga ist der Prozess, der uns erlaubt,
alle Stufen der Verbindung zu erkennen und zu erfahren
und die Spannungen, die zum Getrenntsein führen, in
Verbindungen zu verwandeln.
D A S H E R Z E N S F E U E R B E T R A C H T E N 21
zens, das sich in unzähligen Wellenformen zeigt,
die aufsteigen und dann wieder in den „Ozean“ der
Höchsten Erkenntnis (Shiva) eintauchen.
Im Tantra sind die Seele und der Körper Ausdruck
des göttlichen Bewusstseins, das sich in unzähligen
Formen manifestiert. Diese Formen lö-
sen sich im ewigen Pulsieren des Kreis-
laufs aus Leben und Tod wieder auf.
Der Tanz von Shiva und Shakti
wird auch Sphuratta genannt, „Puls“
oder „Herzklopfen“ des Höchsten
Lichts, das kontinuierlich strahlt und
uns Freude schenkt. Die Lebenszyklen des Makro-
kosmos lassen sich im Mikrokosmos des mensch-
lichen Körpers durch das ewige Pulsieren des Atems
erfahren. Der Atem ist mit dem Feueraltar des Her-
zens verbunden, dort, wo Shiva und Shakti vereint
sind (yamala).
Tantrischer Shivaismus und das innere Herzensfeuer
In einem einzigen Punkt im Herzen vereint sich
das Feuer (Samghattam) mit der Sonne, dem Mond
und dem Feuer.
S R I A B H I N AVAG U P TA
In der tantrischen Tradition kann das innere Her-
zensfeuer als Feueraltar, als die ewige Präsenz des
Göttlichen angesehen werden, symbolisiert durch
die Verbindung von Shiva und Shakti. In dieser Tra-
dition ist Shiva (der Verheißungsvolle) der Ursprung
des dynamischen Universums. In den Rhythmen des
Universums, im immerwährenden Ausbreiten und
Zusammenziehen, zeigt sich hingegen das Spiel der
Göttin Shakti (Energie und Kraft). Shakti steht für
das kontinuierliche Pulsieren des universellen Her-
22 D A S F E U E R D E S H E R Z E N S H Ü T E N
Das energetische Herz in der westlichen Tradition
Die Mystiker waren nicht die einzigen, die über die
Bedeutung des Herzens nachgedacht und geforscht
haben. Während für sie das Herzensfeuer direkt
erfahrbar war, haben Philosophen, Künstler, Wis-
senschaftler und viele andere sich ebenfalls mit der
Natur und den verschiedenen und sich wandelnden
Wahrnehmungen des Herzens auseinandergesetzt.
In den Kulturen des Altertums in Ägypten und
Griechenland und während der Renaissance wurde
das Herz als Licht der Wahrheit und als Quelle der
Liebe betrachtet, eine Vorstellung, die lange Zeit
vorherrschte. Im 17. Jahrhundert kam dann die
Wende zu einer entleibten Philosophie, die am bes-
ten durch das „Ich denke, also bin ich“ des französi-
schen Philosophen René Descartes auf dem Punkt
gebracht wurde. Dies bestimmt bis heute unser Den-
ken und Handeln. Das Herz wurde zu einer mecha-
nischen Pumpe degradiert und das Gehirn zur alles
beherrschenden Instanz erhoben.
Aber das Blatt wendet sich wieder. Wir entdecken
das Herz als das Zentrum des menschlichen Kör-
pers, unserer Erfahrung und unseres Lebens wieder.
Durch Wissenschaft, Medizin und die unzähligen
Formen des Yoga und der spirituellen Praxis werden
wir zum Rhythmus zurückgeführt, der uns leben-
dig macht, zur pulsierenden Kraft, die uns mit uns
selbst, dem Planeten und dem Kosmos verbindet.
D A S H E R Z E N S F E U E R B E T R A C H T E N 23
D A S A LT E Ä G Y P T E N : D A S E W I G E H E R Z
Etwa im Jahre 2000 v. Chr. taucht das Herz in ägyp-
tischen Schriften zum ersten Mal auf. Für die Ägyp-
ter gehörte der Herzschlag zum Himmel. Deshalb
ist seine Lebenskraft ewig und vom übrigen Körper
getrennt. Das Herz entzündet alles Leben, alle Ge-
danken, alle Gefühle und wird durch einen einzigen
Blutstropfen der Mutter geschaffen.
D A S A LT E G R I E C H E N L A N D : D A S M U T I G E H E R Z
Für die alten Griechen war das Herz das Zentrum der
Kraft, des Mutes und der Treue. Das Herz war die Feuer-
kraft, der alle Gedanken und Handlungen entspringen.
Es war der Ort der Körperflüssigkeiten, die den Körper
in Balance halten. Für die großen griechischen Philoso-
phen war die Betrachtung des Herzens ausgesprochen
wichtig. Platon glaubte, es sei das Organ der Leiden-
schaft, das Zentrum des Ungezähmten im Menschen,
aus dem Ärger, Liebe, Stolz und Willenskraft geboren
werden. Dennoch war das Herz in seiner Vorstellung
weniger wichtig als das stets gut funktionierende Ge-
hirn. Platon stellte eine Theorie auf, dass die Liebe no-
bler, tiefer und wahrhaftiger würde, wenn sie statt vom
Herzen vom Gehirn gelenkt würde.
Platons Schüler Aristoteles widersprach dieser Be-
hauptung. Für ihn war das Herz das wichtigste Organ
im Körper; dort wohnten unsere Intelligenz, die Weis-
heit und die Gefühle. Er beschrieb das Herz als „heißes“
Organ und glaubte, dass ihm alle anderen Organe im
Körper dienten.
Erst mit den Forschungen des Hippokrates, des Va-
ters der westlichen Medizin, wurde das Herz unter ei-
nem eher wissenschaftlichen Aspekt betrachtet.
D A S H E R Z I M M I T T E L A LT E R
Im Mittelalter betrachtete man den Körper nicht
mehr als Hort der Schönheit und des Göttlichen,
sondern als einen der Angst und der Scham. Die Me-
dizin versuchte zu heilen, indem sie den Körper von
der Sünde befreite. Dennoch blieben Licht und Geist
im Herzen beheimatet. Über das Herz fand man zu
Güte und zu Gott.
24 D A S F E U E R D E S H E R Z E N S H Ü T E N
In der christlichen Mystik sieht man das Herz als ein
spirituelles Organ des Körpers an. Der heilige Au-
gustinus von Hippo, der schon zuvor viel über das
Herz als den Pfad zu Gott geschrieben hatte, sagte:
„Durch dein Feuer, dein großzügiges Feuer, werden
sich auch unsere Herzen mit Feuer füllen.“ Im Mit-
telalter wurde das Herz als der Ort für spirituelle
Erfahrungen angesehen.
R E N A I S S A N C E U N D L E O N A R D O D A V I N C I : D A S H E R Z M I T V I E R K A M M E R N
In der Renaissance begann man, Leichen zu sezie-
ren, und man entdeckte dabei die vier Herzkam-
mern. Der menschliche Körper wurde zu einem
beliebten Motiv in der Kunst, und viele Künstler,
vor allem Leonardo da Vinci, bildeten ihn in Zeich-
nungen und Gemälden detailgetreu ab. Leonardo
zeichnete beispielsweise akkurate Abbildungen der
Herzklappen und Arterien. Durch diese und andere
Zeichnungen berühmter Künstler sowie die Arbeit
der Ärzte erkannte man, dass das Herz Blut durch
unseren Körper pumpt. Diese Erkenntnis führte
zum Bruch: Herz und Geist wurden ab sofort ge-
trennt betrachtet.
R E N É D E S C A R T E S : D A S H E R Z A L S M A S C H I N E
Descartes übernahm die Idee, dass das Herz die „Son-
ne“ oder der „König“ des Körpers sei, und ging noch
einen Schritt weiter. In seiner Vorstellung war das
Herz ein großer Verbrennungsmotor, der den Kör-
per am Leben hält. Für ihn war das Herz eine me-
chanische Pumpe, ein „Automat, dessen Bewegung
den gleichen Gesetzen folgt wie eine Uhr“. Seiner
Ansicht nach war der Geist nicht im Herzen zu fin-
den. Auch dies führte in der westlichen Vorstellung
zu einer radikalen Trennung von Geist und Herz.
D I E I N D U S T R I E L L E R E V O L U T I O N : D A S H E R Z A L S M E C H A N I S C H E P U M P E
Während der industriellen Revolution führte der
technische Fortschritt dazu, dass man die Anatomie
des Herzens noch detailgetreuer darstellen konnte.
Jetzt war die Transforma-
tion des Herzens in ein
rein auf das Funktionelle
beschränktes Organ abge-
schlossen. Diese mechani-
sche Sicht trennte Geist
und Körper vom Herzen.
In der Vorstellung der Men-
schen existierte das Herz ab
jetzt losgelöst von Intelli-
genz, Gefühl und Empfin-
dungsvermögen.
D I E R Ü C K K E H R D E S E N E R G E T I S C H E N H E R Z E N S : N E U E E R K E N N T N I S S E D E R C A R D I O E N E R G E T I K
In den letzten Jahrzehnten wurde durch tief greifen-
de Erkenntnisse in der Kardiologie der Gedanke des
energetischen Herzens wieder aufgegriffen. Durch
neue Techniken kann man den Herzschlag, die
elektrische Aktivität und das elektromagnetische
Feld des Herzens messen und nachweisen. Weitere
Erkenntnisse gewann man durch Erfahrungen
von herztransplantierten Patienten. Heute wird
das Herz als „Herzgehirn“ beschrieben, wegen der
Art und Weise, wie es auf neuronaler, hormoneller
und energetischer Ebene mit dem Körper kommu-
niziert. Die Entdeckung des elektromagnetischen
Feldes des Herzens, das 5000 Mal stärker ist als
das des Gehirns, das aus dem Körper ausstrahlt
und sich sogar mit anderen Herzfeldern verbinden
kann, passt zu den metaphorischen Beschreibungen
der Erfahrungen in den spirituellen Traditionen
überall auf der Welt. Die Wärme und die Strahlung,
die Intelligenz und die intuitive Kraft des Herzens
können nun wissenschaftlich belegt werden. Darauf
werde ich in Kapitel 3 näher eingehen.
Organisationen wie das HeartMath-Institut gehen
noch einen Schritt weiter und entwickeln Programme
für die breite Bevölkerung, die helfen, Stress abzu-
bauen und damit das Herzinfarktrisiko zu mindern.
Projekte wie die „Global Coherence Initiative“ ver-
suchen das kollektive Energiefeld der Erde und der
Menschen überall auf der Welt zu messen.
Auf diese Weise schließt sich der Kreis des Wissens
unserer Vorfahren und der neueren Wissenschaft.
Wir haben heute eine ganzheitliche Sicht auf das
Herz. In ihm wohnt eine organisierende Intelligenz,
das Licht des Bewusstseins; es ist ein Ort, an dem
der Rhythmus der Liebe transformiert wird. D A S H E R Z E N S F E U E R B E T R A C H T E N 25