Sie wollen nur wohnen fileSie wollen nur wohnen Zehntausende Menschen demonstrieren in Deutschland...

1
Sie wollen nur wohnen Zehntausende Menschen demonstrieren in Deutschland gegen steigende Mieten Berlin. Rund 55 000 Menschen haben nach Angaben der Veranstalter am Samstag in 19 deutschen Städten gegen steigende Mieten protestiert. Die größte Demonstration fand in Berlin mit etwa 40 000 Teilnehmenden statt, teilte das »Bundesweite Bündnis #Mie- tenwahnsinn« mit. Zeitgleich begann in der Hauptstadt die Unterschriftensammlung für das Volksbegehren »Deutsche Wohnen & Co enteignen«. SPD-Chefin Andrea Nahles erklärte, sie leh- ne Enteignungen ab, stattdessen forderte sie einen Mietenstopp. Der CSU-Vorsitzende Markus Söder sagte dem »Münchner Mer- kur«: »Enteignungen sind nun wirklich sozia- listische Ideen und haben mit bürgerlicher Po- litik nichts zu tun.« Der Ko-Vorsitzende der Grünen, Robert Habeck, betonte hingegen, wenn andere politische Entscheidungen kei- nen Erfolg zeigten, »muss notfalls die Enteig- nung folgen«. Das arbeitgebernahe Institut der deut- schen Wirtschaft (IW) veröffentlichte am Wo- chenende eine Studie, nach der Mieten be- sonders stark für Wohnungen steigen, die pri- vaten Eigentümern und Unternehmen gehö- ren. In der IW-Untersuchung heißt es, die Preisunterschiede in Großstädten mit mehr als 500 000 Einwohnern hätten sich seit 2013 deutlich vergrößert. So blieb die mittlere Net- tokaltmiete bei kommunalen Wohnungen von 2013 bis 2017 konstant bei durchschnittlich 7,40 Euro pro Quadratmeter. Bei genossen- schaftlichen Wohnungen stieg sie von 7 auf 7,50 Euro. Die Mietpreise privater Unter- nehmen sind ohnehin höher und stärker ge- stiegen: von 7,70 auf 8,70 Euro. Bei privaten Eigentümern stiegen die Wohnkosten von 8,10 auf 8,70 Euro. Das Innenministerium bestätigte derweil Pläne zur Erhöhung des Wohngeldes. epd/nd Seite 3 Unter dem Motto »Gemeinsam gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn« haben in Berlin rund 40 000 Menschen demonstriert. Foto: imago/Christian Spicker STANDPUNKT Enteignen – aber richtig Jana Frielinghaus über das Recht auf Wohnen und das Grundgesetz Das Recht auf ein Zuhause, das man sich leisten kann, gehört zu den im UN-Sozialpakt von 1966 postulierten Menschenrechten. Angesichts der Unverschämtheit, mit der Immobilienkonzerne Mieter in die Armut treiben, ist es an der Zeit, Artikel 15 des Grundgesetzes endlich zum ers- ten Mal anzuwenden. Danach ist es zulässig, »Grund und Boden, Naturschätze und Produktions- mittel« in Gemeineigentum zu überführen – gegen Entschädi- gung. Wie hoch die sein sollte, steht dort nicht. Im Berliner Volksbegehren »Deutsche Wohnen & Co enteig- nen« wird verlangt, dem Immobi- lienkonzern seine Tochter GSW mit ihren 62 000 Wohnungen wieder zu entziehen. Dieser hat die Gesellschaft 2013 von der »Heuschrecke« Cerberus über- nommen hat. Und die wiederum hat die »Gemeinnützige Sied- lungs- und Wohnungsbaugesell- schaft« 2004 von der Stadt er- worben, auf Beschluss des dama- ligen rot-roten Senats. Der Kauf- preis damals: 405 Millionen Euro. Derzeit sind selbst die Initiatoren des Volksbegehrens bereit, der Deutschen Wohnen 7 bis 14 Milli- arden Euro Entschädigung zu ge- ben und damit das 30-Fache der damals bezahlten Summe. Der rot-rot-grüne Senat will sogar 28 bis 36 Milliarden rüberreichen. Angesichts der dringend benötig- ter Gelder für den Neubau be- zahlbarer Wohnungen in öffentli- cher Hand wäre mindestens letz- teres Irrsinn. Eine Enteignung, die dem Gemeinwohl diente, müsste für den Konzern mindestens sehr schmerzhaft sein. UNTEN LINKS Die Forderung, große Woh- nungskonzerne zu enteignen, veranlasst nicht nur Politiker, sich dazu zu positionieren. Das ar- beitgebernahe Institut der deut- schen Wirtschaft (IW) hat sogar eine Mieten-Studie verfasst. Schließlich handle es sich um ei- nen »extremen Vorschlag«, so das IW. Da schadet es nicht, sich ein- mal die Fakten anzuschauen. He- rausgekommen ist in der Studie, dass Mieten von Wohnungen, die privaten Unternehmen gehören, besonders stark gestiegen sind. Allerdings wäre es zu kurz ge- griffen, nun die Privatisierung von Wohnungen infrage zu stel- len. Das IW weist auf einen an- deren, bislang vernachlässigten Punkt hin: Man müsse sich klar- machen, »dass durch die geringen Mietsteigerungen bei kommuna- len Wohnungen dem Staat Ein- nahmen entgehen«. Stimmt! Wir erbitten nun eine aktuelle Untersuchung, wie viel Milliarden Euro dem Staat durch die Sen- kung der Unternehmenssteuern und des Spitzensteuersatzes ent- gangen sind. rt SPD will Osten als Zukunftslabor Neue Länder sollen Vorreiterrolle bei innovativen Technologien einnehmen Erfurt. Etwa ein halbes Jahr vor den Land- tagswahlen in drei ostdeutschen Bundeslän- dern will die SPD mit einem »Zukunftspro- gramm Ost« bei den Wählern punkten. Die zwölf Kernforderungen des Papiers stellten der Ostbeauftragte der Partei, Martin Dulig, und Mecklenburg-Vorpommerns Minister- präsidentin Manuela Schwesig am Samstag in Erfurt vor. Das Programm sieht unter ande- rem vor, dass der Osten eine Vorreiterrolle bei innovativen Technologien einnehmen soll. Im Herbst werden in Brandenburg, Sach- sen und Thüringen die Parlamente neu ge- wählt. In Umfragen standen die Sozialde- mokraten zuletzt nicht besonders gut da. In Erfurt forderte SPD-Chefin Andrea Nah- les nun, Ungerechtigkeiten zwischen Ost und West in der Arbeitswelt zu beseitigen. »Men- schen, die in Ostdeutschland arbeiten, ver- dienen weniger und haben außerdem mehr Arbeitsstunden«, sagte Nahles in Erfurt. Sie wolle, dass die Ostdeutschen mehr Gehalt, mehr Urlaub und mehr Anerkennung be- kommen. dpa/nd Seiten 4 und 8 Netanjahu droht neue Annexion an Bei Parlamentswahl in Israel wird Kopf-an-Kopf-Rennen erwartet Jerusalem. Wenige Tage vor den israelischen Parlamentswahlen versucht Benjamin Ne- tanjahu, noch stärker am rechten Rand zu punkten. Der Ministerpräsident versprach am Samstag eine Annexion jüdischer Siedlungs- gebiete im Westjordanland. Er werde in dem Palästinensergebiet israelische »Souveräni- tät« ausüben, sagte Netanjahu in einem Fern- sehinterview. Palästinenser warfen der Welt- gemeinschaft vor, Israels »schamlose« Ver- stöße gegen internationales Recht zu dul- den. Benny Gantz, der als Netanjahus aus- sichtsreichster Herausforderer gilt, sprach am Sonntag von einem »verantwortungslosen« Versuch, Wählerstimmen zu werben. Bei der Parlamentswahl in Israel wird mit einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Ne- tanjahus konservativer Likudpartei und dem Zentrumsbündnis Blau-Weiß von Ex-Gene- ralstabschef Gantz gerechnet. Umfragen sa- gen für beide jeweils etwa 30 der 120 Sitze in der Knesset voraus. Rund 6,3 Millionen Is- raelis sind am Dienstag aufgerufen, die 120 Knesset- Abgeordneten zu wählen. AFP/nd Gegenoffensive in Libyen verkündet G7-Staaten und Russland fordern, Eskalation zu beenden Tripolis. Die Anhänger der international an- erkannten Regierung in Libyen haben am Sonntag eine Gegenoffensive gegen die Trup- pen des einflussreichen Generals Khalifa Haf- tar verkündet. Die Streitkräfte würden mit »eiserne Faust« gegen jeden vorgehen, der denke, die Einheit und Sicherheit Libyens an- zugreifen, hieß es. Haftars Truppen wiederum teilten mit, sie hätten in Vororten von Tripolis Luftangriffe gegen »bewaffnete Milizen« geflogen. Da- mit hätte das Leben von Zivilisten beschützt werden sollen, erklärte die Medienabtei- lung des Generals. Haftars Truppen versu- chen seit Donnerstag, auf die Hauptstadt Tripolis vorzurücken, wo die international anerkannten Regierung von Fajis al-Sar- radsch ihren Sitz hat. Seit Beginn der Of- fensive sind nach Angaben der Regierung mindestens 21 Menschen getötet worden. Die G7-Staaten hatten am Samstag insbe- sondere Haftar aufgerufen, die Eskalation zu beenden. Auch Russland forderte einen Di- alog. dpa/nd Seite 2 ISSN 0323-3375 Was man braucht Etwas Warmes: Der Schriftsteller Christoph Hein wird 75. Seite 13 Foto: dpa/Peter Endig Getreideernte deckt Verbrauch nicht Globale Nachfrage wird durch Griff in die Speicher bedient – Preise sind noch stabil Die weltweite Nachfrage nach Getreide wächst und wächst. Doch im laufenden Jahr sinkt erstmals seit Jahren wieder die Produktion. Von Kurt Stenger Zum zweiten Mal in diesem Jahr- zehnt muss die Welt auf ihre Ge- treidevorräte zugreifen, um die Nachfrage zu decken. Die UN- Landwirtschaftsorganisation FAO wie auch der Internationale Ge- treiderat gehen davon aus, dass die Ernten allein dafür nicht aus- reichen werden. Im laufenden Agrarjahr 2018/19 werden dem- nach 2,655 Milliarden Tonnen Getreide produziert werden – das sind 28 Millionen Tonnen weni- ger als der erwartete Verbrauch, wie aus einer neuen Marktunter- suchung der FAO hervorgeht. Das letzte globale Defizit gab es 2012/13, als die US-Farmer unter den Folgen einer mehrjährigen Dürre litten. Ein Agrarjahr bezeichnet den Zeitraum von einer Ernte bis zur nächsten. Es beginnt weltweit in unterschiedlichen Monaten, auf der Nordhalbkugel im Sommer. Für das laufende Agrarjahr geht die FAO von einem Rückgang der Getreideproduktion um 49 Milli- onen Tonnen gegenüber 2017/18 aus. Dies betrifft Mais und Wei- zen, während die UN-Organisati- on bei Reis und Hirse mit Zu- wächsen rechnet. Der Rückgang bei Weizen um rund 30 Millionen Tonnen ist vor allem auf die Dür- re von 2018 in weiten Teilen Eu- ropas zurückzuführen, wo die Ernte um sechs Prozent niedriger ausfiel als im Jahr davor. Die Entwicklung von Angebot und Nachfrage erklärt allein nicht, wie es um die Welternährung be- stellt ist. Im März 2008 kam es trotz guter Ernten in vielen Län- dern zu Hungerrevolten. Auslöser war der massive Anstieg der Grundnahrungsmittelpreise we- gen Börsenspekulationen, hoher Treibstoffpreise, der gestiegenen Nachfrage aus China und Indien sowie des Klimawandels. Aktuell sieht es anders aus: Nach einem zeitweiligen Anstieg liegen die Ge- treidepreise wieder auf dem Ni- veau von März 2018. Im dürrege- plagten Deutschland sieht es et- was anders aus: Bei Brot und Ge- treideerzeugnissen legten die Er- zeugerpreise um 6,3 Prozent zu, wie der Verband der Ernährungs- industrie gegenüber dpa mitteilte. Und wie geht es weiter? Die La- gerhäuser und Speicher rund um den Globus sind noch gut gefüllt. Allerdings kann die Produktion nicht dauerhaft unter dem Ver- brauch liegen. Doch auch für das Agrarjahr 2019/20 rechnet der Internationale Getreiderat, in dem die Hauptproduzentenländer zu- sammengeschlossen sind, damit, dass die weltweiten Vorräte trotz besserer Ernten weiter schrump- fen – um 28 Millionen Tonnen. Grund ist die noch stärker stei- gende Nachfrage nach Futter für die Massentierhaltung vor allem in China und die Produktion von Biokraftstoffen in den USA. Für die Ernährung der Men- schen mit Getreide ist nach wie vor mehr als genug vorhanden, wenn es denn besser verteilt wäre. Doch auch aktuell gibt es akute Hun- gersnöte. Laut einer kürzlich ver- öffentlichten Studie von EU, FAO und dem UN-Welternährungs- programm sind 113 Millionen Menschen in 53 Ländern betrof- fen. Zwei Drittel von ihnen leben in nur acht Ländern: Afghanistan, Kongo, Äthiopien, Nigeria, Süd- sudan, Sudan, Syrien und Jemen. Die FAO geht von einem Rückgang der Getreideproduktion um 49 Millionen Tonnen aus. Montag, 8. April 2019 74. Jahrgang/Nr. 83 Einzelverkaufspreis 1,80 € www.neues-deutschland.de Krawalle und Liebe Nicht jammern – aus dem Vollen schöpfen mit linken Utopien: Der Salon der Grether- Schwestern in Berlin. Seite 14 Foto:imago/R. Owsnitzki Roma in Berlin Wie sich die Ausgrenzung der Minderheit verschärft. Seite 9

Transcript of Sie wollen nur wohnen fileSie wollen nur wohnen Zehntausende Menschen demonstrieren in Deutschland...

Sie wollen nur wohnenZehntausende Menschen demonstrieren in Deutschland gegen steigende Mieten

Berlin. Rund 55 000 Menschen haben nachAngaben der Veranstalter am Samstag in 19deutschen Städten gegen steigende Mietenprotestiert. Die größte Demonstration fand inBerlin mit etwa 40 000 Teilnehmenden statt,teilte das »Bundesweite Bündnis #Mie-tenwahnsinn« mit. Zeitgleich begann in derHauptstadt die Unterschriftensammlung fürdas Volksbegehren »Deutsche Wohnen & Coenteignen«.SPD-Chefin Andrea Nahles erklärte, sie leh-

ne Enteignungen ab, stattdessen forderte sieeinen Mietenstopp. Der CSU-VorsitzendeMarkus Söder sagte dem »Münchner Mer-

kur«: »Enteignungen sind nun wirklich sozia-listische Ideen und haben mit bürgerlicher Po-litik nichts zu tun.« Der Ko-Vorsitzende derGrünen, Robert Habeck, betonte hingegen,wenn andere politische Entscheidungen kei-nen Erfolg zeigten, »muss notfalls die Enteig-nung folgen«.Das arbeitgebernahe Institut der deut-

schen Wirtschaft (IW) veröffentlichte amWo-chenende eine Studie, nach der Mieten be-sonders stark für Wohnungen steigen, die pri-vaten Eigentümern und Unternehmen gehö-ren. In der IW-Untersuchung heißt es, diePreisunterschiede in Großstädten mit mehr

als 500 000 Einwohnern hätten sich seit 2013deutlich vergrößert. So blieb die mittlere Net-tokaltmiete bei kommunalenWohnungen von2013 bis 2017 konstant bei durchschnittlich7,40 Euro pro Quadratmeter. Bei genossen-schaftlichen Wohnungen stieg sie von 7 auf7,50 Euro. Die Mietpreise privater Unter-nehmen sind ohnehin höher und stärker ge-stiegen: von 7,70 auf 8,70 Euro. Bei privatenEigentümern stiegen die Wohnkosten von8,10 auf 8,70 Euro.Das Innenministerium bestätigte derweil

Pläne zur Erhöhung des Wohngeldes. epd/ndSeite 3

Unter dem Motto »Gemeinsam gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn« haben in Berlin rund 40 000 Menschen demonstriert. Foto: imago/Christian Spicker

STANDPUNKT

Enteignen –aber richtigJana Frielinghaus über das Rechtauf Wohnen und das Grundgesetz

Das Recht auf ein Zuhause, dasman sich leisten kann, gehört zuden im UN-Sozialpakt von 1966postulierten Menschenrechten.Angesichts der Unverschämtheit,mit der ImmobilienkonzerneMieter in die Armut treiben, ist esan der Zeit, Artikel 15 desGrundgesetzes endlich zum ers-ten Mal anzuwenden. Danach istes zulässig, »Grund und Boden,Naturschätze und Produktions-mittel« in Gemeineigentum zuüberführen – gegen Entschädi-gung. Wie hoch die sein sollte,steht dort nicht.Im Berliner Volksbegehren

»Deutsche Wohnen & Co enteig-nen« wird verlangt, dem Immobi-lienkonzern seine Tochter GSWmit ihren 62 000 Wohnungenwieder zu entziehen. Dieser hatdie Gesellschaft 2013 von der»Heuschrecke« Cerberus über-nommen hat. Und die wiederumhat die »Gemeinnützige Sied-lungs- und Wohnungsbaugesell-schaft« 2004 von der Stadt er-worben, auf Beschluss des dama-ligen rot-roten Senats. Der Kauf-preis damals: 405 Millionen Euro.Derzeit sind selbst die Initiatorendes Volksbegehrens bereit, derDeutschen Wohnen 7 bis 14 Milli-arden Euro Entschädigung zu ge-ben und damit das 30-Fache derdamals bezahlten Summe. Derrot-rot-grüne Senat will sogar 28bis 36 Milliarden rüberreichen.Angesichts der dringend benötig-ter Gelder für den Neubau be-zahlbarer Wohnungen in öffentli-cher Hand wäre mindestens letz-teres Irrsinn. Eine Enteignung, diedem Gemeinwohl diente, müsstefür den Konzern mindestens sehrschmerzhaft sein.

UNTEN LINKS

Die Forderung, große Woh-nungskonzerne zu enteignen,veranlasst nicht nur Politiker, sichdazu zu positionieren. Das ar-beitgebernahe Institut der deut-schen Wirtschaft (IW) hat sogareine Mieten-Studie verfasst.Schließlich handle es sich um ei-nen »extremen Vorschlag«, so dasIW. Da schadet es nicht, sich ein-mal die Fakten anzuschauen. He-rausgekommen ist in der Studie,dass Mieten von Wohnungen, dieprivaten Unternehmen gehören,besonders stark gestiegen sind.Allerdings wäre es zu kurz ge-griffen, nun die Privatisierungvon Wohnungen infrage zu stel-len. Das IW weist auf einen an-deren, bislang vernachlässigtenPunkt hin: Man müsse sich klar-machen, »dass durch die geringenMietsteigerungen bei kommuna-len Wohnungen dem Staat Ein-nahmen entgehen«. Stimmt!Wir erbitten nun eine aktuelle

Untersuchung, wie viel MilliardenEuro dem Staat durch die Sen-kung der Unternehmenssteuernund des Spitzensteuersatzes ent-gangen sind. rt

SPD will Osten alsZukunftslaborNeue Länder sollen Vorreiterrolle beiinnovativen Technologien einnehmen

Erfurt. Etwa ein halbes Jahr vor den Land-tagswahlen in drei ostdeutschen Bundeslän-dern will die SPD mit einem »Zukunftspro-gramm Ost« bei den Wählern punkten. Diezwölf Kernforderungen des Papiers stelltender Ostbeauftragte der Partei, Martin Dulig,und Mecklenburg-Vorpommerns Minister-präsidentin Manuela Schwesig am Samstag inErfurt vor. Das Programm sieht unter ande-rem vor, dass der Osten eine Vorreiterrolle beiinnovativen Technologien einnehmen soll.Im Herbst werden in Brandenburg, Sach-

sen und Thüringen die Parlamente neu ge-wählt. In Umfragen standen die Sozialde-mokraten zuletzt nicht besonders gut da.In Erfurt forderte SPD-Chefin Andrea Nah-

les nun, Ungerechtigkeiten zwischen Ost undWest in der Arbeitswelt zu beseitigen. »Men-schen, die in Ostdeutschland arbeiten, ver-dienen weniger und haben außerdem mehrArbeitsstunden«, sagte Nahles in Erfurt. Siewolle, dass die Ostdeutschen mehr Gehalt,mehr Urlaub und mehr Anerkennung be-kommen. dpa/nd Seiten 4 und 8

Netanjahu drohtneue Annexion anBei Parlamentswahl in Israel wirdKopf-an-Kopf-Rennen erwartet

Jerusalem. Wenige Tage vor den israelischenParlamentswahlen versucht Benjamin Ne-tanjahu, noch stärker am rechten Rand zupunkten. Der Ministerpräsident versprach amSamstag eine Annexion jüdischer Siedlungs-gebiete im Westjordanland. Er werde in demPalästinensergebiet israelische »Souveräni-tät« ausüben, sagte Netanjahu in einem Fern-sehinterview. Palästinenser warfen der Welt-gemeinschaft vor, Israels »schamlose« Ver-stöße gegen internationales Recht zu dul-den. Benny Gantz, der als Netanjahus aus-sichtsreichster Herausforderer gilt, sprach amSonntag von einem »verantwortungslosen«Versuch, Wählerstimmen zu werben.Bei der Parlamentswahl in Israel wird mit

einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Ne-tanjahus konservativer Likudpartei und demZentrumsbündnis Blau-Weiß von Ex-Gene-ralstabschef Gantz gerechnet. Umfragen sa-gen für beide jeweils etwa 30 der 120 Sitzein der Knesset voraus. Rund 6,3 Millionen Is-raelis sind am Dienstag aufgerufen, die 120Knesset- Abgeordneten zu wählen. AFP/nd

Gegenoffensive inLibyen verkündetG7-Staaten und Russland fordern,Eskalation zu beenden

Tripolis. Die Anhänger der international an-erkannten Regierung in Libyen haben amSonntag eine Gegenoffensive gegen die Trup-pen des einflussreichen Generals Khalifa Haf-tar verkündet. Die Streitkräfte würden mit»eiserne Faust« gegen jeden vorgehen, derdenke, die Einheit und Sicherheit Libyens an-zugreifen, hieß es.Haftars Truppen wiederum teilten mit, sie

hätten in Vororten von Tripolis Luftangriffegegen »bewaffnete Milizen« geflogen. Da-mit hätte das Leben von Zivilisten beschütztwerden sollen, erklärte die Medienabtei-lung des Generals. Haftars Truppen versu-chen seit Donnerstag, auf die HauptstadtTripolis vorzurücken, wo die internationalanerkannten Regierung von Fajis al-Sar-radsch ihren Sitz hat. Seit Beginn der Of-fensive sind nach Angaben der Regierungmindestens 21 Menschen getötet worden.Die G7-Staaten hatten am Samstag insbe-sondere Haftar aufgerufen, die Eskalation zubeenden. Auch Russland forderte einen Di-alog. dpa/nd Seite 2

ISSN 0323-3375

Was man brauchtEtwas Warmes: Der SchriftstellerChristoph Hein wird 75. Seite 13Foto: dpa/Peter Endig

Getreideernte deckt Verbrauch nichtGlobale Nachfrage wird durch Griff in die Speicher bedient – Preise sind noch stabil

Die weltweite Nachfrage nachGetreide wächst und wächst.Doch im laufenden Jahr sinkterstmals seit Jahren wieder dieProduktion.

Von Kurt Stenger

Zum zweiten Mal in diesem Jahr-zehnt muss die Welt auf ihre Ge-treidevorräte zugreifen, um dieNachfrage zu decken. Die UN-Landwirtschaftsorganisation FAOwie auch der Internationale Ge-treiderat gehen davon aus, dassdie Ernten allein dafür nicht aus-reichen werden. Im laufendenAgrarjahr 2018/19 werden dem-nach 2,655 Milliarden TonnenGetreide produziert werden – dassind 28 Millionen Tonnen weni-ger als der erwartete Verbrauch,wie aus einer neuen Marktunter-suchung der FAO hervorgeht. Dasletzte globale Defizit gab es2012/13, als die US-Farmer unterden Folgen einer mehrjährigenDürre litten.

Ein Agrarjahr bezeichnet denZeitraum von einer Ernte bis zurnächsten. Es beginnt weltweit inunterschiedlichen Monaten, aufder Nordhalbkugel im Sommer.Für das laufende Agrarjahr gehtdie FAO von einem Rückgang derGetreideproduktion um 49 Milli-onen Tonnen gegenüber 2017/18aus. Dies betrifft Mais und Wei-zen, während die UN-Organisati-on bei Reis und Hirse mit Zu-wächsen rechnet. Der Rückgangbei Weizen um rund 30 MillionenTonnen ist vor allem auf die Dür-re von 2018 in weiten Teilen Eu-ropas zurückzuführen, wo dieErnte um sechs Prozent niedrigerausfiel als im Jahr davor.Die Entwicklung von Angebot

und Nachfrage erklärt allein nicht,wie es um die Welternährung be-stellt ist. Im März 2008 kam estrotz guter Ernten in vielen Län-dern zu Hungerrevolten. Auslöserwar der massive Anstieg derGrundnahrungsmittelpreise we-gen Börsenspekulationen, hoher

Treibstoffpreise, der gestiegenenNachfrage aus China und Indiensowie des Klimawandels. Aktuellsieht es anders aus: Nach einemzeitweiligen Anstieg liegen die Ge-treidepreise wieder auf dem Ni-veau von März 2018. Im dürrege-

plagten Deutschland sieht es et-was anders aus: Bei Brot und Ge-treideerzeugnissen legten die Er-zeugerpreise um 6,3 Prozent zu,wie der Verband der Ernährungs-industrie gegenüber dpa mitteilte.Und wie geht es weiter? Die La-

gerhäuser und Speicher rund umden Globus sind noch gut gefüllt.Allerdings kann die Produktion

nicht dauerhaft unter dem Ver-brauch liegen. Doch auch für dasAgrarjahr 2019/20 rechnet derInternationale Getreiderat, in demdie Hauptproduzentenländer zu-sammengeschlossen sind, damit,dass die weltweiten Vorräte trotzbesserer Ernten weiter schrump-fen – um 28 Millionen Tonnen.Grund ist die noch stärker stei-gende Nachfrage nach Futter fürdie Massentierhaltung vor allemin China und die Produktion vonBiokraftstoffen in den USA.Für die Ernährung der Men-

schenmitGetreide ist nachwie vormehr als genug vorhanden, wennes denn besser verteilt wäre. Dochauch aktuell gibt es akute Hun-gersnöte. Laut einer kürzlich ver-öffentlichten Studie von EU, FAOund dem UN-Welternährungs-programm sind 113 MillionenMenschen in 53 Ländern betrof-fen. Zwei Drittel von ihnen lebenin nur acht Ländern: Afghanistan,Kongo, Äthiopien, Nigeria, Süd-sudan, Sudan, Syrien und Jemen.

Die FAO geht voneinem Rückgang derGetreideproduktionum 49 MillionenTonnen aus.

Montag, 8. April 2019 74. Jahrgang/Nr. 83 Einzelverkaufspreis 1,80 € www.neues-deutschland.de

Krawalleund LiebeNicht jammern –aus dem Vollenschöpfen mitlinken Utopien:Der Salonder Grether-Schwesternin Berlin.Seite 14

Foto:imago/R. Owsnitzki

Roma in BerlinWie sich die Ausgrenzung derMinderheit verschärft. Seite 9