Siewerth Sein Und Wahrheit

download Siewerth Sein Und Wahrheit

of 381

Transcript of Siewerth Sein Und Wahrheit

GUSTAV SIEWERTHwww.gustav-siewerth.de

SEIN UND WAHRHEITGesammelte Werke BAND I

TRIALOGO VerlagD-78421 Konstanz

Print-On-Demand-Version Auflage : 2003/06 Alle Rechte vorbehalten! Copyright 2003 by TRIALOGO

EINLEITUNG 10 Zur Situation 10 Curriculum vitae 11 Zu Siewerths Denken 12 Fragen 21 VORWORT 25 DIE METAPHYSIK DER ERKENNTNIS NACH THOMAS VON AQUIN 27 I. EINLEITUNG: 27 DER METAPHYSISCHE CHARAKTER DER ERKENNTNIS 27 NACH THOMAS VON AQUIN, AUFGEWIESEN AM WESEN 27 DES SINNLICHEN AKTES 27 1. Klrung der gestellten Aufgabe 27 2. Die Problematik der ersten Wissenschaft von ihrem Subjekt her entfaltet 28 3. Vorzeichnung einer potentiellen Einheit der ersten Wissenschaft. Ihre Problematik von Aristoteles her gesehen 29 4. Die allgemeine Begrndung der Einheit der Metaphysik 31 5. Die Metaphysik als Erkenntnislehre 36 II. DIE METAPHYSISCHEN VORAUSSETZUNGEN EINER METAPHYSIK DER ERKENNTNIS 38 1. Das Verhltnis der Seele zu ihren Vermgen 39 2. Das Verhltnis des Verstandes als eines Vermgens zur Sinnlichkeit 44 3. Zusammenfassende klrende Bestimmungen ber das Verhltnis von Vernunft und Sinn 47 4. Das Verhltnis der vernnftigen und sinnlichen Akte 49 5. Zusammenfassende Schlubetrachtung 51 III. DAS WESEN DES SINNLICHEN AKTES 52 1. Der Begriff des sensus. Die allgemeine Problematik seines vermittelnden Seins und Wirkens 52 2. Die Passivitt des sensus 53 3. Die quivokation passio. 53 4. Die quivoke Passivitt des Sinns 55 5. Die reale Unterscheidung von receptio und sensatio 55 6. Die receptio als ,,accidens des sentire 56 7. Die Einheit des sinnlichen Aktes 57 8. Die Immanenz des recipere 58 9. Die Abwandlung der Charaktere der Immanenz durch die passio 58 10. Die species sensibilis; ihr medialer Bildcharakter 59 11. Weiterer Beweis fr die Wesenseinheit von receptio und sensatio 62 12. Das Wesen der species sensibilis 64 13. Die species als similitudo, die relatio non mutua 67 14. Die Unbewutheit der species 69 15. Species und Objekt 71 16. Die species in organo 73 17. Die passiones propriae des sinnlichen Vermgens 75 18. Der actus iam perfecti 80 19. Der Sinn als potentia propinqua 83 20. Das proficem in actum secundum 86 21. Der actus perfectus, das iudicium sensus. 88 DIE WAHRHEIT IN DER THOMISTISCHEN PHILOSOPHIE 92 ERSTER TEIL 92 1. Die ontologische Charakteristik der menschlichen Erkenntnis als transzendentaler und endlicher Erkenntnis 92 2. Die Fragestellung und die thomistische Philosophie 93 3. Schrfere Fassung und Motivierung des Grundproblems der transzendentalen Subjektivitt 95 4. Das transzendentale Subjekt bei Hegel 96 5. Die Dimension der transzendentalen Subjektivitt in der Scholastik 98 6. Die Definition der Wahrheit 100 7. Die unechte Isolierung des Seins gegenber der Wahrheit 102 8. Die Wahrheitsbestimmung als rationale Zusammensetzung 103 9. Der ontologische Vorrang des Seins 104 10. Die transzendentale Einheit des Seins 106 11. Das ideale Sein 111 5

12. Die Analogie des Seinsbegriffs 114 13. Die rationale Einschrnkung des Seinsbegriffs 116 14. Die ontologische Fundierung der rationalen Strukturen 119 15. Das Verhltnis der Wahrheitsbestimmung zum Sein 123 16. Die dreifache Bestimmung der Wahrheit 128 17. Die Bestimmung der Wahrheit und das Problem des Realismus 134 ZWEITER TEIL 137 1. Die Reflexion auf die Wahrheit. Ihre Fundierung im Seinsverstndnis 137 2. Die Weisen der direkten und reflexen Wahrheit 142 3. Die Problematik der Wahrheitsreflexion 147 4. Die reflexio als Seinsbestimmung 149 5. Die Selbstgegenwart der Seele 150 6. Die immanente Beziehung geistiger Akte auf das Subjekt 155 7. Die Enthllung des Subjekts im Seinsverstndnis 159 8. Die Begrndung der veritas directa 167 9. Der rationale Rckgang der Seele auf sich selbst 169 10. Die Erkenntnis der Seele secundum iudicium 171 11. Kants transzendentale Apperzeption und das transzendentale Subjekt 172 12. Das Wesen der Wahrheit 174 DAS WESEN DES IRRTUMS 180 I. DIE ABSOLUTE VOLLENDUNG DER GESCHAFFENEN WAHRHEIT 180 II. DAS NICHTSEIN UND DIE WAHRHEIT 181 1. Spontaneitt und Rezeptivitt als apriorische Charaktere von Nichtigkeit 182 2. Die ideale Allgemeinheit der Vernunft als Grund der apriorischen Nichtigkeit 183 3. Die quasi-exemplarische Urschlichkeit des Seins als Grund der Erkenntnis der Nichtigkeit 183 4. Die Angleichung an das Nichtsein 184 5. Das Positive des negativen Urteils 184 III. DIE EXEMPLARISCHE REINHEIT DER WAHRHEIT 186 IV. DAS WESEN DES IRRTUMS 188 1. Seine Mglichkeit 188 2. Der Irrtum als Weise der Wahrheit 192 3. Die Logik des Irrtums 194 DIE APRIORITT DER MENSCHLICHEN ERKENNTNIS NACH THOMAS VON AQUIN 199 EINLEITUNG: DAS APRIORI DER IDEALEN BEDEUTUNGSEINHEIT 199 I. DAS APRIORISCHE WESEN DER ERKENNTNIS 200 II. DIE APRIORITT DES SUBJEKTS ALS ENDLICHER, ZUSAMMENGESETZTER SUBSTANZ200 III. DIE APRIORISCHE FORDERUNG EINER WIRKLICHEN NATUR ALS GRUND DER MGLICHKEIT VON ERFAHRUNG 201 IV. DIE APRIORISCHE ENTUSSERUNG DES FORMALEN SUBJEKTS ZUR ERMGLICHUNG DER EMPFNGNIS 201 1. Die apriorische Setzung der Vernunft als Vermgen 202 2. Das Ich als Bewutsein der Einheit von Subjekt und Vermgen 202 V. DAS APRIORISCHE VERHLTNIS DER VERMGEN 203 VI. DIE EMPFNGNIS DER VERNUNFT 204 1. Der mgliche Verstand 204 2. Die Aprioritt des ttigen Verstandes 204 3. Die Rezeptivitt des Geistes 206 VII. DIE APRIORITT DES FORMALOBJEKTS 206 VIII. DIE APRIORITT DER VOLLENDETEN NATUR DES ERKENNENDEN SUBJEKTS 207 1. Die apriorische Vollendung der ueren Sinne 208 2. Die Potentialitt der apriorischen Rumlichkeit 209 3. Die Aprioritt der Auenwelt 211 IX. DIE APRIORITT DER NATUR 215 1. Die unmittelbare Ertastbarkeit der Dinge 216 2. Die vermittelte Wahrnehmbarkeit der Dinge 217 3. Die Aposterioritt der sinnlichen Empfngnis 217 X. DIE APRIORITT DER WAHRHEIT 218 1. Die apriorische Einheit aller Vermgen 218 2. Die Problematik der vermittelnden Sinnlichkeit 221 A. Die Ableitung der sinnlichen Vermgen aus dem Begriff einer vernnftigen Wahrnehmung 222 1. Setzung und Wesen des sinnlichen Verstandes und der Erinnerung 222 6

2. Die Struktur des Gemeinsinns als Mitte zwischen sinnlichem Verstand und den ueren Sinnen 3. Der Gemeinsinn als Wurzel der ueren Sinne B. Der Schematismus der sinnlichen Erkenntnis 1. Das Wesen des Naturdings. Die substantiale und quantitative Einheit 2. Die Quantitt als Form des sinnlichen Schematismus GLEICHHEIT HNLICHKEIT DIE ANALOGIE DES SEIENDEN ERSTER TEIL 1. und Analogie 2. Der im Bedenken des Seienden als Seienden 3. Die Analogie im Wortgebrauch 4. Die Analogie in der Aussage 5. Die Analogie im Seinsurteil 6. Das Bezugs-Eine als seiende Natur 7. Geklrte und konfuse hnlichkeit 8. Die unauflsbare Einfalt und Bezugs-Einheit der Seinsanalogie 9. Die verdeckte Analogie im univoken Urteil 10. Die Analogie der Potenz 11. Das Seiende als relationales Gefge 12. Die Beziehungsweisen und ihre Bezeichnungen 13. Die logischen genera entis 14. Die Arten der Beziehungen und ihr Verhltnis zueinander 15. Die Methode philosophischen Denkens 16. Ausblick auf die Gotteserkenntnis ZWEITER TEIL I. DAS SEIN DES SEIENDEN 1. Die Ermglichung des Nichtseins durch das Sein 2. Die Ausfaltung des Seins Die Form als Prinzip der Vervielfltigung 3. Das Zu-sich-selbst-Kommen des Seins im Seienden II. DIE ANALOGE ERKENNTNIS DES SEINS DES SEIENDEN IM INTUITIVEN URTEIL 1. Das Wesen des intuitiven Urteils 2. Die Erfassung der subsistenten Wirklichkeit im intuitiven Urteil 3. Die Abscheidung des Ungeteiltseins der Substanz im intuitiven Urteil 4. Die Erffnung der Wahrheit der Substanz im intuitiven Urteil 5. Die Erhellung der Urschlichkeit der Substanz im intuitiven Urteil 6. Die Verstellung analoger Urteilswahrheit durch prdikative Satzlogik III. ABSTRAKTION ALS KONKRETION INTUITIVER URTEILSWAHRHEIT 1. Abstraktion der Quidditas Quantitt als Vermittlung von Substanz und Akzidens 2. Abstraktion des Universellen vom Partikulren 3. Abstraktion von ens und esse IV. VERSTELLUNG ANALOGER SEINSERKENNTNIS DURCH DEN UNIVOKEN SEINSBEGRIFF I. Dialektische Bestimmung von Sein und Nichts 2. Gleichsetzung von Substanz und Akzidens 3. Das Sein als reine Mglichkeit 4. Synthetische Satzlogik einsinniger Begriffsinhalte DEFINITION UND INTUITION DIE TRANSZENDENTALE STRUKTUR DES RAUMES 1. Die Weltverfassung der Sinne als potentiae propinquae 2. Sinnlicher und intelligibler Raum 3. Der wirkliche Dingraum 4. Der Seinsraum des Universums 5. Der physische Weltraum 6. Der Licht- und Erscheinungsraum 7. Die gerichtete sichtende Sicht der Sinne 8. Die Wahrnehmung der Farben und die organische Vollendung des Auges 9. Der kritische Realismus 10. Die Aporien des kritischen Realismus 11. Die Qualitten sind die naturwissenschaftliche Methode 12. Die Natur als gttliches, undurchdringliches Mysterium

223 225 231 232 236 242 248 248 248 249 250 250 251 252 252 253 254 254 255 255 256 257 260 261 263 263 263 264 264 265 266 266 268 269 269 270 271 271 273 275 277 277 281 283 285 288 303 303 307 308 309 309 311 312 313 314 315 316 318 7

DIE ABSTRAKTION UND DAS SEIN NACH DER LEHRE DES THOMAS VON AQUIN 320 I. DAS GESCHICK DES RATIONALISMUS 320 1. Das fehlleitende Wort abstractio 320 2. Die logische Abstraktheit des Seins 320 3. Die moderne Philosophie als Folge der Seinslogik 321 4. Der Lehrbetrieb als Ursache der Rationalisierung des Seins 322 5. Die Erfassung des Seins und die prdikative (logische) Synthesis bei Thomas 322 6. Synthetische Urteile a priori und der intuitus principiorum 323 7. Die Abstraktion von der Abstraktion 324 8. Die Analogie des Seins 325 II. DAS WESEN DER ABSTRAKTION 325 1. Grundzge 326 2. Die Annherung an die Form der empfnglichen Vernunft 328 3. Die Abstraktion als Erhellung der Grnde. Die Grundstruktur des Abstrahierens 329 4. Die Quantitt oder die zweite Stufe der Abstraktion 330 5. Die Abstraktion des Seins: Dritte Stufe 331 III. DIE TRANSZENDENZ IM SEIN DES SEIENDEN 332 1. Der Abgrund des Seins 332 2. Das Sein und die idealen Entwrfe der ersten und zweiten Stufe der Abstraktion 333 3. Die Partizipation der Vernunft am Sein 334 4. Das Sein im Intellekt 335 5. Die rationale Lsung der Frage 335 6. Der Vollzug der Transzendenz 336 7. Das Problematische der rationalen Lsung 337 8. Die spekulative Transzendenzlsung 338 9. Der Widerspruch im Sein selbst oder das Sein als vermittelnder Proze 339 10. Ursprung und Abbild 339 11. Die Transzendenz als Bewegung im Sein 340 12. Univozitt und Analogie 340 DIE TRANSZENDENTALE SELBIGKEIT UND VERSCHIEDENHEIT DES ENS UND DES VERUM BEI THOMAS VON AQUIN 342 I 342 II 343 III 345 DIE TRANSZENDENTALE SELBIGKEIT DES ENS UND DES BONUM 350 I 350 II 351 III 353 IV 354 V 355 VI 356 DAS SEIN ALS GLEICHNIS GOTTES 358 I. DIE EPOCHALE BEDEUTUNG DES AQUINATEN 358 1. Neuzeitliches Denken 358 2. Das verlassene Sein des Seienden 359 3. Die beirrende Macht des Seins 359 4. Das Geschick der Philosophie 359 5. Bedeutung und Wesen thomistischen Denkens 360 II. DIE AUSFALTUNG DER FRAGE NACH DEM SEIN 361 1. Das In-sich-selbst-Wirkliche als das Sein 361 2. Das Allgemeine in den wirklichen Dingen 361 3. Leere und Gewicht des Allgemeinen 362 4. Das Allgemeine des Seins 362 5. Der Unterschied des Seins und des Seienden 364 6. Die gegenstzliche Struktur des einfachen Seins im Walten der Differenz 365 7. Die Ablsung des Seins vom Seienden und der Widerspruch von grndender Aktualitt und Nicht-Subsistenz 365 8. Das Sein des Seienden als vermittelnde Mitte 367 III. DIE AUFLICHTUNG DES SEINS AUS DER SICHT DES URBILDES 369 1. Das Schaffen Gottes als sich selbst anzielender Wesensakt 369 2. Die Nicht-Subsistenz des einfachen Seins 370 8

3. Der Proze der Seinsverwirklichung, das Hervortreten des Nichtseins als Potenz 4. Die Differenz von einfltiger Einheit und Flle 5. Das ausgefaltete Sein als Gleichnis Gottes 6. Das personierende Sein 7. Das Sein als die Wahrheit und das Gute 8. Das Lichtwesen des Seins 9. Die im Sein transzendierende Existenz 10. Die Nichtigkeit des Seienden und die gttliche Freiheit 11. Die theologische Ermchtigung des Seinsdenkens 12. Die Vollendung des Seins des Seienden im Walten und Erscheinen des Grundes NACHWORT ZUR AUSGABE DER GESAMMELTEN WERKE

370 371 373 374 374 375 376 376 377 377 378

9

EINLEITUNGZur SituationUnser dem Ende entgegengehendes 20. Jahrhundert versteht sich als Hhepunkt der szientifischtechnisch-konomisch orientierten Vernunft. Sie kommt her aus einer skularen Aufklrungsbewegung, welche sich im 16. Jahrhundert als theologische, im 17. Jahrhundert als metaphysische, im 18. Jahrhundert als humanitr-moralische, im 19. Jahrhundert als technisch-konomische Vernunftbewegung verstand. Sie kennzeichnet heute unsere allgemeine Lage. Die heutige westliche Menschenlandschaft ist eine Welt der Wissenschaft und der Technik, ein ins Gigantische anwachsendes Operationsfeld, eine titanische Werkstatt, die alle Lebensbereiche bestimmt und lngst ber den ganzen Erdball ausgreift. Die Wissenschaften stiegen an in der Variationsbreite ihrer Methoden, ihrer Theoriemglichkeiten und Rationalittstypen, sie stiegen an in der Dokumentations- und Kommunikationstechnik, in der technologischen Ausrstung mit apparativen Speicherungs- und Abrufsystemen, in der Datenhortung und Datenverarbeitung, sie wuchsen sich aus zu kollektiven Grobetrieben. Das konomische System legte ber die Landschaft ein Netz, das alle Orte in steigendem Mae zusammenschliet und miteinander verbindet. Fabrikstraen und Industrieareale greifen ber die Massenballungsrume der Grostdte hinaus und schieen zu immer greren Einheiten zusammen. Das System der Wissenschaften wird planetarisch.1 Und planetarisch ist der Kampf zweier Weltanschauungen, der den Globus in zwei Hlften, zwei feindliche Lager, gespalten hat, eine Auseinandersetzung, die an die frheren Religionskriege erinnert und doch alle bisherigen Konfrontationen verblassen lt und die Menschheit in einen Katarakt der Vernichtungsmglichkeiten gezogen hat, die menschliches Vorstellungsvermgen weit bersteigen. Die Rationalisierung aller Daseinsbereiche im beginnenden Zeitalter einer globalen Steuerung vollendet zugleich die demokratischen Kollektivbewegungen der Gesellschaft. Konsequenz ist die Herrschaft der Funktionre, Manager, Angestellten und Beamten, einer verwalteten Welt, die vom vorzglichen Interesse an Sekuritt und Ordnung, berhaupt am reibungslosen Funktionieren des Staatsapparats und des Wirtschaftsbetriebs ihre steigende Tendenz und Dynamik entwickeln. Die rasche Auflsung traditioneller Lebensmuster und -formen, die beginnende totale Abhngigkeit und Steuerung des ffentlichen Lebens bestimmt unsere Lage. Und schon scheint es an der Zeit zu sein, da der Staat selbst schlielich die Leitung und Steuerung aller Daseinsbereiche zu bernehmen und zu kontrollieren sich anschickt. Er wird damit zu einer alles umfassenden Menschenmaschine, die im Verein mit der Technik ein Gehuse herzustellen im Begriff ist, in dem die sanfte Gewalt des Apparats die hhere Form der Freiheit reklamiert und produziert. Heute sind die Erfindungen zugleich Mittel einer unterschwellig fortschreitenden, ungeheuren Massenbeherrschung und allgemeinen Seelenmassage geworden, wo alles Leiden und jegliche Negativitt des Daseins geschickt verborgen oder geleugnet, die gesellschaftliche Lage nach den Bedrfnissen und geheimen Lusttendenzen der Menschen bestimmt und verordnet wird. In der totalen Entuerung der Subjekte an die volont gnrale des totalen Staates bejahen sie das Schicksal einer entgtterten, von Menscheningenieuren entworfenen und gesteuerten Zukunft einer allgemeinen Produktion und Konsumtion des szientifisch-technisch-konomischen Stoffwechselprozesses oder fallen in einen blinden Aktionismus als letzte Form einer Protestbewegung, die ihren Sinn und ihre Ziele aus der allgemeinen Lhmung aller Lebenskrfte selbst nicht mehr zu bestimmen vermag. Die hchste Form instrumentaler Rationalitt schlgt um in einen blinden Glauben an das epochale Schicksal als ein hereinbrechendes Naturgeschick. Der Mensch begegnet nur noch seinen Gemchten, steht im Grunde nur noch sich selbst antlitzlos gegenber, erkennt die Ohnmacht des Begriffs seiner Bestimmung; und kein Prophet vermag noch einen hchsten Sinn und einen letzten Wert den Menschen glaubhaft zu machen. Vernunft scheint sich in die gemachte, sekundre, verdinglichte Natur zu verlieren und will in ihren ersehnten Frieden zurck. Reflexion wird sprachlos zum konditionierten Reflex, eingebt und eingeschliffen durch die automatisierten technischen Lernund Anpassungsprozesse einer altgewordenen Welt. Die hchste Stufe der Aufklrungsbewegung fllt zurck in eine durch natrliche Notwendigkeit bedingte Geschichte als Ende und Vollendung aller Geschichte, und die hchste Form der Rationalitt gewinnt wahnhafte Zge eines in die Natur1

E. Fink, Zum Selbstverstndnis der Wissenschaften, in: Philosophische Perspektiven, Band 3, 1971, insbes. 83f f.

10

bergehenden Schlummers. Im Heraufkommen ist das Zeitalter einer nachtechnischen Primitivgesellschaft, wo alle Formen von Subjektivitt in reine Animalitt untergegangen und gestillt sind. Die Geschichte der Wissenschaft erwies sich so zugleich als eine Geschichte der Destruktion der bislang hchsten Werte der Menschen von Religion, Moral und Metaphysik. Der Mensch ist daran, das Geheimnis seines Lebens, in dem und aus dem er bislang gelebt hatte, einzuholen, ist im Begriff, sich seiner selbst vollstndig zu bemchtigen. Dabei zeigt sich in der Steigerung seiner Macht ber sich selbst zugleich die tiefe Ohnmacht, weil er sich im Lauf seiner Vernunftbewegung jeden Halt und jeglichen Boden unter den Fen wegzog. Die Verzweiflung und Resignation, einen Sinn, einen Endzweck im Dasein und Geschehen zu entdecken, macht sich breit. Keine organisierende Einheit des Ganzen ist zu entdecken; man versteht den Bau der Welt nicht mehr als abstammend von einem obersten Urheber, wei sich vielmehr in eine labyrinthische Welt ausgesetzt, ohne auch nur ahnen zu knnen, woher wir kommen und wohin wir gehen. Es herrscht das lhmende Gefhl der Heimatlosigkeit, der beklemmenden Ratlosigkeit, was die Rolle des Menschen in dieser Weltveranstaltung eigentlich sei. Dies mag man sich eingestehen oder auch nicht: Der Trieb nach Sicherheit und Absicherung vor dem Vernichtetwerden durch die Zeit steigt mit den technischen Mglichkeiten der Menschen und findet in der Unmglichkeit der Versicherung sein Geschick. Die alles erhellende Sonne, das Vernunftlicht verlor seine Kraft, durch das die Menschen ihr Leben einrichteten und so sich geschichtlich bestimmten. Die technische Rationalitt, ein Auslufer und letzter Abglanz jener ehemals weltbildenden Kraft, erfuhr im Ausgriff in ihre hchsten Mglichkeiten zugleich ihre Begrenzung durch sich selbst, weil der Kosmos ber die von uns gebauten technischen Apparate und Zurstungen weit hinausreicht und wir uns der Natur trotz hchster technischer Armierung nicht gewachsen zeigen. Unsere technische Zivilisation schlgt auf uns selbst zurck, und in steigendem Mae erfahren wir unsere dialektische Verfassung. Von diesem Grunde her mssen wir Siewerths Werk sehen. Alle genannten Probleme stehen benannt oder unbenannt in seinem Gesichtskreis und bestimmen in entscheidender Weise seine Fragestellungen. Weil das Denken fr ihn selbst bodenlos geworden war und aus seinem eigentlichen Element herausfiel, weil er das Geschick der neuzeitlichen Welt durchlitt als Heimatlosigkeit und Entfremdung des Menschen, versuchte er, ihn in die Wurzeln seiner Existenz neu zu grnden. Am eigenen Leib erfuhr er das Geschick seiner Epoche.

Curriculum vitaeGustav Siewerth wurde am 28. Mai 1903 in Hofgeismar geboren. Der Vater stammte aus Pommern, die Mutter aus dem Hohenzollerschen. Er besuchte das humanistische Lessing-Gymnasium in Frankfurt a. M., wo er 1922 die Reifeprfung ablegte. Er begann im selben Jahr an der Universitt Frankfurt das Studium der Philosophie und Psychologie; 1924 bis 1926 fhrte er seine philosophischen, in Verbindung mit theologischen Studien am Theologischen Seminar in Fulda fort, die mit dem Philosophicum ihren Abschlu fanden. Im Jahr 1926 bezog er die Universitt Freiburg und studierte dort mit Unterbrechung bis 1930 Philosophie, Kunstgeschichte und Geschichte. Seine philosophischen Lehrer waren Martin Honecker, Martin Heidegger und Edmund Husserl. Am Ende des Wintersemesters 1930/31 promovierte er in Philosophie mit den Nebenfchern Kunstgeschichte und Geschichte. Das Thema seiner Dissertation war: Die Metaphysik der Erkenntnis nach Thomas von Aquin. Siewerth bernahm ab 1931 einen Forschungsauftrag der Forschungsgemeinschaft der deutschen Wissenschaft zum Thema: Der Gottesgedanke in der Entwicklung des jngeren Hegel. Im Jahr 1932 erklrte sich die philosophische Fakultt der Universitt Frankfurt a. M. mit einer Habilitierung Siewerths einverstanden. Weil ein Thema aus der mittelalterlichen Philosophie gewnscht wurde, whlte Siewerth Die transzendentale, intellektuelle Anschauung bei Thomas von Aquin. Der Grund der Mglichkeit der Gotteserkenntnis. Die Habilitation in Frankfurt a. M. scheiterte an den politischen Verhltnissen des Jahres 1933. Auch eine Berufung auf den philosophischen Lehrstuhl in Braunsberg kam aus den eben genannten Grnden nicht zustande. Die Arbeit ber Hegel blieb unvollendet. Dafr entwickelte Siewerth die Thomasarbeit im Sinn einer Begegnung mit Hegel weiter und reichte sie im11

Jahr 1936 als Habilitationsschrift an der Freiburger Universitt ein. Ihr Titel lautete: Die Aprioritt der Erkenntnis als Einheitsgrund der philosophischen Systematik nach Thomas von Aquin. Die Habilitation erfolgte im Mai des Jahres 1937. Im selben Jahr wird Siewerths Antrag auf bertragung einer Dozentur von Berlin aus ohne Begrndung abgelehnt. Ebenso wurde Siewerth aus politischen Grnden die bernahme eines angebotenen Schriftleiterpostens bei der Frankfurter Zeitung unmglich gemacht. Er entschlo sich daher, in die Industrie zu gehen. In Dsseldorf bernahm er nach kurzer Volontrzeit beim Drahtverband die Herausgabe einer Statistik des Weltdrahthandels und arbeitete fr den Walzdrahtverband eine hnliche Statistik aus. Mitte 1940 trat Siewerth in die Mannesmann-Rhrenwerke, Dsseldorf, ein. Als Betriebskaufmann und Abschlurevisor hatte er innerhalb des Konzerns die Aufgabe eines Wirtschaftsprfers zu erfllen. Nach dem Zusammenbruch, Ende 1945, erhielt Siewerth von der Provinzialregierung in Dsseldorf mit Genehmigung der Militrregierung eine Professur fr Philosophie und Pdagogik an der neugebildeten Pdagogischen Akademie in Aachen, deren Leitung als Direktor und anschlieend als nach deutschem Hochschulstatut gewhlter Rektor er bernahm. Im Jahr 1961 wurde er als Grndungsrektor und Professor fr Pdagogik an die neu gegrndete Pdagogische Hochschule Freiburg i. Br. berufen. Siewerth war Mitglied der Gutachterausschsse fr Volks-, Real- und hheres Schulwesen fr das Kultusministerium Nordrhein-Westfalen, 1. und 2. Vorsitzender des Rats der Pdagogischen Akademien des Landes Nordrhein-Westfalen seit der Grndung, Mitglied des ersten Pdagogischen Hochschulsenats, seit 1951 2. Vorsitzender des Arbeitskreises smtlicher Pdagogischen Hochschulen und Universittsinstitute des Bundesgebiets, Leiter der Fachschaft fr Philosophie und Gutachter fr die Fachschaft Pdagogik, schlielich seit 1958 Leiter der Sektion fr wissenschaftliche Pdagogik der Grresgesellschaft. Siewerth wurde seit 1947 zu einer reichen Vortragsttigkeit auf wissenschaftlichen Kongressen, an Akademien und Universitten des In- und Auslandes eingeladen. Im Jahr 1954 folgte er einer Einladung fr drei Monate zum Studium des Hochschulwesens in den USA, 1948 und 1958 Einladungen fr je vier Wochen nach England. Andere Einladungen ergingen nach Frankreich, Holland, Belgien, die Schweiz und sterreich. Siewerth war Mitherausgeber der Zeitschriften Erbe und Entscheidung, der Vierteljahresschrift fr wissenschaftliche Pdagogik und des Jahrbuchs fr Philosophie Symposion. Siewerth starb am 5. Oktober 1963 whrend einer Tagung der Grresgesellschaft in Trient. Er ist auf dem Bergcker-Friedhof in Freiburg i. Br. begraben.

Zu Siewerths DenkenSiewerth erfhrt die neuzeitliche Spaltung und Auflsung der Denkgeschichte, die im hohen Mittelalter im Herzen der abendlndischen Seinsgeschichte selbst anhebt, in der Bewegung von Duns Scotus bis zu Hume und dem positivistisch-pragmatischen Seinsbegriff unseres Zeitalters sich vollzieht. Am Ende dieser Geschichte steht die ontologische These von dem Absoluten der Tatsachen und der Begriff eines Menschen, dem die pragmatisch-technische Beherrschung dieser Tatsachen zum Medium der Seinsoffenbarung geworden ist. Deshalb mchte Siewerth auf die Bedingungen dieses Sturzes zurckgehen und den Anfang wiederholen. Der Anfang ist aber fr ihn Thomas; in ihm hat das Denken seine Hhe erreicht. Die Metaphysik des Thomas hat allerdings als ihren geschichtlichen Hintergrund die aristotelische Metaphysik und die Theologie als Lehre von Gott, den Engeln, von Mensch und Natur. Der spezifische Akzent thomasischer Metaphysik ruht auf der Wissenschaft vom esse ipsum und der Wissenschaft vom Seienden in seiner Akt-Potenz-Struktur, die im ipsum esse sich hlt. Sie ist deshalb zugleich auch Wissenschaft vom ens universale und commune. Weil die Metaphysik des heiligen Thomas die Welt vor allem unter dem Aspekt ihres Geschaffenseins betrachtet, verlagern sich die aristotelischen Schwerpunkte von den formalen Seinsbestimmungen zur expliziten Ausbildung der Akt-Potenz-Lehre, die berhaupt den Schlssel zur Konstitution der Welt bildet. Das Sein der Wahrheit, der Kategorien und der formalen Seinsbestimmungen sind von der Akt-Potenz-Lehre her genommen. Durch sie gewinnen neue Gesichtspunkte und Kategorien den Vorrang. Gefragt wird nach dem neuen Sinn von forma, actus,12

potentia, motus, causa, finis, unum als individuale perfectum, materia, species, genus, analogia als Folge der inneren Zuordnung der Erkenntniswelt auf das ipsum esse. Siewerths Dissertation Die Metaphysik der Erkenntnis nach Thomas von Aquin. Erster Teil: Die sinnliche Erkenntnis geht in das zentrale Problem allen Denkens zurck. Der Titel gibt sogleich einen Hinweis auf die Frontstellung gegenber den damals herkmmlichen erkenntnistheoretischen Errterungen dieser Fragen im Neuthomismus. Diese Arbeit wurde fr Siewerths Denken selbst ein wesentlicher Anfang. Weil sich in ihr alle wichtigen Probleme seines spteren Denkwegs artikulierten, kann diese Arbeit als Einfhrung in Siewerths Denken berhaupt genommen werden. Deshalb mag sie auch an dieser Stelle ausfhrlicher zur Sprache kommen, zumal von ihrer Errterung her auch Licht fallen kann auf Siewerths Fassung der Metaphysik als systematischer Einheit, wie sie sich in den in diesem Band gesammelten Schriften und vor allem dann im Thomismus als Identittssystem darstellt. Siewerth sagt in der Vorbemerkung: Die vorliegende Arbeit ist der erste Teil eines Versuchs, die Metaphysik der thomistischen2 Erkenntnislehre als systematische Einheit zu begreifen und zu entfalten. Nimmt man diese Aussage als anfnglichen Aufri der eigenen Problemstellung, die Siewerth ein Leben lang durchund aushielt, dann zeigt sich sofort die Intention seiner Thomas-Auslegung, die auch alle spteren Arbeiten bestimmt. Sie versucht, durch Thomas hindurch einerseits die Einheit und Positivitt des Seins und so der Wahrheit des Menschen selbst herauszustellen und sie anderseits von der Problemdimension des deutschen Idealismus her systematisch zu entwickeln und durchzuklren. In der Besinnung und Errterung seiner eigenen Grundstellung formuliert er deshalb: Soweit es dieser angelegen ist, das in terminis zum Ausdruck Gebrachte so zu bestimmen, da der Sinn des Gesagten gem der bewuten Intention eines Denkers sich enthlle, drfte sie philosophisch weder eine echte Mglichkeit haben noch berhaupt von grerem Belang sein. Mag immerhin mit der Ordnung, Klassifizierung und Verdeutlichung eines Werkes vieles gewonnen sein, eine genuin philosophische Betrachtung sieht sich vorab und wesentlich vor die Aufgabe gestellt, bei der Aufweisung und Enthllung metaphysischer Lehren sich auf das volle Wesen dessen zu besinnen, was da als Metaphysik berhaupt begegnet.3 Darum wird die Begegnung mit Thomas fr Siewerth Anla zur Entdeckung und Besinnung seines Denkens, das in verschrfter Form auf sich zurckzugehen versucht und so immer entschiedener in seinen eigenen Grund, seine ursprngliche Herkunft und Ermglichung zurckfragt. Damit nennt Siewerth die Exposition seiner Weise von Erinnerung in die Metaphysik und stellt diese als das wesentliche Problem der Reflexion heraus. Er sagt nmlich weiter: Philosophisches Verstehen aber ist stets systematische Erkenntnis, d. h. ein Erkennen, das sich aus den ersten und allgemeinsten Grnden her vollzieht und seinen Fortgang im vorentfalteten Entwurf des Ganzen hlt. Sich der Notwendigkeit der Prinzipien und dem Geiste des Ganzen anvertrauend, hat sich menschliches Erkennen einem Absoluten ausgeliefert, dessen immanente Entfaltung und Wahrheit der eigentliche Sinn jeder echten Philosophie bedeutet . . . Soweit jedes Philosophieren aus dem Geist eines systematischen Ganzen lebt, mu in ihm Ma und Leben aller seiner Wahrheiten gesucht werden. Ebensowenig aber, wie menschliches Knnen jemals dem absoluten Anspruch der letzten Grnde philosophischen Erkennens vllig zu gengen vermchte, kann es eine echte philosophische Ausarbeitung eines Problems geben, die nicht angesichts der potentiellen Unbestimmtheit des absoluten Ausgangs eine tiefere Problematik hervortriebe und selbst durch diesen Charakter als problematisch im eigenen Wesen bestimmt wrde.4 Es gibt also fr Siewerth einen apriorischen Ansatz und Ausgang des Denkens. Seiner versichert er sich, von ihm lt er sein Denken bestimmt sein. Anfang und Fragestellung schlieen sich fr Siewerth zusammen zu einer systematischen Entfaltung des Gesamtentwurfs, der von sich aus eine einheitlichere Durchgestaltung, eine neue, tiefere und reichere Durchdringung eines Problemkreises bedingt. Der Mensch ist immer schon in der Welt, findet sich im Ganzen schon vor. Er mag das Ganze vergessen und von sich aus in die Negation zur Welt selbst treten. Doch das Sein durchherrscht ihn auch noch als Zweifelnden. Kritik ist klrend und nachsehend, niemals aber eine Metaphysik schlechthin ,ermglichende und ,begrenzende Kraft; denn das erste, das Erkennen selbst messende Ma der Metaphysik ist das Sein selber (mit seinen consequentia und den ,prima principia zusammengenommen), welches als verwirklichte Erkenntnis die bereits verwirklichte Philosophie ihrem impliziten Ausgang gem ist. Da die apriorische BestimmungDer Siewerthsche Gebrauch des Adjektivs thomistisch zielt immer auf die Aussagen des heiligen Thomas ab, nicht auf diejenigen der Neuscholastik. 3 G. Siewerth, Die Metaphysik der Erkenntnis nach Thomas von Aquin. Erster Teil: Die sinnliche Erkenntnis, Darmstadt 1968 (Mnchen und Berlin 1933), IV. 4 Ebd.2

13

der menschlichen Vernunft nur Ausweis und Anzeige dafr ist, da sie immer schon anfnglich im Anfang von Welt beheimatet ist, exponiert sich die ganze Fragestellung nach dem Wesen des Seins zugleich als Frage nach dem Wesen der menschlichen Erkenntnis. Die Eigentmlichkeit der ersten Wissenschaft ruht aber bei Thomas in einer Verklammerung von Metaphysik und natrlicher Theologie. Konkreter gesprochen fragen wir nach der Identitt von Metaphysik als der Wissenschaft des ,ens et ea quae sequuntur ipsum mit der ersten Philosophie, in quantum Primas rerum causas considerat, und der ,Theologie als einer Wissenschaft von den ,substantiae separatae.5 Wenn dies der Grundri als mgliche Vorzeichnung der Metaphysik berhaupt ist, dann erfolgt daraus der Bau dieser ersten Wissenschaft in einer differenzierten Auf- und Ausgliederung des Ganzen in seine Teile. Die formal-ontologisch-transzendentalen Bestimmungen des Seins umfat sie (die erste Wissenschaft) im genus ihres allgemeinen Subjekts, die reale singulre Substanz aber als sinnlich vorgegebenes Material einer abstrakten Universalitt des ens per se; die universale Substanz jedoch in der Einheit von erster und zweiter Substanz als ,terminus der analogen Struktur des Seinsbegriffs. Sie ist damit als Wissenschaft des Seins, ohne jede ,uere Hinzufgung, Wissenschaft der seienden, formal und material wirkenden Grnde. In ihrem Erfassen der zweiten Substanz als des ewigen, universellen, unwandelbaren Grunds der philosophischen Wahrheit rhrt sie vom Ausgang her (da ja die prima principia selbst solche ewigen Wahrheiten darstellen) an die seiende, immaterielle, abgeschiedene und unvermischte, realiter universelle (umfassende), alle ,Wesentlichkeit ermglichende, reine wesentliche Form. In eins damit ist sie als Wissenschaft des ens commune die Wissenschaft vom esse ipsum, primum, universale als der aktualen universellen Ursache eines universellen Effekts. Sie ist als ,Theologie vom letzten Ziel des potentiellen Entwurfs mit dem Ausgang gesetzt. Das ens commune aber schliet diese begrifflich ein, insofern es den terminus seiner Analogie, die Substanz, in der Allgemeinheit von Substanzialitt erfat, welche sich wiederum nach Effekt und Causa analog differenzieren lt.6 Damit sind mit einem Schlag alle thematischen Bezge der Metaphysik Siewerths implicite genannt. Diese ,implizite Allgemeinheit der Metaphysik ist freilich explizit nur im vollzogenen Ganzen der Philosophie in ihrer innerlichen Verknpfung vollkommen aufweisbar.7 Bei Thomas lassen sich zwar vereinheitlichende Zge der Metaphysik als theologia naturalis herausstellen; diese kommt aber nicht, trotz ihres formalen Ausbaus, zu einer einheitlichen Bestimmung und zum Grund der Mglichkeit ihrer selbst. Erst rein theologische Impulse bestimmen ihren Fortgang. Indem Siewerth zurckblickt auf die in der Schwebe bleibende bei Aristoteles und er die Unentschiedenheit der Bestimmung des Seins bei Thomas zufolge der theologischen Exposition des Seins weichen sieht, blickt er auch zugleich schon vor auf seine eigene Lebensaufgabe, die in ihrem Umri entfaltet vorgestellt wird, da es ihm darauf ankommt, die eigentliche metaphysische Fragestellung in eine noch ursprnglichere Einheit und Bestimmtheit fortzutreiben. Durch die Hineinbeziehung des gttlichen Seins, der ,Substanz der Substanzen, als des letzten und wesentlichen Ziels, in das Ganze der Metaphysik hat sich diese Wissenschaft in ihrem Wesen erst entscheidend gefunden und mute sich daher in allen ihren Teilen neu und endgltig bestimmen. Denn nun hat sich der Aussagegehalt und die Aussagerichtung des ens commune durch die Verdoppelung und wesenhafte Wandlung der Analogie des Seins erweitert, oder anders gewendet, es ist jetzt zur Aktualisierung und Differenzierung seiner potenziellen Allgemeinheit gekommen. Dadurch aber hat sich die erste Philosophie nicht nur endgltig von der entfernt und ihr eigenes ,genus gesichert, sondern zugleich die in einer gewissen ,Vorlufigkeit gewonnene Seinsanalyse ihrer Endgltigkeit beraubt. Sie ist nun vor die Aufgabe gestellt, den letzten Grund der Einheit und Mglichkeit der Metaphysik angesichts seiner alles begrndenden Allgemeinheit in das ,Erste dieser Wissenschaft ,rcklufig zurckzunehmen, d. h. die Frage nach mit ihm zu belasten und die am Ende vollbrachte Vereinigung alles Seienden in eine ursprngliche Einheit echt metaphysischen Fragens umzuwandeln. Das bedeutet aber zugleich die Forderung, die formalen Charaktere des ens und aller ,sequentia ipsum im Licht des ,esse ipsum einer ,absoluten Bestimmung zu unterziehen; des weiteren die Problematik der Kategorien von neuem aufzuwerfen und den ersten Terminus des ens per se, die Substanz, und mit dieser die Form nach ihrem Verhltnis zum bersubstanzialen und berformalen Akt des Seins zu befragen. Ferner aber drfte die Analytik der Kausalitt durch das Ganze einer theologischen Metaphysik vor neue Probleme gestellt sein, und schlielich ist die Metaphysik als eine Wissenschaft vom Sein der Wahrheit und des Erkennens vor die Frage gestellt: Wie ist das innerste Sein der5 6

A.a.O. V A.a.O. 2. In diesem Band S. 46. 7 A. a. O. 4. In diesem Band S. 48.

14

menschlichen Vernunft zu bestimmen, wenn ihr im Entwurf einer Wissenschaft vom Sein im Ganzen und Allgemeinen Gotteserkenntnis mglich ist.8 Von diesem Entwurf her bestimmt sich in der Tat das ganze Fragen und Denken Siewerths. Alle entscheidenden Probleme sind damit angesprochen, die Siewerth spter in Angriff nimmt, welche hier in diesem Band sich vereinigen. Da er gleichsam den Hiatus im Werk des heiligen Thomas sieht, der zwischen der Problematik des ens commune und dem esse ipsum im theologischen Sinn aufspringt, stellt Siewerth seine Frage gerade an diesem Ort entschieden fest, und der Titel theologische Metaphysik zeigt in der nchternen Begrifflichkeit zugleich den Sturm seines Denkens, der von diesem Ort aus losbricht und keine Ruhe findet. Dieser Sturm aber ist die Heimfhrung der Dinge in ihren absoluten Grund und ihre Herkunft, ist reductio diversarum causarum in unum. Weil der Grundri des Seins so aufgerissen ist, da das Eine das alles zugleich Versammelnde ist, ist auch das Denken von sich aus leitend, aufhellend und durchherrschend, weil das Sein selbst sich in ihm so zur Sprache bringt, vom Denken selbst her genannt werden will. Die obersten Bestimmungen des Denkens sind deshalb:

1. Die obersten, alles Erkennen ermglichenden Ursachen des Seins. 2. Die transphysische, bersinnliche Universalitt der ersten Prinzipien des Erkennens. 3. Das bermaterielle, geistige, unvermischte Sein der intellektuellen Formen selbst.9Von dieser dreifachen Dimension der Seinsfrage her entwickelt sich fr Siewerth alle Metaphysik, von hier aus entfalten sich auch alle Fragestellungen des Denkens. Die Philosophie ist also die erste, die ,allgemeinste und ,hchste, d. h. die geistigste aller Wissenschaften; sie ist die erste dem Ausgang des Erkennens gem, die umfassendste im Ausgang und im fortschreitenden Entwurf, die hchste vor allem hinsichtlich ihres theoretischen Ziels und spirituellen Gehalts. Durch diese dreifache Kennzeichnung ihres regulierenden Vorrangs gewinnt die ,sapientia rectrix zugleich ihre entscheidende Spezifikation und wird zur ,prima philosophia, inquantum primas rerum causas considerat, zur ,metaphysica, inquantum considerat ens et ea quae consequuntur ipsum, zur ,scientia divina sive ,theologia, inquantum praedictas substantias (spirituales) considerat.10 Das ens commune als Ausgangspunkt der Metaphysik ist der Mglichkeit nach der partikulren Verwirklichung der Sinnendinge schon entrckt und verweist von sich aus auf das immaterielle Sein einer potentiellen Vernunft, die als hypostasiertes ens per se schlielich nur in der alles umfassenden, alles sinnenhafe bersteigenden, schlechthin einfachen und einigenden Einheit des esse ipsum, d. h. in Gott gefunden werden kann. Deshalb ist Metaphysik potentiell und wesenhaft auch Theologie. Sind also Ziel und Ausgang dergestalt ineinander gewoben, da sie sich in der Einheit einer Wissenschaft begegnen, so mssen notwendig alle mglichen Stadien und Weisen des Vollzugs in der potentiellen Einheit der Subjektbestimmung der Metaphysik gegeben sein, jede mgliche weitere Bestimmung und Differenzierung des ens per se aber ihrerseits auf die sie begrndende ratio universalis des Ausgangs zurck- und zugleich mehr als diese auf das letzte Ziel einer Theologie hin fortweisen.11 In der Allgemeinheit, natrlichen Bekanntheit, Allgemeingltigkeit der ersten Grundstze bestimmt sich das Apriori aller mglichen Wissenschaft. Seiendes und Nichtseiendes, Ganzes und Teil, Gleiches und Ungleiches, Selbiges, Verschiedenes und hnliches sind die formalen Charaktere der principia communia. Durch sie geschieht die Bestimmung des Begriffs von Sein und des Einen, als ein commune analogum. Durch es hindurch weisen aber die formalen Bestimmungen ber sich hinaus auf die Substanz als das dabei wesentlich Angezielte. Die ,formale Ontologie steht so im Grunde immer auer ihrer rein formalen Allgemeinheit, dieweil sie von Grund aus durch die Analogie ihrer Begrifflichkeit aus sich selbst in die seienden Grnde verwiesen ist und als Metaphysik auerhalb der grundlegenden Bezge auf die reale Substanz gar nicht mglich ist.12 Deshalb kann Siewerth sagen: Metaphysik ist daher von ihren Prinzipien her als Wissenschaft vom ens commune gleich-ursprnglich Wissenschaft von der Substanz.138 9

A. a. O. 9. In diesem Band S. 53. A. a. O. 54. 9 A. a. O. 11. In diesem Band S. 56. A. a. O. 54. 11 A. a. O. 10. In diesem Band S. 55. 12 A. a. O. 11. In diesem Band S. 56. 13 Ebd.10

15

Substantialitt begrndet die analoge Einheit des Seinsbegriffs und damit das Subjekt der Metaphysik. Wenn aber Substantialitt als transphysische Idealitt und Realitt zugleich gefat wird, erscheint das schwerwiegende Problem, wie denn die sinnlichen Substanzen zu bestimmen sind. Die natrlichen Dinge geraten in den Sog des verschwindenden Scheinens und Verlschens. Materialitt wird von Siewerth durchaus von Geist her interpretiert. Soweit die ratio einer ,universellen Realitt, ohne welche die ,universelle Substanz nicht gedacht werden kann, der partikulren begegnet, kann sie diese daher von vornherein nur hinsichtlich einer formalen Allgemeingltigkeit erfassen. Die sinnlichen Substanzen sind daher unter das Subjekt der Metaphysik nur begriffen, ,inquantum sunt substantiae aut entia und ,inquantum per eas manducimur in cognitionem substantiarum immaterialium. Bei den sinnlichen Substanzen zu verweilen, hiee fr die Metaphysik, sich einer leeren, konfusen ,Abstraktheit anheimgeben, so da hier die Ebene einer rein ,formalen Ontologie und das begriffliche Erfassen sinnlich anschaulicher Data partikulren Seins im Sinn der ersten Philosophie ineinandergehen, da das philosophierende Zublicken gleichsam blind ist fr eine materielle Vereinzelung und ihrer nur in einer konfusen Allgemeinheit inne wird. In der Welt der substantialen Realitt hat nun, nach der vorgegebenen potentiellen Einheit des ens commune im Ausgang, die zweite entscheidende Konzentration aller gewonnenen Arten und Weisen des Seins statt, die mit Aristoteles in der Herausarbeitung des intelligiblen Formengrundes geschieht. Die der Metaphysik als einer Wissenschaft wesentliche Reflexion auf das Erkennen treibt dabei voran in die Grnde der Mglichkeit einer universellen Konzeption der individuellen Wesensform in der Seinsweise der zweiten Substanz.14 Diese bestimmt sich durch die aktuale Form. Also erfahren wir die Sinnendinge durch sie hindurch und fhren sie durch Akt und Potenz, Grund und Effekt auf ihre einige Herkunft zurck. Das Erkennen selbst, seinem universellen Wesen nach offenbar in der Universalitt seiner nach der Weise seines Seins rezipierten ,species et genera, erlangt mit der Offenbarkeit der forma separata die ihm selbst eigene Weise des Seins. Mit ihm sichert es zugleich den ,ordo perpetuitatis in rebus, die ,Unbeweglichkeit und ,Unzerstrbarkeit des Seins selbst und ermglicht eine dritte Sammlung der Wissenschaft der Metaphysik auf sich selbst als auf die ihr wesenseigenen Grnde und Prinzipien. Metaphysik bekommt die realen Grnde ihrer eigenen Wirklichkeit, die von den Prinzipien her sie selbst als verstehendes Geschehen ermglichen, in den Blick; sie gewinnt das Sein der Vernunft, das reale universelle Wesen der idealen universellen Prinzipien, sie erfat im erkennenden Sein das Wesen von formaler, subsistierender Essenz schlechthin und damit die metaphysische Einheit von Universalitt, Idealitt, Notwendigkeit und Wesenhaftigkeit mit dem actus essendi. Aber nicht nur die Immaterialitt der wirklichen transphysischen und daher Metaphysik ermglichenden Vernunft wird offenbar, sie ist zugleich vor die Aufgabe gestellt, die Weise zu bestimmen, wie sie als menschliche Vernunft zu den substantiae separatae sich verhlt, d. h. sie erklrt Grund und Wesen der transphysischen Potentialitt des Seinsbegriffs und der Prinzipien.15 Das Denken selbst weist auf den Geist als causa finalis vor und zurck. Es ordnet sich selbst, indem es sich selbst nach der Art des Grundes und Ziels innerlich bewegt. Hier ist der Ort, von dem her Siewerth die durch Thomas berlieferte Seinsbestimmung entschiedener zu klren versucht. Die Finalitt des Denkens jedoch gehaltlich schrfer zu fassen und damit das Wesen unserer Erkenntnis als transzendentaler zu klren, hat Thomas in seinem Werke nirgend ausfhrlicher versucht.16 Gerade aber durch die Klrung der transzendentalen Grundbestimmungen des Seins erhlt das analoge Gefge des ens commune seine entschiedene Bestimmung. Die Errterung der transzendentalen Seinsweisen und Bestimmungen ermglicht die Durchsicht und Klrung aller Verhltnisse und fhrt sie auf die reale Substanz zurck. Durch die Errterung des transzendentalen Grundes ergibt sich erst die Mglichkeit, Metaphysik als systematische Einheit zu fassen und auszubilden. Die formale Ontologie von vornherein an die reale Substanz verwiesen, welche tempore, secundum definitionem et secundum cognitionem prior ist als das Accidens und jede entsprechende konfuse Begrifflichkeit eines ens particulare, findet in diesen Grundweisen ihren wesenhaften Gegenstand. Ihre hinreichende Bestimmung ist die notwendige Voraussetzung fr Metaphysik und Wissenschaft berhaupt. Sie sichert jene bereits geforderte Mglichkeit einer vorausgefaten und im Entwurf durchgehaltenen Vorstellung der potentiellen Einheit des Ganzen, aus welchem die Problematik erwchst, in welchem sie sich entfaltet und auf welches die Antwort als Bestimmung selbst zurckfllt.17 Antworten knnen die Dinge aber nur so, da sie das fortlaufende Echo jener obersten Seinsbestimmung sind, die sich in allen genera und species entis14 15

A. a. O. 12. In diesem Band S. 57. A. a. O. 12. In diesem Band S. 58. 16 Ebd. 17 A. a. O. 14. In diesem Band S. 58

16

wiederholt. Ens dividitur per actum et potentiam. Diese Aufspaltung der begrifflichen Einheit des ens per se in das aktepotentielle Gefge seiner entweder aktuell erfaten oder potentiell gemeinten und intendierten analogen Seinsweisen ermglicht die gehaltliche Erfllung der formalen Allgemeinheit ontologischen Denkens. In der analogen Einheit des Begriffs hat das formale Denken die formale Realitt und Aktualitt, die seiner formalen Allgemeinheit wesentlich adquat ist und seiner konfusen Potentialitt die gehaltliche Bestimmung bedeutet, immer schon eingeschlossen.18 Die Entschiedenheit des Seinsentwurfs wird erst gewhrleistet durch das in mannigfache Abwandlungen laufende Akt-Potenz-Gefge, das in den ber-, in- und untereinander geschichteten Analogien aufscheint. Akt und ,Potenz ist jenes Begriffspaar, in welchem sich die reale Einheit und reale Geschiedenheit des Seins ontologisch bestimmen lt, ist daher zugleich jene formale ratio, kraft welcher jede irgendwie in sich selbst begrenzte Erfahrungsgegebenheit sich der Allgemeinheit des Seins einordnet und einer metaphysischen Bestimmung zugnglich wird.19 Siewerth macht darauf aufmerksam, da sich bei Thomas das Problem der akt-potenziellen Einheit der ratio entis wesentlich verschrft, weil er den Akt selbst von der Form abscheidet. Daher erscheint bei ihm die Form als die erste Form von Potentialitt des Aktes selbst. In welchem Gehaltlichen die Mglichkeit einer Abscheidung des Aktes von der Form, des Seins vom Logos begrndet sei, wird allerdings bei Thomas nicht mehr Problem. Seine Motive liegen im Theologischen, insofern es von ihm her gefordert war, das esse ipsum des actus purus als schpferischen Grund allen Seins vom Geschaffenen selbst hinsichtlich der ratio des Seins abzuscheiden und die gesamte formale Wirklichkeit geschaffenen Seins als potenziell, d. h. als irgendwie nichtseiend zu begreifen. Auch das Problem, welches damit als das vielleicht schwierigste einer Erkenntnismetaphysik aufgegeben ist, kommt bei Thomas nicht mehr entscheidend zum Austrag: wie denn Erkennen selbst im Grunde zu bestimmen sei, wenn es als Ausgang und Ziel seiner gesamten Begrifflichkeit und seines Begreifens im ens qua ens einem Gehaltlichen gegenbersteht, welches das immanente Wesen des formalen Logos schlechthin und wesenhaft bersteigt.20 Es ist nicht verwunderlich, da sich an diesem Punkt fr Siewerth selbst das metaphysische Bedrfnis ausspricht: den Hiatus jener obersten Seinsdifferenz selbst in die Reflexion zurckzuholen, um Metaphysik und Theologie in ihrer aufbrechenden Differenz im Grund des Seins und Denkens Gottes zu vershnen, wozu der Mensch durch seine Erkenntnis befhigt sei und zureiche. Menschliches Erkennen wird deshalb in diesem Horizont einer mglichen Gotteserkenntnis Thema. In der Erfahrung und Bestimmung des menschlichen Geistes vollzieht sich die eigentliche Kontraktion der formalen Prinzipien des Ausgangs, vollzieht sich vor allem die inhaltliche Bestimmung von Substantialitt und Realitt, wie sie sich im Durchlaufen der analogen Verhltnisse anzeigt. Menschliches Denken ist von den transzendentalen Strukturen des analogen Kompositions- und Kontraktionsgefges des akt-potenziell differenzierten Seins durchstimmt. Dieses Gefge ist der Grund der Mglichkeit aller Erkenntnis berhaupt. Daher bringt die Errterung der transzendentalen Begriffe von Akt und Potenz (forma-materia), causa-effectus, intelligens-intelligibile (verum), unum-multum, perfectum-imperfectum menschliches Erkennen an jenen Ort, von wo aus es an das Wesen Gottes rhren und zugleich sich selbst und die Welt der geschaffenen Dinge berblicken und durchschauen kann. Es ist aber ein zweifaches Bedrfnis, das Siewerth gegenber der Metaphysik des Thomas herausstellt. Es gehe nmlich nicht einfach darum, die erscheinende Welt als Ausflu und Setzung eines letzten Grundes zu begreifen. Sie habe ihr eigenes Gewicht und ihre eigene Weise zu sein. Die Errterung der in ihr liegenden aktpotenziellen Verhltnisse komme bei Thomas zu kurz. Zum anderen finde sich die einheitliche durchgegliederte Bestimmung der Metaphysik bei Thomas nicht. Gerade das analoge Gefge des Ganzen in seiner gesammelten Einheit ermgliche eine, systematische Durchdringung seiner selbst und jeder mglichen Gegebenheit der Erfahrung. Diese ausgezeichnete Mglichkeit der Metaphysik ist von Thomas nur innerhalb der Grenzen formaler Allgemeinheit verwirklicht, dieweil bei ihm die apriorischen Bestimmungsgrnde des Seins aus der formalen Allgemeinheit des Ausgangs nicht entscheidend genug herausgehoben werden, die fortschreitende Bestimmung sich nicht mit bewutem Streben der allgemeinen ratio des Seins eingliedert und so diese selbst als gesammelte Einheit des bestimmten Seins zur weiteren Bestimmung ,systematisch fruchtbar werden 1t. Schon die literarische Form der ,summarisch theologischen Werke lie eine genuin systematische, aus der potentiellen Ganzheit des Seins her anhebende, ins Ganze des Seins eingekehrte und es in sich selbst tiefer zusammenschlieende philosophische Entfaltung der Problematik nicht zu.21 Siewerth blickt vom neuzeitlichen18 19

A. a. O. 59. A. a. O. 15. In diesem Band S. 60. 20 Ebd. 21 A. a. O. 17. In diesem Band S. 62

17

Systemgedanken auf Thomas zurck. Von ihm aus erscheint die Metaphysik des Thomas noch nicht auf den Begriff gebracht. Wenn sie sich aber vor dem neuzeitlichen Denken rechtfertigen will, dann mu sie in einem einheitlichen Zug durchgestaltet werden, da ihr Bau an sich selbst durchsichtig und klar heraustritt. Dies machte sich Siewerth zur eigenen Aufgabe. Darin liegt seine produktive Leistung und zugleich der Anspruch seines Denkens. Man mag sich nicht recht mit dem Systemgedanken abfinden wollen, wie er aus Thomas von Siewerth entwickelt wurde, zumal es ihm darauf ankam, die bei Thomas auftauchende Differenz von Glauben und Wissen so zu schlieen, da der Glaube von sich aus die Mglichkeit erhlt, sich im Wissen wiederzufinden und aufzuheben, an sich selbst wissend zu begrnden. Thomas lie diese Differenz offen. Dies erscheint uns heute eher als ein Vorzug denn als Nachteil. Denn der Systemgedanke der Neuzeit geriet gerade in der Bestimmung des absoluten Wesens menschlichen Erkennens in die Krise, die auf verschiedene Weise offen zutage trat. In ihr machte das Denken mit sich selbst die Erfahrung seiner endlichen Bestimmung, die es nicht mehr verliert und die es heute dazu zwingt, sein Verhltnis zum Absoluten anders zu errtern. Fr Siewerth ruht das Erkennen selbst von seinem Ausgang her im ens commune als einer schon begriffenen ratio. Das Seiende in seiner Allgemeinheit ist im Seinsverstehen der menschlichen Vernunft aufgegangen, und die Wahrheit des Seins bezeichnet den einigen Sachverhalt von Wahrsein und Seiendsein. Das verum als ens transcendentale entfaltet sich mit dem ens per se selbst im differenzierten Analogiegefge und folge dabei als ens intelligens und intelligibile der divisio entis secundum actum et potentiam. Von den Grundweisen seines Seins her vollzieht sich die wesentliche Befragung, Deutung und Bestimmung jedes reprsentierten Erfahrungsgehalts im Sinn einer Metaphysik der Erkenntnis.22 Es ist gleichsam der Bogen des Seins, der sich von den ersten Prinzipien als naturaliter abstracta in ihrer apriorischen formalen Universalitt ausspannt hin zur partikulren Wirklichkeit sinnlicher Erfahrung. Diese weist zurck auf das transzendentale Seinsverstndnis, das sich selbst in seiner hchsten Mglichkeit kontrahiert in dem alle Differenzen umfassenden, bergenerischen ens per se, das als solches unmittelbar auf die Einheit Gottes weist.23 Da das esse intelligens und intelligibile der formal bestimmende Wesensgrund des Seins selbst ist, stellt sich die Frage nach dem Sein des Seienden, nach der Substanz in der Einheit mit der Frage nach dem Wesen des Logos berhaupt. In der Exposition einer Metaphysik der Erkenntnis, die die Metaphysik in ihrem wahren Wesen ist, zeigen sich deshalb folgende Zge: Erkennen geht aus der rezeptiven Potentialitt ber in seine finale Vollendung. Diese ist das natrliche Apriori aller mglichen Erkenntnis und ist durch seine principia naturaliter nota Ausgang und Rckgang aller Erkenntnis berhaupt. Als ens per se steht es ber jeder mglichen erfahrbaren Bestimmung des Seins und ermglicht zufolge seiner akt-potenziellen Scheidung alles mgliche Begreifen von Sein. Die Analogie des Seins ist nmlich der Name fr jenen einzigen Sachverhalt: da das Sein selbst in seine eigene Tiefe zurckreicht und vorweist in das uere der Erfahrung. Es ist der Vorgang der metaphysischen Begrndung der Erfahrung. In ihr ruht das Wesen der menschlichen Erkenntnis, das an sich selbst jene Bewegung vollzieht, da es sich immer ausholender differenzieren, zugleich aber auch immer entschiedener sammeln mu auf seinen einigen Grund, der sich als die Gewalt systematischen Denkens offenbart. Zu diesem Grund hin verhlt es sich dauernd fragend; auf ihn zu ist es immer unterwegs. Erst dann kommt das Erkennen ,,zur Ruhe der Selbstvollendung, wenn es die sinnlichen oder die in der geistigen Spezies sich reprsentierenden Gehalte aus ihren Ursachen begreift.24 Alle menschlichen Vermgen reichen in die vollkommene operatio des Geistes zurck, werden von ihm her umfat und durchdrungen. Menschliches Erkennen einsehen heit deshalb nichts anderes als den radikalen Rckgang zur Frage nach der Einheit des Geistes selbst25 vollziehen, heit, die Potenzen in der Einheit der Seele zu einigen, was die fundamentalen Probleme des Verhltnisses von Akt und Potenz, Form und Materie berhrt. Menschlicher Geist weist auf sein innerstes Prinzip zurck, auf die reine Aktualitt, welche als principium remotum sich berneigt (inclinatio), alle Potenzen aus sich heraussetzt und diese zugleich wieder in die Einheit des totum potestativum zurckfhrt und umfat. Die Seele verhlt sich primr als formaler Grund, dem die Potenzen als ihrem Prinzip entflieen. Es handelt sich hier nicht um eine Durchformung oder Verwandlung des Grundes der Seele. Thomas gebraucht dafr den Terminus der naturalis resultatio. Dies ist jener bedeutsame Vorgang der Verursachung, von dem her berhaupt der Entwurfsbereich und die Konstitution der menschlichen Erkenntnis fr Siewerth zumal berblickbar wird. Siewerth weist fters darauf hin, da Thomas die dialektische Entfaltung der22 23

A. a. O. 18. In diesem Band S. 63. A. a. O. 19. In diesem Band S. 64. 24 A. a. O. 21. In diesem Band S. 66 25 Ebd.

18

Notwendigkeit eines kausativen, mehrere Potenzen aus sich setzenden und in sich haltenden Prozesses auf Grund der Zusammensetzung der Seele aus dem Akt des Seins und der Potentialitt der Wesensform nirgends zwingend und zusammenhngend durchgefhrt hat.26 Gerade seine Aufgabe ist es deshalb, die grundstzliche Unbestimmtheit und Unklarheit,27 die er bei Thomas findet, durch die potentielle Einheit der gesammelten Wesensbestimmungen in der bestimmteren Fassung des Grundes aufzuheben. Siewerth stellt dar, wie der Proze der metaphysischen naturalis resultatio mit dem Akt der Form von oben her anhebt und zunchst, soweit es die reine Form zult, die geistigen Vermgen entfaltet, dann aber niedersteigend im materialen Substrat via generationis zuerst zur Vollendung der sinnlichen Potenz gelangt, in der sich dann in seinem rezeptiven Grund, der einer sinnlichen Ergnzung bedrftige Intellekt in der letzten Vollkommenheit eines menschlichen Vermgens konstituiert.28 In derselben Weise aber, wie sie mit dem Intellekt das Formenprinzip aufspaltet und ausbreitet, umgreift und gestaltet es als causa formalis und receptiva, von oben her aus dem Innern seiner selbst und von unten her in wesenhafter Einheit mit der tragenden Kraft der ersten Materie, die Vermgen in wesenhafter Einheit und Durchdringung zum wirkungsfgigen Ganzen.29 Da aber der Formgrund der Seele mit dem Zweckgrund zusammenfllt, weil die Potenzen um der Einheit des Menschen willen sich bilden, erscheint die Seele in der immanenten Entfaltung ihres Seins immer zugleich in das eigene innere Wesen gekehrt, so da das Auersichtreten der Form als Seinsvervollkommnung im Grund ebensosehr ein tieferes Innewerden ihrer selbst in den sich zu lebendiger Ttigkeit ablsenden Krften bedeutet, ja, die Subsistenz der Geistform hat ihre metaphysische Mglichkeit berhaupt nur in der finalen Reflektion der immanenten Akte, wodurch sie in sich selbst zur Ruhe kommt und sich nicht an ein ergnzendes Substrat haltgewinnend verlieren mu.30 Siewerth stellt diesen einfachen Sachverhalt heraus, den er in der Errterung der naturalis resultatio zur Sprache bringt. Es ist die Reflexion des Grundes der Seele selbst in ihrer Urschlichkeit als Form, als Zweck, als Aktivitt, Urbildlichkeit und Rezeptivitt. Er umfat das Verhltnis der Geistform gegenber den in ihr subsistierenden Vermgen.31 In der Herausstellung dieser Verhltnisse in ihrer apriorischen Ermglichung und Differenzierung beruht das Wesen der Analogie. Die Vermgen der Seele erscheinen im Intellekt fundiert, durch ihn ermglicht, unter ihm und fr ihn formiert und ordiniert. Nur auf dem Grund dieser Einheit und Abhngigkeit der Vermgen, die zugleich ihrer metaphysischen Geschiedenheit und Selbstndigkeit Rechnung trgt, lt sich die aktive Urschlichkeit der intellektuellen Ttigkeit gegenber sinnlichen Bewegungen, berhaupt die metaphysische Struktur des Erkennens als eines actus humanus ontologisch entfalten.32 Der Sinn selbst, als ein Vermgen der Vernunft, hat sein Erkennen aus ihr, in ihr und fr sie. Sie sind zwar real geschieden, aber zugleich durch die Formkraft des Intellekts geeint. Die Vernunft ragt in die Sinnenwelt hinein und lt von ihr her jeden sinnlichen Akt bestimmt sein. Die Vernunft ruht im Grund der Sinnlichkeit und erwacht in jedem sinnlichen Akt zur geistigen Ttigkeit und enthllt den ueren materiellen Effekt durch einen immanenten abstrahierenden Proze in seiner formalen und notwendigen Bestimmtheit. In der Frage nach dem Grundakt der menschlichen Vernunft33 tritt fr Siewerth das Problem des intellectus principiorum, des intellectus quod quid est, der diskursiven ratio, des imperium rationis, des phantasmabildenden Intellekts, des intellectus agens als intellectus illuminans et informans, der opinatio, der ratio singularis oder der cogitatio zutage. Siewerth greift diese Fragen in verschrfter Fassung in den spteren Arbeiten auf. Die naturalis resultatio ist indes jener Sachverhalt, da die Vernunft die Bewegung der Sinne als die ihre im eigenen Scho hat und um sie wei. Es ist die Konstituierung eines formal-materialen, substantialen, wesenhaft einigen Ganzen, innerhalb dessen umfassender und durchgreifender Einheit die Zwiespltigkeit und lebendige Spannung zweier freier, ebenso wesenhaft in-, unter-, fr- wie nebeneinander gesetzter Vermgen und ihrer Ttigkeiten Raum haben. Gegrndet ist dieser Zusammenhang der Potenzen auf die Ursachbeziehung der Form, des Zwecks, des Urbildes und der Bewegung einerseits und der materialen Gegenwirkung und Mitwirkung in ihrer mehrfltigen schwankenden Gestalt anderseits.34 Die Frage nach der Konstitution der Erkenntnis fhrt notwendigerweise in die Grundfrage nach der mglichen Einheit und Ganzheit des Seins zurck, welches26 27

A. a. O. 25. In diesem Band S. 70. A. a. O. 30. In diesem Band S. 76. 28 A. a. O. 27. In diesem Band S. 71. 29 A. a. O. 72. 30 A. a. O. 28. In diesem Band S. 73. 31 A. a. O. 29. In diesem Band S. 75. 32 A. a. O. 35. In diesem Band S. 81. 33 A. a. O. 38. In diesem Band S. 84. 34 A. a. O. 43. In diesem Band S. 89.

19

die Grundfrage der Metaphysik bleibt. Siewerth errtert diese Frage in seiner Dissertation im Hinblick auf das Wesen des sinnlichen Aktes. Er wollte in ihm vor allem die naturhaft geistige Rezeptivitt, d. h. die apriorische Vollendung mit dem Grund aller Natur herausarbeiten, die unter dem Titel der naturalis resultatio befat ist. Er umschreibt in 21 Kapiteln den Gesamtbereich der sinnlichen Erkenntnis. Da in der Exposition von Siewerths Seinsentwurf, wie er sich in seiner Dissertation darstellt, auch schon alle Fragen genannt und in nuce aufgeworfen sind, die fr ihn spter Thema werden, kommt es nur noch darauf an, die einzelnen Fragebahnen der in diesem Band versammelten Schriften hier andeutend herauszuheben. ,,Die Wahrheit in der thomistischen Philosophie, eine Arbeit, die Siewerth zwischen seinen anfnglichen Hegelstudien und der Freiburger Habilitation verfate, steht unter der leitenden Frage nach der transzendentalen Allgemeinheit des Grundes aller Erkenntnis berhaupt. Darin wollte er jene Ebene umreien, von welcher her das geschaffene, schlechthin rezeptive Vernunftwesen als ganzheitliche, apriorisch vollendete, den Grund und die Mglichkeit aller Rezeptivitt enthaltende Natur begriffen und der ganze Reichtum der apriorischen Wesensstruktur als notwendig und einig gegliedertes Gefge dargestellt werden kann. Siewerth kommt es dabei darauf an, die Rezeption selbst, insofern sie das ursprngliche transzendentale Seinsverstndnis konstituiert, in der ursprnglichen intuitio principiorum aufzuweisen, in welchem Akt der Mensch die Vollendung der Natur des reinen Geistes erreicht. Nicht das Sein ist eingeboren, die Vernunft ist ursprnglich in das Sein eingeboren und darin als wahre Vernunft gesetzt. Siewerth zeigt, da der geistige Grund gerade dadurch in sich grndet, da er seine Potentialitt ursprnglich auf den Akt der Natur hin entwarf, um sich von dorther als Akt fr sich selbst zu haben. In der Enthllung der Reflexion auf die Wahrheit entfaltet und durchmit Siewerth das mannigfaltige und reiche Wesensgefge der Selbsterkenntnis der Seele. Alle Wahrheit steht ursprnglich in der Selbstgewiheit des transzendentalen Subjekts; in dieser Enthllung selbst aber wei sich das Subjekt identisch mit dem ursprnglichen Entwurf des Seins an sich selbst. Alle Wahrheit ist Selbstenthllung des Geistes, in der Wahrheit partizipiert der Geist am Sein selbst. Die Seele erschliet sich gleichursprnglich zum Sein vom Sein her, im Sein auf die Entfaltung des Seins hin. Diese Selbsterschlieung ist immer schlechthin verwirklicht und mit ihr die Wahrheit. Alle thematische Erfassung der Wahrheitsbeziehung ist daher entweder nur Besttigung oder Erinnerung einer ursprnglichen Selbstgewiheit des erkennenden Subjekts. Es ist leicht zu sehen, wie Siewerth in dieser Arbeit die naturalis resultatio auf die Ebene der Exposition der transzendentalen Subjektivitt gehoben hat. Das Wesen des Irrtums wurde mit der Freiburger Habilitationsschrift ausgearbeitet. Die Differenz, in der die Identitt von Denken und Sein steht, kennzeichnet die Vernunft als den Ort absoluter Wahrheit, im Moment von deren Erscheinen als den Platzhalter des mglichen Wesens des Irrtums. Das Falsche entspringt der hnlichkeit des Wesens. Grund des Irrtums ist die hnlichkeit. Die Einheitsformen knnen verwechselt, sie knnen gleichgesetzt und nivelliert werden. Tuschung grndet in Vertauschbarkeit. Das spezifisch Falsche liegt in der Differenz der Erscheinung als differenter, insofern die hnlichkeit als Unhnlichkeit oder die Unhnlichkeit als hnlichkeit erscheint. Das Seiende ist wesenhaft zwielichtig. Je tiefer eine Wesenheit grndet, um so reicher ist der Schein, um so reicher die mgliche Verstellung. Aber nur weil die Erscheinung das Wesen enthllt, kann dieses im Schein des Unwesens stehen. Der Schein ist dem Wesen nicht gewachsen. Irrtum ist nur mglich auf dem Rcken der Wahrheit. Er steht notwendig in der Form der Wahrheit, hat so eine innere Gesetzmigkeit und einen ursprnglichen Bezug auf die Wahrheit des Seins, die seine Logik ausmachen. Die Aprioritt der menschlichen Erkenntnis nach Thomas von Aquin ist der erste Teil von Siewerths Freiburger Habilitationsschrift. Sie entwickelt die gesamten apriorischen Strukturen der menschlichen Erkenntnis. Hier geht es Siewerth um das Problem der vermittelnden Sinnlichkeit, das er von den Vermgen her, von den Erkenntnisakten, den intendierten Erkenntnisakten und von den aufgefaten Erscheinungen der Objekte exponiert. Den Schlu der Arbeit bildet die Herausarbeitung des Schematismus der sinnlichen Erkenntnis, in dem er sich von Kant abgrenzt. Gleichheit-hnlichkeit wurde vermutlich kurz vor der Ausarbeitung der Analogieschrift verfat. Diese kurze Abhandlung sollte als Exposition und Einfhrung in das Analogieproblem genommen werden.20

Die Analogie des Seienden ist unvollendet geblieben. Zwei Entwrfe unter dem Titel Analogie des Seins und Die Analogie befinden sich im Siewerth-Archiv in Freiburg i. Br. Siewerth betont in der Analogieschrift die attributive Analogie. Dies zufolge der reinen Positivitt des Seins. Analogie ist denkende Rckkehr in Gott. Sie richtet sich gegen jeglichen Pantheismus wie Theopanismus. In Definition und Intuition zeigt Siewerth, da alle Logik in der Metaphysik grndet, da die Dinge am Ma des Seins gemessen werden und im Urteil so ausgesagt werden, da das Wesen der Sache selbst erscheint und gegen allen Schein sich abgrenzt. Der Urteilsvollzug vollzieht sich als Ineinsschau, Zusammenschau und Einschau, als reine Einsicht. Die mathematische Auslegung der Natur lt den Reichtum ihrer Erscheinungen nicht mehr zu und reduziert sie auf das quantitativ Bestimmbare. Die hypothetische Axiomatik gewinnt den Rang der intuitiven Prinzipien. Das regelnde Ma des Denkens nach Regeln der Richtigkeit, die Synthesis des rationalen Diskurses wird zum eigentlichen Wesen des Urteils und der Erkenntnis. Siewerth setzt sich vor allem mit Kant auseinander und zeigt, da dessen Interpretation der Erkenntnis nach dem Techne-Modell entworfen ist. Kants Kritik der reinen Vernunft erscheint Siewerth als ein groer Versuch, aus dem rationalistischen Begriffserbe einer logischen, mathematisch-naturwissenschaftlichen Technik her das Wesen der menschlichen Erkenntnis zu erhellen und diese selbst als rationale Technik einer apriorischen Synthesis zu erweisen.35 Es mag sein, da unser spezialisierter Wissenschaftsbetrieb uns gefangenhlt und beirrt durch Begriffe und abgelste Phnomene. Die transzendentale Struktur des Raumes kritisiert den kritischen Realismus. Es geht Siewerth vor allem um die Wiedergewinnung der verlorenen Qualitten in der Natur, um das Verstehen von Natur in ihrer ursprnglichen Erscheinung. Die Abstraktion und das Sein nach der Lehre des Thomas von Aquin versteht sich als Auseinandersetzung mit dem modernen Begriffsrationalismus und Logizismus und fhrt in die zentralen Probleme der Metaphysik ein. Die transzendentale Selbigkeit und Verschiedenheit des ens und des verum bei Thomas von Aquin zeigt, wie die spekulative Auffassung der Verschiedenheit des Seins und des Wahren in der ursprnglichen Einheit beider gehalten wird. Wahrheit ist wesenhaft durch das Nichtsein im Geist ermglicht. Siewerth fragt danach, wie Nichts, Denken und Sein berhaupt zusammengehren. Die transzendentale Selbigkeit des ens und des bonum erweist das Gute als berwindung der Differenz von Wahrheit und Sein in mehrfltiger Weise. Das Gute ist transzendentaler als das Sein und das Wahre, ist das Hervortreten der letzten Tiefe des Seins. Siewerth sagt, da Gott selbst im Guten die Wesen durch sein hchstes Gleichnis, das Sein, zu sich selbst gerufen habe. Gewilltsein zu Gott ist ein von Gott im Innersten unseres Wesens entfachtes Feuer, ist Nichtsein, Empfangen, Entwerden. Das Sein als Gleichnis Gottes ist gewissermaen eine summula von Siewerths Denken. Diese Abhandlung versucht in gesammelter Weise die Herausstellung und Klrung des Seinsverstehens und seines Verhltnisses zum Denken Gottes.

FragenEinen philosophischen Gedanken vom augenblicklich vorherrschenden Zeitgeist bestimmt sein zu lassen, kme nichts anderem gleich, als die Philosophie der Tagesmeinung auszuliefern. Man kann auch nicht einfachhin behaupten, dieser oder jener Gedanke habe seine Zeit gehabt und knne deshalb vergessen werden. Er hat seine eigene Zeit und lebt wesentlich aus der Kraft der Erinnerung und Besinnung der Menschen. Nun ist es aber das Eigentmliche des Siewerthschen Denkens, da es sich eigentlich nur auf dem Boden der christlichen Offenbarung vollziehen lt. Im 11. Abschnitt von Sein als Gleichnis Gottes, der den Titel trgt Die theologische Ermchtigung des Seinsdenkens, sagt er: Es gilt freilich rckschauend sich zu vergegenwrtigen, da dieses Gleichnis sich nur lichtete im Offenbarwerden des35

G. Siewerth, Grundfragen der Philosophie im Horizont der Seinsdifferenz, Dsseldorf 1963, 39. In diesem Band S. 546.

21

Grundes selbst. Nur im Licht der Offenbarung war es mglich, philosophierend all das zu versammeln, was im Denken des Aquinaten in schier bermenschlicher Universalitt im Sein des Seienden vereinigt wurde.i Nicht aus eitler Besserwisserei und allzu klugem Bescheidwissen, sondern aufgrund dieses Ansatzes von Siewerths Denken mag auf ein Problem hingewiesen werden, das unter dem Namen theologische Metaphysik luft. Siewerths Bestimmung des Seins ist reinste Positivitt; sie terminiert in der Substanz, die zuhchst als actus purus erscheint. Die christliche Schpfungslehre ist Grund der Mglichkeit dieses philosophischen Ansatzes. Alles, was ist, ist aus Gottes schpferischer Macht, aus seinen Hnden hervorgegangen und mag durch den Menschen wieder zu ihm zurckgefhrt werden. Es ist der kreisende Kreis einer sich rckholenden Entuerung, in welcher der ewige Entschlu Gottes, der sich selber anzielt, seine Schpfung in ihrem transzendierenden berstieg in begnadender Freiheit zu sich selbst ermchtigt und bewegt.36 Es ist das Sein, das im wunderbaren Gleichnis des Lichts sich dem Vernehmen unmittelbar enthllt. Soweit das Sein selbst im Entstrmen rckspiegelnd entspringt (resultat), bringt es alle Wesen als die Offenbarung seiner Flle in die gttliche Helle seines einigenden Leuchtens und ist Licht im eigentlichen und ursprnglichen Sinn.37 Der Sinn des Seins ist der, da er Weg ist zu Gott.38 Nichts mag aber unser Zeitalter so sehr kennzeichnen, als da es den Namen Gottes nicht mehr nennt, weil es ihn nicht mehr kennt, nicht mehr wei, wer eigentlich gemeint ist, wenn von Gott gesprochen wird. Wir sind gott-los geworden. Wir wissen nicht, worin die ewige Bestimmung des Menschen eigentlich liegen soll. Kann sich Siewerths Denken in dieser Situation noch zur Sprache bringen? Da es ,ewige Wahrheiten gibt, wird erst dann zureichend bewiesen sein, wenn der Nachweis gelungen ist, da in alle Ewigkeit Dasein war und sein wird. Solange dieser Beweis aussteht, bleibt der Satz eine phantastische Behauptung, die dadurch nichts an Rechtmigkeit gewinnt, da sie von den Philosophen gemeinhin ,geglaubt wird, sagt Martin Heidegger.39 Wir Menschen wissen uns nicht mehr von einer ewigen absoluten Macht getragen. Insofern stehen wir in einer gottlosen Welt, und diese erscheint uns nicht einmal mehr fragwrdig, sondern durch und durch von uns herstellbar und bestimmbar, in gewissen Augenblicken aber unheimlich, wenn wir danach fragen, wer wir eigentlich sind, woher wir kommen, wohin wir gehen, da der berlieferte Vterglaube uns keine Kraft mehr schenken kann. Und doch vertrauen wir fast grenzenlos auf unsere selbstgeschaffenen Machtmittel, auf die Wissenschaft und unsere technischen Leistungen und Mglichkeiten, auf unserer Hnde Werk. Wir sind offenbar durch den technisch-wissenschaftlichen Entwurf, darin unser Zeitalter lebt, absolut zu uns selbst gewillt und entschlossen. Als ob es fr das Wesensverhltnis, in das der Mensch durch das technische Wollen zum Ganzen des Seienden versetzt ist, noch in einem Nebenbau einen abgesonderten Aufenthalt geben knnte, der mehr zu bieten vermchte als zeitweilige Auswege in Selbsttuschungen.40 Aber ist dieser Wille und Glaube zur hchsten Perfektion des Menschen nicht selbst noch theologischer Abkunft? Worin mag er grnden? Wir hegen diesen Verdacht, in dem uns Nietzsche bestrkt, der im Aphorismus 344 der Frhlichen Wissenschaft schreibt: Doch man wird es begriffen haben, worauf ich hinaus will, nmlich da es immer noch ein metaphysischer Glaube ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht -, da auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein jahrtausendealter Glaube entzndet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Platos war, da Gott die Wahrheit ist, da die Wahrheit gttlich ist . . . Aber wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwrdig wird, wenn nichts sich mehr als gttlich erweist, es sei denn der Irrtum, die Blindheit, die Lge - wenn Gott selbst sich als unsere lngste Lge erweist?41 Wir fragen: Lassen sich die Probleme unserer geschichtlichen Konstellation durch eine Besinnung und Erinnerung in die theologische Metaphysik zureichend errtern? Kann der unbezweifelbare Boden der in Gott geborgenen Existenz ber diese Metaphysik wiederum betreten werden, so da die Menschen wieder anfangen, von ihm her ihr Leben aufzubauen?36 37

A. a. O. 74. In diesem Band S. 682. A. a. O. 75. In diesem Band S. 682 f. 38 A. a. O. 49. In diesem Band S. 670. 39 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tbingen 101963, 277. 40 M. Heidegger, Holzwege, Frankfurt 41950, 272. 41 F. Nietzsche, Werke in drei Bnden, Hrsg. K. Schlechta, 2. Band, Mnchen 1966, 208.

22

Heideggers Exposition des Daseins geht von der Faktizitt und Geworfenheit aus. Dasein ist durch und durch endlich. Es kann seinen gttlichen Ursprung nicht mehr erinnern. Es blickt nur vor auf seine mgliche Unmglichkeit im Sein zum Tode. Dasein durchschaut nicht mehr sich selbst; die Selbstbewegung des Daseins bricht ab im Tod. In ihm wird ihm nicht nur seine Sprache und sein Denken verschlagen; in ihm verschlgt es ihm seine ganze leibliche Existenz. In ihm verliert es sich selbst. Die Krise des Seinsdenkens hat hier berhaupt ihren Ort, da es den Boden der absoluten Reflexion, der absoluten Gewiheit und Selbstgegenwart verloren hat und nicht mehr betreten kann, von dem her Siewerth allerdings dachte. Sein ist blo die Position, sagt Kant.42 Aus dieser Grundstellung denkt die ganze Philosophie nach Hegel im 19. Jahrhundert, denkt vor allem unsere Zeit. Sie steht in schrfstem Widerspruch zu Siewerths Denken. Die sogenannte Frankfurter Schule nennt das Ganze das Unwahre. Sie weist hin auf die ungeheure Manifestation von Gewalt, Leiden, Unglck, Unfreiheit und sinnlosem Leben und verfllt der Skepsis und schlielich der Sprachlosigkeit. Aber die Hoffnung, da diese Welt nicht das Ende aller Mglichkeiten sei, berechtigt noch nicht zu dem Schlu, da eine andere Welt wirklich existiert.43 Solange die Welt ist, wie sie ist, hneln alle Bilder von Vershnung, Frieden und Ruhe dem des Todes.44 Ist ein Ausgang aus dieser Situation mglich? Was ist dein Ziel in der Philosophie?, fragt sich Wittgenstein. Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen.45 Aber wer fragt hier, wer antwortet und wer ist die Fliege? Kommt es uns heute darauf an, in dem Schein des Zeitlichen und Vorbergehenden die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwrtig ist, zu erkennen, worauf alle Metaphysik aus war?46 Der Metaphysik ging es immer nur um das Hchste, das Erste und Allgemeinste, neuzeitliche Metaphysik ist schlielich der Vollzug des Wesens des Absoluten selbst. Fr Siewerth bestimmte sich die Realitt durch das universelle Wesen der ideellen universalen Prinzipien. Von ihm her ist auch das Analogiedenken ermglicht. Die Analogie gehrt zur Metaphysik, weil das Seiende berhaupt dem hchsten Seienden entspricht, vor allem aber, weil die Metaphysik auf Entsprechungen, hnlichkeiten und Allgemeinheiten hin denkt. Und aus der Finalitt des menschlichen Geistes und deren innerer Notwendigkeit wurden die neuzeitlichen Systeme entworfen, insofern es darauf ankam, die Subjektivitt als absolute Seiendheit zu bestimmen. Im Systemwillen liegt das Mathematische beschlossen, insofern aus der absoluten Reflexion eine transzendentale Deduktion alles Seienden entspringt. Siewerth sah diese Konsequenz, htte aber abgestritten, da in seiner Errterung der Subjektivitt als transzendentaler Rezeptivitt diese Notwendigkeit verborgen liegt, wenn der actus purus als Gott erscheint, aber jetzt unter die absoluten Bestimmungen des Denkens selbst fllt. Insofern kann man von einer Gottesfinsternis des neuzeitlichen Denkens reden. Kann sie behoben werden? Kann das Denken wieder einen Zugang zu Gott finden, wie Siewerth ihn wies? Reicht das herkmmliche begriffliche Instrumentarium auch nur im geringsten zu, wie es von dieser Metaphysik entwickelt wurde, die lnkarnation Gottes denkend zu erfahren, welche die Christen glauben? Zeigt nicht schon die schwankende Bestimmung der Materie, wie sie bei Thomas vorliegt, auf eine wunde Stelle seines Denkens? Wird die Materie in dieser reinen Potentialitt gefat, so ist sie ein Nichts, sagt Duns Scotus.47 Wir leben in einer Leere der Zeit, die sich denkend kaum noch aussprechen lt. Da der Gott der Christen in der Gottverlassenheit starb, mag zugleich der spekulative Karfreitag aller theologischen Metaphysik sein. Im Basler Kunstmuseum steht eine Plastik Giacomettis: das Antlitz des Menschen. Es ist reine Dunkelheit, und seine Augen sind die Augen der Nacht. Indes leuchtet verschwiegen auf seinem Gesicht eine Galaxis von Sternen auf. Der Mensch ist die kosmische Frage. Er lebt heute in einer Weltnacht, die er von sich aus durch sein eigenes Denken, durch die absolute Reflexion, durch die totale Konstruktion der Wirklichkeit nicht erhellen konnte. Die Erfahrung des Denkens ist die seiner Armut. Indes, es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen48. Siewerth hat gewagt, den Namen Gottes zu nennen in einer Zeit, da die denkenden Menschen ihn verschweigen. Vielleicht wird einer kommenden Zeit einsichtig, da die Wrde des Menschen einzig42 43

I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 598, B 626. M. Horkheimer, Materialismus und Metaphysik, in: Kritische Theorie, Bd. I, Frankfurt 1972, 44. 44 Th. W. Andorno, Negative Dialektik, Frankfurt 1966, 372. 45 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt 1967, 309. 46 Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen ber die Philosophie der Weltgeschichte, Band I, Die Vernunft in der Geschichte, 32 ff. (Hoffmeister). 47 Ord. II, d 12, q 1, n 2; ed. Vivs XII, 546. 48 P. Celan, Atemwende (Fadensonne). Es 262, Frankfurt 1967.

23

davon bestimmt ist, in welchem Verhltnis zu den letzten Dingen er sich selbst hlt. Gott war fr Siewerth selbst die einzige und hchste Realitt. Von ihm her bestimmte sich der menschliche Geist als Leere, als Entwerden, als Nichts. Dessen mag man sich heute besonders erinnern, wenn man Siewerths Werk liest. Vielleicht kommt die Zeit, da die Sehnsucht in den Menschen erneut aufbricht, bei dem anwesend zu sein, der unser aller verschwiegenste und geheimste Sehnsucht ist, ob wir es uns heute eingestehen oder auch nicht.

24

VORWORTIn der Ausarbeitung der gestellten Aufgabe hatte der Verfasser mit dem Problem allen historischen Philosophierens zu ringen. Dabei erwuchs ihm in Methode und Zielsetzung der vorliegenden Arbeit eine spezifische Weise der Ausdeutung und Bewltigung des historisch berlieferten, die einige erklrende Vorbemerkungen verlangt. Die Errterung nimmt bewut Abstand von einer rein historischen Zugangsart zum berkommenen Geistesgut. Soweit es dieser angelegen ist, das in terminis zum Ausdruck Gebrachte so zu bestimmen, da der Sinn des Gesagten gem der bewuten Intention eines Denkers sich enthlle, drfte sie philosophisch weder eine echte Mglichkeit haben noch berhaupt von grerem Belang sein. Mag immerhin mit der Ordnung, Klassifizierung und Verdeutlichung eines Werkes vieles gewonnen sein, eine genuin philosophische Betrachtung sieht sich vorab und wesentlich vor die Aufgabe gestellt, bei der Aufweisung und Enthllung metaphysischer Lehren sich auf das volle Wesen dessen zu besinnen, was da als Metaphysik berhaupt begegnet. Jede Zugangsweise nmlich, die nicht acht hat auf das spezifisch philosophische Sein von Stzen und Abhandlungen, ist von vornherein der Gefahr ausgesetzt, auch bei letzter philologischer Genauigkeit und Schrfe den philosophischen Gehalt eines Werkes zu verfehlen. Philosophisches Verstehen aber ist stets systematische Erkenntnis, d. h. ein Erkennen, das sich aus den ersten und allgemeinsten Grnden her vollzieht und seinen Fortgang im vorentfalteten Entwurf des Ganzen hlt. Sich der Notwendigkeit der Prinzipien und dem Geiste des Ganzen anvertrauend, hat sich menschliches Erkennen einem Absoluten ausgeliefert, dessen immanente Entfaltung und Wahrheit der eigentliche Sinn jeder echten Philosophie bedeutet. Man erwiese daher einem Denker einen schlechten Dienst, wollte man seine Lehren und Stze akzeptieren, ohne sie zuvor aus der Ganzheit, Einheit und Notwendigkeit des Ausgangs her verstanden zu haben. Soweit jedes Philosophieren aus dem Geist eines systematischen Ganzen lebt, mu in ihm Ma und Leben aller seiner Wahrheiten gesucht werden. Ebensowenig aber, wie menschliches Knnen jemals dem absoluten Anspruch der letzten Grnde philosophischen Erkennens vllig zu gengen vermchte, kann es eine echte philosophische Ausarbeitung eines Problems geben, die nicht angesichts der potentiellen Unbestimmtheit des absoluten Ausgangs eine tiefere Problematik hervortriebe und selbst durch diesen Charakter als problematisch im eigenen Wesen bestimmt wrde. Nach dem Gesagten lt sich die Eigenart der vorliegenden Arbeit durch folgende Bestimmungen kennzeichnen: 1. Der historische Charakter der Aufgabe forderte, sich der ersten und systematischen Intention als des vorgegebenen Ansatzes und Ausganges thomistischen Philosophierens zu versichern und sich ihren Prinzipien unterzuordnen; des weiteren galt es, eine von Thomas selbst ausdrcklich errterte Problematik nachzuvollziehen und dabei Rcksicht zu haben auf das Ganze der Aussagen, die sich im Werke des Aquinaten vorfinden. 2. Einem philosophischen Nachvollzug konnte es jedoch nicht erspart bleiben, die Ausarbeitung des Problems von seinen Ursprngen her von neuem auf sich zu nehmen und die Fragestellungen entsprechend neu zu gestalten. 3. Diese Grundlegung konnte hinwiederum nur in einer systematischen Entfaltung des Gesamtentwurfs geschehen, die nicht nur die letzten und allgemeinsten Charaktere metaphysischen Denkens deutlicher zum Ausdruck bringen mute, sondern zugleich die Ebene schuf, von der her sich die thomistischen Lehren ursprnglich gewinnen lieen. Dabei erwies es sich als notwendig, im Dienst einer geforderten systematischen Einheit dem unmittelbaren Ausdruck mancher Stze einen tieferen metaphysischen Gehalt abzugewinnen, ohne jedoch jemals den Aussagen Gewalt anzutun. 4. Ein solcher Nachvollzug erschpft sich naturgem nicht im Wiedergewinn historischer Wahrheit, sondern bedeutet jedesmal eine einheitlichere Durchgestaltung, eine neue, tiefere und reichere Durchdringung eines Problemkreises, wenn anders sich der Versuch dem systematischen Anspruch metaphysischen Denkens berhaupt gewachsen zeigt. Den gekennzeichneten Forderungen entspricht die uere Gestalt der Arbeit. Auf das Ganze eines Systems hin entworfen bedurfte es weit ausholender Einleitungen zur Ermglichung einer wesenhaft25

metaphysischen Errterung der aufgegebenen Fragestellung. Ihre innere Rechtfertigung wird der Gang der Errterung selber erbringen.

26

DIE METAPHYSIK DER ERKENNTNIS NACH THOMAS VON AQUINI. EINLEITUNG: DER METAPHYSISCHE CHARAKTER DER ERKENNTNIS NACH THOMAS VON AQUIN, AUFGEWIESEN AM WESEN DES SINNLICHEN AKTES

1. Klrung der gestellten AufgabeDie Fassung des Themas verlangt von vornherein eine Klrung; knnte sie doch die Auffassung nahelegen, als glte es, innerhalb einer Erkenntnislehre, die sich auf dem Grund irgendwelcher psychologischer, phnomenologischer, kritischer oder logischer Betrachtungen als auf einem ihr ursprnglichen und angemessenen Boden ausbreitete, metaphysische Teile und Besonderungen, eine metaphysische Grundlegung oder Erweiterung als mehr oder minder zufllige Zugabe thomistischen Philosophierens zur Darstellung zu bringen. Diese Auffassung drngt sich um so eher vor, als wir gewohnt sind, eine Erkenntnistheorie zum Ausgang unseres Philosophierens zu machen, was nichts anderes bedeutet als die Anerkennung eines durch sich selbst gesicherten, dem Erkennen unmittelbar und zunchst sich darbietenden phnomenalen Bereiches, welcher, vom Ausgang her im rein Erkenntnismigen gehalten, nichts Geringeres beansprucht, als eine erste, ursprngliche und allgemeine Begrndung und Ermglichung jeder Weise von Wissenschaft und Philosophie zu sein. Demgegenber gilt es von vornherein festzuhalten, da es ein solches auer- oder vormetaphysisches Feld wissenschaftlicher Bettigung vor dem Forum der ersten Philosophie des Aquinaten nicht geben kann, da vielmehr diese Philosophie, als Wissenschaft der Wissenschaften, fr sich selbst die ursprnglichste, allgemeinste und unwiderrufliche, jeder mglichen anderen Wissenschaft zuvorkommende und ihrer gnzlich unbedrftige Bestimmung, Grundlegung und Ausweisung bedeutet; und dies so sehr, da auch eine Kritik der menschlichen Vernunft als einer Entscheidung der Mglichkeit oder Unmglichkeit einer Metaphysik berhaupt und die Bestimmung sowoh1 der Quellen als auch des Umfanges und der Grenzen derselben49, von dieser Wissenschaft entweder als Anmaung verworfen oder aber selbst als lautere Metaphysik begriffen werden mu. Es geht aber auch nicht an, das Erkennen angesichts seiner ausgezeichneten, universellen, die Metaphysik selbst ermglichenden Seinsart als untergeordnetes Genus aus dem Ganzen des Seins herauszuscheiden und als Subjekt einer untergeordneten Wissenschaft zu berlassen, welche durch Metaphysik zwar begrndet wre, aber sich innerhalb des eigenen Bereichs unabhngig vollzge. Daher erweist sich notwendig jede umfassende Lehre des menschlichen Erkennens als die Metaphysik selbst, sofern sie eben dem intelligenten Grund und Medium ihres eigenen Geschehens zugewendet ist. Freilich ist diese reflexive Bestimmung der menschlichen Vernunft, so notwendig und ursprnglich sie jeder mglichen Metaphysik als eines irgendwie wissenschaftlichen Geschehens eignet, dennoch nicht das erste dieser Wissenschaft selbst, woraus folgt, da sie niemals als Grundlegung schlechthin verstanden werden kann, sondern nur als rcklufige Sichtbarmachung und Einbeziehung in das Ganze des philosophischen Entwurfs aller jener Grnde, die im naturhaft gegebenen, im natrlichen Licht der ersten Prinzipien absolut gesicherten und ausgewiesenen Ausgang und Vollzug der ersten Wissenschaft am Werk sind. Erkenntniskritik hat daher, selbst als Weise von Metaphysik verstanden, eine zwar klrende und nachsehende, niemals aber eine Metaphysik schlechthin ermglichende und begrenzende Kraft; denn das erste, das Erkennen selbst messende Ma der Metaphysik ist das Sein selber (mit seinen consequentia und den prima principia zusammen genommen), welches als verwirklichte Erkenntnis die bereits verwirklichte Philosophie ihrem impliziten Ausgang gem ist; cum tota scientia virtute contineatur in principiis.50 Die gestellte Aufgabe erweist sich demzufolge als ein Nachvollzug einer rein metaphysischen Entfaltung der Erkenntnisproblematik und gewinnt daher ihre eigene Mglichkeit und ihre eigene Fragerichtung nur49 50

Kant, Vorrede zur ersten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft. S. th.. I q 1 a 7 c.

27

aus den Grnden und Weisen der ersten Philosophie als einer einheitlichen, umfassenden, ursprnglichen, aus sich selbst begrndeten Wissenschaft. Ist aber die Vernunft, wie wir schon sagten, in ihrem begrndenden Sein notwendig so universell wie das Sein und die Metaphysik selbst, so kann es fglich kein Problem der Metaphysik geben, das nicht seine ihm eigene Schwere und Unsicherheit in die Erkenntnis des Wesens dieser Erkenntnis selber hinberspielte, oder umgekehrt, es mu sich jede Frage der Erkenntnis im letzten Grund als ein Problem des Seins offenbaren. Die Problematik der Erkenntnis beginnt daher mit dem Problem der Metaphysik selbst; und sie kann sich als genuin metaphysische nur entfalten, wenn sie ihre Weise und Mglichkeit im Ganzen des metaphysischen Entwurfs, als eine Grundgestalt dieses Entwurfs selbst begreift. Dies letzte setzt aber voraus, da sie sich die potentielle Einheit und Ganzheit der Metaphysik als den Grund der Mglichkeit ihrer selbst von Anfang an vorgestellt hat und bei jedem Schritt ihres Fortgangs sich der von ihr her geforderten transzendentalen Einheit und Umfnglichkeit der Begri