Sizilianischer Barock - Judith Weibrecht Sizilien.pdf · gebiete, in denen sich Zugvögel...

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ADFC RADWELT 6.17 36 Sizilianischer Barock RADTOUREN AUF SIZILIEN. Imposante Barockbauten und griechische Antike, Fischerdörfer und Meer, Zitronen, Pistazien und Arancini prägen die Radtour durch den Südosten Siziliens. Barockes Ensemble: Der Domplatz von Syrakus.

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SizilianischerBarockRADTOUREN AUF SIZILIEN.

Imposante Barockbauten und griechische Antike, Fischerdörfer und Meer, Zitronen, Pistazien und Arancini prägen die Radtour

durch den Südosten Siziliens.

Barockes Ensemble: Der Domplatz von Syrakus.

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Tourguide Davide ruft „Amuní!“, was so viel wie „Andiamo/gehen wir“, auf Sizilianisch bedeutet. Zur gründlichen Einweisung in Route, Sehenswürdig-keiten und Räder gehört auch ein wenig siziliani-

scher Dialekt. Los geht’s in Palazzolo Acreide, einem der baro-cken Städtchen, von denen wir noch viele sehen werden.

Wir schlendern durch die Gassen, noch in der festen Über-zeugung, dass uns das, was uns Davide prophezeit hat, nicht passieren wird: „Ihr werdet zunehmen! Wir haben hier so viele Spezialitäten, so viel kann man gar nicht Rad fahren.“ Am Mar-mortresen der „Trattoria Il Gallo“ ist schon Schluss mit den guten Vorsätzen. Die Scheiben der Auslagen beschlagen von den frisch gemachten Pizzen, Focacce und gefüllten Reisbäll-chen, die mit Semmelbröseln ummantelt und frittiert sind. Kundschaft strömt herein, scherzt, lacht und kauft. Es wird immer voller. Wir brauchen jetzt Bewegung und starten unse-ren Stadtrundgang.

Palazzolo Acreide ist ein ländliches Barockstädtchen und Unesco-Welterbe. Die Kirchen sind zahllos, das bombastische

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Rathaus ist aus gelblichem Kalkstein erbaut, der in der Abend-sonne leuchtet. In den Gassen finden wir ein interessantes Museum der Volkskunst und auf der Piazza del Popolo flanie-ren Einwohner.

Auch die Städte Ragusa Ibla und Mòdica sind vom Barock geprägt. Zu ihnen führt die erste Etappe. Wir fahren durch Schluchten und passieren Olivenbäume und fruchtbares Ackerland. Auch Mandarinen- und Zitronenbäume sowie Kühe geraten immer wieder ins Blickfeld.

Der Anstieg nach Ragusa Ibla lohnt sich – was für eine Pracht! Die vielen Kirchen und Paläste erschlagen einen fast. Besonders

beeindruckend ist der barocke Dom San Giorgio, der etwa 20 Jahre nach dem Tod seines sizilianischen Baumeisters Rosario Gagliardi (1698-1762) fertiggestellt wurde.

Den Namen des barocken Baumeisters werden wir noch häufiger hören. Schon in Mòdica, unserem heutigen Etappen-ziel, ist das der Fall.

Barocke Pracht

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Unten im Tal auf dem Corso Umberto I., der sich auf einem zugeschütteten Fluss befindet, herrscht geschäf-tiges Treiben. Man promeniert an den Palazzi vorbei, deren Balkone von fantastischen Fratzen und Fabelwe-sen gestützt werden.

Die hiesige Spezialität ist Schokolade. Die dunkle „Cioccolato“ geht auf ein Rezept der Azteken zurück, das die Spanier nach Mòdica brachten. Sie ist eher bitter und knirscht zwischen den Zähnen, denn der Zucker wird erst nach Erkalten der Kakaomasse zugefügt. Natürlich gibt es ein Schokoladenmuseum für alle, die mehr erfah-ren wollen.

Rechts und links vom Corso ziehen sich eng bebaute Gassen steil die Hänge hoch. Der Uhrenturm der ehema-ligen Burg im Norden der Stadt und der Dom San Gior-gio mit seiner weit geschwungenen Freitreppe bilden den passenden barocken Rahmen.

Das Tal eines ausgetrockneten Flusses gen Scicli säu-men Opuntien und blühender Oleander. Die Stadt besticht durch ihre barocken Bauten, zudem ist sie durch die Fernsehserie „Commissario Montalbano“ bekannt geworden. Doch der Ort ist bei Weitem nicht so überlaufen wie seine „großen“ barocken Schwestern. Beachtlich sind die vielen Keramikgeschäfte mit der hier typischen Töpferware in Gelb, Blau und Grün. Die Töp-ferkunst existiert auf Sizilien seit prähistorischen Zeiten. Stil und Motive sind bis heute aus der Zeit des mauri-schen Spaniens beeinflusst.

Bis Pozzallo radeln wir mehr oder weni-ger an Stränden ent-

lang. Uns erwartet ein größerer, hektischer Badeort mit einem mittelalterlichen Turm und einem kilometerlan-gen schönen Strand in der Dünenlandschaft. Teils rei-chen die Sanddünen hoch bis an die Straße. Selbst im November können wir uns noch in die Fluten des Mittel-

meers werfen. Die weitere Strecke führt durch Feucht-gebiete, in denen sich Zugvögel aufhalten. Im Pantano Cuba entdecken wir Flamingos. Kurz vor Noto versam-meln sich im Naturreservat „Riserva Naturale Vendicari“ noch mal Dünen, Wälder, Feuchtgebiete und im Lagu-nensee Reiher und Kraniche.

Zum südlichsten Punkt Siziliens, der Isola delle Cor-renti, die südlicher liegt als Tunis, radelt man durch land-wirtschaftlich genutzte Fläche und zwischen den Plas-tikplanen der Treibhäuser entlang. Sie sorgen für das Frühgemüse, das in Deutschland verkauft wird. Die Plastikwände und der Müll an den Straßenrändern sind allerdings keine Augenweide.

Immer wieder tauchen Schilder auf, die die Radroute als Teil des Projekts „Medinbike“ ausweisen. Glatt asphaltierte Radwege ohne Autoverkehr sollten Rei-sende aber nicht erwarten, in puncto Radtourismus gäbe es auf Sizilien noch einiges zu tun. Doch auf den kleinen Nebenstraßen der von Biketeam ausgearbeite-ten Route lässt es sich prima radeln. An der Terrazza dei due Mari in Portopalo lockt ein Pizzastück mit den berühmten, schmackhaften Kirschtomaten aus Pachino und die nächste Aussicht aufs Meer.

Das Fischerdorf Marzamemi beherbergte einst eine Thunfischfabrik. Heute kann man hier in hübschen Geschäften mit Souvenirs und Produkten der Region stöbern, Cafés und Restaurants besuchen. Im „Sapori della Terra e del mare Siciliana“ finden sich dann allerlei Spezialitäten wie Thunfischkonserven, Tomaten aus Pachino, Schokolade aus Mòdica oder Pistazienpesto. Die grünen Nüsse sind hier allgegenwärtig, auch in Form von Pistazieneis oder -keksen.

Zwischen Dünen und Treibhäusern

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1693 zerstörte ein Erdbeben etliche Städte Siziliens. Sie wurden in barocker Pracht wieder aufgebaut.

1. Die Insel Ortigia mit ihren engen Gassen. 2. Die Radroute führt nach Ragusa Ibla. 3. Flamingos im Pantano Cuba.

4. Akustisches Wunder: das Ohr des Dionysos.

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SIZILIEN KOMPAKT

MIT TELMEER

MIT TELMEER

Isola delle Correnti

Isola diOrtigia

Sizilien

Teatro GrecoUnesco-Welterbe

Dom San Giorgio

Schokolade

Fischerdorf

Keramik

Barock

Ragusa Ibla

PalazzoloAcreide

Mòdica

Noto

Pachino

Portopalo di Capo Passero

Marzamemi

Avola

Fontane Bianche

Arenella

FloridaSyrakus

Scicli

Pozzallo

Ispica

629m

530m

573m

476m

Riserva Naturale Vendicari

Parco Archeològico

5 km © IDS 2017

Sizilien

Mittelmeer

Italien

Tunesien

Palermo

SyrakusCTA

Palermo

Genua

Weitere Tipps gibt es auf www.adfc.de/16860.

INFORMATIONEN• Die beschriebene individuelle Radreise „Zwischen Canyons und barocker Baukunst“

wird angeboten von Biketeam Radreisen, Lise-Meitner-Str. 2, 79100 Freiburg, Tel.: 0761/55 65 59 29, E-Mail: [email protected], www.biketeam-radreisen.de/radurlaub-veloreise-sizilien/

ANREISE• Bahn mit Fahrradmitnahme bis Genua (EC München-Verona mit Fahrradstellplätzen, weiter

in Regionalzügen/Regionale veloce), ab Genua Fähre bis Palermo (www.gnv.it), dort Regio-nale veloce bis Catania (www.trenitalia.it). Flüge von verschiedenen deutschen Flughäfen nach Catania.

LITERATUR• Thomas Schröder: Sizilien; Michael Müller Verlag, ISBN 9783956542268, 24,90 Euro• Constanze Neumann: Gebrauchsanweisung für Sizilien; Piper Verlag, ISBN 9783492276030,

15 Euro

Wie in all den sizilianischen Barockstädten stoßen wir auch in Noto auf die Jahres-

zahl 1693. Ein großes Erdbeben zerstörte in dem Jahr viele Gebäude im Val di Noto, folglich wurden die Städte in barocker Pracht wieder aufgebaut. Von Kunsthistori-ker Cesare Brandi wurde das imposante Noto mit etwa 50 Kirchen und 15 Palästen als „Giardino di Pietra/Garten aus Stein“ bezeichnet. Am Corso Vittorio Emanuele rei-hen sich berühmte Bauten mit Verschnörkelungen und bauchigen Eisenbalkonen aneinander. An der Piazza XVI. Maggio treffen wir wieder auf Baumeister Gagliardi. Die Fassade der Chiesa San Domenico wurde von ihm geplant. Die Piazza dei Municipio ist die Hauptsehens-würdigkeit mit dem Palazzo Ducezio, heute das Rathaus, und der prächtigen Kathedrale San Nicolo mit ihren herrlichen Fresken. Nebenan in der Via Nicolaci geht es steil bergauf in die Gassen der Oberstadt. Doch zuvor bekommt man Genickstarre, weil am Palazzo dei Nico-laci unzählige Masken und Fratzen die Balkone stützen.

Punkt 18 Uhr beginnt die abendliche Passegiata: Die Menschen gehen auf und ab, halten hier ein Schwätz-chen mit Pistazieneis, trinken dort einen Aperitivo. Letz-terer kommt oft mit einer Art Vorspeisenteller, der ein Abendessen überflüssig macht.

Die letzte Etappe führt an den im November üppig tragenden Orangen- und Zitronenbäumen vorbei zu den feinen Stränden von Fontane Bianche und Arenella. Das Finale findet schließlich in Syrakus statt. Die engen Gassen der Insel Ortigia, der Insel der Wachteln, bilden den Kern der Stadt, natürlich inklusive Barockarchitek-tur. Prunkvolle Palazzi säumen die Piazza Duomo. Im Dom sind noch griechische Relikte wie der Altartisch präsent, was nicht wundert, denn der Dom wurde um den griechischen Athena-Tempel herumgebaut. Dieser Tempel wiederum wurde einst auf einem älteren Heilig-tum erbaut. In der Antike war Syrakus eine mächtige hel-lenische Stadt mit 500.000 Einwohnern.

In der Neapolis, der griechi-schen „Neustadt“, befindet sich der Parco Archeològico mit dem römischen Anfiteatro und dem Teatro Greco, das 15.000 Zuschauer fasste und einen Durchmesser von fast 140 Metern hat. Es war das größte Theater der Antike. In den Sommermonaten finden hier immer noch Aufführungen statt. Dahinter liegen die Latomie, die ehemaligen Steinbrüche, in denen Sklaven schuften mussten, und das Ohr des Dionysos. Die Höhle diente der Sage nach Dionysos dazu, seine Feinde abzuhören. Tatsächlich ist die Akustik verblüffend. Unser geflüster-tes „Addio Sicilia! Grazie!“ wird hundertfach verstärkt. Judith Weibrecht

Fischtaverne in Marzamemi, süße Cannoli oder herbe Schokolade: Siziliens Spezialitäten verlangen nach ausgleichender Bewegung.

Das Ohr desDionysos

1693: Fluchund Segen

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