So modern wie verkannt? Goethes Faust-Epilog · Standuhr finanzieren kann, da kommt ein Tsunami,...

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Winfried Lintzen So modern wie verkannt? Goethes Faust-Epilog Inhalt: Eremiten.....................................................................3 Engel..........................................................................6 Selige Knaben............................................................8 Mater Gloriosa..........................................................10 Dr. Marianus I …......................................................11 Wer ist die gute Seele …...........................................11 Fausts Erlösung.........................................................14 Dr. Marianus II..........................................................15 Chorus Mystikus........................................................16 Anmerkungen............................................................18 Die Sache ist eigentlich ganz einfach – etwa so: Der große Bruder wettet mit Papa, daß der kleine Bruder sich mit Schokoeis vollstopft, bis er kotzt. Doch bevor es soweit ist, platzt Mama dazwischen, stinksauer, zischt: „ihr seit ja wohl völlig bescheuert“, und holt den Kleinen da weg. Das Thema des Epilogs ist, modern formuliert: soziale Intelligenz: Was ist ein sozial intelli- genter Umgang mit moralischem Versagen? Das wird exemplarisch dargestellt an der „Erlö- sung“ eines Egozentrikers, der mit dem Agieren seines Daseinsgrolls katastrophales Unheil anrichtete. Man darf sich nicht verwirren lassen: Der Epilog ist völlig unreligös gemeint. Goethe nutz- te den Volksglauben als die vergängliche Gestalt, in der überzeitliche Ideen historisch ihre Form finden. So wie der Prolog nichts darüber aussagen will, ob es Gott gibt, will der Epilog nichts darüber sagen, was wir nach dem Tod zu erwarten haben. Das wäre keine Poesie son- dern Ideologie. – Poesie bedeutet immer: entrückt werden aus dem Alltag durch Gleichnisse und sprachlichen „Zauber“ aus Vers, Rhythmus und Wortwahl. – Für Goethe hatten die Figu- ren und Geschichten der Religionen ganz glaubensfrei etwas Poetisches und Fantasievolles. 1

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Winfried Lintzen

So modern wie verkannt? Goethes Faust-Epilog

Inhalt:

Eremiten.....................................................................3

Engel..........................................................................6

Selige Knaben............................................................8

Mater Gloriosa..........................................................10

Dr. Marianus I …......................................................11

Wer ist die gute Seele …...........................................11

Fausts Erlösung.........................................................14

Dr. Marianus II..........................................................15

Chorus Mystikus........................................................16

Anmerkungen............................................................18

Die Sache ist eigentlich ganz einfach – etwa so: Der große Bruder wettet mit Papa, daß der

kleine Bruder sich mit Schokoeis vollstopft, bis er kotzt. Doch bevor es soweit ist, platzt

Mama dazwischen, stinksauer, zischt: „ihr seit ja wohl völlig bescheuert“, und holt den

Kleinen da weg.

Das Thema des Epilogs ist, modern formuliert: soziale Intelligenz: Was ist ein sozial intelli-

genter Umgang mit moralischem Versagen? Das wird exemplarisch dargestellt an der „Erlö-

sung“ eines Egozentrikers, der mit dem Agieren seines Daseinsgrolls katastrophales Unheil

anrichtete.

Man darf sich nicht verwirren lassen: Der Epilog ist völlig unreligös gemeint. Goethe nutz-

te den Volksglauben als die vergängliche Gestalt, in der überzeitliche Ideen historisch ihre

Form finden. So wie der Prolog nichts darüber aussagen will, ob es Gott gibt, will der Epilog

nichts darüber sagen, was wir nach dem Tod zu erwarten haben. Das wäre keine Poesie son-

dern Ideologie. – Poesie bedeutet immer: entrückt werden aus dem Alltag durch Gleichnisse

und sprachlichen „Zauber“ aus Vers, Rhythmus und Wortwahl. – Für Goethe hatten die Figu-

ren und Geschichten der Religionen ganz glaubensfrei etwas Poetisches und Fantasievolles.

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Er war offenbar bewegt von der Haltung, die ihn aus den Elementen des christlichen Volks-

glaubens ansprach: wertschätzen statt verurteilen, integrieren statt ausstoßen. Die Figuren des

Volksglaubens – Engel, Heilige, gute Geister und Muttergottes – bringt Goethe in ihrer lie-

benswürdigen Beschränktheit, ihrer rührenden, unfreiwilligen Komik auf die Bühne: auch das

Erlösende ist in seiner historischen Gestalt bedingt und unzulänglich, nicht weniger als die zu

Erlösenden.

Indem er Elemente des Volksglaubens nutzt, knüpft Goethe gleichzeitig an das an, was für

Margarete Realität ist. Das ist eine ebenso große Wertschätzung für Margarete wie für das

„Volk“ – ähnlich wie Goethe in den „Wanderjahren“ aussterbende jahrhundertealte Hand-

werkstechniken minutiös beschrieb, in der sich die Findigkeit der vorindustriellen Kultur

widerspiegelte: als etwas, das von uns erzählt. – Rilke drückt diese Haltung so aus: „Preise

dem Engel die Welt, nicht die unsägliche, ihm kannst du nicht grosstun mit herrlich Erfühl-

tem; im Weltall, wo er fühlender fühlt, bist du ein Neuling. Drum zeig ihm das Einfache, das,

von Geschlecht zu Geschlechtern gestaltet, als ein Unsriges lebt, neben der Hand und im

Blick. Sag ihm die Dinge. Er wird staunender stehn; wie du standest bei dem Seiler in Rom,

oder beim Töpfer am Nil“ (9. Duineser Elegie). – Der Epilog preist das Menschliche, das

findig und geschickt Töpfe, Seile und Madonnenfiguren hervorbringt... – Es geht darum, aus

den Mythen und Märchen das herauszuhören, was vom Menschlichen kündet – die „unreligi-

ösen“ und „zauberfreien“ vorbewußten Motive und Intentionen, die mit den zauberhaften

mythischen Inhalten und Figuren verbunden sind – sowie das rührend Findige und Beschränk-

te das an seinen Formen zum Vorschein kommt [1]. – Wenn im Folgenden von „Gott“ die

Rede ist, steht das für das Überindividuelle: entweder für „Natur“ oder für „Sinn“. Das Leben

„auf Gott ausrichten“ bedeutet entweder: Kontemplation auf das, was uns hervorgebracht hat

und in uns wirkt; oder: konsequent nach dem Sinn leben, den unser Leben für Andere und für

die, die uns überleben, haben kann [2].

Figuren und Textstelleninterpretation

Immer wenn Frauengeschichten scheitern, flieht Faust ins Gebirge, um zu meditieren. Gebir-

ge fungiert leitmotivisch als Sinnbild für Entrücktheit aus den Niederungen der alltäglichen

Getriebenheiten in eine Sphäre der „Öde“: der besinnungsfördernden Abwesenheit von ab-

lenkenden Außenreizen. – Das Gebirge des Epilogs, an dem Fausts Seele „nach oben“ geführt

wird, ist mit heiligen Einsiedlern bevölkert. Ihre Nähe zu Gott hat offenbar die ganze Region

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so mit Liebe infiziert, daß die Löwen zahm wie Miezekatzen herumschnurren. Die Aggres-

sivität ist verwandelt, die Tage des Zorns sind vorbei.

Die Eremiten: Was ist an Eremiten poetisch? Eremiten sind Aussteiger. Sie haben die Kon-

flikte des weltlichen Lebens satt. Sie machen das Rennen nach dem Glück nicht mehr mit. Sie

wollen sich nicht von sinnlichen und seelischen Lüsten in ihrem Sinnen und Trachten beein-

trächtigen lassen. Eremiten sind ein Sinnbild für die Emanzipation von der eigenen Natur und

für die Kultivierung von Reflexion. „Kultiviert“ ist Reflexion, wenn sie oft und stetig genug

gepflegt wird, um gestalterischen Einfluß auf das Leben zu erlangen. – In einer duftenden

Sommernacht im Gras zu liegen und angesichts des Sternenhimmels einen Schauder zu spü-

ren, ist auch Reflexion, die in der Regel aber zu nichts führt. – Ein drastisches Beispiel dafür

gibt es in einer Südsee-Erzählung Jack Londons: Eine Frau überlegt, wie sie eine schicke

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spült, überlebt nur mit Glück, baut sich aus den angespülten Trümmern ein Floß, und schafft

es kurz vor dem Verdursten auf ihre Insel zurück. Und als sie sich erholt hat, denkt sie – als

wär nichts gewesen – wieder nur über die Standuhr nach. – Kultivierte Reflexion dagegen

lässt keine Ignoranz aufkommen gegen die einmal erlebte Relativierung der fraglosen Sicher-

heiten und Wertigkeiten des eingelebten Lebenswandels, sondern erforscht dieses Erlebnis

immer weiter und zieht daraus Konsequenzen. – Solche Reflexion erfordert Anstrengung,

weil andere Gedanken unmittelbarer andrängen: „Was kann ich? Wo steh ich? Wo will ich

hin? Wie kann ich das erreichen? Wie kann ich mich einbringen und was gibt mir das für eine

Bedeutung und für einen Status? Welche Ziele sind realistisch? Was darf ich, und was will ich

wagen?“ – Eine klassische Meditationsübung besteht darin, das Kommen und Gehen solcher

Gedanken und Gefühle zu beobachten und immer besser zu erleben, daß wir sie genauso we-

nig selber machen, wie Atem und Herzschlag; zu erleben, wie wenig „Ich“ da eigentlich drin

ist. – Eremiten machen aus solchem Meditieren einen Hochleistungssport.

Doch der „Pater ecstaticus“ wirkt seltsam: Inmitten zahmer Löwen ersehnt er nichts leiden-

schaftlicher, als zerrissen zu werden. – Möglicherweise schaut sich Faust befremdet nach ihm

um, als er mit den Engeln nach oben zieht, und die Engel sagen: „Ach der! Das ist unser Ecci.

Der hebt manchmal etwas ab, aber sonst ist er ganz o.k.“. – Für Fromme sind solche Selbst-

quäler Sinnbild für die Stärke der Sehnsucht nach der Verbundenheit mit Gott und für die

Heftigkeit und Hartnäckigkeit mit der unsere natürlichen und gewachsenen Bestrebungen von

Leib und Seele sich immer wieder gegen Wissen und Willen durchsetzen, uns egoistisch auf

uns selbst beziehen und von Gott abhalten. Die Figur des Paters veranschaulicht die Wut, die

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das aufstauen kann, die Wut auf alles, was uns immer wieder ablenkt von dem, was wir für

wichtig und richtig erkannt haben – so, wie wenn ich „Tatort“ gucken will und ständig kommt

jemand rein und fragt mich was. Oder wenn ich für eine Klausur lernen will und mich ständig

das Händi ablenkt. Da hilft dann irgendwann nur noch Schloß und Hammer. Das Bibelwort:

„Wenn dich dein Auge stört, reiß es aus und wirf es weit von dir“ ist so zu verstehen. Die

Fachleute nennen das: Stimuluskontrolle. – Die zweiten vier Verse des Paters können gerade-

zu als Versprachlichung des Gefühls gelten, das viele rückfällige Alkoholiker nur allzu gut

kennen, der Volksmund sagt´s nur schlichter: „Ich könnt mich in den Arsch beißen!“ – Den-

noch: die Heftigkeit der Autoaggression des Paters befremdet, sie wirkt unreif und hoch neu-

rotisch. Das entspricht nicht dem Prinzip der Natur: „selbst im Großen ist es nicht Gewalt“.

Ein reiferer Mann würde sagen: „Blöd, daß ich noch derart dem Nichtigen verhaftet bin. Aber

ich habe Pflichten, ich kann mich nicht zerschmettern lassen, bloß um das Nichtige an mir

ganz schnell zu verflüchtigen!“ – Das Nichtige zu verflüchtigen, es der verflixten Triebhaftig-

keit zu zeigen, das hat für den Pater Vorrang vor allem Bezug zu anderen Menschen. Eigent-

lich geht es ihm zwar um die „Ewige Liebe“, aber er will ein ganz toller Virtuose der Selbst-

losigkeit werden, so etwas ist nur durch kompromissloses Training hin zu kriegen. Deshalb

hat er bis auf weiteres erstmal gar keine Zeit für die selbstlose Tätigkeit, um die es der Liebe,

die er glänzen lassen will, eigentlich geht [3]. – Man könnte glatt auf die Idee kommen, daß

der Pater seine Worte der Mater Gloriosa in wachsender sexueller Erregung ins Gesicht

schreit, während sie – als Domina – gerade dabei ist, ihn auszupeitschen. (Ich hoffe, damit

habe ich die Aufführungspraxis gegen diese Inszenierungsidee geimpft. – Hier, auf dem Pa-

pier, bei der Sondierung von Bedeutungsgehalten, ist so ein Bild versuchsweise brauchbar.

Auf der Bühne wäre es unbrauchbar, weil es fragwürdige Nebenaspekte als Hauptaspekt her-

ausstellt, um des „Effektes“ willen.) – Aber selbst, wenn seine Selbstkasteiung eine perverse

sexuelle Ersatzhandlung wäre: Da, wo Löwen zahm sind, dürfen alle unzulänglich bleiben,

ihre Unzulänglichkeit wird als „ready made“ Ereignis: etwas Einzelnes, an dem sich etwas

Allgemeines abzeichnet, etwas, das uns über uns selbst belehrt, über die Kräfte, die in uns

wirken, und die Bedingungen, unter denen sie sich verheddern… – Abgesehen davon griffe

eine rein sexuelle Lesart zu kurz, weil der Pater seine Triebe ebenso wie seinen Stolz zer-

schmettern will. – Er ist vielleicht aus Verzweiflung so extrem, weil er das in der Extremität

liegende Paradox entdeckt hat: daß er ganz stolz darauf ist, fähig zu sein, seinen Stolz so

kompromißlos zu zerstören…

In seiner Gewaltsamkeit und Selbstbezogenheit gleicht der Pater dem Faust vom Beginn

des Dramas. Seine Worte haben eine entfernte Sinnverwandtschaft mit Fausts „Flucharie“.

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Und falls Faust im Vorüberschweben befremdet auf den Pater blickt, erblickt er eigentlich nur

einen Teil seiner selbst. – Autoaggression als Abwehr von Schuldgefühlen: darin ist der Pater

aber auch Margarete verwandt, die eine Chance zur Flucht hatte, aber ihre Hinrichtung frei-

willig auf sich nahm! (Einem Teenager kann man allerdings zugestehen, durch schwere

Schuld überfordert zu sein und „unreife“ Formen der Schuldbewältigung vorzuziehen – zumal

Margarete niemanden hatte, der ihr beistand: Mutter und Bruder waren tot, Faust weg, und sie

selbst geächtet wegen dem Mord an ihrem unehelichen Baby. Sie hatte niemanden mehr, der

sie gegen ihre Selbstvorwürfe in Schutz nahm und sie bei der Bewältigung ihrer vernichten-

den Schuldgefühle unterstützte.)

Der Pater Profundus ist auch noch selbstbezüglich: die Kräfte der Natur sollen die Wunden

heilen, die das Leben seiner Seele geschlagen haben. – Sein „Inneres“ ist in einem Zustand,

den Faust sehr gut kennen müßte: „verworren, kalt, verquält in stumpfer Sinne Schranken,

scharf angeschlossenem Kettenschmerz“. Das gleicht dem „garstgen Wirrwarr netzumstrickt-

er Qualen“, dem Faust nach Heimsuchung der Sorge nicht anheimfallen will. Aber während

Faust stolz ist auf sein „inneres“ Licht, das ihm das äußere entbehrlich macht, wendet der

Pater sich an Gott. Er sucht Interaktion wo Faust sich in einsames, von sich selbst eingenom-

menes Schaffen flüchtet.

Der Pater Seraphikus ist nicht mehr mit sich selbst beschäftigt, er kümmert sich um andere:

um die seligen Knaben, blinde und unwissende Geister direkt nach der Geburt verstorbener

Kinder. Der Pater ist empathisch und solidarisch, er will ihnen sofort helfen. Aber er kann sie

auch problemlos wieder loslassen, als sie signalisieren, daß er nicht die richtige „Kur“ für sie

hat. Dadurch erweist er sich als reif, im Gegensatz zu Faust, der seinen in die Freiheit dräng-

enden Sohn fest zu halten versuchte: „Nur mäßig, mäßig, nicht ins Verwegene! Daß Sturz und

Unfall dir nicht begegne, zugrund uns richte der teure Sohn!“ (Und Helena: „O denk o denke,

wem du gehörest, wie es uns kränke, wie du zerstörest das schön errungene Mein, Dein und

Sein!“) – Der Pater dagegen ist fürsorglich, ohne damit einen selbstbezüglichen Zweck zu

verbinden: Er braucht es weder, ein ganz toller Pflegevater zu sein oder ganz tolle Pflege-

kinder zu haben, noch braucht er es, gebraucht zu werden. (In der Psychotherapie nennt man

das:„therapeutische Abstinenz“. Sie ist nicht selbstverständlich sondern muß während der

Ausbildung in der Selbsterfahrung, und berufsbegleitend durch Supervision geübt und erhal-

ten werden. – Der Pater Seraphikus hat diese Einstellung offenbar durch seinen „Reflexions-

sport“ erreicht.)

Wir zeigen unseren Kindern unsere Welt. Und wenn sie unsere Welt furchtbar finden,

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müssen wir bereit sein, daß sie uns einen Strich durch die Rechnung machen, denn die

Zukunft ist ihre Zukunft, nicht mehr die unsere.

Die Engel: Engel sind gute Geister. In der Vorstellung von Engeln personifizierten unsere

Vorfahren wünschenswerte wirkende Kräfte, die sie sich anders nicht erklären konnten. Sol-

che „engelhaften“ Kräfte erleben z.B. Musiker und Lastwagenfahrer: Viele Musiker berichten

von Erlebnissen, plötzlich ein Stück so „beflügelt“ gespielt zu haben, wie sie es nie für mög-

lich gehalten hätten. – Und Lastwagenfahrer staunen manchmal darüber, wie sie aus einer

schwierigen Rangiersituation, in die sie unversehens gerieten, schon wieder heraus sind, ohne

einmal eine Lenkbewegung korrigiert zu haben und bevor ihnen bewußt wurde, daß sie

eigentlich erwartet hätten, soetwas ohne volle Konzentration nicht hinzukriegen. – Es handelt

sich um das Erlebnis von Lerneffekten: Ein Teil unseres Gedächtnisses, von den Fachleuten

„prozedurales Gedächtnis“ genannt, wird uns nicht bewußt. Wer viel Übung und Erfahrung in

einem Handwerk hat, wird daher manchmal von seinem Können überrascht. Wer soetwas

öfter erlebt, kann schon auf den Gedanken kommen, daß Wesen dahinterstecken könnten, die

uns wohlgesonnen sind.

Die vollendeteren Engel: Zunächst muß die Zuständigkeitsfrage geklärt werden, und nach

dem sie Faust an ausgestreckten Armen mit zwei Fingern hochgehoben und mit gerümpfter

Nase begutachtend hin und her gewendet haben, wird beschieden: „Nee, sowas machen wir

hier nicht, das muß in die Reinigung“. Es gibt offenbar ein Problem mit den Erdenresten:

Faust hat sich im Leben verunreinigt durch das „Heranraffen der Elemente“: Durch die Er-

folge getriebenen Wirkens („raffen“) entstand Faust eine Illusion von der eigenen Vorzüglich-

keit. Solche Illusionen sind um so stärker, je mehr Erfolg sich jemand verschaffen kann, und

je weniger er realisiert, welche Defizite an bewußter Gestaltung seine Lebensführung auf-

weist, wie sehr er Trieb und Stolz auf den Leim geht [4]. – Faust ist ein überdurchschnittlicher

Mensch. Das weiß er. Und er findet das ganz toll und hält sich für total wichtig. Eine solche

Illusion von der eigenen Bedeutsamkeit ist eine Schwäche, die fatale Folgen haben kann, die

aber sehr menschlich und nachvollziehbar ist. Doch Engel, vor allem vollendetere, müssen

das natürlich höchst unfein finden, sie ekeln sich wie Polizisten vor einem verwahrlosten

Obdachlosen und fassen ihn wahrscheinlich nur mit Handschuhen an. – Je größer der Stolz, je

schwerer ist der Abschied davon: die desillusionierende Erkenntnis, wie wenig es auf die

eigene Person ankommt. Die Engel erkennen: bei diesem unreinen Geist hier ist die Desillu-

sionierung bloß mit Hilfe der „ewige Liebe“ zu schaffen. – Die angerafften Elemente sind

das, was „triebhaft“ und ohne bewußte Gestaltung an Persönlichkeit realisiert wurde: die im

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Leben erworbenen Kräfte, Fähigkeiten, Erkenntnisse und Einstellungen. – Die Unvollkom-

menheit Fausts bestand in seinem Bestreben, der Welt seinen Stempel aufzuprägen, ohne zu

fragen, ob die das will. Er hatte eine Einstellung, die vor seinem Selbstbild sicher keinen Be-

stand gehabt hätte, wäre sie ihm bewußt gewesen: „Ich muß meinen Potentialen Sinn geben,

egal wie ich dadurch die Chancen der anderen, ihren Potentialen Sinn zu geben, beeinträch-

tige oder zerstöre. Hauptsache, ich habe es geschafft, meinen Potentialen Sinn zu geben!“ –

Faust will für die Menschheit etwas ganz Tolles schaffen, statt mit ihr.

Wenn selbst die vollendeteren Engel Faust nicht helfen können und ihn nicht an noch voll-

endetere Geister weiterreichen, sondern im Gegenteil: an die denkbar unvollendetsten (aber

auch unverbildetsten), dann heißt das soviel wie: Ego-Illusionen sind nicht therapierbar. –

Zwar können wir können durch Solidarität und „Verzeihen“ den Ausstoß aus der Gemein-

schaft, die „Verdammung“, unterbinden und die „Gefallenen“ „zurück ins Boot holen“, aber

die „Läuterung“, die „Reinigung“ von den Ego-Illusionen, müssen sie selbst hinkriegen. –

Ego-Illusionen entstehen durch Mangel an guten Beziehungen: Wer in seiner Kindheit gelernt

hat, von Beziehungen nicht viel erwarten zu können, erwartet auch als Erwachsener nicht viel

davon. Er wird sich in Beziehungen entsprechend vorsichtig verhalten und entsprechend we-

niger Freude, Anerkennung und Unterstützung erleben. Den Mangel an interaktiv erlebter Be-

deutung für andere wird er kompensieren, in dem er durch sein Schaffen Bedeutung zu erlan-

gen versucht: Faust will mit seinem Landgewinnungsprojekt etwas Bedeutendes für die

Menschheit leisten, und er findet sich und die Realisierung seiner Idee so wichtig, daß er

glaubt, dafür ruhig Piraterie betreiben und Arbeitssklaven „herbeipressen“ zu dürfen. – Eine

solche Einstellung kann nur durch neue Beziehungserfahrungen korrigiert werden: Erst wer

beginnt, seine lebensgeschichtlich gewachsenen Vorbehalte gegen die anderen Menschen in

Frage zu stellen und stattdessen riskiert, in Interaktionen mit Kooperation und Solidarität „in

Vorleistung“ zu gehen, erhält so viel „Gewinn“, daß er das Gefühl eigener Vortrefflichkeit

immer weniger braucht. Und erst in dem Maße, wie der „falsche“ Stolz nicht mehr gebraucht

wird, ist es möglich, Illusionen über sich selbst zu verlieren. – Wahrscheinlich gibt es keinen

einzigen Menschen ganz ohne Ego-Illusion. Aber wir können den Schaden durch unser Stre-

ben nach Bedeutung minimieren, indem wir uns mehr für die Kinder engagieren: Je besser

unsere Beziehungen zur nachwachsenden Generation sind, desto überzeugender überliefern

wir die Menschheitserfahrungen, die sich in den Werten und Kompetenzen unserer Zivilisa-

tion verkörpern. Dadurch wird der paradoxe Effekt unwahrscheinlicher, daß wir durch ein un-

persönliches Engagement in Form eines stolzen Werkes denjenigen Schaden zufügen, für die

wir uns mit unserem Werk engagieren wollen: den Nachgeborenen.-- Wir neigen dazu, wie

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der Pater ecxtaticus, selbst noch in unserer Selbstlosigkeit zu selbstbezogen zu sein.

Aus diesen Gründen soll Faust der Lehrer der seligen Knaben werden. – So putzmunter

wie die Knaben sind, ist das vielleicht schlimmer als Fegefeuer, und Faust wird irgendwann

wie mancher Lehrer oder Sozialarbeiter stöhnen: „Ich bin von allem geheilt!“

Die Mär von den „seligen Knaben“ auf die Bühne zu bringen, gehört wohl zu den verrück-

testen Einfällen Goethes. Es ist ein vieldeutiges Bild:

(1) Die seligen Knaben leiden unter einer „unerträglichen Leichtigkeit des Seins“. Darin

erinnern sie an Homunkulus und Euphorion. Und wie die beiden, sind auch die Knaben ganz

schön krekel und ansprüchlich: Sie wollen nichts Geringeres als Gott schauen. Der frühe Tod

hat sie von allem abgeschnitten, mit dem sie eine Chance gehabt hätten, sich selbst einen Weg

zu Gott zu bahnen, jetzt lümmeln sie sich hier herum, um per Anhalter dahin zu gelangen.

(2) Sie packen den verpuppten Faust aus, wahrscheinlich sind sie neugierig, was drin ist.

Jedenfalls staunen sie, wie er plötzlich wächst: Sie reißen seine Verpuppung herunter, seine

Luxusklamotten und seine Altersmaske, und heraus kommt: ein Jüngling. – So „enthüllt“ fällt

von Faust ab, was ihn ans irdische Leben, an Trieb und Stolz, bindet. Mit dieser Distanz, die-

sem “ungetrübten“ Blick, wird es Faust ermöglicht, sich über seine Fehler und sein Scheitern

zu desillusionieren, und daraus eine „echte“ Lehre ziehen, nicht eine „leere“, mit denen er die

seligen Knaben höchstens „an der Nase herumziehen“ könnte. – Auch in diesem Sinne (als

„Fehler aus denen man klug wird“) wird das Unzulängliche „Ereignis“.

(3) Stellt man sich die Szene inszeniert vor, sieht man, wie Kinder einen alten Mann jung

pflegen. Der alte Goethe dreht die Erziehungsrichtung um und fragt: Wie fördert die Bezieh-

ung zu Kindern die persönliche Entwicklung Erwachsener? (In jedem Fall nur dann, wenn wir

die Beziehungen zu Kindern nicht für unsere persönliche Entwicklung zu instrumentalisieren

versuchen! Nur Leute wie der ungeläuterte Faust oder der Pater Ecstaticus würden meinen,

unbedingt mehr Kontakt zu Kindern haben zu müssen, um ganz toll zu werden...) – Die Kin-

der verändern uns, weil sie unsere Empathie trainieren, uns ständig Anlaß geben, darüber

nachzudenken, was berechtigte Ansprüche sind und was nicht, und weil sie unseren Blick

schärfen für die kindhaften Züge, denen wir nie ganz entwachsen (z.B. für Trotzreaktionen,

die bei Erwachsenen als solche nicht immer gleich auffallen, weil sie nicht so impulsiv und

expressiv wie bei Kindern auftreten). – Und Kinder sind Desillusionierer: sie können die

Überwertigkeiten nicht nachvollziehen, die wir mit vielen Dingen verbinden („Des Kaisers

neue Kleider“). Nicht zuletzt inspirieren uns die Kinder, die Welt mal wieder so anzuschauen,

wie wir sie als Kind gesehen haben: Wir bewunderten die Erwachsenen für ihre Stärke und

Tapferkeit aber wunderten uns auch über ihre Beschränktheit. Sie hielten sich für Realisten,

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doch waren meist bloß völlig eingenommen vom Nützlichen, erkannten das Mögliche nicht

und übersahen das Wunderbare. – Mit jedem Kind wächst eine neue und einzigartige Sicht

auf die Welt heran...

(Goethe stellt die „seligen Knaben“ so krekel und aktiv dar, dass man glauben könnte, sein

Sinn für Leben und Wachstum („Überall reget sich Bildung und Streben“) hätte ihm eine In-

tuition gestattet, die Erkenntnisse moderner Säuglingsforschung vorwegnimmt: Säuglinge

haben ein angeborenes „Programm“, Beziehung zu stiften und zu gestalten. Sie sind nicht so

hilflos, wie immer angenommen, sondern ziemlich „kompetent“ (Dornes 1993). )

(4) Die „Ewige Liebe“ ist eine tolle Kraft: Sie ist kraftvoll genug, um an Betonköpfen wie

Faust die hartnäckigsten Verunreinigungen zu beseitigen, und zart genug, um die furchtsamen

Seligen Knaben nicht zu verschrecken. Und das Beste ist: Sie entsteht durch Unzulänglich-

keit: Die Knaben sind unzulänglich, weil völlig ahnungslos. Faust ist unzulänglich, weil völlig

verblendet. Und da gründen sie jetzt eine Selbsthilfegruppe der Unzulänglichen. Und in der

entsteht durch die Erlebnisse von Solidarität und Synergie Ewige Liebe. – Allerdings wird

Faust von Margarete dafür vorbereitet. Das ist schon irre: Faust, der große Wissenschaftler,

der Topmanager, der innovative Staatsgründer, der Lebenserfahrene: er wird gehegt von den

Seligen Knaben und belehrt von Margarete, einer jungen Frau, die die große Welt bestenfalls

vom Fernsehen kennt (sie hat vom Himmel aus zugeschaut). Bezüglich dessen, was für Fausts

Weiterentwicklung jetzt notwendig ist, sind Kinder und junge Leute geeigneter als Tüchtige

und Lebenserfahrene – ja, selbst noch geeigneter als Engel!

(5) Die Knaben finden es toll, einfach bloß da zu sein. Sie haben ein Ziel, aber gehen es

ganz gelassen an („cool“), ohne Ungeduld. Sie müssen weder sich noch anderen etwas bewei-

sen. Sie sind zuversichtlich, ihr Ziel erreichen zu können und müssen nicht fieberhaft getrie-

ben tätig sein und ihre Tätigkeit ständig im Hinblick darauf auswerten, ob sie das erreichen,

von dem sie glauben, daß sie nur dann ganz toll sind, wenn sie es erreicht haben. – Sie verbin-

den Genuß des Augenblicks mit Streben zur Höherentwicklung, sie sind das Gegenkonzept zu

Fausts Dichotomie von Streben und Genuß und vor allem zu Mephisto, der es blöd findet, daß

es überhaupt etwas gibt und nicht nichts.

(6) Die Knaben sind aber auch ein Sinnbild dafür, wie die Kinder die Beziehung zu Er-

wachsenen wollen, und welchen Sinn uns Erwachsenen das gibt. Etwa so: Faust brütet im

Büro über seine Landgewinnungspläne, und dann kommen die Bengels und zerren ihn raus

zum Fußballspiel. – Darin liegt keine Ansprüchlichkeit sondern eine große Wertschätzung für

die Erwachsenen: Wir sollten doch froh sein, wenn die lebendige Zukunft mit uns was anfan-

gen will, statt uns an unseren Schreibtischen hinter den Stapeln unserer Pläne zu verschanzen,

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von denen wir gar nicht wissen, ob unsere Kinder sie einmal toll oder bescheuert finden wer-

den. – Aber wahrscheinlich werden wir den Wert des Kontaktes zu unseren Kindern erst in

dem Maße erkennen, wie die jungen Leute im Netz unter sich oder mit PC-Spielen für sich

bleiben und den Kontakt zu uns Erwachsenen wegen der Unbeholfenheit unseres Interesses an

ihnen nur noch als langweilig erleben.

(7) Es soll vielleicht nicht alles erdeutet werden. Der Dichter hat uns mit den "seligen

Knaben" einfach aufgegeben, über das Leben nachzudenken angesichts eines Kindes, das bei

der Geburt stirbt: eine Meditation über Leben und Dasein, ausgehend von unserer Berührtheit

bei der Vorstellung einer entgangenen Existenz, einer vorenthaltenen Chance, den eigenen

Potentialen Sinn zu geben, die Kräfte des Lebens zu erleben und die Fragen des Daseins zu

stellen. („Den Tod, den ganzen Tod noch vor dem Leben so sanft zu enthalten und nicht bös

zu sein, ist unbeschreiblich“ (Rilke, 4. Duineser Elegie).) – Auf diese Weise sind die seligen

Knaben „für die Engel“ (für unsere geistige Kultur) „zum Gewinn“.

Mater Gloriosa: Fast alle Menschen sind mit der „instinktiven“ Erwartung ausgestattet, ver-

läßlich Schutz, Versorgung und Trost finden zu können bei Mama oder etwas Mama-Artigem.

– Die christliche, von Männern dominierte Religion, hatte gegen Mama keine Chance: Sub-

versiv haben sich die antiken Muttergottheiten mit gefälschtem Marienausweis als illegale

Einwanderer in die monotheistische Männerwelt geschummelt und dort weit mehr Bedeutung

bekommen, als den Kirchenvätern lieb war. „Maria breit den Mantel aus, mach Schutz und

Schirm für uns daraus, laß uns darunter sicher stehen, bis alle Stürm vorüber gehen“ – auf

ähnliche Weise erwarten schon die Jungen der niedrigsten Säugetiere, daß auf ihr Piepsen

Mamma herbei eilt und ihr Fell über sie ausbreitet. Kein Wunder, daß gegen einen stammes-

geschichtlich so archaischen „Instinkt“ die frommen Väter machtlos waren.

Die Mater Gloriosa ist in der Volksfrömmigkeit der Inbegriff der mütterliche Liebe: Sie

heilt Krankheiten, hilft gegen Naturkatastrophen und mildert die Strenge ihres richtenden

Sohnes: Es gibt Darstellungen, wie sie beim jüngsten Gericht heimlich auf die Waagschale

drückt, damit der Sünder nicht in die Hölle muß.

Die Verehrung von Jungfräulichkeit wirkt für uns heute abstrus. Aber Jungfräulichkeit ist

eine Chiffre für Distanz: Maria hat dadurch, daß sie nicht alles „Natürliche“ mitmacht, Dis-

tanz zu sich und anderen, sie ist nicht verstrickt in Beziehungsgeschichten, und sie ist nicht

verstrickt in den natürlichen Egozentrismus. Sinn überwiegt Genuß. So kann sie unparteiisch

sein und für andere da: die Mutter aller. (Das erinnert an Lars Lehmanns Geschichte „Die

Revolte“ mit ihrer Vision einer Überwindung des „genozentrischen Weltbildes“.)

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Dr. Marianus ist die Verkörperung der Sublimationsfähigkeit: Er widmet sein Leben einer in

jeder Beziehung unerreichbaren Frau. Er verkörpert eine Botschaft, die wir heute nicht gerne

hören: Verzicht lohnt sich, man muß nur wissen, wie. – Für Kaufleute ist das eine Horrorbot-

schaft und sie tun alles dafür, sie nicht unters Volk kommen zu lassen, deshalb hat das Wort

„Verzicht“ in unserer heutigen, durch Kaufleute geprägten Kultur, einen so unguten Klang, es

klingt nach Spaßbremse, Zugeknöpftheit und Genußunfähigkeit.

Die Worte des Doktors an die Muttergottes sind so umschreibbar: „Zeige mir, wie man das

macht, wahrhaft zu lieben. Und solange wir´s nicht begriffen haben, billige bitte, was wir

Kerls an Liebe leisten können. Schau doch, wie sehr wir eigentlich für die Liebe gemacht

sind: wie stark sie uns anstachelt und befriedet.“ – Rilke spricht das so aus: Die Frauen „ha-

ben Jahrhunderte lang die ganze Liebe geleistet, sie haben immer den vollen Dialog gespielt,

beide Teile. Denn der Mann hat nur nachgesprochen und schlecht. Und hat ihnen das Erlernen

schwer gemacht mit seiner Zerstreutheit, mit seiner Nachlässigkeit, mit seiner Eifersucht, die

auch eine Art Nachlässigkeit war. Und sie haben trotzdem ausgeharrt Tag und Nacht und ha-

ben zugenommen an Liebe und Elend. … Aber nun, da so vieles anders wird, ist es nicht an

uns, uns zu verändern? Könnten wir nicht versuchen, uns ein wenig zu entwickeln, und unse-

ren Anteil Arbeit in der Liebe langsam auf uns nehmen nach und nach? Man hat uns alle ihre

Mühsal erspart... Wir sind verdorben vom leichten Genuß wie alle Dilettanten und stehen im

Geruch der Meisterschaft. Wie aber, wenn wir unsere Erfolge verachteten, wie, wenn wir

ganz von vorne begännen die Arbeit der Liebe zu lernen, die immer für uns getan worden ist?

Wie, wenn wir hingingen und Anfänger würden, nun, da sich vieles verändert?“ (Rilke 1910).

Die Gute Seele: Wer ist die gute Seele, die sich einmal vergessen hat? Faust oder Margarete?

Wie kommen die Interpreten darauf, es sei Margarete?

(1) Wie passt das denn: sie ermordet ihr Baby und ahnt nicht, daß das falsch ist? Selbst

wenn gemeint wäre, daß sie im Affekt nicht wußte, was sie tat, klänge es komisch, hier das

Wort „ahnte“ zu verwenden. Die Zuschauer wären irritiert und müssten nachdenken, wie das

passt: daß eine Mutter ihr Baby ermordet und keine Ahnung hat, daß das nicht gut ist. Bis die

Zuschauer sich das zusammengereimt haben, haben sie die nächsten Verse verpasst.

(2) Und außerdem: Hier geht’s doch um Faust! Was soll jetzt auf einmal der Sündenablaß

für Margarete? Ihre Sünde ist ein halbes Jahrhundert her! – „Ja, das heißt nix, im Himmel gel-

ten andere Zeitregeln, das kann man gar nicht miteinander vergleichen!“ – Schön. Das wäre

eine Zusatzannahme, die eine weitere nach sich zöge: Margarete stellt fest, daß Faust vom

„neuen Tag“ geblendet ist. Ihr scheint dieser Tag nicht neu. Das müßte dann erklärt werden.

(3) Und was wär das für ein wenig vertrauenerweckendes Verhalten: Kaum haben die an-

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dern Büßerinnen Margarete Maria vorgestellt und für sie um Verzeihung gebeten, schmiegt

sich die bis dato ganz unbekannte Sünderin an die Cheffin und bitte um Verzeihung für den

Freund, der noch viel schlimmere Dinge auf dem Kerbholz hat? – Das Anschmiegen wäre viel

glaubwürdiger, wenn zwischen Margarete und der Mater Gloriosa schon länger ein ungetrüb-

tes Verhältnis wäre, nicht erst seit einem Augenblick.

(4) Und wenn Gott Faust für das Exemplar eines guten Menschen hält (Prolog), dann darf

er hier von den Büßerinnen als „gute Seele“ bezeichnet werden, das ergäbe sich allein aus der

gebotenen Solidarität unter Büßern – abgesehen davon könnten die Büßerinnen die Worte

„dieser guten Seele“ auch ironisch betonen.

(5) Daß für Margarete gebeten würde, hätte szenischen Sinn, wenn die Büßerinnen die

Muttergottes hier gerade erst getroffen hätten, statt daß sie schon die ganze Zeit zusammen

mit ihr hier rumschweben. Etwa so: Margarete kommt mit ihren Schuldgefühlen nicht klar,

wendet sich an Profi-Büßerinnen, die wissen sich auch keinen Rat mehr und sagen schließ-

lich: „Du mußt unbedingt Maria treffen, die kann dir weiterhelfen. Die schwebt da gerade im

Gebirge rum, um so´nen schmierigen Kerl zu erlösen, der sich ganz selbstgefällig was drauf

einbildet, nicht selbstgefällig zu sein!“ – Aber was für ein Zufall, wenn die Gelegenheit, mit

Margarete die Muttergottes zu treffen und Fausts Rettung zusammenfielen!

(6) Daß nur drei der vier Büßerinnen ihre Bitte vorbringen, muß nicht heißen, daß sie für

die vierte, Margarete, bitten, sondern ergibt sich aus dem Zusammenhang: Welchen Aussage-

wert hätte es, wenn Margarete sich für Faust einsetzte? Sie ist befangen gegenüber ihrem ehe-

maligen Geliebten! Da denkt doch jeder: „Ist doch klar, die will ihn wiederhaben, die stecken

doch buchstäblich unter einer Decke!“ – Die Alt-Büßerinnen haben dagegen kein persönliches

Interesse an dem Kerl. Der kann ihnen völlig egal sein. Dennoch haben sie ein ganzes Wo-

chenende Stinkrosen gebastelt und ihre Begnadigungsperformance ausgearbeitet und sind

jetzt stundenlang im kalten Gebirge rumgeschwebt, um die Teufel zu beschmeißen und ihr

Gnadengesuch loszuwerden. Die hätten es sich vor dem Fernsehschirm des Himmels wirklich

bequemer machen und all die Fortsetzungsserien der menschlichen Kommödie weiterschauen

können! Allein aus Solidarität haben sie sich für den armen Sünder engagiert. Ihre Bitte hat

einen ganz anderen Aussagewert als die Margaretes!

(7) Hinzu kommt: Die biblischen Büßerinnen sind Meisterinnen im Büßen, Margarete ist

Azubine. Sie sind Prommi-Büßerinnen, Margarete eine no-name-Büßerin. Würde Margarete

mitbitten, könnte die Muttergottes denken: „Was will die überhaupt, die weiß doch noch gar

nicht, was Buße wirklich ist, wie will die einschätzen, was es bedeutet, so´n Kerl wie Faust,

mit so ´ner riesen Bußlast ins Boot zu holen! Noch von nix ne Ahnung haben und gleich

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glauben, mitbitten zu können!“ – Die drei Büßerinnen werden auch szenisch so deutlich als

Prommi-Büßerinnen exponiert, sie heben sich so stark von Margarete ab, daß die Frage gar

nicht entsteht: „Warum bitten bloß drei von vieren für Faust?“

(8) Es ist auch nicht einsichtig, weshalb die bis jetzt auf Margaretes Begnadigung gewartet

haben sollten – zumal Margarete ja – im Gegensatz zu Faust – bereits Verantwortung über-

nommen hat und längst als „Gerettet“ klassifiziert worden ist. – Oder soll das heißen: Wen

Gott gerettet hat, dem hat die Muttergottes noch lange nicht verziehen? Was für eine nach-

tragende Tante wäre sie dann!

(9) Schließlich: was soll dagegen sprechen, daß die Büßerinnen Faust meinen? Die sind so

nah an ihm dran, daß sie den armen Sünder am Ohr unter die Augen der Gottesmutter ziehen

können. Zudem soll die Gottesmutter ihm nur jah nicht mehr Verzeihung gewähren, als ange-

messen. – „Angemessen“: Das Wort sticht heraus wegen seines aggressiven Gehaltes: Ein

Maß begrenzt. Würde sich das auf Margarete beziehen, klänge es nach schwelendem Zik-

kenkrieg: „Die darf dann aber auch nicht mehr kriegen als wir!“ Die Interpretation, daß die

Büßerinnen sich für Margarete einsetzen, ist schon immer über das „angemessen“ gestolpert:

Zu soviel Mitgefühl, wie Margarete auslöst, passt solche Knauserigkeit nicht. Das ließ die

Philologen einen Schreibfehler vermuten: daß es „un-“ statt „an-gemessen“ heißen sollte. Ein

weitere Zusatzannahme. Und eine blöde: Es entgeht die Pointe, daß im Himmel zwar Gnade

vor Recht ergeht, aber nicht grenzenlos! Die Löwen sind zahm aber nicht zahnlos. Die haben

professionelle Sozialarbeiterinnen dort, keine unprofessionellen!

(10) Und falls Goethe wirklich Margarete gemeint haben sollte, ist er selbst schuld: warum

hat er das nicht hingeschrieben? Das wäre einfach eine Panne, einen simplen Sachverhalt so

unzureichend auszudrücken, daß Generationen von Gelehrten scharfsinnig spekulieren

müssen und keine eindeutige Lösung finden [5].

Fausts Erlösung: Was interessiert schon, wovon Goethe persönlich überzeugt war? Ob er

glaubte, daß nur Streber erlöst werden können, kann uns ganz gleichgültig sein. Und wen die

unvollendeten Engel erlösen können und wen nicht, das braucht uns auch nicht zu interes-

sieren. Psychopathen, die sich immer für großartig halten und nicht das geringste Interesse

daran haben, sich strebend zu bemühen, und die ohne mit der Wimper zu zucken einen Pakt

mit dem Teufel eingehen würden, weil sie wähnen, auch dem am Ende noch überlegen zu

sein, oder weil sie gar keine Fähigkeit haben, Zukunft zu antizipieren – solche Leute können

sicher nur von erfahrenen Meister-Engeln erlöst werden. Bei jemandem wie Faust, der schon

soviel mitbringt, ists einfach, da kann man die Azubis und Gesellen ran lassen.

Allerdings: Faust ist nicht irgendein Streber. Sondern er strebt nach persönlicher Entwick-

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lung, nach Desillusionierung. („Kannst Du mich schmeichelnd je belügen, daß ich mir selbst

gefallen mag...“) Dem widerspricht nicht, daß er sich ständig in Illusionen verrennt. Er ist be-

reit zur Desillusionierung, aber diese Bereitschaft allein desillusioniert nicht. – Doch entschei-

dent ist: Nicht die Strebsamkeit ist erlösungsrelevant sondern die Rutschigkeit: „Wie entglei-

tet schnell der Fuß schiefem, glatten Boden!“ – Wir tun immer leicht so, als seien die Böden

der andern nicht schiefer als unsere eigenen. Aber wie schief der Boden wirklich ist, auf den

das Schicksal einen Fuß setzt, kann kein anderer Fuß ermessen. Der Philosoph Wittgenstein

fand ein anderes Gleichnis dafür: „Du erinnerst mich an einen Menschen, der aus dem ge-

schlossenen Fenster schaut und sich die sonderbaren Bewegungen eines Passanten nicht er-

klären kann; er weiß nicht, welcher Sturm draußen wütet und daß dieser Mensch sich viel-

leicht nur mit Mühe auf den Beinen hält“ (zitiert nach Mc Guinness 1992).

Möglicherweise ist die moralische Güte bei allen Menschen gleich, nur die Gewichte und

Gegengewichte im Spiel der Kräfte, Zug und Gegenzug, Trieb und Sinn, sind unterschiedlich

ausgeprägt. – Wenn es den „freien Willen“ gibt, unterliegt er einer Art „Hebelgesetz“: So wie

ein Hebel nur Lasten bewegen kann, wenn die Länge des Hebels und der Winkel stimmt, kann

der „freie Wille“ nur wirksam werden, wenn er an der richtigen Stelle und unter den richtigen

Bedingungen ansetzt. Süchtige z.B. können in der Regel nicht einfach so, per „freier Willens-

entscheidung“, eine stabile Abstinenz etablieren. Sie müssen ihren Lebensstil verbessern, ihre

„emotionalen Reaktionsbereitschaften“ besser verstehen und händeln lernen, und die eine

oder andere Kompetenz entwickeln, z.B. mit Mädchen zu flirten auch wenn man im nüch-

ternen Zustand dabei immer rot wird. – Jedenfalls: Wir können nie wissen, ob jemand nicht

besser gewollt oder nicht besser gekonnt hat. Moralische Urteile sind nicht möglich [6]. –

Diese Erkenntnis ist relativ neu. Das alte Testament kennt sie noch nicht. Das neue schon.

Vorher gab es sie bereits in Griechenland (Theorie vom Verlust der sittlichen Einsicht) und

Indien (Buddha). Der Gott des alten Testaments ist noch zornig und hält Rache für okay, so-

fern die Regel „Auge um Auge“ gewahrt wird [7]. – 2000 Jahre sind für den Teufel keine lan-

ge Zeit. Deshalb kann er sich noch so echauffieren über den modernen Quatsch: über das neue

zivilisatorische Lernniveau, das nicht mehr moralisch wertet und dem Teufel nichts mehr

gönnt: „Herkömmliche Gewohnheit, altes Recht, man kann auf gar nichts mehr vertrauen!“

Dr. Marianus II: Auf dem Hintergrund der katastrophalen Kollektivismen des 20. Jahrhun-

derts mutet das Schlußgebet des Dr. Marianus mit seiner Forderung nach Unterordnung,

Selbstanklage („Reue“) und Dienstfertigkeit gruselig an. Doch im Kontext des vorhergehen-

den Geschehens der tätigen Liebe gesehen und in entreligiösifizierter Sprache ausgedrückt,

sagt der Doktor etwa: "Zusammenhalt rettet. Wer du auch bist: einer Gemeinschaft, in der

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wahrer Zusammenhalt herrscht, bist du nicht egal [„Retterblick“]. Das Leben auf die Gemein-

schaft ausrichten [zum Retterblick „aufblicken“] bedeutet: sich für den Zusammenhalt zu en-

gagieren [Dienst erbieten] und die Gemeinschaft als etwas anzuerkennen, das dir als Einzel-

nem überlegen ist und dem gegenüber eine gewisse Unterordnungsbereitschaft sinnvoll wäre

[„aufblicken“]. Erforderlich für den Erfolg des Engagements ist Selbstkritik mit Verände-

rungsbereitschaft [Reue] und Zurückhaltung [„Zartheit“, die rücksichtsvollen Bereitschaft,

eigene Ansprüche herunter zu schrauben]. In der idealen Gemeinschaft stellen die Einzelnen

Sinn über Trieb (Jungfräulichkeit), sind fürsorglich für einander engagiert (Mütterlichkeit),

anpassungsbereit (der Königin untertänig) und erleben den Zusammenhalt als einen der höch-

sten Werte (Göttin)“.

Wir sind von Natur aus gut (der „gute Mensch“, die „gute Seele“), aber das reicht nicht,

um die Potentiale, die im Zusammenhalt schlummern, zu entfalten. Dazu braucht es eines

„besseren Sinns“, eines Sinns, der durch Kultivierung über seine Natürlichkeit hinaus wächst.

– Gott hat Unrecht und der Teufel irrt selbst da, wo er Recht hat: Der gute Mensch glaubt

bloß, sich des rechten Weges dunkel bewußt zu sein, und gerät dadurch auf die schlimmsten

Abwege. Der Gute Wille kann die bösartigsten Formen annehmen: selbst Terroristen folgen

nur ihren Gewissensentscheidungen. Augustinus hat Recht: Wir können allein, aus eigener

Kraft, ohne „Gott“, den rechten Weg nicht finden. Wir brauchen die rechte Ausrichtung auf

die Gemeinschaft („Gott“): wir brauchen einander zur „Kurskorrektur“ [8]. – Im Gebet des

Kollegen ist Faust am Ziel: das Gute gesteht ein, daß es nicht hinreicht, und disqualifiziert das

Bessere nicht länger als Trug und Wahn.

Der Chorus Mysticus stimmt einen Lobgesang an, auf das, was er hier beobachtet hat. Seine

Zeilen sind nicht Kommentar sondern Ausdruck: Ausdruck des Staunens und der Freude:

Ewig-Weibliches und Ewig-Männliches: Ewig weiblich und ewig männlich sind allein die

Probleme, die aus den unterschiedlichen körperlichen Chancen entstehen. – Wie wir es auch

immer sonst noch verstehen wollen: wir können es auf eine Weise verstehen, die Frauen und

Männer nicht auf Rollen festlegt – denn Rollenfestlegungen wären selbst in dem Fall, daß es

tatsächlich biologisch konstituierte Wesensunterschiede zwischen den Geschlechtern geben

sollte, ein „naturalistischer Fehlschluß“ [9]. – Es lassen sich immer entgegensetzbare Einstel-

lungen finden, egal ob und wie wir sie symbolisch als „Männlich“ und „Weiblich“ kategori-

sieren : Das Forsche und das Fürsorgliche; das Aktive und das Rezeptive; das Technische und

das Soziale; das Zielstrebige und das Umsichtige; das Erfolgsorientierte und das Verständi-

gungsorientierte; das: „Man muß die Welt doch voran bringen!“ und das: „Es müssen doch

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alle satt werden!“ Ob eine Einstellung besser ist als die andere, sagt der Dichter nicht. Nur

daß die eine uns hinan zieht, die andere nach vorne. In einem mehrdimensionalen Raum ist

die eine nichts ohne die andere. Das auszusprechen ist Blasphemie in einer Kultur, die geprägt

ist von einem "selektiven Muster von Rationalisierung" (Habermas) und individuell zurechen-

bare technische Potenz infantil glorifiziert: „Guck mal Mammi, das hab ich ganz allein ge-

macht!“ – Das "ewig Weibliche" steht für die Einstellung, die Faust mangelt: für soziale Intel-

ligenz und kommunikative Rationalität – unabhängig davon, wie diese Vermögen in einer

Kultur mit dem Männlichen oder Weiblichen assoziiert sind.

„Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“: Wir brauchen nicht mehr zu wissen, als zum

Überleben der Gattung nötig. Deshalb erkennen wir auch nicht mehr von der Wirklichkeit, als

wir an Wirkung brauchen. Das, was darüber hinausgeht, bleibt uns verborgen. Bestenfalls

lassen sich gigantische Maschinen bauen, wie das CERN, um Phänomene zu erzeugen, aus

denen wir zu erschließen versuchen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Aber: „was sie

uns nicht offenbaren mag, das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben!“ Egal

wie weit wir im Zerlegen kommen: Struktur und Dynamik können wir immer nur fallibel und

modellhaft, also „vergänglich“ und „unzulänglich“ erschließen. (Aber die Art des Erschlie-

ßens könnten wir ins Museum stellen, als „ready made“: zur poetischen, „anmutigen“ An-

schauung der Findigkeit des Menschen. Auch so würde das Vergänglich-Unzulängliche „Er-

eignis“.) – „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“ können wir daher als eine poetische

Aufforderung verstehen, uns vom Konkreten, von der Erscheinung, anmuten zu lassen und

über die vermutbare Größe des Daseins, die sich im Konkreten zu offenbaren scheint, zu

staunen. (Die Gefahr ist allerdings: dieses Staunen religiös zu überhöhen: Aus dem Staunen

mit Ideen und Begriffen zurückzukehren und sie für den objektiven Gehalt des Staunens zu

verkaufen. Das führt bestenfalls zu neuen Mythen, schlimmstenfalls zu neuen Dogmen.)

Am Konkreten zeichnen sich die Strukturen und Potentiale des Daseins gleichnishaft ab.

Auf welches Konkrete bezieht sich der Chor hier? Auf Fausts Leben und Erlösung. Selbst

seine Fehler sind Erkenntnisgewinn, sie offenbaren etwas von den wirkenden Kräften, mit

denen wir Menschen es im Leben zu tun kriegen. – Und in der Erlösung Fausts zeigt sich die

Macht des Menschen im Erkennen und Überwinden. – So offenbart etwas Vergänglich-

Menschliches etwas vom Ewig-Männlich- und -Weiblichen.

„Das Unzulängliche, hier wird es Ereignis“: Anderswo ist das Unzulängliche kein Ereig-

nis, hier schon. Was normalerweise nicht der Aufmerksamkeit wert ist: hier zieht es sie auf

sich. – Wodurch? – Hier wird verziehen. Hier wird auf die Stärken geschaut. Hier werden Un-

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vollkommenheiten eingestanden. Hier werden Fehler nicht bewertet sondern erforscht. Hier

waltet Gnade. Hier übt man Abstinenzen: Der Pater Seraphikus kann helfen, ohne es brau-

chen, der Pater Ecxtaticus will niemand bestimmtes sein und ist bereit, sich alle Identitäten

zerschmettern zu lassen und Margarete verzichtet darauf es Faust heimzuzahlen (z.B. in Form

eines Umgangsrechtkriegs um die seligen Knaben: „Na warte du Arsch, du sollst mich ken-

nenlernen, dir werd ich es zeigen! Du wirst die Kinder nie wieder sehen!“). – Hier muß nicht

zwischen „Zulänglichem“ und „Unzulänglichem“ unterschieden werden, um im Handlungs-

druck des Lebens Vorteile zu ergattern und „heranzuraffen“. Hier hat man sich von diesem

Handlungsdruck so weit wie es geht emanzipiert. Hier gibt es kein „gut“ und „schlecht“. Da-

rin besteht der „bessere Sinn". Dadurch gerät das Unzulängliche, das Normale, Wahrschein-

liche und Erwartbare, das im Alltag keiner besonderen Aufmerksamkeit wert ist, in ein ande-

res Licht, es wird nicht mehr funktional bewertet, sondern in seinem Eigenwert betrachtet,

ähnlich wie John Cage, der die Emanzipation des Geräuschs in die Musik einführte, auf die

Frage eines Reporters, ob das Quietschen der Tür auch Kunst sei, antwortete: „If you cele-

brate it, it´s Art“; ähnlich wie von Zen-Meistern erzählt wird, daß Alltags-„Ereignisse“ sie zur

Erleuchtung brachten: das Klackern eines beim Fegen aufgewirbelten Steinchens.

„Das Unbeschreibliche, hier ist es getan“. – Das Vergängliche ist das Beschreibliche, in

dem das Unbeschreibliche gleichnishaft präsent ist. Hier wird etwas von diesem Unbeschreib-

lichen getan, konkretisiert. Das gelingt offenbar sehr selten, sonst würde der Chor hier nicht

so staunen. (Vielleicht standen die Choretiden, bevor sie in Jubel ausbrachen, mit offenen

Mündern da, wie die Fans einer Regionalmannschaft, die sich kurz vor Schluß mit einem ent-

scheidenden Tor in die zweite Liga spielt.) – In diesem Konkretisierten, in der tätigen Liebe

zwischen den Menschen, kommt das Göttlich-Unbeschreibliche offenbar besonders erstaun-

lich und bemerkenswert zum Ausdruck: in der Bereitschaft, sich über sich selbst zu desillu-

sionieren – in der Bereitschaft, aus der Schuld sich eine Pflicht zu machen (Buße) – im Ver-

zeihen – in der Art und Weise wie man sich hier gegenseitig uneigennützig zur Hand geht

(Kooperation) und schließlich in der Solidarität: im Zusammenhalten gegen ein gnadenloses

Schicksal, das jedem Paar Füße anders schiefe Böden unterschiebt.

Anmerkungen

[1]

"Die Geschichte aller Religionen und Philosophien lehrt uns, daß diese große, uns Menschen

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unentbehrliche Wahrheit von verschiedenen Nationen in verschiedenen Zeiten auf mancherlei

Weise, ja in seltsamen Fabeln und Bildern der Beschränktheit gemäß überliefert worden“

(Goethe nach Eibl 2000, S. 332).

[2]

Viel Spaß im Leben zu haben ist schön und gut. Aber zu wissen, daß man etwas beigetragen

hat zur Bewahrung oder Entwicklung der Zivilisation, kann ne´ Menge Spaß aufwiegen, so

sehr, daß sich ein mühseliges und schmerzensreiches Leben unter Umständen besser anfühlt,

als ein Spaßiges. Doch glücklicherweise schließen sich Spaß und Sinn nur selten gegenseitig

aus. - Ein Gedankenexperiment zum Gewicht von Spaß und Sinn: Es müßte komisch sein,

beim Sterben zu erkennen: „Mein Leben hatte nur für mich Bedeutung. Ich habe nichts be-

wahrt und nichts entwickelt und es wird keiner groß an mich denken. Keiner wird das Gefühl

haben, daß mein Dasein sein Leben ein wenig bereichert hat, und er etwas von dieser Berei-

cherung, so gering sie auch sei, weiter geben könnte.“

[3]

Das ist bei religiösen Perfektionisten offenbar kein unbekanntes Phänomen: „Was hast du ge-

sagt? Es gilt dir nichts, deine Seele für die endlose Ewigkeit zu verderben, nur um in diesem

flüchtigen Leben einem anderen zu helfen!“ (N. Leskow). – Für Thomas von Aquin kam es

auf die Liebe an, nicht auf Askese, Askese war nur eine mögliche Methode der Liebe. Luther

sah in der Askese die Gefahr, den falschen Schein zu erwecken, „als ob die eigentliche Sünde

vom Fleische, vom leiblichen Sein herkomme – statt aus dem ungläubigen Herzen“; und daß

„das augenfällige oder gar sensationelle asketische Leben nur allzuleicht zum Ausdruck geist-

licher Eitelkeit und Selbstgefälligkeit“ werden könne. (Refereriert aus dem Artikel „Askese“

in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1, S. 646.). Weitere Askesekritik findet man

bei M. Buber (Vorwort zu den „Erzählungen der Chassidim“) – weitere „Eremitenpoesie“ bei

Hermann Hesse („Der Beichtvater“ und „Indischer Lebenslauf“ aus dem „Glasperlenspiel“);

und bei Thomas Mann („Die vertauschten Köpfe“).

[4]

Ein weiser Rabbi hatte sich bei der Einschätzung des Zeitpunkts der Erlösung der Menschheit

vertan und rechtfertigte sich so: „Die gemeinen Leute haben die vollkommene Umkehr getan

oder können sie tun. Von ihrer Seite ist kein Hindernis. Das Hemmende sind die gehobenen

Menschen. Sie vermögen nicht zur Demut und so auch nicht zur Umkehr zu gelangen“.

Buber, Martin, „Hindernis“, aus: Die Erzählungen der Chassidim (1949), Zürich 2014, S.400

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[5]

Mit Annahmen und Zusatzannahmen kann fast alles begründet werden, es kommt dadurch ein

Moment der Willkür in die Interpretation. Warum ist Verzeihen noch nötig, wenn Margarete

schon gerettet ist? Antwort: Das „Gerettet“ bezieht sich nur auf den Kindsmord. Der vorehe-

liche Beischlaf ist noch ein offener Posten auf dem Schuldkonto. – Oder: Da Margarete kein

Verzeihen mehr braucht, weil sie gerettet ist, könnte es ja sein, daß die Büßerinnen Maria da-

rum bitten, daß sie Margarete ihre Fähigkeit zu Verzeihen ausleiht, um Faust zu verzeihen.

(Die Beispiele sind aus: Arens 1989 und Trunz 1949.) – Oder, bezüglich der Wette: Eibl

(1999) meint, Faust wolle den Teufel mit der Wette überlisten, denn ein Augenblick, der so

vollendet sei, daß er den Wunsch nach Ewigkeit erwecke, sei Menschen gar nicht möglich,

der Teufel habe also von vornherein verloren. Eibl bezieht sich dabei auf eine andere Stelle

im Werk Goethes, wo Goethe „Augenblick“ als punktuelles Erlebnis der Vollkommenheit

versteht. Auch hier stellt sich die grundsätzliche Frage, ob man nicht durch Bezüge auf andere

Schriften eines Dichters alles Mögliche in eine Stelle hineininterpretieren kann. Und auch hier

geht das nicht ohne Zusatzannahmen: „Wie ich beharre bin ich Knecht“, sagt Faust. Eibl müß-

te behaupten, daß Faust mit dem Wissen um die Unmöglichkeit eines vollendeten Augen-

blicks Mephisto vorsätzlich in die Irre führt, aber diese Absicht verschleiert in dem er so tut,

es gehe ihm darum, nicht bestechlich durch Bequemlichkeit zu sein... – All das sind Beispiele

für die „Unzulänglichkeit“ aller Wissenschaften: Jede Erklärung schafft an einer anderen Stel-

le „Anomalien“ (Kuhn 1973). Die Erklärungskraft der Erklärung fungiert dann als Erlaubnis,

die Anomalien ignorieren zu dürfen.– Die Naturwissenschaften haben es besser: Bei ihnen

findet die Denkwillkür ihre Grenze daran, ob Erklärungen dazu führen, unsere Handlungs-

möglichkeiten zu erweitern. (Zu den Begriffen Denkwillkür, Denkwiderstand, Denkstil: Fleck

1980). – In der Philologie würde es darum gehen, zusätzliche „Denkwiderstände“ zu beschaf-

fen. Z.B. könnte man Goethe ja zutrauen, „rezeptionspraktisch“ gedacht und das „Drehbuch“

so geschrieben zu haben, daß der Zuschauer auch ohne mit Professorenwissen um vier Ecken

herum gedacht zu haben, verstehen kann, worum es geht. Dann kämen nur die naheliegen-

deren Deutungsmöglichkeiten in Frage. – Ein anderer „Denkwiderstand“ könnte, wie oben

dargestellt, der szenische Sinn sein. – Es gibt in der Interpretationsliteratur Passagen, die –

ähnlich wie in der psychoanalytischen Literatur – so lächerlich abstrus wirken, daß es unfair

wäre, sie außerhalb ihres Zusammenhangs zu zitieren. Im Kontext eines Denkstils haben sie

jedoch Folgerichtigkeit und Berechtigung. (Beispiele bei Trunz.) -

Ein anderes Problem ist die validierungsignorante Konkretisierungsfaulheit. Ein Beispiel

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bei Eibl (2000, S. 57): "Wie können Ich und Gesellschaft miteinander versöhnt werden? Sie

können es nicht. Das durch Exklusion begründete Subjekt muss sich selbst ungemein wichtig

nehmen und hat als Entsprechung nicht die Gesellschaft sondern die Welt als das Ganze (da

es Gesellschaft nicht als Ganzes erleben kann)." – Mit „Exklusion“ meint Eibl: Das Indivi-

duum gehört verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereichen zu und in jedem muß es

sich nach anderen Normen richten: Der fürsorgliche Familienvater muß als Manager Fami-

lienväter entlassen und andere Familien dadurch in Armut stürzen. – Was ist an dem Problem

wirklich neu? Hatte ein antiker Kaufmann, der Mitarbeiter entließ, das nicht? – Und was soll

das heißen: das Subjekt hat eine "Entsprechung"? Und wie kann man Gesellschaft oder Welt

als Entsprechung haben? Und was soll das heißen: etwas als Ganzes empfinden? Und Gesell-

schaft so nicht mehr empfinden können, nur noch die Welt? – Wenn er weiß, wovon er

spricht, warum benennt er es nicht kurz und bündig? Ich fürchte, er glaubt nur, daß er weiß,

wovon er spricht, und er kratzt diesen Glauben lieber gar nicht erst an – denn konkreter zu be-

nennen, was er meint, würde bedeuten: schauen, ob wirklich drin ist, was es verspricht... (Ein

Beispiel für validierende Konkretisierung ist mein Aufsatz: „Verwaltung des Wohls“, in dem

ich J.Habermas These von der Kolonialisierung der Lebenswelt untersuche.) – Ich müßte

eigentlich einen Aufsatz schreiben: "Wittgenstein als Erzieher", aber mir fehlt die Zeit.

[6]

Unresozialisierbare Schwerverbrecher sind ein Prüfstein für die Solidarität einer Gesellschaft.

Es sind Menschen, in denen die menschlichen Widersprüche extrem ausgeprägt sind: der

Widerspruch zwischen dem Wunsch, etwas für sich selbst zu erreichen und dem, nicht ausge-

stoßen und verlassen zu werden. Sie wollen als Mensch unter Menschen existieren aber sie

sind so extrem ich-bezogen, daß sie dem, was eine Beziehung erfordert, systematisch zuwider

handeln. Sie sind berechnend, nutzen aus, instrumentalisieren, lassen anderen nicht ihr eige-

nes Leben, manipulieren, verletzen, zerstören, morden. – Es geht nicht darum, ihnen den frei-

en Willen abzusprechen. Sondern darum: daß bei ihnen ganz andere Kräfte am Werk sind als

bei uns, gegen die die Freiheit des Willen – so es sie gibt – gegenhalten muß. – Wir „norma-

len“ Bürger würden es doch gar nicht schaffen, richtig böse zu sein! Wir können uns doch

nicht etwas darauf zugute halten, gut zu sein, wenn wir gar nicht anders können! Das ist billig

und wurde von Wilhelm Busch mit Spott abgestraft: „Das Gute - dieser Satz steht fest - Ist

stets das Böse, was man läßt! - Ei, ja! Da bin ich wirklich froh! Denn, Gott sei Dank! Ich bin

nicht so!!“ - Das ist die moralische Perversion des Spießers, denn es verhält sich umgekehrt:

das Böse ist das Gute das man läßt. - Daß wir einen Menschen nicht ermorden können: ist das

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wirklich unser Verdienst? Was haben wir denn konkret dafür getan, daß wir so beziehungs-

fähig sind, daß unser Egoismus enge Grenzen hat? Wir tun ja gerade so, als müsse man das in

der Schule üben wie das Einmaleins und wir hätten immer brav unsere Hausaufgaben ge-

macht, während die Verbrecher bloß am Fernsehen abgehangen hätten. - Wären wir auch so

brave Bürger, wenn die Gegengewichte unseres hinreichend gut entwickelten sozialen Sinns

weg wären? - Schwerverbrecher sind gesunde Menschen mit erheblichen Einschränkungen in

ihrer Bezie-hungsfähigkeit, Einschränkungen, die dazu führen, daß sie für andere Menschen

gefährlich werden. Aber sie sind keine bösen Menschen. Böse Menschen gibt es nicht. Erst

wenn wir das ganz wertfrei sehen, kann sich abzeichnen, was wir uns gegen sie erlauben dür-

fen und ihnen dabei schuldig sind. Wir müssen uns gegen sie schützen. Aber wir müssen es so

tun, daß wir ihre Würde und ihr Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit nur so minimal

einschrän-ken, wie unser legitimes Schutzbedürfnis es erlaubt. Eine Sicherheitsverwahrung

darf keine Strafe sein. Das geht uns gegen den Strich, weil viele dieser Verbrecher sich einen

Dreck um die freie Entfaltung unserer Persönlichkeit scheren würden. Aber das darf keine

Rolle spielen.

Wie relativ die Gefährlichkeit von Menschen ist, sieht man an Faust: Faust tötet fahrlässig

Margaretes Mutter, ihren Bruder schlägt er im Duell tot, Margarete läßt er schwanger im

Stich, obwohl er weiß, daß sie dann aus der Gemeinschaft ausgestoßen wird. Nach dieser

privaten Katastrophe manipuliert er die Finanzmärkte, stürzt damit ein Land in einen Bürger-

krieg, mischt in diesem Krieg mit, um als Kriegsgewinnler ganz groß raus zu kommen, wird

durch Verstrickung in Piraterie reich und siedelt Einheimische so effektiv um, daß sie ums

Leben kommen. - Faust ist durchaus beziehungsfähig. Er ist keine dissoziale Persönlichkeit.

Was heißt das? Er könnte nicht kaltblütig ermorden oder einer Rentnerin auf den Kopf hauen

um ihr die Handtasche wegzunehmen. - Auch Eichmann oder Himmler hätten das wahr-

scheinlich nicht gekonnt. (Beispielhaft beschrieben im Roman von Robert Merle über den

Kommandanten von Auschwitz: „Der Tod ist mein Beruf“.)

Die Parameter menschlicher Bösartigkeit variieren unabhängig von einander. Wir sind

schon einen Schritt weiter als die meisten anderen Kulturen der Welt, die noch eine Unter-

scheidung von Binnen- und Außenmoral kennen: im eigenen Clan gilt eine andere Moral als

außerhalb. Aber unsere Beziehungsfähigkeit hat mit der Universalisierung unserer Moral

nicht mitgehalten: Wir können unsere Freiheit noch am Hindukusch verteidigen: „Nichts

schöneres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen, als ein Gespräch von Krieg und Kriegsge-

schrei, wenn hinten, weit, in der Türkei, die Völker aufeinanderschlagen. Man steht am Fen-

ster, trinkt sein Gläschen aus und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten, dann geht

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man Abends froh nach Haus und segnet Fried- und Friedenszeiten“. - (Vom Thema moralfreie

Erlösung handelt auch D. Seefelds Geschichte: „Subversion im Himmel“ - Über Erkenntnisse

der Hirnforschung zur Beeinträchtigung von Schwerkriminellen und Trainingsmöglichkeiten:

Interview mit Niels Birnbaumer im Spiegel 24/2014 S.118).

[7]

Obwohl es im Judentum auch andere Töne gibt: „Es darf uns nicht darum gehen, Gerechte zu

finden, sondern für die Sünder Gnade zu erflehen. Abraham suchte Gerechte und so mißlang

sein Unterfangen. Mose aber betete: “Vergib doch der Verfehlung dieses Volkes“. Buber,

Martin. Die Erzählungen der Chassidim (1949), Neuauflage, Zürich 2014, S.622

[8]

Wir brauchen keinen Glauben aber wir brauchen das Überindividuelle, um Individuum sein

zu können. Allein wären wir nicht einmal zur Sprache fähig. Wittgenstein verneinte die Mög-

lichkeit einer „privaten“ Sprache, einer Sprache, die man alleine erfindet und nur für sich

selbst haben kann. Denn er fragte sich, wie man sich alleine daran erinnern könne, was man

einmal mit einem Wort gemeint habe – man könne ja nie wissen, ob man sich richtig erinnere,

denn eine Erinnerung könne eine andere nicht korrigieren: „Es wäre, als kaufte man sich zwei

Exemplare einer Zeitung, um zu kontrollieren, ob sie auch die Wahrheit spricht.“ – Diese

Intuition für Gemeinschaftlichkeit hat sich durch die Kollektivismen des letzten Jahrhunderts

nicht weniger diskreditiert, als der individualistische Glaube des Faust-Prolog-Gottes an den

Orientierungssinn des von ihm erschaffenen „guten Menschen“. Kennzeichen von Kollekti-

vismen ist ein demagogischer Taschenspielertrick: die Erfindung eines Feindes. Im Angesicht

der Bedrohung sich nicht bedingungslos für die Gemeinschaft engagieren zu wollen wird

dann definiert als Sabotage. – Ein Zusammenhalt, der nur mit einem Feind, einer äußeren Be-

drohung funktioniert, ist bereits korrumpiert: Er braucht Denkverbote: Ein Saboteur ist schon

jeder, der an der herrschenden Auffassung von der Bedrohlichkeit der Bedrohung zweifelt. –

Ein weiteres Indiz für archaische, irrationale Gemeinschaftsbildung ist, den Mitgliedern kein

eigenes Leben zu zu gestehen: die Hingabe an „den Führer“ muß bedingungslos sein. Wer

abweicht, riskiert Ächtung. – Frag- und bedingungsloser Zusammenhalt gegen einen Feind,

der Erbarmungslosigkeit verdient, ermöglicht institutionalisiertes Mobbing. Auschwitz zeigt,

in welchem buchstäblich horrenden Ausmaß institutionalisiertes Mobbing kulminieren kann.

– Möglicherweise hat es noch nie ein wirklich ausgewogenes Verhältnis von Individuum und

Kollektiv gegeben. Immer scheint der Lauf der Dinge mal der einen, mal der anderen Seite zu

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viel Gewicht zu verleihen. Es wird eine Entwicklungsaufgabe der Zivilisation sein, eine aus-

gewogene Dialektik von Einzelnen und Gemeinschaft zu schaffen. Allerdings: Gesellschaft ist

nicht planbar. Jeder Plan beruht auf der Beschränktheit der Planer und wird zum Prokrustes-

bett, das alles abhackt, was in den Plan nicht paßt. Ein Plan enthält die Weisheit einiger Weni-

ger, die Geschichte braucht die Weisheit aller. Daher kann ohne Demokratie nichts gut gehen.

[9]

„Naturalistischer Fehlschluß“: Von Hume so genannte Einsicht, daß aus dem Sein (den

Naturgegebenheiten) kein Sollen (keine Moral) ableitbar ist. Selbst wenn herauskäme, daß

männliche Hirne besser zum Jagen, weibliche besser zur Kinderhege geeignet sind, heißt das

gar nichts. Die Blagen müssen nicht immer optimal verwöhnt werden und es muß auch nicht

jeden Tag Braten geben. Unsere natürliche Ausstattung verpflichtet uns zu nix. - Abgesehen

davon werden wir wahrscheinlich niemals rausfinden, welches Hirn für was besser geeignet

ist, dazu ist das Gehirn zu kompliziert. Außerdem gelten alle Unterschiede wahrscheinlich nur

statistisch: Der Abstand zwischen Männlich und Weiblich wird kaum irgendwo so groß sein,

daß alle Frauen dieses und alle Männer jenes besser können. Das Einzige was sicher ist: kraft

unserer ausgeprägteren Muskeln eignen wir Kerls uns besser zum Steineschleppen. -

Interessant ist, in der Literaturgeschichte zu verfolgen, welche Dichter ein Gespür für die

Benachteiligung der Frauen hatten. Goethes Margaretentragödie ist in diese Reihe zu stellen.

Gut ausgeprägt findet man es bei Maupassant, Tolstoi, Tschechow, Rilke.

Literatur

Arens, Hans: Kommentar zu Goethes Faust II. Heidelberg 1989.Eibl, Karl: Zur Wette im Faust. In: Goethe-Jahrbuch 116 (1999). S. 271 ders.: Das monumentale Ich, Frankfurt a.M. 2000.Dornes, Martin: Der kompetente Säugling. Frankfurt a.M. 1993Fleck, Ludwig: Die Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache (1939), Frankfurt a.M. 1980Kuhn, Thomas: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M. 1973Leskow, Nicolei, Der Gaukler Pamphalon. In: Meistererzählungen, Diederichs Leipzig 1952, S. 332.London, Jack, Das Haus Mapuhis, in: Phantastische Weltliteratur, hrsg. von Jorge Luis Borges, Bd. 7McGuinness, Alec: Wittgensteins frühe Jahre, Frankfurt a.M. 1992, S.433Rilke, Rainer Maria: Malte Laurids Brigge (1910), in: kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Frankfurt a.M. 1996, S.548ffTrunz, Erich, Kommentar zu Goethes Faust, in: Goethe, Hamburger Ausgabe Bd. 3, 1949

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