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1 1. Sokrates, oder: die Entdeckung der Ideen Euthyphrons Klage gegen seinen Vater Blicken wir also zurück! Schauen wir zunächst ins Athen des Übergangs vom fünften zum vier- ten Jahrhundert vor dem Beginn unserer Zeitrechnung! Unsere erste Quelle: Platons Dialog Euthyphron. Teilnehmer dieses Dialogs: Sokrates und Euthyphron. Schauplatz: ein Ort, dicht an der Halle des Basileus. Sokrates und Euthyphron begegnen sich nicht zufällig an dieser Stelle. Die Halle des Basileus war im Athen jener Zeit nämlich das Gebäude, in dem Anklagen wegen religiöser Verfehlungen sowie wegen Mord oder Totschlag verhandelt wurden. Und Sokrates ist beschuldigt worden, ein “Neuerer in göttlichen Dingen” zu sein und die Jugend Athens zu verderben - der Prozeß, den man ihm machen wird, und der schließlich, im Jahre 399, dazu führen wird, daß man ihn zum Tode verurteilt, ist nicht mehr fern. Euthyphron hingegen hat gegen seinen eigenen Vater Klage wegen Totschlags erhoben. Seinen eigenen Vater vor Gericht anklagen - das ist etwas, was damals noch mehr Aufsehen erre- gen mußte als es auch heute täte. Die Ereignisse, die Euthyphron zu diesem Schritt veranlassen, sind freilich auch unglückselig genug: einer von Euthyphrons Tagelöhnern hatte im Streit einen von Euthyphrons Knechten erschlagen, und war daraufhin vom Vater des Euthyphron in Fesseln gelegt und in eine Grube geworfen worden. Dort sollte er solange bleiben, bis man von den zu- ständigen Stellen Bescheid darüber erhalten hätte, wie mit ihm zu verfahren sei. In der Zwischen- zeit vernachlässigte man den Gefangenen jedoch, so daß er vor Kälte, Hunger und Bewegungsun- fähigkeit starb. Die juristische Beurteilung der Situation ist, soweit sie Euthyphron betrifft, von der damaligen Perspektive aus gesehen nicht einfach. Zur Zeit Sokrates’ und Platons war nämlich umstritten, ob man verpflichtet ist, gegen eigene Verwandte, die sich eines Verbrechens schuldig gemacht ha- ben, gerichtlich vorzugehen (wobei man allerdings wissen muß, daß es zu jener Zeit die Instituti- on des öffentlichen Anklägers, unseres heutigen Staatsanwalts, noch nicht gab). Aristophanes spielt in seiner Komödie Wolken offensichtlich auf Diskussionen an, die sich mit dieser Frage befassen 1 ; und Platon ist auf dieses Thema später noch mehrfach, so zum Beispiel im Dialog Gorgias 2 sowie in seinem Siebten Brief 3 zurückgekommen. Es ist also nicht weiter zu verwundern, daß Sokrates, kaum daß er gehört hat, was Euthyphron in der Halle des Basileus zu tun beabsichtigt, diesen darum bittet, näher zu begründen, warum er jenes traurigen Geschehens wegen seinen Vater vor Gericht anklagt. Auffällig ist indes, auf wel- che Weise Sokrates diese seine Bitte vorträgt. 1 Aristophanes, Wolken, 1321-1451. 2 Platon, Gorgias, 480b-c. 3 Platon, Siebter Brief, 331b-c.

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1. Sokrates, oder: die Entdeckung der Ideen

Euthyphrons Klage gegen seinen Vater

Blicken wir also zurück! Schauen wir zunächst ins Athen des Übergangs vom fünften zum vier-ten Jahrhundert vor dem Beginn unserer Zeitrechnung! Unsere erste Quelle: Platons Dialog Euthyphron. Teilnehmer dieses Dialogs: Sokrates und Euthyphron. Schauplatz: ein Ort, dicht an der Halle des Basileus.

Sokrates und Euthyphron begegnen sich nicht zufällig an dieser Stelle. Die Halle des Basileus war im Athen jener Zeit nämlich das Gebäude, in dem Anklagen wegen religiöser Verfehlungen sowie wegen Mord oder Totschlag verhandelt wurden. Und Sokrates ist beschuldigt worden, ein “Neuerer in göttlichen Dingen” zu sein und die Jugend Athens zu verderben - der Prozeß, den man ihm machen wird, und der schließlich, im Jahre 399, dazu führen wird, daß man ihn zum Tode verurteilt, ist nicht mehr fern. Euthyphron hingegen hat gegen seinen eigenen Vater Klage wegen Totschlags erhoben.

Seinen eigenen Vater vor Gericht anklagen - das ist etwas, was damals noch mehr Aufsehen erre-gen mußte als es auch heute täte. Die Ereignisse, die Euthyphron zu diesem Schritt veranlassen, sind freilich auch unglückselig genug: einer von Euthyphrons Tagelöhnern hatte im Streit einen von Euthyphrons Knechten erschlagen, und war daraufhin vom Vater des Euthyphron in Fesseln gelegt und in eine Grube geworfen worden. Dort sollte er solange bleiben, bis man von den zu-ständigen Stellen Bescheid darüber erhalten hätte, wie mit ihm zu verfahren sei. In der Zwischen-zeit vernachlässigte man den Gefangenen jedoch, so daß er vor Kälte, Hunger und Bewegungsun-fähigkeit starb.

Die juristische Beurteilung der Situation ist, soweit sie Euthyphron betrifft, von der damaligen Perspektive aus gesehen nicht einfach. Zur Zeit Sokrates’ und Platons war nämlich umstritten, ob man verpflichtet ist, gegen eigene Verwandte, die sich eines Verbrechens schuldig gemacht ha-ben, gerichtlich vorzugehen (wobei man allerdings wissen muß, daß es zu jener Zeit die Instituti-on des öffentlichen Anklägers, unseres heutigen Staatsanwalts, noch nicht gab). Aristophanes spielt in seiner Komödie Wolken offensichtlich auf Diskussionen an, die sich mit dieser Frage befassen1; und Platon ist auf dieses Thema später noch mehrfach, so zum Beispiel im Dialog Gorgias2 sowie in seinem Siebten Brief 3 zurückgekommen.

Es ist also nicht weiter zu verwundern, daß Sokrates, kaum daß er gehört hat, was Euthyphron in der Halle des Basileus zu tun beabsichtigt, diesen darum bittet, näher zu begründen, warum er jenes traurigen Geschehens wegen seinen Vater vor Gericht anklagt. Auffällig ist indes, auf wel-che Weise Sokrates diese seine Bitte vorträgt. 1 Aristophanes, Wolken, 1321-1451. 2 Platon, Gorgias, 480b-c. 3 Platon, Siebter Brief, 331b-c.

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Zunächst allerdings herrscht noch Einverständnis zwischen Euthyphron und Sokrates: Euthy-phron, das ist offensichtlich, klagt seinen Vater deswegen an, weil er ein solches Vorgehen unter den geschilderten Bedingungen für “fromm (οσιος)”, das Unterlassen einer Anklage hingegen für “ruchlos” (ανόσιος) hält.

Nur: eine Begründung, die sich allein auf diese Überzeugung stützt, genügt Sokrates’ Vorstellun-gen nicht. Denn offensichtlich verstehen nicht alle Menschen unter “fromm” und “ruchlos” das-selbe. Sokrates – hier berühren sich mithin dessen eigener Fall und der des Euthyphron – ist ja selbst unfrommer Handlungen bezichtigt worden, obwohl er bisher im guten Glauben lebte, keine religiösen Verfehlungen begangen zu haben. Er fordert Euthyphron daher dazu auf, ihm zu sagen, was seiner Meinung nach das Fromme und das Ruchlose seien.4

Euthyphron kommt dieser Aufforderung sogleich, ohne große Umstände zu machen, nach, und antwortet: fromm sei das,

“was ich jetzt tue, den Übeltäter nämlich, er habe nun durch Totschlag oder durch der Heiligtümer Beraubung oder durch irgend etwas dergleichen gesündigt, zu verfolgen, sei er auch Vater oder Mutter oder wer sonst immer; ihn nicht zu verfolgen aber, ist ruchlos.”5

Bemerkenswerterweise beläßt Euthyphron es allerdings nicht bei dieser bloßen Bestimmung des Frommen. Er liefert vielmehr auch noch eine Begründung für sie: dem Gottlosen nichts durchge-hen lassen, und wäre er wer auch immer, sei deswegen eine richtige Bestimmung des Frommen, weil

“die Menschen ja selbst den Zeus für den trefflichsten und gerechtesten aller Götter halten, und von diesem gestehen sie gleichwohl, daß er seinen eigenen Vater gefesselt, weil der seine Söhne verschluckt ohne rechtlichen Grund (...). Mir aber wollen sie bö-se sein, daß ich meinen Vater, der auch Unrecht getan, vor Gericht belange; und so widersprechen sie sich selbst in dem, was sie sagen in bezug auf die Götter und auf mich.”6

Die Ausführungen Euthyphrons bestehen also aus drei Schritten: sie beginnen

1) mit der Behauptung: “Ich, Euthyphron, der ich meinen Vater wegen Totschlags an einem Tagelöhner vor Gericht anklage, handle fromm”; sie setzen sich fort mit

2) einer Begründung für jene Behauptung, die aus einer allgemeinen Charakterisierung, einer “Definition”, von als “fromm” zu bezeichnenden Handlungen besteht: “Fromm ist, wer ei-nen Übeltäter, und sei es welche Person auch immer, (gerichtlich) verfolgt”; und daran schließt sich noch

3) eine Begründung für jene Begründung an, und zwar mit Hilfe eines Satzes wie: “Fromm ist, wer einen Übeltäter, sei es welche Person oder welcher Gott auch immer, verfolgt.”

4 Platon, Euthyphron, 5d. 5 Platon, Euthyphron, 5d. 6 Platon, Euthyphron, 5e-6a.

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Zwei Einwände gegen Euthyphrons Begründung seiner Klage

Das ist, in Hinsicht auf ihre Struktur betrachtet, also eine durchaus bereits recht komplexe Darle-gung. Sokrates allerdings gibt zu verstehen, daß sie ihn keineswegs zufrieden stellt. Und zwar macht er sogar ausdrücklich klar, daß seine Bedenken nicht so sehr mit dem Inhalt dessen zu tun haben, was Euthyphron gesagt hat, sondern mit den generellen Merkmalen der Art, in der Euthy-phron hier seinen Schritt 1) begründet. Inhaltliche Einwände hat Sokrates zwar auch – den Be-richt vom Kampf zwischen den Göttern, auf den Euthyphron anspielt, hält er für fragwürdig7 –, doch diese stellt er mit dem Ziel zurück, sich vorerst einmal über das von Euthyphron praktizierte Begründungsverfahren zu verständigen.

Was nun ist es, was Sokrates an Euthyphrons Art des Begründens seiner Behauptung auszusetzen hat? — Sieht man genauer zu, so sind es zwei Punkte.

Sokrates’ erster Einwand beruht darauf, daß die von Euthyphron mit Hilfe des Schrittes 2) bezie-hungsweise 3) gegebene Charakterisierung frommer Handlungen offensichtlich nicht umfassend genug ist.

Euthyphron gesteht nämlich, auf eine entsprechende Frage Sokrates’ hin, selbst zu, daß es Fälle von Handlungen gibt, die als fromm gelten, aber nicht unter jene beiden von ihm angeführten Be-stimmungen fallen8 (Ein Beispiel dafür fehlt an dieser Stelle, doch läßt es sich unschwer ergän-zen: Euthyphron und Sokrates würden sicherlich darin übereinstimmen, daß eine korrekt ausge-führte Opferhandlung als fromm zu bezeichnen wäre – und doch wäre dieser Fall durch die Cha-rakterisierungen Euthyphrons nicht abgedeckt). Der erste Einwand Sokrates’ gegen die von Euthyphron praktizierte Technik des Begründens einer Behauptung ist also: daß die Charakteri-sierungen, die Euthyphron zum Zweck der von ihm beabsichtigten Begründung heranzieht, nicht strikt allgemein sind.

Und der zweite Einwand? — Um ihn erkennen zu können, empfiehlt es sich, zunächst einmal den genauen Wortlaut der Bitte zu betrachten, mit der Sokrates Euthyphron zu seinen Darlegungen veranlaßt hat. Sokrates hatte diese Bitte so formuliert:

“So sage mir nun um Zeus’ willen, was du jetzt eben so genau zu wissen behauptest, woraus doch deiner Behauptung nach das Gottesfürchtige und das Gottlose bestehe, sowohl in Beziehung auf Totschlag als auf alles übrige. Oder ist nicht das Fromme in jeder Handlung sich selbst gleich und das Ruchlose wiederum allem Frommen entge-gengesetzt und sich selbst ähnlich, so daß alles, was ruchlos sein soll, soviel nämlich seine Ruchlosigkeit betrifft, eine gewisse Idee (ιδέα) aufweist?”9

Für Sokrates’ spätere Kritik an Euthyphrons Reaktion auf diese Bitte ist insbesondere deren letz-ter Teil wichtig. Sokrates glaubt nämlich, daß es Euthyphron mit seinen beiden Schritten 2) und 3) nicht gelungen sei, die “Idee” des Frommen beziehungsweise Ruchlosen zu charakterisieren.

7 Platon, Euthyphron, 6a-c; s. a. ders., Politeia, 377d-378c. 8 Platon, Euthyphron, 6d. 9 Platon, Euthyphron, 5c-d.

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Der entsprechende Dialogteil lautet;

“Sokrates: Du erinnerst dich doch, daß ich dir nicht dieses aufgab, mich einerlei oder zweierlei von dem vielen Frommen zu lehren, sondern jene Gestalt (ειδος) selbst, durch welche alles Fromme fromm ist, Denn du gabst ja zu, einer gewissen Idee we-gen, die es habe, sei alles Ruchlose ruchlos und das Fromme fromm. Oder besinnst du dich darauf nicht?

Euthyphron: Sehr wohl.

Sokrates: Diese Idee selbst also lehre mich, welche sie ist, damit ich, auf sie sehend und mich ihrer als Muster (παραδείγµα) bedienend, was nun ein solches ist in deinen oder sonst jemandes Handlungen, für fromm erkläre, was aber nicht ein solches, davon ausschließe.”10

Der zweite Einwand Sokrates’ gegen die von Euthyphron praktizierte Technik des Begründens einer Behauptung ist also, daß dieser sich in seinen zu Begründungszwecken herangezogenen Charakterisierungen nicht, oder zumindest nicht genügend, an der “Idee”, der “Gestalt” des je-weils Charakterisierten orientiere.

Berücksichtigt man die bisher betrachteten Stellen dieses Dialogs allein, so muß man freilich den Eindruck gewinnen, daß es sich bei Sokrates’ Bedenken gegen Euthyphrons Begründungsverfah-ren gar nicht um zwei Einwände, sondern lediglich um einen einzigen handelt: daß Euthyphrons Charakterisierung des Frommen nicht allgemein genug ausfällt, scheint für Sokrates hier damit gleichbedeutend zu sein, daß diese Charakterisierung nicht die “Idee” des Frommen (was auch immer dies im einzelnen heißen mag) trifft. Aus späteren Teilen dieses Dialogs geht jedoch her-vor, daß dies nicht richtig ist.

Im weiteren Verlauf des Gesprächs schlägt Euthyphron als Bestimmung für das Fromme nämlich auch vor: das sei fromm, was von allen Göttern geliebt wird. Und dieser Charakterisierung ge-genüber nun wendet Sokrates nicht mehr ein, sie sei mit dem einen oder anderen Gegenbeispiel unvereinbar, sei also nicht allgemein genug. Vielmehr meint er, eine solche Bestimmung treffe nicht das “Wesen” (ουσια) des Frommen, sondern nur eine seiner “Eigenschaften” (πάθος)11 – eine Bemerkung, die wir, so dunkel sie im Augenblick auch klingen muß, auf jeden Fall in dem Sinne lesen dürfen, daß Sokrates hier zu verstehen geben möchte, Euthyphron habe jetzt zwar eine strikt allgemeine Charakterisierung frommer Handlungen gefunden, aber eben keine, welche deren “Idee” herausarbeite.

Es scheint, so müssen wir also schließen, daß zwar eine jede Bestimmung der “Idee” von etwas strikt allgemein zu sein hat; daß aber nicht auch schon jede strikt allgemeine Bestimmung eines Gegenstands zugleich auch die “Idee” dieses Gegenstands trifft.

10 Platon, Euthyphron, 6d-e. 11 Platon, Euthyphron, 11a; vgl. auch ders., Menon, 71b.

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1.1 WAS IST EINE IDEE?

Es ist offenkundig, daß Euthyphron seine Schwierigkeiten hat, zu verstehen, was Sokrates eigent-lich meint, wenn er fordert, man möge die “Idee” des Gegenstands bestimmen, dessen Charakte-risierung in der Begründung für eine Behauptung herangezogen werden soll. Ebenso offenkundig ist freilich auch, daß Sokrates der Überzeugung ist, der Bezug auf die “Idee” eines Gegenstands sei ungemein bedeutsam für einen jeden Versuch, in dem es darum gebt, einen Konflikt gewalt- und listenfrei, nur unter Austausch von Gründen, zu beheben.

Die Lektüre des Euthyphron zeigt, wie wir soeben gesehen haben, daß Sokratos die Entscheidung in schwer wiegenden strafrechtlichen Problemen von dem Ergebnis, der Verwendung dieses spe-ziellen Begründungsverfahrens abhängig machen wollte. Aus anderen Dialogen geht hervor, daß er Probleme der Psychologie sowie der Erziehungslehre mit Hilfe des Bezugs auf “Ideen” zu lö-sen versucht hat: im Laches, dem Protagoras sowie dem Menon zum Beispiel wird die Frage aufgeworfen, ob tugendhaft handeln von seiner “Idee” her im strengen Sinne lehrbar sei oder ob man es hier mit einer Fähigkeit zu tun habe, die lediglich, unter Ausnutzung angeborener Eigen-schaften, eingeübt werden könne.12

Wieder anderen Dialogen läßt sich entnehmen, welch großes Gewicht dieser besondere Begrün-dungstyp Sokrates’ Überzeugung nach für Probleme der individuellen Lebensführung besessen hat: in der Politeia13 beispielsweise kritisiert Sokrates sich selbst an einer Stelle, weil er unmittel-bar zu entscheiden versucht hatte, ob gerecht sein als Schlechtigkeit oder Torheit, oder als Weis-heit und Tugend (und damit als vorteilhaft für das jeweilige Subjekt) aufzufassen sei, statt zu-nächst der Frage nachzugehen, “was das Gerechte ist” – eine Formulierung, mit der Sokrates hier wie an zahlreichen anderen Stellen andeutet, daß er sich auf die “Idee” eines bestimmten Gegen-stands beziehen möchte.

Doch was ist mit der Rede von der “Idee” von etwas – oder mit der von dem “Eidos”, wie es in Sokrates’ Kritik an Euthyphron auch hieß – eigentlich gemeint? Und worin liegt die besondere Bedeutung des Bezugs auf “Ideen” und dergleichem in der Geschichte des Begründens? — Das sind zwei Fragen. Beginnen wir mit dem Versuch, zunächst die erste zu beantworten.

Andere Bezeichnungen im Umkreis der Rede von Ideen

Die Wörter “idea” und “eidos” sind keineswegs die einzigen sprachlichen Mittel, die Sokrates in den im Augenblick für uns wichtigen Zusammenhängen benutzt. Ich habe bereits darauf hinge-wiesen, daß im Euthyphron auch das Wort “ousia” eine vergleichbare Rolle spielt.

Eine Bestätigung dafür, daß diese Gleichsetzung von “eidos” und “ousia” berechtigt ist, läßt sich dem Dialog Menon entnehmen. Sokrates stellt dort die Frage nach dem “eidos” der Tugend ausdrücklich parallel zur Frage nach der “ousia” einer Biene – beides seien nämlich Fragen, die darauf zielten, etwas zu ermitteln, was für alle einzelnen Fälle des betreffenden Etwas (für alle 12 Platon, Laches, 190b-c: Protagoras, 360e-361d: Menon, 70a-71d, 72c.

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einzelnen Bienen, beziehungsweise alle Fälle tugendhaften Handeins) charakteristisch ist. Anders ausgedrückt: beides seien Fragen, die darauf zielten, etwas zu ermitteln, um dessentwillen etwas etwas Bestimmtes – eben: eine Biene, eine tugendhafte Handlung, usw. – ist.14

Des weiteren spielt auch das Wort “paradeigma” (“Muster”) in diesem Kontext eine wichtige Rolle. Sokrates hatte in der oben (S. 4) zitierten Passage des Euthyphron ja davon gesprochen, daß man sich der “Idee” des Frommen in der Art eines “paradeigma” bedienen möge. Und derartige Formulierungen begegnen auch andernorts, so zum Beispiel im Dialog Theaitetos (176e), in der Politeia (500e) und im Timaios (28a, 28c, 29b, 39e, 48e-49a).

Ferner können auch gewisse grammatische Transformationen die Funktion erfüllen, die sonst die Wörter “idea” und “eidos” besitzen. Denn statt von der “Idee” dessen, was es besagt, fromm zu sein, redet Sokrates beispielsweise auch allein von dem, was “das Fromme” (τò όσιον) oder die “Frömmigkeit” (οσιότης) sei15 Das, was sonst mit den Wörtern “idea” oder “eidos” angezeigt wird, wird hier also durch die Substantivierung von Prädikaten ausgedrückt.

Überdies wird das mit einer solchen grammatischen Umwandlung Beabsichtigte häufig auch noch dadurch betont, daß Sokrates dem jeweils gewonnenen Substantiv das Wörtchen “αυτò” (“selbst”, “überhaupt”) hinzufügt – so zum Beispiel, um nur eine von vielen gleichartigen Stellen anzuführen, im Phaidon (74a), wo von “dem Gleichen selbst” (αυτò τò ισον) die Rede ist.

Und schließlich finden sich auch so auffällige Wendungen wie zum Beispiel “das Eine, was von allen ausgesagt wird (εν κατα πάντω)”16, “das, was in allen dasselbe ist (τò επι πασι ταύτον)”17, sowie, besonders häufig, die schlichte Formel “das, was etwas ist” (τί ποτ εστί)18.

Die Doppeldeutigkeit von “idea” und “eidos”

Gleichwohl sind die beiden Wörter “eidos” und “idea” am besten geeignet, um sich zu verdeut-lichen, worin die Pointe aller dieser Formulierungen liegt. Es ist durchaus nicht ohne Grund dazu gekommen, daß gerade eines von ihnen – das Wort “idea” – in der Nachwirkung der platoni-schen Dialoge eine besondere Rolle gespielt hat (auch wenn man Platon dabei häufig eine termi-nologische Konstanz unterstellt hat, die sich in Wirklichkeit in seinen Schriften nicht feststellen läßt).

Der Grund für die besondere Rolle von “eidos” und “idea” hängt eng mit ihrer Etymologie zu-sammen. Bei beiden handelt es sich um aus dem Verb “ιδειν” (“erblicken”) entstandene Substan-tive. Das deutsche Wort “Gestalt”, als Bezeichnung für die Gesamtheit der optisch wahrnehmba-ren Erscheinungsweise eines Gegenstands, kommt in der Tat nicht nur der Bedeutung von “ei-

13 Platon, Politeia, 354b-c. 14 Platon, Menon, 72a-c. 15 Platon, Euthyphron, 14c. S. a. die Rede von „dem Gerechten” (τò δίκαιον) und der “Gerechtigkeit” ( δικαιοσύνη) in der Politeia. 336a. 16 Platon. Menon. 73d. 17 Platon. Menon, 75a. 18 Vgl. zum Beispiel Protagoras, 361c; Lysis, 222b; Laches, 190c.

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dos” sondern auch der von “idea” sehr nahe.

Und es gleicht diesen griechischen Ausdrücken auch noch in einer anderen, besonders aufschluß-reichen Hinsicht. Betrachten wir beispielsweise einen Satz wie

(1) “Sieh nur diese sonderbare Gestalt dort hinten!”,

und vergleichen wir ihn mit einem Satz wie

(2) “Diese Biene hier und jene Biene dort haben dieselbe Gestalt”.

In diesen beiden Sätzen wird das Wort “Gestalt” in sehr verschiedener Weise verwendet. Man erkennt dies insbesondere daran, daß wir in Hinsicht auf den Gegenstand, der in (1) mit “diese sonderbare Gestalt dort hinten” angesprochen wird, danach fragen können, wo er sich aufhält, ob er sich zu einem bestimmten anderen Zeitpunkt als dem jetzigen dort immer noch zeigen werde, usw. – während solche Möglichkeiten zur räumlichen und zeitlichen Einordnung dessen, was das Wort “Gestalt” bezeichnen soll, im Hinblick auf seine Gebrauchweise in Sätzen wie (2) fehlen. Es wäre offensichtlich sinnwidrig, sich zu fragen, “an welchem Ort” sich die Gestalt dieser oder jener Biene “jetzt” befindet.

Wie ungewöhnlich diese Doppeldeutigkeit des Wortes “Gestalt” – die das deutsche Wort, wie gesagt, mit dem griechischen “eidos” und “idea” teilt19 – ist, das zeigt sich unter anderem beim Vergleich mit Ausdrücken wie “Muster” oder “Bild”. Beide sind zwar mit dem Wort “Gestalt” gewiß verwandt. Und doch wird man nicht sagen wollen, daß das Muster oder das Bild einer Biene etwas sei, was sich in räumlicher und zeitlicher Hinsicht nicht situieren lasse – wir können sagen, daß dieses oder jenes Bild einer Biene verkramt worden sei und sich nicht mehr auffinden lasse, wir können sagen, daß jenes Muster einer Biene (beispielsweise: ein entsprechend geform-tes Tonfigürchen) beinahe ein Raub der Flammen geworden sei, usw. usw. Und dabei ähnelt der Gebrauch von “Bild” beziehungsweise “Muster” immer dem Gebrauch von “Gestalt” in dem Satz (1), aber nicht dem Gebrauch dieses Worts in dem Satz (2).

Das ist sonderbar. Wie haben wir diese Doppeldeutigkeit von “Gestalt” – beziehungsweise von “eidos” und “idea” – zu verstehen? Anders formuliert: von was für einem Ding spricht man ei-gentlich, wenn man – beispielsweise – von der Gestalt mehrerer Bienen spricht? (Denn natürlich ist es dieser Gebrauch des Wortes “Gestalt”, und nicht so sehr der des Satzes (1), der Fragen auf-wirft),

Ideen sind “abstrakte Gestalten”

Aber ist es nicht recht problematisch, das Verständnisproblem, das Sätze vom Typ (2) aufwerfen, so zu formulieren, wie ich es soeben getan habe? Denn wenn man danach fragt, was für eine Art von Ding es sei, von dem in (2) mit Hilfe des Wortes “Gestalt” die Rede ist, scheint bereits vor- 19 Daß das griechische Wort “eidos” schon vor Sokrates in Sätzen des Typ, (2) verwendet worden ist, ist durch zahl-reiche Beispiele belegbar. So spricht Herodot etwa von mehreren “‘eide’ von Spielen” (Historien, I.94), und beson-

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entschieden, daß es sich in jedem Fall zumindest um etwas handeln müsse, was sich eben als “Ding” bezeichnen läßt. Und genau dies möchte sich ja bei genauerem Zusehen als Irrtum erwei-sen, Vielleicht ist die Rede von einem Ding – und damit von etwas, das “irgendwie” noch mit der Welt körperlicher Gegenstände verwandt ist – in diesem Zusammenhang irreführend?

Das sind wohl begründete Zweifel. Nur: wer sie formuliert, der sollte sich darüber im klaren sein, daß seine Bedenken die Frucht einer langen Reihe von Fehlschlägen zur Deutung von Sätzen wie (2) sind. Naheliegend ist eine derart umsichtige Zurückhaltung bei der Formulierung der Rätsels, welches diese Sätze aufwerfen, zunächst einmal ganz und gar nicht. Naheliegend ist vielmehr, speziell angesichts der trotz aller Unterschiede doch anscheinend nicht zu bestreitenden Ver-wandtschaft zwischen den beiden Gebrauchsweisen des Wortes “Gestalt”. eine andere Überle-gung.

Zugestanden: mit “dieselbe Gestalt” ist in dem Satz (2) etwas gemeint, was sich weder in räumli-cher noch in zeitlicher Hinsicht einordnen läßt. Aber ist es nicht doch ein “Ding”, nur eben eine besondere Art von “Ding”? Ist es nicht ein Ding, das gleichsam “über” oder “neben” den einzel-nen Bienen “schwebt” – etwas eben, was sich im üblichen, engeren Sinne zwar in der Tat nicht lokalisieren läßt, worauf wir aber doch in einem gewissen Sinne schauen, wenn wir uns bei-spielsweise fragen, ob dieses Insekt hier wirklich eine Biene ist?

Eine besondere Eigenart des deutschen Wortes “Gestalt”, darauf möchte ich mit diesen Formulie-rungen hinaus, ist es, daß es aufgrund seiner Doppeldeutigkeit auch dort, wo es dazu dient, sich auf etwas zu beziehen, was man raum-zeitlich nicht einordnen kann, gleichsam wie selbstver-ständlich dazu verleitet, den Gedanken an ein mit diesem Wort bezeichnetes “Ding” nicht auf-zugeben. Und eben jenes Kennzeichen ist es auch, was das deutsche Wort “Gestalt” mit den grie-chischen Wörtern “idea” und “eidos” teilt, und was wir uns bewußt machen müssen, um den Gebrauch und die Deutung dieser Wörter durch Sokrates und die an ihn anschließende Tradition verstehen zu können.

Wir drücken den Unterschied zwischen dem Gebrauch des Wortes “Gestalt” in Sätzen wie (1) einerseits und (2) andererseits heute so aus, daß wir sagen: im ersteren Falle diene dieses Wort dem Sprecher dazu, ein Konkretum (“die einzelne Gestalt dort”) zu bezeichnen, wohingegen es im zweiten Fall dazu benutzt werde, anzuzeigen, daß der Sprecher sich auf ein Abstraktum – hier auf das Abstraktum “die Gestalt mehrerer Bienen” – beziehen möchte. Und nach unserem heuti-gen Verständnis (sofern die Ergebnisse neuerer begriffskritischer Reflexionen darauf Einfluß ge-habt haben) ist damit ein radikaler Unterschied benannt, ein Unterschied, der es insbesondere verbietet, den zweiten Gebrauch des Wortes “Gestalt” in enger Analogie zum ersten zu verstehen. Für ein solches Verhalten gibt es indes von der Position Sokrates’ aus gesehen noch keinen Grund.

Für Sokrates – und damit auch, zumindest zunächst, für Platon – mußte es sich ganz einfach auf-drängen, Sätze der Art (2) – mit den griechischen Wörtern “idea” oder “eidos” – als Sätze auf- ders häufig begegnet diese Gebrauchsweise jenes Worts in den medizinischen Lehrbüchern der damaligen Zeit. Vgl.

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zufassen. in denen von höchst eigenartigen, und bisher in ihrer Besonderheit noch nicht hinrei-chend beachteten Gegenständen die Rede ist. Mit heutigen Worten gesprochen: es mußte sich ganz einfach aufdrängen, Formulierungen wie die von der “Gestalt mehrerer Bienen” (oder der “Gestalt tugendhafter Handlungen”, der “Gestalt von Menschen”. usw.) so zu deuten, als beziehe man sich damit auf etwas. was noch gleichsam vor der späteren, radikalen Trennung zwischen Konkreta und Abstrakta liegt. Es handelt sich hier um etwas, was zwar raum-zeitlich nicht situiert werden kann – aber es handelt sich eben doch auch um eine Gestalt.

Ein Stadium in der Entwicklung von Unterscheidungen also, in dem sich die Differenzierung zwischen Konkreta und Abstrakta zwar bereits abzeichnet, ohne daß sie jedoch bereits so scharf vollzogen werden würde, wie man es später tun sollte. Konkreta und Abstrakta bilden hier, wie man sagen kann, eine problematische Einheit – ganz anders als es in der Philosophie der Neuzeit, oder auch der Philosophie der Gegenwart, sein wird.

Um diesen Sachverhalt in abgekürzter Weise ansprechen zu können, werde ich im Folgenden die griechischen Wörter “idea” und “eidos”, so, wie sie von Sokrates beziehungsweise Platon ge-braucht und verstanden werden, gelegentlich mit “abstrakte Gestalt” übersetzen. Das Wort “Ge-stalt” soll dabei also daran erinnern helfen, daß jene Wörter für die damaligen Autoren untrenn-bar mit dem Gedanken an etwas Konkretes, “Dinghaftes” verbunden sind, das Adjektiv “ab-strakt” hingegen soll daran erinnern helfen, daß man sich sehr wohl auch bereits bewußt ist, es hier mit Gegenständen zu tun zu haben, die in manchem nicht den Gegenständen der üblichen Art entsprechen.

Die Substantivierung von Prädikaten

Werfen wir noch kurz einen Blick auf die Substantivierung von Prädikaten, auf jene grammati-sche Transformation also, die Sokrates ebenfalls benutzt, um das auszudrücken, was er sonst mit den Wörtern “idea”, “eidos”, usw., zu sagen versucht.

Produkte einer solchen Transformation – Formulierungen wie “τò υγρόν” (“das Feuchte”), “ τò θερµόν” (“das Warme”), “ τò ξηρόν” (“das Trockene”), usw. – haben auffälligerweise bereits lan-ge vor Sokrates im Mittelpunkt der philosophischen Reflexion gestanden.20 Und sieht man nun genauer zu, so fällt auf, daß wir es auch hier mit etwas zu tun haben, was zwischen unserer heuti-gen Unterscheidung zwischen Abstrakta und Konkreta eigentümlich schwankt: auf der einen Sei-te würde man es als sinnwidrig empfinden, danach zu fragen, “wo” sich beispielsweise “das Feuchte” “zur Zeit” befinde. Aber widerspräche es auf der anderen Seite auch unserem Sprach-empfinden, davon zu reden, daß “das Feuchte” selbstverständlich feucht ist? — Wohl kaum. Und doch hat dies nur dann Sinn, wenn man “das Feuchte” nicht als Bezeichnung für ein Abstraktum nimmt. (Anders verhält es sich da schon, zumindest im Deutschen, mit Wörtern wie “Feuchtig-keit”, “Trockenheit”, “Wärme”, usw. Es wäre ungewöhnlich, zu sagen, die Feuchtigkeit sei

dazu C. M. Gillespie, “The Use of είδος and ιδέα in Hippocrates”. 20 Vgl. dazu z.B. K. Reinhardt, Parmenides, S. 250-257.

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feucht, die Trockenheit trocken, usw.21)

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang im übrigen noch, daß es eine literarische Gattung gibt, die, historisch gesehen, bereits vor dem Auftreten erster philosophischer Darlegungen zu beobachten gewesen ist, und in der ebenfalls ganz typisch von “Dingen” gesprochen wird, die gleichermaßen Züge von Konkreta wie Abstrakta aufweisen: die Fabeln.

Wittgenstein hat in einer seiner Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik auf diesen Umstand aufmerksam gemacht:

“In der Tierfabel heißt es: ‘Der Löwe ging mit dem Fuchs spazieren’, nicht ein Löwe mit einem Fuchs; noch auch der Löwe so und so mit dem Fuchs so und so. Und hier ist es doch wirklich so, als ob die Gattung Löwe (also ein Abstraktum, A.R.), als ein Lö-we (als Konkretum, A.R.) gesehen würde, (Es ist nicht so, wie Lessing sagt, als ob statt irgendeinem Löwen ein bestimmter gesetzt würde, ‘Grimmbart der Dachs,’ heißt nicht: ein Dachs mit Namen ‘Grimmbart’.)”22

1.2 WORIN LIEGT DIE BEDEUTUNG DER ENTDECKUNG DER IDEEN?

Fassen wir kurz zusammen: wenn man Sokrates’ Rede von der Idee, dem Eidos, usw., von etwas verstehen will, so tut man dies am besten, indem man derartige Formulierungen vor dem Hinter-grund einer bestimmten Besonderheit des üblichen Gebrauchs jener Wörter sieht – einer Beson-derheit, die jene Wörter mit dem heutigen deutschen Wort “Gestalt” teilen: diese Ausdrücke sind doppeldeutig. Sie können sowohl für ein Konkretum wie für ein Abstraktum stehen. Wobei man freilich annehmen darf, daß sie dann, wenn sie ein Abstraktum bezeichnen, für viele ihrer Benut-zer noch den einen oder anderen Zug mit sich nehmen, der eigentlich ihre Anwendung auf Kon-kreta kennzeichnet.

Doch warum ist es so sonderlich wichtig gewesen, daß Sokrates, und alle seine Nachfolger, diese Doppelbedeutung von “idea” und “eidos” zu nutzen begannen? Anders ausgedrückt: was macht eigentlich die Pointe dieses Schritts aus (wenn er denn wirklich eine haben sollte)?

Nun, ich habe es bereits mehrmals angedeutet: die Pointe dieses Schritts liegt darin, daß er einer sich zuvor bereits abzeichnenden neuen Phase in der Geschichte des Begründens von Behauptun-gen – der Phase des “philosophisch” vermittelten Begründens, wie wir hier sagen wollen – gleichsam einen zusätzlichen Schub zu ihrer Weiterentwicklung versetzte.

Was ist damit gemeint? — Um diese Frage mit der an sich gebotenen Sorgfalt beantworten zu können, wären eigentlich ausführlichere Untersuchungen über die “vorphilosophische” Geschich-te des Begründens geboten. Solche Untersuchungen gibt es freilich bisher kaum. (Ohnehin ist die Geschichte dieser menschlichen Institution eigentümlicherweise nur selten ein eigenständiges Forschungsthema gewesen – sie kommt in der Regel nur als Nebenaspekt von Erörterungen zur Sprache, die sich in der Hauptsache mit anderem befassen.) Und der Versuch, dieses Defizit hier 21 Ebenso argumentiert bereits W. K. C. Guthrie, History of Greek Philosophy, Bd. IV, S. 119, im Hinblick auf den Unterschied zwischen “das Fromme” und “Frömmigkeit”.

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auszugleichen, würde uns zu sehr von der Verwirklichung unserer eigentlichen Absichten entfer-nen. Begnügen wir uns daher damit, uns kurz einige wenige Eigenheiten der Geschichte des vor-philosophischen Begründens von Behauptungen zu vergegenwärtigen, die für unser eigentliches Interesse besonders wichtig sind.

Ein Mißverständnis, oder: Sokrates verlangt mehr, als manchmal geglaubt wird

Man hat gelegentlich behauptet, das Neue, was Sokrates in die Geschichte des Begründens einge-führt habe, lasse sich so beschreiben:

Zum normalen Gebrauch der Sprache gehöre es – von einigen Spezialfällen einmal abgesehen –, daß man neben anderen Wörtern auch Prädikate, besser: generelle Ausdrücke23, wie zum Beispiel “rot”, “Mensch”, “fromm”, usw., benutzt. Und das heißt: man muß, wenn man die Sprache ver-wenden möchte, wissen, wann Ausdrücke dieses Typs einem Gegenstand, oder mehreren Gegen-ständen, zu- oder abgesprochen werden dürfen.

Dieses Wissen wird freilich in der Regel nicht schon gleich ein ausdrückliches Wissen, sondern allein ein Können sein. Will sagen: man wird die entsprechenden Ausdrücke mehr oder weniger korrekt anwenden können. Man wird, vielleicht, auch fähig sein, ihren Gebrauch mit Hilfe von Beispielen zu erläutern. Aber man wird nicht auch schon von vornherein in der Lage sein, aus-drücklich zu formulieren, unter welchen Bedingungen sie anzuwenden sind.

Das Neue nun, das einigen Autoren zufolge mit Sokrates in der Geschichte des Begründens be-gegnet, soll darin liegen, daß Sokrates als erster den Übergang vom bloß durch Beispiele erläu-terbaren Können im Gebrauch genereller Ausdrücke zum explizit artikulierbaren Wissen über diesen Gebrauch vollzieht. W. Wieland beispielsweise hat eine solche These in seiner Arbeit über Platon und die Formen des Wissens24 vertreten.

Ich werde später (§ 1.2.3) zu zeigen versuchen, daß diese These auch ein bestimmtes generelles Problem aufwirft, ein Problem, das mit der Interpretation historischer Texte überhaupt zu tun hat. Im Augenblick möchte ich jedoch nur darauf hinweisen, daß sie schlicht dem widerspricht, was in mehreren der Dialoge Platons wirklich zu finden ist.

22 L. Wittgenstein, BGM, VII.36 (S. 403). 23 ‘Generell” heißen jene Ausdrücke der Sprache, die dazu dienen, Unterschiede oder Gemeinsamkeiten zwischen mehreren einzelnen Gegenständen zu bezeichnen. Ihr Gegenstück sind die ‘singulären” Ausdrücke – Eigennamen wie “Platon”, Kennzeichnungen wie ‘der Mann, der als erster die hundert Meter in unter zehn Sekunden lief”, usw.: diese werden dazu benutzt, um kenntlich werden zu lassen, auf welchen einzelnen Gegenstand man sich jeweils mit der betreffenden ‘sprachlichen Äußerung beziehen möchte. Da generelle Ausdrücke selbstverständlich auch an der Subjektstelle eines Satzes auftreten können (wie z.B. in “Menschen sind sterblich”), ist der syntaktische Terminus “Prädikat” eigentlich ungeeignet, um als Äquivalent für ‘genereller Ausdruck” zu dienen. Gleichwohl ist es weitgehend üblich, beide Termini in gleicher Bedeutung zu ver-wenden. 24 W. Wieland. Platon und die Formen des Wissens, S. 126f. Ähnlich bereit, K. von Fritz, Philosophie und sprachli-cher Ausdruck, S. 38f.

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Zwar gilt sie für einen Dialog wie den Hippias I25 (bei dem allerdings nicht sicher ist, ob er von Platon stammt), sowie für den Theaitetos26. Aber auf die frühen Dialoge Laches, Menon und Euthyphron, in denen der historische Sokrates wohl noch am ehesten in von Platon nicht verän-derter Weise zur Sprache kommt, trifft sie nicht zu.

Die Auseinandersetzung zwischen Laches und Sokrates in dem nach jenem benannten Dialog zum Beispiel beginnt damit, daß Laches “tapfer sein” in der folgenden Weise charakterisiert: “(...) wenn jemand pflegt in Reihe und Glied standhaltend die Feinde abzuwehren und nicht zu fliehen, so wisse, daß ein solcher tapfer ist.”27

Menon unterscheidet, in dem ihm gewidmeten Dialog, auf die Frage nach der Idee der Tugend zwar zunächst zwischen der Tugend des Mannes und der der Frau. Aber das sind keine bloßen Beispielaufzählungen. Denn anschließend werden diese beiden Arten der Tugend von ihm durch-aus in allgemeiner Weise umschrieben. Die Tugend des Mannes, so erläutert Menon, bestehe dar-in, “die Angelegenheiten des Staates zu verwalten und in seiner Verwaltung seinen Freunden wohl zu tun und seinen Feinden weh, sich selbst aber zu hüten, daß ihm nichts dergleichen bege-gne”; während die tugendhaften Frauen “das Hauswesen gut verwalten müssen, alles im Hause gut imstande haltend und dem Manne gehorchend.”28

Und was schließlich den Euthyphron angeht, so haben wir ja bereits gesehen, daß Sokrates’ Part-ner in diesem Dialog von vornherein darum bemüht ist, ausdrücklich, und nicht allein mit Hilfe von Beispielen, zu erklären, wann man vom Vollzug einer “frommen Handlung” sprechen darf.

Das, was Sokrates in diesen drei Dialogen an seinem jeweiligen Gegenüber kritisiert, kann also nicht sein, daß dieser überhaupt keine allgemeinen Charakterisierungen des Gebrauchs eines be-stimmten generellen Ausdrucks vortrüge, sondern allenfalls, daß die allgemeinen Charakterisie-rungen – die “Definitionen” –, die er sehr wohl gibt, nicht allgemein genug sind.

Doch das ist in Wirklichkeit noch nicht einmal der allein entscheidende Punkt. Denn wir wissen ja bereits (s.o., S. 3f.), daß es eigentlich zweierlei ist, was Sokrates dem Euthyphron, dem Menon und allen anderen in kritischer Absicht abverlangt: nicht nur, daß sie in strikt allgemeiner Weise charakterisieren sollen, was es heißt, fromm, tugendhaft, schön usw., zu sein. Sie sollen dies auch im Blick auf die “idea”, das “eidos” usw. “des” Frommen, Tugendhaften, Schönen, usw., tun. Die von Sokrates bewirkte Neuerung in der Geschichte des Begründens muß also in etwas ande-rem zu suchen sein als in dem, was Wieland und andere Interpreten behauptet haben.

1.2.1 Zwei vorphilosophische Phasen in der Geschichte des Begründens

Ohnehin sollten wir uns davor hüten, die Fähigkeiten des Begründens von Behauptungen, über

25 Als Antwort auf die Frage nach dem, was “das Schöne” sei, zählt Hippias auf: ein schönes Mädchen, eine schöne Stute, eine schöne Leier, das Gold, usw. (Hippias I, 287c-291c). 26 Als Antwort auf die Frage, was Erkenntnis sei, führt Theaitetos an: die Meßkunst, die Schuhmacherkunst sowie alle anderen handwerklichen Künste (Theaitetos, 146c-d). 27 Laches, 190e. 28 Menon,71e.

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die Menschen vor Sokrates’ “Entdeckung” der Ideen verfügt haben, als etwas sehr Einfaches auf-zufassen.

Denn selbstverständlich hat es in allen sozialen Gebilden, die den Namen “Gesellschaft” verdie-nen, schon früh Konflikte über die Verteilung von Eigentum und Macht, über das angemessene Handeln bei der Jagd oder beim Bestellen des Ackers, über die Form religiöser Riten, über die Art der Zeitrechnung, usw. usw., gegeben, Und wer glaubt, daß alle diese Konflikte immer nur “naturwüchsig”, durch die nackte Ausübung von Gewalt oder auch List, behoben worden sind, für den dürfte es schwierig sein zu erklären, warum diese Gesellschaften über längere Zeiträume hinweg haben bestehen können und nicht auseinandergefallen sind – Gewalt und List sind schließlich keine sonderlich wirksamen sozialen Bindemittel.

Nein, das, wovon wir auszugehen haben, ist etwas ganz anderes. In allen diesen Gesellschaften muß es schon früh dazu gekommen sein, daß man Konflikte der genannten Art zwar nicht immer, wohl aber doch in manchen, besonders wichtigen Fällen unter dem Austausch von “Gründen” zu lösen versuchte. Und ein wichtiger Teil dieser Gründe muß aus allgemeinen Charakterisierungen, frühen Formen von “Definitionen” dessen bestanden haben, was die “richtige” Verteilung von Eigentum und Macht, das “richtige” Handeln bei der Jagd, dem Ackerbau, den religiösen Ritua-len, usw., ausmacht.

Natürlich sind dies “vorphilosophische” Formen des Begründens gewesen. Nur, wie gesagt: “vor-philosophisch” heißt nicht, daß man noch nicht fähig wäre, allgemein geltende Überlegungen vorzutragen. Ja, mehr noch. Es muß nicht einmal heißen, daß man nicht fähig wäre, auch derarti-ge allgemeine Charakterisierungen selbst noch zu begründen. Betrachten wir, was damit gesagt ist, etwas genauer!

Daß sich ein Zwang auch zur Begründung der allgemeinen Charakterisierungen (und nicht allein der jeweiligen Ausgangsbehauptungen) einstellen mußte, ist unschwer einzusehen. Die praktische Bedeutung einer zu Begründungszwecken herangezogenen allgemeinen Charakterisierung der korrekten Form des Jagens, des Ackerbaus, der Ausübung religiöser Riten beispielsweise ist ein-fach zu groß; hier muß es zu Zweifeln, zu weiteren Auseinandersetzungen – Auseinandersetzun-gen über die Gründe für Gründe also – gekommen sein. Bemerkenswerterweise zögert ja auch Euthyphron nicht, von sich zu behaupten, er könne eine “Begründung” für seine anfängliche all-gemeine Charakterisierung frommer Handlungen geben.29

Doch wie mögen diese Begründungen ausgesehen haben? — Nun, im wesentlichen wird man zu zwei strukturell verschiedenen Arten des Begründens auch noch der allgemeinen Charakterisie-rungen gelangt sein.

Die auf Beispiele gestützte Art des Begründens

Die eine Begründungsform – die zugleich die strukturell weniger komplexe ist – besteht daraus,

29 Das griechische Wort, das Euthyphron benutzt, ist “τεκµήρον” (Euthyphron, 5e).

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daß man sich auf ad hoc herausgegriffene Beispiele stützt. Du bezweifelst, ob meine Charakteri-sierung dessen, wie man Mais anpflanzt, richtig ist? — Dann werde ich dir den Maisanbau bei der nächsten Gelegenheit vorführen. Es gibt einen Konflikt darüber, ob diese Charakterisierung der Riten des Erntefestes richtig ist? — Dann schau dir an, wie unsere Ältesten diese Riten voll-ziehen, und du wirst feststellen, daß meine Charakterisierung die Sache trifft! – Und so weiter, und so weiter.

Gemessen an dem Wunsch, Konflikte zwang- und listenfrei, nur unter Berufung auf Gründe, be-heben zu können, birgt der Versuch, allgemeine Charakterisierungen unter Bezug auf ad hoc he-rausgegriffene Beispiele zu verteidigen, freilich noch eine ganze Reihe von systematisch beding-ten, unauflösbaren Schwierigkeiten.

Da ist einmal der Umstand, daß ein solches Verfahren an das gebunden ist, was sich in der jewei-ligen Redesituation wahrnehmen läßt: darüber, welches die richtige Charakterisierung des Mais-anbaus oder der Riten des Erntefestes ist, wird man in dieser Phase der Geschichte des Begrün-dens immer erst entscheiden können, sobald die Zeit des Maisanbaus beziehungsweise des Ernte-festes gekommen ist.

Und es gibt noch einen weiteren, für unseren augenblicklichen Zusammenhang sogar noch wich-tigeren Nachteil. Er ergibt sich daraus, daß dieses Verfahren nur unter einer bestimmten Bedin-gung funktionieren kann: unter der Bedingung, daß die Beispiele, die der jeweilige “Proponent” – um ihn so zu nennen – heranzieht, vom “Opponenten” auch als einschlägige Beispiele akzeptiert werden. Ist diese Bedingung nicht erfüllt; betrachtet der Eine das, was der Andere als seine all-gemeine Charakterisierung stützendes Exempel anführt, als ein inadäquates Exempel, bricht die-ses Begründungsverfahren zusammen. Und zwar ohne daß es innerhalb dieser Phase der Ge-schichte des Begründens Möglichkeiten gäbe, einen solchen Zusammenbruch unter Rückgriff auf weitere, weniger problemträchtige Gründe zu verhindern.

Es ist ganz entscheidend zum Verständnis dieser frühen Stadien in der Geschichte des Begrün-dens, daß man sich Klarheit darüber verschafft, wie anfällig Begründungen unter Bezug auf ad hoc gewählte Beispiele gegenüber Störungen sind, welche gerade mit der soeben genannten Be-dingung zusammenhängen. Man vergegenwärtige sich nur noch einmal die Situation, in der zwei, oder mehr, Sprecher sich uneins sind über die Eigenheiten eines bestimmten Ritus, und diesen Konflikt dadurch zu lösen versuchen, daß sie auf Beispiele für den Vollzug jenes Ritus zurück-greifen:

Die Sache wäre verhältnismäßig einfach, wenn es zwischen einem jeden Vollzug eines bestimm-ten Ritus, und damit auch zwischen jedem potentiellen Beispiel, keinerlei Unterschiede gäbe. Aber das trifft natürlich niemals zu. Immer gibt es irgend etwas, das anders ist: mal nehmen fünf Personen am Ritus teil und mal sechs; mal wird er abends vollzogen, mal mitten in der Nacht; mal bedient man sich bei seinem Vollzug gewisser Strohpuppen, mal kleiner Tonfiguren, usw. usw. .

Der Leser wird vielleicht einwenden: von vielen dieser Unterschiede müsse man eben absehen,

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auf sie komme es in Hinsicht auf das, was der betreffende Ritus ist, was zu seinem “Wesen” ge-hört, nicht an. Doch halt! Genau mit solchen Formulierungen haben wir bereits Gebrauch ge-macht von Unterscheidungen – zwischen den “wesentlichen” und den “unwesentlichen” Eigen-schaften von etwas, usw. –, die wir an dieser Stelle noch nicht voraussetzen dürfen. Diese Unter-scheidungen wollen erst ausgebildet sein, und der Prozeß, der zu ihnen führt, ist ein Prozeß ge-wesen, der Jahrhunderte kultureller Entwicklung benötigt hat.

Die auf Mythen gestützte Art des Begründens

Zunächst einmal jedenfalls – das heißt, bevor die Rede von “wesentlichen” und “unwesentlichen” Eigenschaften möglich wird – müssen wir mit dem Auftreten einer weiteren, zweiten Form des “vorphilosophischen” Begründens von allgemeinen Charakterisierungen rechnen.

In einer gewissen Hinsicht stellt nämlich bereits diese Form des Begründens von Behauptungen Wege zur Beseitigung wichtiger, systematisch bedingter Unzulänglichkeiten des auf Beispiele angewiesenen, des “anschauungsgebundenen” Begründens bereit. Denn der Rückgriff auf Bei-spiele spielt hier zwar ebenfalls eine bedeutsame Rolle; doch sind dies jetzt Beispiele besonderer Art. Es sind zum einen Beispiele, auf die man häufig auch dann verweisen kann, wenn sie in der jeweiligen Redesituation nicht präsent sind. Und, noch wichtiger: es sind zum zweiten Beispiele eines gleichsam standardisierten und besonders ausgezeichneten, nicht mehr nach dem Gutdün-ken der jeweiligen Sprecher ad hoc auswählbaren Typs.

Wie ist dies möglich? — Die Antwort auf diese Frage ist einfach: durch das Auftreten von My-then. Die zweite “vorphilosophische” Kunst des Begründens von allgemeinen Charakterisierun-gen ist eine sich auf Mythen stützende Begründungskunst.

Denn was sind Mythen? — Es sind (jedenfalls in der Bedeutung dieses vielfältig verwendeten Worts, welche die für unseren Zusammenhang wichtigste ist) Erzählungen von Ereignissen, die aus den raum-zeitlich einordbaren Abläufen der Alltagsgeschehen herausgehoben sind.

Mythen sind typischerweise Entstehungsmythen. Doch darf man, wenn man hier von “Entste-hungen” spricht, nicht an etwas denken, was in der historischen Zeit abläuft. Es handelt sich vielmehr um Ereignisse, die in einem Zustand der Welt “beginnen”, in dem diese noch nicht eine in Klassen verschiedenartiger Gegenstände gegliederte Welt ist, sondern zu einer solchen – und zwar für alle Zukunft – erst wird. Und eben darauf beruht die Fähigkeit der Mythen, standardi-sierte und besonders ausgezeichnete Gründe für die eine oder andere allgemeine Charakterisie-rung bereitzustellen. Ein Mythos liefert im Rahmen dessen, was er erzählt, gewissermaßen ein für allemal Muster – in der Mythos-Theorie der deutschen Romantik sprach man in diesem Zusam-menhang gern von “Symbolen”30 – für die allgemeine Charakterisierung dessen, was den Men-schen, bestimmte Tierarten, einen bestimmten Ritus31, das richtige Vorgehen bei der Jagd, die

30 Siehe die Nachweise bei M. Frank, Der kommende Gott, S. 91-94 31 Die Beziehung zwischen Ritus und Mythos ist in der Literatur umstritten. Ich habe mich hier der Position ange-schlossen, die zum Beispiel von B. Malinowski und E. Cassirer vertreten wird. Malinowski schreibt: “Der Mythos

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Verteilung von Machtpositionen innerhalb einer bestimmten Gesellschaft, usw., usw., kennzeich-net.

Mit Hilfe eines Mythos können sich die Mitglieder eines sozialen Verbands also wechselseitig einsichtig zu machen versuchen, daß es ihrer je-individuellen Willkür entzogener Gründe wegen so ist, daß gewisse jener Charakterisierungen die “wahren” sind. Nicht die den momentanen Ein-fällen einzelner Personen nach herausgegriffenen, von Fall zu Fall variierenden Beispiele liefern die Basis für eine Begründung; sondern etwas, was von den an einer Diskussion Beteiligten (je-denfalls ihrer eigenen Einschätzung nach) unabhängig und immer dasselbe ist.

Der Mythos, so heißt es denn auch bei dem bekannten Religionswissenschaftler M. Eliade, ist “immer ein Beispiel, ein prototypischer Fall, sowohl in bezug auf die Handlungen des Menschen (‘sakrale’ und ‘profane’) als auch in bezug auf seine ganze ‘Kondition’; besser gesagt: ein Mo-dellbeispiel für die Seinsweisen des Wirklichen im allgemeinen.”32

Und der Mythos kann diese Funktion übernehmen, weil die Geschichte, die er erzählt, keine Ge-schichte im heutigen Sinne dieses Wortes ist (keine Geschichte irreversibler und unwiederholba-rer Ereignisse darstellt), sondern eine “exemplarische Geschichte, deren Bedeutung und Sinn ge-rade in ihrer Wiederholung liegt.”33

1.2.2 Der Beginn der “philosophischen” Phase in der Geschichte des Begründens

In der Geschichte des Begründens markiert der Übergang von der beispiel-, der anschauungsge-bundenen Phase des Begründens allgemeiner Charakterisierungen zur Mythen heranziehenden Phase also einen außerordentlich wichtigen Einschnitt. Denn die Gründe, die man nunmehr anzu-führen vermag, sind, anders als zuvor, in einem gewissen Sinne “objektive” Gründe. Der Mythos ist eben etwas, was der Mythenbenutzer, seiner eigenen Sicht der Dinge nach jedenfalls, vorfin-det. Der Mythenbenutzer ist dem Mythos gegenüber nicht so frei, wie es ein Sprecher in der an-schauungsgebundenen Phase des Begründens bei der Auswahl und Anwendung seiner Beispiele ist.

Gerade dieses Merkmal der sich auf Mythen stützenden Kunst des Begründens allgemeiner Cha-rakterisierungen bedingt freilich auch deren Grenzen. Denn diese Kunst ist notwendigerweise allen Neuerungen gegenüber feindlich eingestellt (vorausgesetzt selbstverständlich, diese Neue-rungen werden als solche erkannt – nicht als solche wahrgenommene Neuerungen wird es immer gegeben haben).

Das entscheidende Argument zugunsten einer bestimmten allgemeinen Charakterisierung ist in-nerhalb dieser Art des Begründens immer: daß sie sich aus einem Mythos ergibt, der nach der

kommt mit ins Spiel, wenn Ritus Zeremonie oder eine soziale oder moralische Regel Rechtfertigung verlangt, Ge-währ für ihr Alter, ihre Realität und ihre Heiligkeit.” (B. Malinowski, Myth in Primitive Psychology, dt. S. 89). Und Cassirer betont ausdrücklich, für ihn sei sicher, “daß im Verhältnis von Mythos und Ritus der Ritus das Frühere, der Mythos das Spätere ist,” (E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2, S. 51). 32 M. Eliade, Die Religionen und das Heilige, S. 471. 33 M. Eliade, Die Religionen und das Heilige, S. 488.

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Erinnerung “Aller” (auch wenn es faktisch nur die der meisten, oder der Einflußreichsten, Ge-schicktesten, usw. ist) “schon immer” so und so erzählt wurde. Daß ein Mythos historisch ent-standen ist und nicht seit “unvordenklichen Zeiten” vorliegt; daß er sich der Phantasie, der Kom-binations- und Erzählkunst vieler einzelner Menschen verdankt – das dürfen Mythenbenutzer nicht wissen. Andernfalls würde die strukturelle Differenz gegenüber der vorangegangenen, an-schauungsgebundenen Phase des Begründens allgemeiner Charakterisierungen sich wieder auflö-sen.

Die Orientierung an Mythen schließt es daher auch grundsätzlich aus, den einen oder anderen Mythos zu kritisieren oder sich bewußt auf die Suche nach einem neuen Mythos zu machen – was angesichts der genannten Konstellation gleichbedeutend damit ist, daß in dieser Phase der Geschichte des Begründens keine Diskussionen über die Geltung “seit jeher” angeführter Gründe für bestimmte allgemeine Charakterisierungen geführt werden dürfen.

Es ist nun aber genau diese Eigenschaft des Mythos, an der sich eine etwa seit dem sechsten Jahrhundert v. u. Z. im östlichen Mittelmeerraum entwickelnde neue, die, wie wir hier sagen wol-len: “philosophische” Kunst des Begründens gerieben hat: anstelle der einfach hinzunehmenden, kollektiv tradierten Gründe für allgemeine Charakterisierungen will man Gründe, die jederzeit, und von jedem einzelnen Menschen, überprüft und gegebenenfalls auch verändert werden kön-nen. Die beiden Vorwürfe, die man gegen Sokrates erheben wird: daß er Neuerungen in göttli-chen Dingen einführe, und daß er auf seine eigene Weise grüble34, treffen also sehr genau den Kern des strukturellen Wandels, zu dessen wichtigsten Fürsprechern Sokrates gehört.

Von der Warte der vorausgegangenen Phase in der Geschichte des Begründens her gesehen tut Sokrates nicht etwa deswegen etwas Gefährliches, weil er den falschen Mythen anhängt, sondern deswegen, weil er etwas tut, was sich mit der Orientierung an Mythen grundsätzlich nicht ver-trägt.

Gewiß: Platon läßt Sokrates in mehreren seiner Dialoge etwas vortragen, was von vielen Interpre-ten als “Mythos” bezeichnet wird. Aber das ist nicht mehr das, was dieses Wort im engeren Sinne meint. Beispielgebende Erzählungen, die erklärtermaßen als von Menschen gemachte Erzählun-gen vorgetragen werden – und um derartiges handelt es sich dort – sind nämlich im strengen Sin-ne keine Mythen mehr. Es sind, etwa, zu Erzählungen verdichtete kosmologische Hypothesen; zu pädagogisch-moralischen Zwecken ersonnene Fabeln, usw. In der Tat hatte bereits der Übergang von Homer und Hesiod zu Äsop den Wandel in der als zulässig empfundenen Art der zwanglosen Einlösung von Geltungsansprüchen angedeutet, den die Philosophie fortführen sollte.

Eine neue Art von Gegenständen

Doch wie wird diese Entwicklung möglich? — In einem gewissen Sinne dadurch, daß man wie-der auf ein Moment zurückkommt, das für die Phase der Geschichte des Begründens entschei-dend ist, die vor der mythenbezogenen Phase liegt: indem man etwas heranzieht, was – wie man 34 Vgl. Platon, Euthyphron, 5a.

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jedenfalls glaubt – jeder Mensch hier und jetzt ins Auge fassen kann; indem man sich nicht mehr auf die durch bloße Autoritäten gestützten Erzählungen von den Taten der Götter35, sondern auf die eigenständige Betrachtung der Natur beruft.

Wenn Aristoteles von denjenigen Autoren spricht, die für ihn die Hauptquellen mythischer Erzäh-lungen abgeben – Homer, Hesiod, Orpheus –, dann beschreibt er sie als Menschen, die in erster Linie von den Göttern, und lediglich in zweiter Hinsicht von der Natur gehandelt hätten.36 Wenn er sich hingegen auf die “ersten Philosophen” bezieht, so treten diese bei ihm als Personen auf, die sich unmittelbar mit der Natur befassen.37

Aber lief man auf diese Weise nicht Gefahr, das wieder preiszugeben, was die Vorteile der auf Mythen zurückgreifenden Begründungen ausmacht: die “Objektivität” dessen, was als Grund für eine Behauptung herangezogen werden kann? — Eine solche Gefahr hat ohne Zweifel bestanden. Aber die Situation, zu der es hier tatsächlich kommt, enthält auch einige höchst bemerkenswerte neue Züge.

Genauer betrachtet fallen jene Darlegungen, die wir als Dokumente des Beginns philosophischer Reflexionen in der Geschichte der europäischen Kultur zu bezeichnen gewohnt sind, nämlich gar nicht auf die anschauungsgebundene Phase des Begründens allgemeiner Charakterisierungen zu-rück. In ihnen wird vielmehr der Anschauungsbezug jener Phase mit der wichtigsten strukturellen Eigenheit des Rückgriffs auf Mythen in einer bestimmten Weise kombiniert – so, daß etwas ganz Neues entsteht.

Überlegen wir nochmals: das Besondere an den Begründungen, die sich auf Mythen stützen, das, was diese Begründungen von denen unterscheidet, mit denen man allein auf ad hoc gewählte Bei-spiele zurückgreift, liegt vor allem in Folgendem: es liegt darin, daß man hier einen einleuchten-den Gesichtspunkt benennen kann, um willkürlich genommene Bezugspunkte für die Überprü-fung der Richtigkeit allgemeiner Charakterisierungen von nicht willkürlich genommenen Be-zugspunkten zu unterscheiden.

Und das Besondere an der neuen, philosophischen Kunst des Begründens nun ist, daß man eben-falls über einen solchen einleuchtenden Gesichtspunkt zur Unterscheidung zwischen willkürli-chen und nicht willkürlichen Bezugspunkten verfügt. Nur daß dieser Gesichtspunkt jetzt anders beschaffen ist. Er ergibt sich – der Leser wird es bereits vermuten – daraus, daß man, in mehr oder weniger bewußter Weise, auf die Eigenheiten von Halb-Abstrakta wie “das Feuchte”, “das

35 Man betrachte beispielsweise den Anfang von Platons Dialog Nomoi. Er geht so: “Der Athener: Ist es ein Gott oder irgendein Mensch, ihr Gastfreunde, der bei euch als Urheber eurer Gesetzgebung gilt? — Kleinias: Ein Gott, Fremder, ein Gott, wie man mit vollem Recht sagen muß, bei uns Zeus, bei den Lakedaimoniern aber, von wo unser Freund da herkommt, geben sie, glaube ich, den Apollon an. (...) Der Athener: Du behauptest also im Anschluß an Homer, daß sich Minos jeweils alle neun Jahre zu einer Zusammenkunft mit seinem Vater Zeus begeben und nach dessen Aussprüchen euren Städten ihre Gesetze aufgestellt hat? — Kleinias: Ja (…).” (Die – in der Tradition freilich nicht einheitlich interpretierte – Stelle bei Homer, auf die “der Athener” anspielt, findet sich in der Odyssee, 19.178f.). 36 Aristoteles, Metaphysik, A 3.983b27-30. 37 Aristoteles, Metaphysik, A 2.982b11 - A 8. 990b1.

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Warme”, “das Fromme”, usw., aufmerksam wird.38

Auch hier handelt es sich ja, ebenso wie bei den Ereignissen, von denen ein Mythos erzählt, um etwas, das aus dem Bereich der raum-zeitlich einordbaren konkreten Phänomene herausfällt. Nur ist das Etwas, an das man hier denkt, nicht mehr von der Art der Ereignisse am “Anfang der Welt”. Es handelt sich hier vielmehr um Entitäten, die irgendwie ja wohl “in” den konkreten ein-zelnen Gegenständen liegen müssen, die wir als “feucht”, “trocken”, “warm” oder auch “fromm” bezeichnen, um Entitäten also, von denen man annehmen darf, daß sie der Erfahrung von im Prinzip allen Menschen zugänglich sind.

Einfache Naturphänomene und mathematische Gegenstände

Von der anschauungsgebundenen zur mythenbezogenen Phase des Begründens allgemeiner Cha-rakterisierungen, und dann zur Phase der philosophisch vermittelten Begründungen – das sind typische Fälle struktureller Wandlungen. Das heißt es sind Fälle, die im Prinzip unabhängig da-von sind, über welche Inhalte jeweils gesprochen wird. Doch darf man sich die Beziehungen zwi-schen solchen strukturellen Veränderungen in der Geschichte des Begründens und den in den je-weiligen Auseinandersetzungen verhandelten Inhalten selbstverständlich nicht zu einfach vorstel-len. Faktisch spielt sich die Entwicklung zumeist so ab, daß eine bestimmte neue Struktur zu-nächst nur im Zuge der Diskussion über bestimmte Inhalte auftritt, um sich dann erst nach und nach auch bei den Erörterungen anderer Inhalte durchzusetzen.

Genau so ist es nun auch in den ersten Jahrhunderten der Entwicklung der philosophisch vermit-telten Kunst des Begründens gewesen. Die Gegenstände, auf die man sich hier zu Begründungs-zwecken bezog, sind, zunächst, keine Halb-Abstrakta beliebigen Typs gewesen. Vielmehr hat es sich um Gegenstände insbesondere zweier spezifischer Arten gehandelt: um Phänomene der Na-tur, von denen man glaubte, annehmen zu dürfen, daß sie besonders “einfach” seien; und um ma-thematische Phänomene.

Der Grund dafür, daß man sich speziell auf einfache Naturphänomene bezog, ist leicht nachzu-vollziehen: schließlich waren das die Gegenstände, von denen man anscheinend am ehesten an-nehmen konnte, daß ihre eigentliche Beschaffenheit, ihre “physis”, klar zutage liege, und nicht, oder doch zumindest nicht so leicht, durch “bloßes” menschliches Meinen beziehungsweise die durch die Menschen getroffenen Regelungen, die “nomoi”39 oder “thesei”, bis zur Unkenntlich- 38 B. Snell zufolge ist diese Entwicklung insbesondere dadurch ermöglicht worden, daß das Griechische, im Unter-schied zu vielen anderen Sprachen, über den bestimmten Artikel verfügte. “Es ist z. B. nicht abzusehen”, so schreibt Snell in seinem schönen Aufsatz über “Die naturwissenschaftliche Begriffsbildung im Griechischen” (S. 205), “wie in Griechenland Naturwissenschaft und Philosophie hätten entstehen können, wäre nicht im Griechischen der be-stimmte Artikel vorhanden gewesen. Denn wie kann wissenschaftliches Denken solcher Wendungen entraten wie ‘das Wasser’, ‘das Kalte’, ‘das Denken’? Wie hätte man das Allgemeine als ein Bestimmtes setzen, wie hätte man etwas Adjektivisches oder Verbales begrifflich fixieren können, wenn der bestimmte Artikel nicht die Möglichkeit geboten hätte, solche ‘Abstraktionen’, wie wir sagen, zu bilden?”. 39 Noch Platon verwendet “nomos” synonym mit “doxa”, d. h. mit “bloßes Meinen”. Vgl. zum Beispiel Politeia, 364a. — Zur Begriffsgeschichte des Gegensatzpaars “physis” und “nomos” s. die Darstellung von K. Reinhardt, Parmenides, S. 82-88 und von W. K. C. Guthrie, History of Greek Philosophy, Bd. III, S. 55-134.

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keit verdeckt wird.

In der Literatur zur vorsokratischen Philosophie ist diese inhaltliche Besonderheit jener frühen Texte denn auch seit langem schon gesehen worden. K. von Fritz zum Beispiel hebt, im Hinblick auf Thales von Milet, hervor: wo dieser “einen bestimmten und festen Anfang für alles braucht, da geht er nicht von etwas aus, das bei verschiedenen Völkern verschieden aussieht, sondern von etwas, das jeder sehen kann und im wesentlichen jeder in gleicher Weise sehen muß, dem Was-ser.”40 Und bereits Hegel schreibt:

“Der Thaletische Satz, daß das Wasser das Absolute oder, wie die Alten sagten, das Prinzip sei, ist philosophisch (...). Die Griechen hatten die Sonne, Berge, Flüsse usw. als selbständige Mächte betrachtet, als Götter verehrt, zu Tätigen, Bewegten, Bewuß-ten, Wollenden durch die Phantasie erhoben. (...) Mit jenem Satze nun ist diese wilde, unendlich bunte Homerische Phantasie beruhigt, dies Auseinanderfallen einer unendli-chen Menge von Prinzipien.”41

Und die mathematischen Phänomene? — Auch hier ist leicht einzusehen, warum sich die neue Kunst des Begründens zunächst gerade bei der Erörterung solcher Inhalte durchsetzen konnte. Das Auffallende an arithmetischen und geometrischen Gegenständen ist ja, daß die Geltung von Behauptungen über die eine oder andere ihrer Eigenschaften anscheinend durch Wahrnehmungs-befunde nicht zu erschüttern ist.

Nehmen wir einen Satz wie “drei plus zwei ergibt fünf”. Man könnte versucht sein, diesen Satz unter Hinweis auf beispielsweise drei und zwei Wolken zu problematisieren, die sich zu einer einzigen (und eben nicht fünf) Wolken verbinden. Aber das würde man selbstverständlich nicht als einen zulässigen Einwand gegen jenen Satz akzeptieren. Man würde eine solche Überlegung vielmehr zum Anlaß nehmen, um darauf aufmerksam zu machen, daß Zahlen Gegenstände eines grundsätzlich anderen Typs sind als Wolken (oder Äpfel, Steine, usw.).

Wir wissen nicht, wer Einsichten dieser Art als erster formuliert hat. In mehr oder weniger deutli-cher Weise muß man sich ihrer aber bereits recht früh bewußt gewesen sein. Anders ist die spezi-elle Rolle nicht zu erklären, welche die Mathematik in der Entwicklung der antiken Wissenschaf-ten – und damit zugleich auch in der antiken Geschichte des Begründens – gespielt hat.

Platon jedenfalls hat mehrfach sehr präzise ausgesprochen, daß insbesondere die Geometrie, wenn sie zum Beispiel von Geraden, Ebenen oder Kreisen handelt, keine Gegenstände im Auge habe, die man in der Alltagswelt finden kann. Von dem Kreis als einem geometrischen Gebilde etwa gilt der Satz, daß jeder der Punkte auf der Kreislinie gleich weit vom Mittelpunkt des Krei-ses entfernt ist. Und dieser Satz wird keineswegs dadurch widerlegt, daß die Tangenten eines ge-

40 K. von Fritz, Der Ursprung der Wissenschaft bei den Griechen, S. 16. 41 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Erster Teil, Erster Abschnitt, Erstes Kapitel, A. 1 — Die Bemerkung Hegels ist im übrigen auch wortgeschichtlich triftig. Denn “Prinzip” ist das dem Lateinischen entnommene Wort für das griechische “arche”, und die Geschichte dieses letzteren Worts läßt die Spuren des Über-gangs von der mythischen zur philosophischen Phase der Geschichte des Begründens besonders deutlich erkennen: während es zunächst für die im Mythos erzählten Anfänge der Welt steht, bezeichnet es schließlich, bei Aristoteles, die letzten Prämissen eines mit Hilfe eines Syllogismus geführten Beweises.

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zeichneten Kreises diesen mit Sicherheit in mehr als einem Punkt berühren werden:

“Jeder von den Kreisen, die mit der Hand gezeichnet oder auch drechselt sind, ist voll von dem, was (sc. dem soeben genannten Satz) entgegengesetzt ist – denn überall geht er in das Gerade über –; er selbst jedoch, so sagen wir, der Kreis, hat weder ein kleine-res noch ein größeres Stück von der ihm entgegengesetzten Wesensart.”42

Inhaltliche und strukturelle Komponenten von Sokrates’ “Entdeckung”

Als einfach betrachtete Naturphänomene und mathematische Gegenstände also – das sind die In-halte, um die es zunächst, bei den ersten Realisierungen der neuen Kunst des Begründens von Behauptungen, gegangen ist. Doch dabei ist es nicht geblieben.

Glücklicherweise, muß man sagen. Denn schließlich sind die Konflikte, die es in komplexen Ge-sellschaften zu beheben gilt, gewiß nicht immer Konflikte, in denen Behauptungen über einfache Naturphänomene oder mathematische Gegenstände zur Diskussion stehen. Es sind vielmehr auch, und insbesondere, Konflikte, die aus Problemen des Strafrechts, der Erziehung, der Politik, usw., erwachsen.

Im Euthyphron findet sich, abgesehen von den vorhin bereits betrachteten Darlegungen, eine be-merkenswerte Passage, der man entnehmen kann, wie genau Sokrates sich des Umstands bewußt war, daß es gerade die auf soziale, politische und i. w. S. kulturelle Konflikte bezogenen Ausein-andersetzungen waren, die sich von dem damaligen Entwicklungsstand der Kunst des Begrün-dens her nicht in einer befriedigenden Weise angehen ließen. Diese Passage lautet:

“Sokrates: Aus der Uneinigkeit über was für Dinge aber entsteht wohl Feindschaft und Erzürnung, o Bester? Laß uns das so überlegen. Wenn wir uneinig wären, ich und du, über Zahlen, welche von beiden mehr betrüge, würde die Uneinigkeit hierüber uns wohl zu Feinden machen und erzürnt gegeneinander? Oder würden wir, zur Rechnung schreitend, sehr bald über dergleichen Dinge uns einigen?

Euthyphron: Ganz gewiß.

Sokrates: Nicht auch, wenn wir über Größeres und Kleineres uneinig wären, würden wir, zur Messung schreitend, sehr bald dem Streit ein Ende machen?

Euthyphron: Das ist richtig.

Sokrates: Und zur Abwägung schreitend würden wir, glaube ich, über Leichteres und Schwereres entscheiden?

Euthyphron: Wie sollten wir nicht?

Sokrates: Worüber also müßten wir uns wohl streiten und zu was für einer Entscheidung nicht kommen können, um uns zu erzürnen und einander feind zu werden? Vielleicht fällt es dir eben nicht ein: allein laß mich es aussprechen und überlege, ob es wohl dieses ist, das Gerechte und Ungerechte, das Schöne und Häßliche, das Gute und Böse. Sind nicht

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dies etwa die Gegenstände, worüber streitend und nicht zur völligen Entscheidung gelan-gend, wir einander feind werden, sooft wir es werden, du und ich sowohl als auch alle üb-rigen Menschen?

Euthyphron: Freilich ist es gerade dieser Streit, Sokrates, und über diese Dinge.”43

Es ist nun gerade der durch solche Überlegungen aufgedeckte Hintergrund, vor dem man die Be-deutung von Sokrates’ “Entdeckung” der Ideen zu sehen hat. Zwar ist natürlich richtig, daß die Substantivierung von Prädikaten im Grunde ganz unabhängig davon vorgenommen werden kann, was mit einem generellen Ausdruck inhaltlich im einzelnen bezeichnet wird. “Gerecht” läßt sich ebensogut in “das Gerechte” umwandeln wie “feucht” in “das Feuchte”, usw. Aber man wird da-von ausgehen müssen, daß die damaligen Autoren zunächst noch nicht in der Lage waren, zwi-schen der formalen Operation als solcher und den jeweiligen Gegenständen einer solchen Opera-tion zu unterscheiden. Daß diese Fähigkeit sich entwickelt, das genau ist es, wozu Sokrates’ “Ent-deckung” der Ideen in einem wesentlichen Maße beigetragen hat.

Mit etwas anderen Worten ausgedrückt: die Pointe des Schrittes, den Sokrates zur Geschichte des Begründens beisteuert, besteht in Folgendem: sie besteht darin, daß Sokrates, mit Wissen dessen, was er tut, bestimmte eigenständige Wörter – vorzugsweise eben solche Wörter wie “idea” und “eidos” – benutzt, um seinem Gesprächspartner deutlich zu machen, daß er von Gegenständen sprechen möchte, die bei der Überprüfung der Geltung prädikativer Aussagen44 grundsätzlich, d.h. unabhängig vom Inhalt dieser Aussagen, herangezogen werden können.

Cicero wird zwar, in einer in späteren Philosophiegeschichten immer wieder aufgegriffenen Be-merkung aus den Gesprächen in Tusculum, die Bedeutung des von Sokrates Geleisteten einmal so charakterisieren:

“Von der alten Philosophie (...) bis zu Sokrates, der Archelaos, den Schüler des Ana-xagoras, gehört hatte, wurden die Zahlen und Bewegungen behandelt und woraus alles entstünde und wohin es zurücksänke, und mit Eifer wurden von ihnen die Größe der Gestirne, ihre Zwischenräume und Bahnen erforscht und überhaupt alle Dinge am Himmel. Sokrates aber hat als erster die Philosophie vom Himmel heruntergeholt, in den Städten angesiedelt, sie sogar in die Häuser eingeführt und sie gezwungen, nach dem Leben, den Sitten und dem Guten und Bösen zu fragen.”45

42 Platon, Siebter Brief, 343a. S. a. Politeia, 511d-e. Vgl. dazu G. Martin, Platons Ideenlehre, spez. S. 54-62. 43 Platon, Euthyphron, 7b-d: vgl. auch Phaidros, 263a (im Zusammenhang mit 265d zu lesen!). Alkibiades I, 111b-112d. 44 Eine Aussage ist prädikativ, wenn sie daraus besteht, daß mindestens einem Gegenstand eine durch einen generel-len Ausdruck repräsentierte Eigenschaft zu- oder abgesprochen wird. Beispiele für Sätze, die typischerweise in prä-dikativen Aussagen auftreten, sind: “Dieses Buch ist grün”, “Hans ist ein frommer Mensch”, “Fritz und Gisela äh-neln einander’, usw. Wie man dem letzten Beispiel entnehmen kann, braucht es sich bei dem jeweiligen generellen Ausdruck nicht immer um einen einstelligen Ausdruck zu handeln: er kann auch mehrstellig sein, d.h. für eine Rela-tion stehen. Selbstverständlich sind nicht alle Aussagen prädikativer Natur. Abgesehen von Aussagen dieser Art gibt es auch, zum Beispiel, Existenzaussagen (“Einhörner gibt es nicht”), Identitätsaussagen („Der Morgenstern ist der Abend-stern”), usw. 45 Cicero, Tusculanae Disputationes, 5.10-5.11. Vgl. auch ders., Academicorum posteriorum, I.15.

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Und das liest sich, als habe Sokrates’ Beitrag zur Geschichte des Begründens ausschließlich darin bestanden, den Raum möglicher Inhalte philosophischer Überlegungen zu erweitern. Aber in Wirklichkeit greift eine solche Beschreibung der Rolle Sokrates’ zu kurz.

In Wirklichkeit steht der Umstand, daß Sokrates “die Philosophie in den Städten angesiedelt hat”, in einem engen Zusammenhang damit, daß Sokrates durch seine “Entdeckung” der Ideen dazu beigetragen hat, daß man sich der strukturellen Besonderheiten der schon zuvor, seit vielen Jah-ren, praktizierten philosophisch vermittelten Begründungen von prädikativen Aussagen klarer bewußt wurde als es zuvor der Fall war.

Aristoteles, der, im Gegensatz zur späteren Tradition, in seiner Darstellung von Sokrates’ Beitrag zur Philosophie immer dessen für die Theorie des Begründens wichtige generelle Einsichten in den Vordergrund stellt46, ist daher, zumindest an dieser Stelle, der scharfsichtigere Philosophiehi-storiker gewesen.

1.2.3 Sokrates’ Entdeckung der Ideen und die Entdeckung der Bedeutung von Prä-dikaten

Wir haben Sokrates’ “Entdeckung” der Ideen als einen wichtigen Schritt in der Geschichte des Begründens von Behauptungen – speziell des Begründens prädikativer Behauptungen – zu ver-stehen versucht. Fassen wir kurz zusammen:

Wer eine prädikative Behauptung – eine Behauptung mit einem Satz wie zum Beispiel “diese von Euthyphron vollzogene Handlung ist fromm” – begründen will, der kann sich zu diesem Zweck auf eine allgemeine Charakterisierung dessen zu stützen versuchen, was im Prädikatteil jener Be-hauptung zur Sprache kommt. Über die Geltung einer solchen allgemeinen Charakterisierung kann aber ebenfalls noch ein Dissens entstehen, so daß also auch an dieser Stelle noch Begrün-dungen vonnöten sind. Und die Art, in der diese Begründungen ausfallen, kann strukturell mehr oder weniger komplex sein:

In einer frühen Phase des Begründens wird man sich in diesem Zusammenhang allein auf ad hoc herausgegriffene Beispiele bezogen haben – mußte dabei allerdings erhebliche systembedingte Nachteile in Kauf nehmen, Nachteile, die insbesondere daraus resultieren, daß ein Beispiel nie-mals ganz dem anderen gleicht. Anders dann in der anschließenden, durch den Rückgriff auf My-then gekennzeichneten Phase der Geschichte des Begründens. Denn die Mythen erzählen, in den für sie besonders charakteristischen Fällen, von einem Geschehen “am Anfang der Welt”. Die Beispiele, auf die sie verweisen, sind daher aus den raum-zeitlichen Abläufen der Alltagswelt he-rausgehobene, invariante Beispiele, sind etwas, auf das man ein für alle mal, als immer gültige Standards, zurückkommen kann.

Freilich schließt diese Art des Begründens es aus, daß die Menschen sich, mit Wissen ihres Tuns, eine eigenständige Meinung über die Beschaffenheit des einen oder anderen dieser Standards bil-

46 Aristoteles, De partibus animalium, A 1.642a25-30: ders., Metaphysik, A 6.987bl-4.

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den können: auf Mythen zurückgreifende Gesellschaften sind, systembedingtermaßen, äußerst traditionsverhaftete Gesellschaften.

Zu einer wesentlichen Änderung kam es in dieser Hinsicht erst mit dem Entstehen einer wieder-um neuen, der philosophisch vermittelten Form des Begründens prädikativer Behauptungen. Kennzeichnend für diese Entwicklungsphase ist, daß die strukturellen Merkmale der beiden zu-vor erwähnten Phasen der Geschichte des Begründens in einer gewissen Weise miteinander kom-biniert sind: man glaubt auch hier, einen Gesichtspunkt zu besitzen, von dem her nicht-willkürlich herausgegriffene, invariant bleibende Standards zur mittelbaren oder unmittelbaren Überprüfung der Geltung prädikativer Behauptungen identifiziert werden können; aber diese Standards sind jetzt so beschaffen, daß sie von im Prinzip allen Menschen eigenständig, unab-hängig von ihrer Bindung an vorgegebene Autoritäten, untersucht werden können.

Der neue Gesichtspunkt, der in dieser Weise über die auf Mythen bezogene Phase der Geschichte des Begründens hinausführt, hängt mit der Entdeckung von Halb-Abstrakta zusammen – mit der Entdeckung von Gegenständen also, die sprachlich an der Substantivierung von Prädikaten er-kennbar sind. Faktisch freilich zeitigte diese Entdeckung zunächst allein innerhalb der Diskussion über Inhalte bestimmter, begrenzter Art Folgen: sie kam in der vorsokratischen Zeit in erster Li-nie in der Naturphilosophie und in der Philosophie der Mathematik zum Tragen. Eine Änderung dieser Sachlage ergab sich erst durch Sokrates. Sokrates nämlich machte sich gewisse Eigenhei-ten des damaligen Gebrauchs von Wörtern wie “eidos” und “idea” zunutze – Eigenheiten, die es ermöglichen, bei der Erwähnung eines jeden generellen Ausdrucks, gleich welchen Inhalts, be-sonders gut deutlich werden zu lassen, daß man sich auf einen speziell ausgezeichneten Ver-gleichsgegenstand zur Überprüfung der Anwendung eines jener Ausdrücke innerhalb der einen oder anderen prädikativen Aussage beziehen möchte. —

So weit also die hier vertretene Auffassung darüber, was die systematische wie historische Pointe von Sokrates’ “Entdeckung” der Ideen ausmacht. In der gegenwärtigen Literatur über Sokrates beziehungsweise Platon wird freilich recht häufig eine andere Deutung vorgeschlagen. Die be-sondere – im Endeffekt allerdings, wie man meint, auch nicht ganz unproblematische – Leistung Sokrates’ sieht man hier darin, daß er die Bedeutung der Prädikate, sprich: der generellen Aus-drücke, entdeckt habe.

Sokrates – beziehungsweise Platon – gelangte dieser Interpretation zufolge irgendwann zu der Überzeugung, “daß niemand ein Wort korrekt anzuwenden vermag, solange er nicht imstande ist, über dessen Bedeutung in allgemeiner Weise Rechenschaft abzulegen.”47 Und diese Überzeu-gung lieferte dann, wie man meint, den Anstoß zu einem Gedankengang, der sich in etwa so wie-dergeben läßt:

Man beginnt mit der Überlegung, daß man die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens ja wohl dann kenne, wenn man weiß, wofür dieses Zeichen steht. Im Fall der singulären Ausdrücke je-denfalls – das heißt im Fall von Eigennamen wie “Sokrates” oder von Kennzeichnungen wie “der

47 D. Ross, Plato’s Theory of Ideas, S. 16.

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Verfasser der Ilias” – ist dies anscheinend ganz deutlich zu sehen: was diese bedeuten, weiß man, sobald man weiß, welchen einzelnen Gegenstand, bei unseren beiden Beispielen: welches Indivi-duum sie repräsentieren.

Schwieriger ist die Sachlage allerdings im Falle anderer sprachlicher Zeichen, so zum Beispiel im Fall der generellen Ausdrücke (um von solchen Wörtern wie “nicht”, “oder”, usw., einmal ganz zu schweigen). Denn wofür steht ein solcher Ausdruck? Für derartige Wörter ist doch kennzeich-nend, daß sie auf unbegrenzt viele konkrete Gegenstände angewendet werden können – “rot” auf unbegrenzt viele rote Dinge, “fromm” auf unbegrenzt viele fromme Handlungen oder Menschen, usw. Was soll dann aber der spezielle einzelne Gegenstand sein, der die Bedeutung von Wörtern wie “rot” und “fromm” ausmacht?

Auf diese Frage weiß man zunächst keine Antwort. Bis Sokrates ein, für die damalige Zeit jeden-falls, interessanter Einfall kam: warum nicht annehmen, daß es Gegenstände eines eigenen, be-sonderen Typs sind, für die die generellen Ausdrücke stehen, und zwar jene Gegenstände näm-lich, auf die man sich eigens beziehen kann, indem man die substantivierten Formen jener Aus-drücke benutzt, oder sich solcher Wendungen wie “die Idee des ...” bedient?

Unsere Probleme bei der Frage nach der Bedeutung genereller Ausdrücke lassen sich dann an-scheinend beheben. Und wir gewinnen sogar den Vorteil, daß wir einen wichtigen Schritt in Richtung auf eine einheitliche “Theorie” der Bedeutung von sprachlichen Zeichen einer jeden Art getan haben – etwas, was immer zu begrüßen ist. Denn schließlich ist es uns auf diesem Wege gelungen, die Bedeutung der generellen Ausdrücke in einem gewissen Sinne der der singulären Ausdrücke anzugleichen. —

Soweit mir bekannt ist, treten Versuche, den systematischen Witz von Sokrates’ “Entdeckung” der Ideen in dieser Weise zu verstehen, erstmals in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts auf, womöglich unter dem Einfluß Wittgensteins. G. Ryle beispielsweise schreibt in einem 1939 ver-öffentlichten Aufsatz:

“Grob gesprochen, wird eine Idee (sc. von Sokrates bzw. Platon) als ein Gegenstand aufgefaßt, der einem jeden allgemeinen Prädikat, Substantiv, Verb oder Adjektiv in der Weise entspricht, daß jedes abstrakte Substantiv zu einem singulären Ausdruck für diesen Gegenstand wird. Und allein dem Umstand, daß es solche Gegenstände gibt, ist es zu verdanken, daß viele gewöhnliche Gegenstände durch ein allgemeines Prädikat charakterisiert werden können. (...) Um eine möglichst bündige Formulierung zu erhal-ten, können wir sagen: Die Theorie der Ideen ist die Theorie, daß abstrakte Substantive singuläre Ausdrücke sind.”48

48 G. Ryle, “Plato’s Parmenides”, S. 102. (Ryle, der sich in diesem Aufsatz an G. Freges ungewöhnlich weiten Ge-brauch des Terminus “Eigennamen” anlehnt, spricht im englischen Originaltext von “proper names”, wo ich mit “singulärer Ausdruck” übersetzt habe). — Eine ähnliche Interpretation wie die Ryles in diesem Aufsatz findet sich auch in F. Waismanns, 1939 abgeschlossener, stark an Wittgenstein angelehnter Schrift Logik Sprache, Philosophie, spez. S. 285f. (mit Bezug auf Platon, Hippias I, 287c).

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Der Kolumbus-entdeckt-Amerika-Irrtum

Was ist von dieser Interpretation zu halten? — Wir haben bereits weiter oben (S.29f.), im An-schluß an W. Wielands Schrift über Platon und die Formen des Wissens, gesehen, wie sehr es sich anzubieten scheint, die von Sokrates geforderten strikt allgemeinen Charakterisierungen “des” Frommen, “des” Gerechten usw. als Erläuterungen der Anwendungsbedingungen der gene-rellen Ausdrücke “fromm”, “gerecht”, usw., zu verstehen. Und nach einer gut begründeten, ins-besondere vom späten Wittgenstein erarbeiteten Auffassung besteht die Bedeutung eines generel-len Ausdrucks gerade aus den Bedingungen seiner (korrekten) Anwendung. Insofern liegt es also durchaus nahe, Sokrates’ “Entdeckung” der Ideen als einen Schritt in der Geschichte von Bemü-hungen zu verstehen, mit denen man sich über den Begriff der Bedeutung sprachlicher Zeichen, speziell der Bedeutung genereller Ausdrücke, im klaren zu werden versucht.

Gleichwohl ist bei einer solchen Interpretation Vorsicht geboten. Denn schließlich ist es eine Sa-che, ob ein heutiger Leser bei einem früheren Autor erste Anzeichen für Überlegungen zu finden glaubt, die dann schließlich zur Formulierung von Problemen, und der Lösung dieser Probleme gewidmeten Untersuchungen, führen, wie sie diesen Leser interessieren – oder ob ein heutiger Leser bereits bei einem früheren Autor auf Überlegungen stößt, die offensichtlich auch dem Ver-ständnis jenes Autors nach auf die Behandlung von Problemen zielen, welche den heutigen Leser interessieren. Und genau eine solche Differenzierung zwischen den verschiedenen, bei der Lektü-re historischer Texte immer zu beachtenden Perspektiven vermißt man hier.

Ryle, und mit ihm viele andere Interpreten, erwecken den Eindruck, als hätten Sokrates bezie-hungsweise Platon selbst schon in systematischer Absicht die Frage gestellt, woraus die Bedeu-tung sprachlicher Zeichen bestehe. Und das ist irreführend. Zwar gibt es gewisse, von uns später noch genauer zu betrachtende Abschnitte in den Dialogen Platons, aus denen deutlich wird, wie sich ein bestimmtes, von Sokrates beziehungsweise Platon gleichsam nebenbei angenommenes Verständnis der Bedeutung genereller Ausdrücke bei der Behandlung mancher Fragen faktisch auswirkt. Aber es findet sich in allen diesen Dialogen keine einzige Stelle, mit der sich belegen ließe, daß Sokrates/Platon ihre Untersuchungen als Untersuchungen verstanden hätten, deren ei-gentliches Ziel daraus bestand, eine “Theorie” der Bedeutung genereller Ausdrücke zu entwik-keln. Hingegen gibt es zahllose Passagen, die das erkennen lassen, was wir uns speziell am Euthyphron zu vergegenwärtigen versucht haben: daß die Rede von Ideen nach Sokrates’ eigener Meinung zentral ist für das Verlangen, zu einem befriedigenden Verfahren des Begründens (prä-dikativer) Behauptungen zu kommen.

Um den generellen Fehler, der hier begangen wird, an einem einfacheren Beispiel zu veranschau-lichen: Wir sagen gemeinhin, Kolumbus habe Amerika entdeckt. Und das ist selbstverständlich eine durchaus sinnvolle Äußerung. Sinnvoll ist sie allerdings nur relativ zur Perspektive von Menschen, die später als Kolumbus gelebt haben beziehungsweise leben. Will man Kolumbus’ eigene, aus seiner Zeit heraus zu verstehenden Gründe für die Fahrt nach Westen, sowie seine eigene Einschätzung ihres Ergebnisses, verstehen (Kolumbus glaubte bekanntlich, den Seeweg nach Indien entdeckt zu haben), so ist eine andere Darstellung von Kolumbus’ Tat vonnöten.

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Wir sehen also: wenn wir danach fragen, wie ein bestimmter Text, in unserem Fall: ein Text der Philosophiegeschichte, zu interpretieren ist, so bedarf diese Frage sogleich des Zusatzes: wie er relativ zu wessen Perspektive zu interpretieren ist – ob relativ zur Perspektive des Problemver-ständnisses seines Autors, oder relativ zur Perspektive des Problemverständnisses heutiger Le-ser.49 Wo dieser Zusatz nicht beachtet wird, kommt es zu Fehldeutungen, Fehldeutungen, die ich hier als “Kolumbus-entdeckt-Amerika-Irrtümer” bezeichnen möchte.

Zum Abschluß dieses Abschnitts kurz noch ein weiteres Beispiel für den speziellen Kolumbus-entdeckt-Amerika-Irrtum, der Ryle in der oben zitierten Darlegung unterlaufen ist, diesmal aus E. Tugendhats Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie. Tugendhat schreibt:

“Alle entscheidenden Einsätze der griechischen Ontologie ergaben sich aus einer se-mantischen (d. h. die Bedeutung von Zeichen betreffenden, A R.) Reflexion, und gleichwohl führte jeder Einsatz zu einer vergegenständlichenden Umdeutung, die die sprachliche Dimension der Reflexion verdeckte. (...) Platon entdeckte zum ersten mal in der Reflexion auf die Definitionsfragen die Bedeutungen der Prädikate – und hat sie in seiner Ideenlehre sogleich zu einem übersinnlichen Seienden vergegenständlicht. Aristoteles endlich ist von der Form des singulären prädikativen Satzes ausgegangen und hat auf dieser Grundlage gleichwohl eine gegenständliche Ontologie ausgebil-det.”50

Wiederum gilt: das liest sich, als ob Platon, und darüber hinaus auch noch Aristoteles, zunächst eine wichtige, sich auch ihrem eigenen Verständnis nach primär auf die Bedeutung genereller Ausdrücke oder auf die Bedeutung singulärer prädikativer Sätze beziehende Einsicht gewonnen hätten, um dann diese Einsicht wieder (“gleichwohl”) zu vergessen beziehungsweise aus ihr fal-sche Schlüsse zu ziehen:

Aber in Wirklichkeit ist das irreführend, einfach, weil es relativ zum Blickwinkel Platons und Aristoteles’ noch kaum “semantischen Reflexionen” in dem hier wichtigen Sinne gegeben hat. Bemerkungen wie diese richten ein nur noch schwer zu entwirrendes Durcheinander zwischen dem an, was jene Autoren ihrer eigenen Einschätzung nach getan haben, und dem, was sie, ohne eigenes Wissen, aus dem Blickwinkel des heutigen Interpreten heraus betrachtet getan haben.

49 Muß ich ausdrücklich hinzufügen, daß diese Überlegungen sich nicht auf die allgemeinere, speziell in der Traditi-on der philosophischen Hermeneutik diskutierte Frage beziehen, inwiefern sich der Interpret fremder Lebensäuße-rungen überhaupt seiner Perspektive entledigen kann? — Daß er dies nicht kann, ist heute, das heißt spätestens seit H. G. Gadamers Wahrheit und Methode, eine Trivialität. Wem daran gelegen ist, diesen Punkt gleichwohl eigens herauszustellen, der wird die Unterscheidung zwischen der Bedeutung eines Textes T “für den Autor und “für uns” also in etwas komplexerer Weise formulieren müssen. Er wird sagen müssen, die Unterscheidung meine die Bedeu-tung von T “für den Autor”, so wie diese sich “für uns” darstelle – und die Bedeutung von T “für uns”, so wie sie sich von unseren heutigen Interessen und Kenntnissen allein aus betrachtet darstelle. 50 E. Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, S. 50f. — In seiner Aristoteles-Dissertation (Ti kata tinos, spez. S. 28) hatte Tugendhat noch eine angemessenere Auffassung vertreten.

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1.3 WORIN LIEGT DIE BEDEUTUNG DER FORDERUNG NACH STRIKTER ALLGEMEIN-HEIT?

Soviel zu der einen der beiden neuen Forderungen, die Sokrates an das Begründen gewisser Be-hauptungen stellt. Betrachten wir jetzt auch die zweite dieser Forderungen etwas genauer, das heißt die Forderung, daß die in diesen Begründungen herangezogenen allgemeinen Charakterisie-rungen strikt allgemein sein sollen.

Was damit gemeint ist, ist – anders mithin als im Fall des Bezugs auf Ideen – nicht schwierig zu verstehen: gefordert sind allgemeine Charakterisierungen, “Definitionen” des Frommen, Gerech-ten, Schönen, usw., die nicht nur auf einige sondern alle Fälle des Frommen, usw., anwendbar sind. Bleibt also die Frage, wie man die praktische Bedeutung dieser Forderung, speziell im Hin-blick auf die Geschichte des Begründens, zu beurteilen hat.

In Teilen der neueren philosophischen Literatur gibt es eine gewisse Tendenz dazu, das Auftreten dieser Forderung in der antiken Philosophie äußerst kritisch zu beurteilen. P. Feyerabend bei-spielsweise hat behauptet, in dieser Forderung drücke sich so etwas wie ein sokratischer “Ratio-nalismus” aus, und dieser sei mit einem enormen “Verlust an Wirklichkeitsfülle”, mit gravieren-den “Begriffsentleerungen” verbunden gewesen.

Wenn Menon das, was Tugend ist, nicht strikt allgemein charakterisiert, sondern von vornherein zwischen der Tugend des Mannes und der Frau unterscheidet; wenn Theaitetos keine strikt all-gemeine Charakterisierung dessen gibt, was “Erkenntnis” heißen darf, sondern lediglich Beispie-le aufzählt, so ist, meint Feyerabend, gerade dies, und nicht etwa das, was Sokrates möchte, an-gemessen.

Denn nur bei einem solchen weitgehend ungeregelten, offenen Sicheinlassen auf die Dinge komme deren “schillernde Natur”, ihre “Unabgeschlossenheit und Veränderlichkeit” hinreichend zur Sprache. Daß die spätere Tradition sich mehr durch Sokrates und Platon als durch deren Ge-genspieler beeinflussen lassen habe, sei alles andere als ein Glücksfall gewesen. Hätte es in dieser Tradition nicht auch immer “rückläufige Bewegungen” gegeben, wäre man nicht des öfteren “vernünftig genug gewesen, unvernünftig”, das heißt unter Verzicht auf allzugroße Abstraktio-nen, vorzugehen – die Geschichte der westlichen Kultur hätte einen noch schlimmeren Verlauf genommen als es ohnehin der Fall gewesen sei.51

Dabei leugnet Feyerabend bemerkenswerterweise durchaus nicht, daß die Forderung nach strikt allgemeinen Charakterisierungen eine gewisse Bedeutung für die Entwicklung des Begründens gehabt hat. Eher im Gegenteil: eines der beiden wichtigsten Motive, welche seiner Überzeugung nach die Durchsetzung dieser Forderung begünstigt haben, soll gerade darin liegen, daß man die Möglichkeit entdeckte, gewisse Arten von “Beweisen” vortragen zu können. (Das andere Motiv soll aus einer vielleicht durch religiöse Tendenzen bekräftigten “allgemeinen Entwicklung auf größere Abstraktion hin”52 bestanden haben.)

51 P. Feyerabend, Wissenschaft als Kunst, S. 50-71. 52 P. Feyerabend, Wissenschaft als Kunst, S. 67.

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Nur ist die Entdeckung jener “Beweise” für Feyerabend nichts sonderlich Begrüßenswertes. Es handelte sich eher, so meint er, um eine Marotte einiger Intellektueller, die in ihrer Fertigkeit zum Hantieren mit einigen wenigen inhaltsarmen Begriffen eine Chance sahen, Aufsehen zu erregen und berühmt zu werden.

Das Jonglieren mit jenen Begriffen erlaubte es, einem staunenden Publikum Geschichten vorzu-tragen, die es noch nie gehört hatte, Geschichten, die den Anschein erweckten, eine innere Folge-richtigkeit zu besitzen, und die zu verblüffenden, weiteres Nachdenken geradezu erzwingenden Sätzen führten. so zum Beispiel zum Satz des Parmenides beziehungsweise des Zenon, daß sich nichts bewegt, usw.53 Einen spezielleren Nutzen habe dies alles aber nicht besessen.

Die Zwei in Einem

Ist diese Kritik berechtigt? — Nun, schaut man genauer zu, so fällt zunächst einmal auf, daß das Bild, das Feyerabend in so suggestiver Weise malt, nicht recht zu dem passen will, was wir von der Wirkung Sokrates’ auf seine Zuhörer sowie von Sokrates’ persönlichen Antrieben für sein Tun wissen.

Es mag sein, daß manche der vorsokratischen Philosophen es in der Tat darauf angelegt hatten, ihr Publikum auf dem Marktplatz in Athen zu verblüffen. Der schlechte Ruf, der den Sophisten im Laufe der Zeit angeheftet werden sollte, verdankt sich ja dem Vorwurf, daß es ihnen nur um diesen einen Effekt gegangen sei. Aber die uns überlieferten Texte erlauben es nicht, einen sol-chen Vorwurf auch Sokrates gegenüber zu erheben.

Daß Sokrates darauf aus gewesen ist, sich vor einer möglichst großen Zahl von Zuhörern zu pro-duzieren, geht nämlich aus ihnen ganz und gar nicht hervor. Eher scheint es ihm darum gegangen zu sein, seinen jeweiligen Gesprächspartner zu verprellen. In sehr vielen Dialogen wird er als ein Plagegeist geschildert, dessen Gesprächskunst man sich nur ungern auslieferte – obwohl manch Einer sich, auf der anderen Seite, der Anziehungskraft dieser Kunst nicht so recht zu widersetzen vermochte. Eigentümlicherweise scheint Sokrates nämlich bei vielen seiner Zuhörer und Mitun-terredner etwas ausgelöst zu haben, was ihnen in einer Hinsicht unangenehm war, sie in einer an-deren Hinsicht aber auch, war es einmal geweckt, nicht mehr los ließ.

Ein besonders beeindruckender Beleg für diese Wirkung Sokrates’ auf andere Menschen findet sich in Alkibiades’ Darstellung seines Verhältnisses zu Sokrates, die Platon im Symposion wie-dergibt. Alkibiades vergleicht dort Sokrates’ Redekunst mit der Flötenkunst des Satyrs Marsyas: wie diesem durch sein Flötenspiel, gelinge es Sokrates durch das, was er sagt54, viele Menschen, “sei es nun Weib oder Mann, wer es hört, oder Knabe”, “außer sich” zu bringen:

“(...) weit heftiger als den vom Korybantentanz Ergriffenen pocht mir, wenn ich ihn 53 P. Feyerabend, Wissenschaft als Kunst, S. 68. 54 Alkibiades betont auffallenderweise, daß es der Inhalt der Äußerungen Sokrates’ ist, welcher diese Wirkung her-vorruft, und nicht die Person Sokrates’. Der Effekt soll nämlich derselbe sein, auch wenn ein Anderer das vorträgt,

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höre, das Herz, und Tränen werden mir ausgepreßt von seinen Reden; auch sehe ich, daß es vielen anderen ebenso ergeht. Wenn ich dagegen den Perikles hörte oder andere gute Redner, dachte ich wohl, daß sie gut sprächen, dergleichen begegnete mir aber nichts, noch geriet meine Seele in Unruhe darüber und in Unwillen, daß ich mich in einem knechtischen Zustand befände. Von diesem Marsyas aber bin ich oft so bewegt worden, daß ich glaubte, es lohnte nicht zu leben, wenn ich so bliebe, wie ich wäre. Und du wirst nicht sagen können, Sokrates, daß das nicht wahr wäre. Ja auch jetzt noch bin ich mir sehr wohl bewußt, daß, wenn ich nur meine Ohren hergeben wollte, ich mich nicht würde halten können, daß mir nicht dasselbe begegnete. Denn er nötigt mich einzugestehen, daß mir selbst noch gar vieles mangelt und ich doch, mich ver-nachlässigend, der Athener Angelegenheiten besorge. Mit Gewalt also, wie vor den Si-renen die Ohren verstopfend, fliehe ich aufs eiligste, um nur nicht sitzen zu bleiben und neben diesem alt zu werden. Und mit diesem allein unter allen Menschen ist mir begegnet, was einer nicht in mir suchen sollte, daß ich mich vor irgend jemand schä-men könnte; indes vor diesem allein schäme ich mich doch. Denn ich bin mir sehr gut bewußt, daß ich nicht imstande bin, ihm zu widersprechen, als ob man das nicht tun müßte, was er anrät, sondern daß ich nur, wenn ich von ihm gegangen bin, durch die Ehrenbezeugungen des Volkes wieder überwunden werde. Also laufe ich ihm davon und fliehe, und wenn ich ihn wiedersehe, schäme ich mich wegen des Eingestandenen und wollte oft lieber sehen, er lebte gar nicht; geschähe es aber etwa, so weiß ich ge-wiß, daß mir das noch bei weitem schmerzlicher sein würde, so daß ich gar nicht weiß, wie ich es halten soll mit dem Menschen.”55

Liebe, Scham und Haß – Haß, der zeitweilig sogar zu dem Wunsch führt, Sokrates möge tot sein: wahrlich ein erstaunliches Psychogramm. Wie ist diese Wirkung Sokrates’ auf andere Menschen zu erklären?

Halten wir zunächst fest, daß sie nicht das Resultat dessen sein kann, daß Sokrates eine neue Weitsicht, eine neue religiöse Lehre oder etwas von dieser Art verkündet. Feyerabend deutet zwar einen Vergleich zwischen Sokrates und religiösen Eiferern an, doch dieser Vergleich hinkt. Bekanntlich führen die wenigsten der platonischen Dialoge nämlich dazu, daß eine bestimmte strikt allgemeine Charakterisierung des Tugendhaften, des Frommen, usw., akzeptiert wird – die meisten dieser Dialoge lassen die Entscheidung über die Sache, um die es im Gespräch ging, of-fen. Das, was Sokrates’ Redekunst so einflußreich macht, kann daher nur in der Form und nicht im Inhalt dessen liegen, was er sagt. Während es für Religionslehrer ja gerade charakteristisch ist, daß es ihnen auf bestimmte Inhalte – eben bestimmte Normierungen dessen, was als tugendhaft, fromm, usw., zu gelten hat – ankommt.

Nochmals also: was ist es, das Alkibiades sagen läßt, er sehe ein, daß er sich “in einem knechti-schen Zustand” befinde, und daß er sich ändern müsse, wenn es lohnen solle, weiterzuleben? Oder, anders gefragt: woraus soll dieser “knechtische Zustand” eigentlich bestehen (da er doch,

was Sokrates an anderer Stelle und zu anderer Zeit dargelegt hat, und zwar sogar dann, wie Alkibiades hinzufügt, “wenn der Vortragende wenig bedeutet”. (Platon, Symposion, 215d). 55 Platon, Symposion, 215e-216c.

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wenn es nicht um bestimmte Inhalte geht, nicht einfach mit falschen Überzeugungen der einen oder anderen Art zusammenhängen kann)?

Eine Antwort auf diese Fragen erhalten wir am ehesten, wenn wir uns vor Augen führen, daß auch Sokrates unter einem eigentümlichen Zwang zu stehen scheint. Eine berühmte Passage des Dialogs Hippias I vermittelt ein anschauliches Beispiel dafür.

Hippias gehört zu jener anderen Art von Zuhörern Sokrates’, die gar nicht verstehen können, worauf dieser hinaus will. Er wirft Sokrates daher vor, sich beispielsweise bei seiner Suche nach einer strikt allgemeinen Charakterisierung des Schönen mit “Possen und leerem Geschwätz” ab-zugeben, statt, wie es einem heraus ragenden Bürger der Polis doch anstehe, “eine ganze Rede gut und schön vorzutragen vor Gericht oder im Rat oder vor einer andern Behörde, an welche die Rede sich wendet, und diese so zu überreden, daß man zuletzt nicht etwa unbedeutende, sondern die höchsten Preise davon trägt, nämlich Sicherheit für sich selbst und für sein Eigentum und sei-ne Freunde.”56

Sokrates erwidert diesen Vorwurf, indem er bekennt, er mache jedesmal, wenn er so verfahre, wie Hippias hier von ihm verlangt, eine eigentümliche Erfahrung:

“Wenn ich (...), von euch überzeugt, dasselbe sage wie ihr, daß es bei weitem vortreff-licher ist, wenn man versteht, eine gut und schön verfaßte Rede vorzutragen vor Ge-richt oder sonst einer öffentlichen Versammlung, so habe ich wiederum von einigen andern hier, vorzüglich aber von diesem Menschen, der mich immer widerlegt, alles Üble zu hören; denn er ist mir gar nahe verwandt und wohnt mit mir zusammen. Wenn ich nun zu mir nach Hause komme und er hört mich so sprechen, so fragt er mich, ob ich mich denn nicht schäme, davon, was man Schönes lernen und treiben soll, zu re-den, der ich so offenbar widerlegt worden bin, daß ich von eben diesem, dem Schönen, gar nicht einmal weiß, was es ist. — Wie willst du also wohl wissen, spricht er, ob je-mand eine Rede schön ausgeführt hat oder nicht oder irgendeine andere Handlung, der du von dem Schönen selbst nichts weißt? Und wenn es so um dich steht, meinst du, daß es dir besser sei zu leben als tot zu sein? So geht es mir also, wie gesagt: Von euch werde ich gescholten und geschimpft und von jenem auch.”57

Hannah Arendt hat diese Erfahrung Sokrates’ mit sich selbst einmal in einprägsamer Weise als die Erfahrung der “Zwei in Einem” bezeichnet.58 Sie hat zudem darauf aufmerksam gemacht, daß diese Erfahrung charakteristisch ist für das, was wir üblicherweise als “denken” bezeichnen. Denn wer denkt, hält ein stummes Zwiegespräch mit sich selbst, mit seinem “inneren Freund”, und dieses Zwiegespräch orientiert sich an einem ganz bestimmten Wunsch: dem Wunsch, even-tuelle Widersprüche zwischen einem selbst und jenem Anderen auszuräumen. Wenn jemand mit sich selbst rede, also: denke, dann werde er, so bemerkt Sokrates einmal im Theaitetos, niemals sagen, daß das Schöne häßlich, das Ungerechte gerecht, das Ungerade gerade, oder ein Ochse ein

56 Platon, Hippias I, 304a-b. 57 Platon, Hippias I, 304c-e. 58 H. Arendt, Vom Leben des Geistes, Bd. 1, S. 179-192.

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Pferd sei.59

Das, was Sokrates umtreibt, ist also das Verlangen nach Widerspruchsfreiheit im Verhältnis zwi-schen dem, was er persönlich glaubt und dem, was er öffentlich sagt oder tut: meine Lyra mag verstimmt sein, der Chor, den ich anzuführen habe, mißtönen, die meisten Menschen mögen mir Vorhaltungen machen, das alles, so bekennt Sokrates im Gorgias60, ist für mich nicht so schlimm, wie wenn ich – der ich doch Einer bin – mit mir selbst nicht im Einklang wäre und mir widersprechen müßte. Und dasselbe Verlangen nach Übereinstimmung mit sich selbst ist es auch, das hinter dem häufig zitierten Ausspruch Sokrates’ steht, es sei besser, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun61, da doch der, der Unrecht “nur” erleidet, nicht in Kauf nehmen müsse, daß “sei-ne Seele zerrüttet und verstümmelt”62 und dadurch “häßlich”63 wird.

Der “knechtische Zustand”, in dem Alkibiades sich glaubt, und dessen er sich, ebenso wie Sokra-tes nach seinen soeben zitierten Worten aus dem Hippias I, schämt, besteht also darin, daß zwi-schen dem, was er in der Öffentlichkeit zu wissen vorgibt, und dem, was er nach wohlüberlegter eigener Einschätzung wirklich weiß, Widersprüche herrschen.

Man sieht von daher im übrigen, daß Sokrates’ besondere Art der Gesprächsführung – die, nach einem viel zitierten Vergleich aus dem Theaitetos64, nur darauf aus ist, Hebammendienste für das zu leisten, was schon von sich aus hervortreten will – durchaus kein Zufall ist: da Sokrates daran liegt, solche Widersprüche ans Tageslicht zu ziehen, muß er seine Gesprächspartner dazu brin-gen, ihre je-persönlichen Überzeugungen eigenständig zu entwickeln und preiszugeben; und für die Realisierung dieses Ziels sind auf die je-einzelne. Person gerichtete Fragen ein besonders ge-eignetes Mittel. Ein Vortrag über das eine oder andere Thema, den jemand, und sei er auch ein so guter Redner wie Perikles, vor großem Publikum hält, kann jene Wirkung deswegen kaum erzie-len, weil er seine Adressaten niemals so unmittelbar an der Nahtstelle zwischen ihrem öffentli-chen Schein und ihrem persönlichen Sein zu packen vermag.

Eine neue Einstellung gegenüber dem Auftreten von Widersprüchen

Im Gegensatz zu dem, was Feyerabend glauben machen will, erklärt sich die außerordentliche Wirkung Sokrates’ auf einen Teil seiner Mitmenschen also nicht dadurch, daß Sokrates unge-wöhnliche, staunenswerte “Geschichten” zu erzählen weiß. Sie erklärt sich vielmehr dadurch, daß es Sokrates gelingt, seinen Gegenüber dazu zu veranlassen, seinen tatsächlichen, persönlichen Einstellungen zur Welt und zu anderen Menschen besondere Beachtung zu schenken und mit dem kritisch zu vergleichen, wie er sich sonst in der Öffentlichkeit zu geben pflegt. Nicht um-sonst lautet der letzte Rat des vor dem Tode stehenden Sokrates an seine Schüler, sie möchten

59 Platon, Theaitetos, 190b-c. 60 Platon, Gorgias 482b-c. 61 Platon, Gorgias 468-469: 474b. 62 Platon, Gorgias, 511a. 63 Platon, Gorgias, 525a; vgl. auch Kratylos, 428d. 64 Platon, Theaitetos, 150b-151c.

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“sich selbst recht wahrnehmen”, und “sich selbst nicht vernachlässigen.”65

Nun wird man vielleicht einwenden, daß dies allein noch nicht viel erkläre. Denn schließlich leuchte keineswegs von selbst ein, warum die Entdeckung, daß jemand widersprüchliche Über-zeugungen hegt, für diesen solche psychische Erschütterungen mit sich bringen kann, wie die es sind, von denen Alkibiades berichtet.

Der Einwand ist nicht unplausibel. Doch läßt er sich bei genauerer Betrachtung unschwer auflö-sen. Denn um die psychischen Besonderheiten jener Menschen zu verstehen, die so empfindsam auf Sokrates’ Redekunst reagieren, müssen wir uns nur etwas weiter in die damalige Situation hineindenken.

Wir haben es mit einer Zeit zu tun, in der vielen Menschen besonders deutlich vor Augen geführt wird, daß den Traditionen ihrer eigenen Kultur anders geartete Traditionen anderer Kulturen ge-genüber stehen: der östliche Mittelmeerraum beherbergt ja ein Vielvölkergemisch, und der durch den Handel, durch die diversen Koloniebildungen der Griechen in Vorderasien usw. bedingte Kontakt zwischen diesen Völkern ist ungewöhnlich intensiv. Dergleichen aber geht nicht ab, oh-ne daß sich die eine Kultur an der anderen reibt. Der Prozeß, der dabei abläuft, ist freilich norma-lerweise ein Prozeß, der gleichsam naturwüchsig geschieht – die an ihm beteiligten Individuen sind mehr Objekte als Subjekte. Hier indes, seit dem 6. Jahrhundert etwa, ist es zumindest teil-weise anders. Denn man hat ja ein neues Verfahren der Begründung von allgemeinen Charakteri-sierungen, ein Verfahren, für das insbesondere gilt, daß jedes einzelne Subjekt sich im Prinzip mit kritischen Einwänden zu Worte melden kann.

Das ist in vielerlei Hinsichten ein Gewinn. Freilich belädt es die Menschen auch mit bisher nicht gekannten Lasten.66 Denn wenn gilt, daß jeder Einzelne grundsätzlich allen Bestandteilen einer Tradition gegenüber Einwände erheben kann, muß er auch gewärtig sein, daß man ihm selbst sol-che Einwände entgegenhält. Und da besteht ein besonders schwer wiegender, weil bereits unab-hängig von allen inhaltlichen Auseinandersetzungen möglicher Einwand natürlich darin, daß der jeweils Angesprochene Überzeugungen anhängt, die miteinander unverträglich sind. Die damali-gen Umstände begünstigten also die Ausbildung von Menschen, die durch den Nachweis von Widersprüchen in ihren eigenen Überzeugungen besonders leicht zu irritieren sind.

Aber ist das Auftreten von Widersprüchen denn etwas so schwer Wiegendes? — Gewiß nicht in jedem Fall. Es gibt viele Widersprüche, mit denen man leben kann, und mit denen Menschen auch heute ohne sonderliche Schwierigkeiten leben (Feyerabend wäre vermutlich einer der er-sten, die auf diese Tatsache hinweisen würden). Nur trifft dies eben nicht auf alle Widersprüche zu.

Denken wir nur an Platons Dialog Euthyphron: eine Gesellschaft, in der ein und dieselbe Hand-

65 Platon, Phaidon, 115b. 66 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß die griechischen Wörter für Wissen und dem Wissen Verwand-tes – Wörter wie zum Beispiel γνωναι, επίστασδαι und σοφία – erst in den Jahrhunderten nach Homer mit dem Be-zug auf persönlich zu erbringende Anstrengungen assoziiert werden. S. dazu die Nachweise bei B. Snell, “Wie die Griechen lernten, was geistige Tätigkeit ist”.

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lung – zum Beispiel den eigenen Verwandten, im Fall, daß er jemanden getötet hat, vor Gericht anklagen – gleichermaßen als “fromm” wie als “ruchlos” gölte, würde mit erheblichen Störungen rechnen müssen. Denn ein solcher Widerspruch hätte zur Folge, daß die Menschen dieser Gesell-schaft in sozial wie individuell bedeutsamen Situationen, in denen sie nicht umhin können, zu handeln, nicht imstande sind zu wissen, wie sie handeln sollen. Die Verstörungen, die Sokrates bei den Sensibleren seiner Gesprächspartner hervorruft, sind in manchem denen vergleichbar, welche denselben Menschen beim Besuch einer der damaligen Tragödien vor Augen geführt wurden.67

Strikt Allgemeines und Besonderes

Zurück zur Frage, von der wir ausgegangen waren: worin liegt die praktische Bedeutung von So-krates’ Forderung, Charakterisierungen zu suchen, die nicht einfach allgemein, sondern strikt all-gemein sind?

Die Antwort auf diese Frage liegt jetzt auf der Hand: sobald es gelungen ist, eine solche strikt allgemeine Charakterisierung eines bestimmten Gegenstands zu finden, können Widersprüche der soeben genannten Art nicht mehr auftreten. Eine Gesellschaft, in der die für sie wichtigsten allgemeinen Charakterisierungen in strikt allgemeiner Weise gelten, wäre eine Gesellschaft, in der der Konsens zwischen den Menschen, aus denen sie besteht, und die Einheit dieser Menschen mit sich selbst keinen solchen grundsätzlich unlösbaren Zerreißproben ausgesetzt sind wie dort, wo es zu Widersprüchen zwischen zwei, oder mehr, allgemeinen Charakterisierungen kommt.

Daß Feyerabend diesen Punkt nicht besonders beachtet, hängt unter anderem mit seiner verharm-losenden Darstellung von Zeiten zusammen, in denen verschiedene Kulturen, mit verschiedenen Traditionen, zusammenstoßen. Für ihn ist eine solche Situation nämlich “noch kein Problem. Ganz im Gegenteil – sie macht neugierig: man untersucht die unbekannten Dinge, man über-nimmt fremde Errungenschaften, es kommt zu einem regen kulturellen Austausch, der selbst durch kriegerische Auseinandersetzungen nicht unterbrochen wird.”68

Wer Geschichtsbücher mit nur ein wenig Vorstellungskraft zu lesen vermag, für den muß dies freilich wie blanker Zynismus klingen. Natürlich ist es durchaus möglich, daß es zu einem sol-chen idyllischen Miteinander verschiedener Traditionen kommt. Und glücklicherweise gibt es dafür auch historische Beispiele. Nur: das sind in den weitaus meisten Fällen Beispiele, in denen diese relativ friedfertige Koexistenz aufgrund günstiger Umstände zustande kam. Sie verdankte sich nicht der Einsicht in die Relativität aller Traditionen und dem gut begründeten Willen zur wechselseitigen Toleranz, sondern Zufällen – zunächst einmal dem Zufall, daß diese Traditionen praktisch weitgehend miteinander verträglich waren. Wenn es die Umstände so mit sich brachten,

67 Genauer gesagt setzt die Philosophie fort, was in der Tragödie begonnen hatte – um damit zugleich auch deren Ende zu besiegeln. Schon Aristophanes hat daher die Philosophie, vertreten durch die Person Sokrates, für den Nie-dergang der alten. aischyleischen Form der Dichtung verantwortlich gemacht. Vgl. dazu B. Snell, “Aristophanes und die Ästhetik”. 68 P. Feyerabend, Wissenschaft als Kunst, S. 63.

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hat sich ein solches Miteinander alsbald aufgelöst. Und an seine Stelle traten, aus für die beteilig-ten Subjekte abermals uneinsichtigen Ursachen, Zustände, in denen die Mitglieder einer Tradition auf nichts anderes aus gewesen sind als auf die Vernichtung der “Fremden”.

Aber hat Feyerabend nicht zumindest insofern Recht, als man wirklich befürchten muß, die Su-che nach strikt allgemeinen Charakterisierungen werde zur Folge haben, daß die Besonderheiten einzelner, oder doch zumindest speziellerer Fälle, die ja aus den verschiedensten Gründen eben-falls wichtig sein mögen, nicht mehr hinreichend zur Sprache kommen? — Nicht notwendiger-weise.

Bei jenen strikt allgemeinen Charakterisierungen muß man ja nicht stehen bleiben. Selbstver-ständlich kann es unter bestimmten Umständen sinnvoll sein, zwischen, sagen wir, der Tugend der Männer und der der Frauen zu unterscheiden – vorausgesetzt nur, dies ist mit der allgemeinen Bestimmung der Tugend der Menschen vereinbar, vorausgesetzt also, jene Unterscheidung füllt Spielräume aus, welche eine allgemeinere Bestimmung der Tugend frei läßt.

Platon hat denn auch in seinen späteren Dialogen zu zeigen versucht, wie sich solche Differenzie-rungen in allgemeinere und weniger allgemeine Charakterisierungen eines bestimmten Gegen-stands vornehmen lassen. Die Art, wie er dies tut, ist zwar von Aristoteles kritisiert worden (wir werden darauf noch näher eingehen). Doch daß man bei den strikt allgemeinen Charakterisierun-gen nicht stehen bleiben muß, ist für die an dieser Diskussion Beteiligten selbstverständlich ge-wesen.

Sokrates’ Daimon

Und noch etwas ist wichtig. Natürlich ist das Bild einer Gesellschaft, deren wichtigste allgemeine Charakterisierungen allesamt strikt allgemein gelten, äußerst unrealistisch. Solche Gesellschaften gibt es nicht. Und selbst wenn es sie je geben sollte, so könnten sie doch nur unter der ihrerseits extrem unrealistischen Bedingung Bestand haben, daß sie keinerlei Wandel unterliegen.

In wirklichen Gesellschaften kommt es immer wieder dazu, daß neuartige Situationen eintreten, und man neu entscheiden muß, wie auf diese Situationen zu reagieren ist – was schließlich auch immer wieder dazu führen wird, daß man beispielsweise eine Charakterisierung für das trifft, was in solchen Situationen “gerecht handeln” heißt. In dem Moment aber, in dem dies geschieht, hat sich der Status der bisherigen Charakterisierungen gerechter Handlungen verändert: daß sie wei-terhin strikt allgemein sind, darf ja nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden. Schließlich hatte man bei der Formulierung der alten Charakterisierungen die später begegnende, neuartige Hand-lungssituation ja noch nicht berücksichtigen können. Wir haben es jetzt mit einer Gesellschaft zu tun, in der zwei unterschiedliche allgemeine Charakterisierungen gerechter Handlungen im Ge-brauch sind, Charakterisierungen, deren Verhältnis zueinander noch ungeklärt ist.

Faßt man wirkliche Gesellschaften ins Auge, so wird Sokrates’ Forderung, Begründungen für Behauptungen nur unter Berufung auf strikt allgemeine Charakterisierungen zu vollziehen, daher in sehr vielen Fällen darauf hinauslaufen, eine solche strikt allgemeine Charakterisierung erst ein-

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einmal zu finden. Eine solche Forderung führt häufig dazu, daß man die Auseinandersetzung um die Geltung einer bestimmten, auf einen Einzelfall bezogenen Behauptung fürs erste suspendiert, und sich zunächst einmal daran macht, die erforderliche strikt allgemeine Charakterisierung zu ermitteln. Der Verlauf des Euthyphron-Dialogs ist ein typisches Beispiel dafür. Und nicht nur der Verlauf dieses Dialogs. Auch in allen anderen Dialogen Platons, die mit einer konkreten Kon-fliktsituation beginnen, geht es sehr bald nicht mehr unmittelbar darum, in diesem Konflikt zu einer Entscheidung zu kommen, sondern darum, eine nach Sokrates’ beziehungsweise Platons Auffassung wichtige Voraussetzung für eine solche Entscheidung zu schaffen.

Wer dem neuen, von Sokrates propagierten Begründungsverfahren skeptisch gegenübersteht, mag freilich gerade auch aus der Betrachtung des Verlaufs der platonischen Dialoge seine Zwei-fel nähren wollen. Es führen ja nur wenige dieser Dialoge dazu, daß Sokrates sich mit seinen Ge-sprächspartnern tatsächlich über eine bestimmte strikt allgemeine Charakterisierung einigt. So-krates treibt seine Gegenüber lediglich durch immer neue Fragen wieder und wieder zu der Ein-sicht, daß die Charakterisierungen, denen sie bisher angehangen haben, mit weiteren, ebenfalls von ihnen vertretenen Charakterisierungen desselben Gegenstands unvereinbar sind. Und so en-den diese Dialoge zumeist damit, daß das Begründungsproblem, von dem man ausgegangen war, ungelöst bleibt.

Indes: daß man bei der Suche nach strikt allgemeinen Charakterisierungen grundsätzlich zu kei-nem positiven Ergebnis kommen kann, folgt aus den platonischen Dialogen selbstverständlich nicht. Und die Vorteile, die sich mit dieser Erweiterung des nur mit Charakterisierungen minde-ren Allgemeinheitsgrads arbeitenden Begründungsverfahrens erreichen lassen, sind zu offenkun-dig, um sich nicht zu einer solchen Erweiterung motivieren zu lassen:

Dort, wo man allein das weniger anspruchsvolle Begründungsverfahren praktiziert, werden even-tuelle Widersprüche zwischen zwei Charakterisierungen immer erst dann zutage treten, wenn es darum geht, einen unmittelbar bevorstehenden oder bereits abgeschlossenen Handlungsvollzug zu begründen. Beim Versuch hingegen, eine strikt allgemeine Charakterisierung eines Gegen-stands zu finden, lassen sich solche Widersprüche in einem von konkreten Handlungsvollzügen prinzipiell beliebig weit entfernten Gespräch vorwegnehmen.

Und das besagt natürlich auch: man kann sich hier mit einer gewissen Ruhe daran machen, jene Widersprüche aufzulösen, ist bis zu einem gewissen Grade unbehelligt von dem Zwang, hier und jetzt handeln zu müssen. Sokrates’ Forderung, Charakterisierungen des Frommen, Gerechten, Tugendhaften, Schönen usw. strikt allgemein zu formulieren, ist innerhalb der Geschichte des Begründens vor allem deswegen so wichtig, weil sie Teil des Versuchs ist, es gar nicht erst zu Situationen kommen zu lassen, in denen jemand beispielsweise mit einer begründeten Bestrafung zu rechnen hat, ganz gleich, welche der ihm zur Zeit verfügbaren Handlungsmöglichkeiten er er-greift.

Anders ausgedrückt: der Gewinn, den die Verwirklichung von Sokrates’ Forderung, nach strikt allgemeinen Charakterisierungen zu suchen, verspricht, liegt vor allem in Folgendem: wenn man sich dieser Forderung anschließt, wird sich zunächst einmal der Spielraum erweitern, innerhalb

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dessen Menschen ihre Einstellungen gegenüber sich selbst, gegenüber ihrer sozialen wie ihrer natürlichen Umwelt gleichsam ausprobieren können, bevor sie sich definitiv zu einer bestimmten Handlung entscheiden. Man ist zweifellos besser dran, wenn man sich nicht immer gleich zur Gänze, das heißt als handelndes Subjekt, einer gefährlichen Natur oder einer häufig nicht minder gefährlichen sozialen Umwelt aussetzen muß, sondern nur eine seiner Überzeugungen.

Freilich ist die Fähigkeit, solche Spielräume nutzen zu können, etwas, was sich in der Geschichte menschlicher Kulturen wie auch einzelner Individuen mit Sicherheit erst allmählich herausbildet. Der Besitz dieser Fähigkeit ist ja gleichbedeutend damit, daß man imstande ist, sich vom soforti-gen Austragen eines auf eine konkrete Situation bezogenen Konflikts zu distanzieren – man muß es psychisch verkraften können, die Lösung eines konkreten Problems fürs erste aufzuschieben. Und zu derartigem sind Menschen offenbar nicht schon von ihrer Geburt an imstande.

In den platonischen Dialogen gibt es ein literarisch eindrucksvolles Indiz dafür: das Erscheinen jener Figur, die Sokrates seinen “Daimon” nennt. Dieser ist es nämlich, der Sokrates, nach seinen eigenen Worten, davon abhält, sich übereilt an aktuellen Konfliktsituationen, speziell in Staatsge-schäften, zu beteiligen, und der ihn auf diese Weise mehrfach davor bewahrt hat, sein Leben aufs Spiel zu setzen.69 (Sokrates’ Daimon darf also nicht mit dem “Anderen” verwechselt werden, von dem im Hippias I die Rede ist: jener bewahrt Sokrates davor, sich auf die alte, unmittelbar prakti-sche Form der Auseinandersetzung in Konfliktsituationen einzulassen: dieser treibt ihn dazu an, bei den Anstrengungen zur Auflösung von Konflikten der neuen, “theoretischen” Art nicht zu erlahmen.)

Auszug aus:

Arno Ros: Begründung und Begriff. Wandlungen des Verständnisses begrifflicher Argu-mentationen. Bd. I: Antike, Spätantike, Mittelalter. Hamburg: Meiner, 1989. (S. 19– 55)

69 Vgl. insbesondere: Apologie, 31e-33a, sowie, darüber hinaus: Euthydemos, 272e, Politeia, 496c, Phaidros, 252b, Theaitetos, 151a,