Sonja Bakes - Der Stein von Azur

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Leseprobe: Sonja Bakes: Der Stein von Azur, Taschenbuch, 514 Seiten, 15,60 Euro. Es war Magie. Ungebändigte, pure Energie. Sie ist noch nicht so weit, das alles zu begreifen, geschweige denn die Magie zu beherrschen. Andere brauchen dafür Jahre - sie hat nur einen Monat. Ein toter König, ein rätselhaftes Testament, ein magischer Stein ... und Lucia, die sich auf die Suche nach einem Erben begibt.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Titelbild: Malin ReuterIllustrationen:Luisa Meyer (Landkarte Illionäsia)Kai Niklas Bakes (Zeichen S. 320)

Lektorat: Sandy Penner

1. Auflage 2013ISBN: 978-3-86196-132-1

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Copyright (©) 2013 by Papierfresserchens MTM-Verlag GbR Sonnenbichlstraße 39, 88149 Nonnenhorn, Deutschland

www.papierfresserchen.de [email protected]

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Sonja Bakes

Der Stein von Azur

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Illionäsia

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Magie.Magie ist niemals greifbar oder sichtbar gewesen.

Viele glauben daran und viele tun sie als Märchen oder Fantasie ab.Einige halten sie für die Sehnsucht nach Wundern

und die Kunst, die kleinen Faszinationen zu erkennen.Keiner kann sie eindeutig definieren,

keiner Beweise für sie vorbringenund keiner sie erklären.

Doch eines steht fest:Sie ist da, schon immer, und wird es immer sein.

Auf die eine oder andere Weise.Magie.

Wer sich ihr verschließt, dem zeigt sie sich nie,aber wer nach ihr sucht, dem offenbart sich eine neue Welt und eine andere

Sicht auf die Dinge.

– nach einer alten illionäsianischen Schrift

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Prolog

Der Mond war in dieser Nacht so klar zu erkennen, wie schon lange nicht mehr. Er hatte seine volle Form erreicht und die kleinen Krater und Unebenheiten auf seiner Oberfläche waren scharf umrissen. Die Sterne verblassten neben seiner Schönheit und lugten nur zaghaft in die unzäh-ligen, dunklen Fenster des Schlosses. Wenn man die Fenster des Schlosses von Gyndolin betrachtete und ihre Vielfalt bestaunte, konnte man leicht vergessen, dass sie sich in einer Welt befanden, in der nur noch Wenige an Magie glaubten.

Das Schloss war in einer Zeit der Künstler und Schöngeister erschaf-fen worden und der damalige König von Gyndolin hatte keine Kosten und Mühen gescheut, um den Wohlstand seines Landes zu demonstrieren und das Bauwerk zu etwas Besonderem zu machen. Unzählige Architekten hatten lange Jahre an dem Schloss gearbeitet und geschickte Handwerker und Glaser verwirklichten sich in seinen prunkvollen Fenstern. Sie waren Einzelstücke von unschätzbarem Wert und wiesen alle nur erdenklichen Formen, Farben und Größen auf. Leuten, die von Weitem einen Blick auf das Schloss erhaschen konnten, blieb vor Staunen der Mund offen stehen.

Aber jetzt war es still. Die Dunkelheit hatte die Welt wie jede Nacht zu einem unwirklichen Abbild des Tages gemacht. Sie besaß ihren ganz eigenen, unheimlichen Zauber. Aus den Fenstern waren bedrohlich auf-gerissene Mäuler, Fratzen hässlicher Kreaturen und Augen geworden, die einen bei jedem Schritt beobachteten. Wer genauer hinsah, konnte hinter dem Glas manchmal sogar Schatten vorbeihuschen sehen. Doch ob sie

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zu einem harmlosen Schlafwandler, dem Geist eines Verstorbenen oder Schlimmerem gehörten, hätte niemand sagen können.

Die Kerzen im Thronsaal waren bis auf einige verlaufene und nur noch schwach flackernde bereits erloschen. Der König kauerte in einer dunklen Ecke in seinem Sessel und flüsterte lautlose Gebete in die Dunkelheit. Sein Blick war verbissen auf das goldene Portal gerichtet, als ob er sich durch Konzentration von seiner Angst ablenken könnte. Doch hin und wieder huschte sein Blick zum einzigen Fenster des Thronsaals. Es nahm eine komplette Seite des Raumes für sich ein und reichte vom Boden bis zur Decke, sodass man, wenn man sich dicht vor die Scheibe stellte, das Gefühl hatte, direkt vor dem Abgrund zu stehen. Bei näherer Betrachtung konnte man im Glas die Konturen vergangener Könige und die Bildnisse toter Helden erahnen. Wenn die Sonne besonders günstig hineinschien, leuchteten die winzigen Gestalten wie von Zauberhand auf und warfen Schatten an die Wände.

Aber der Herrscher von Gyndolin war in Kummer versunken und konnte sich an diesen Details schon lange nicht mehr erfreuen. Sein Herz schmerzte bei jedem verzweifelten Schlag und seine traurigen Gedanken erinnerten ihn immer wieder an die tragischen Fehler, die er begangen hatte. Die Schmerzen waren manchmal sogar erträglich, aber die Schuld lastete immer auf ihm.

Wie lange würde es noch dauern, bis der Bote mit Nachrichten zu-rückkam? Vor fünf Tagen hatte er ihn losgeschickt und ein Reiter konnte die Strecke bis zur Hauptstadt von Morofin innerhalb von zwei Tages-ritten bewältigen. Er war sicherlich schon ganz in der Nähe. Hoffentlich. Diese Ungewissheit konnte er nicht mehr lange ertragen. Aus einem tiefen Instinkt heraus hatte er in dieser Zeit zum ersten Mal seit Langem wieder begonnen, zu den Göttern zu beten: flehend, verzweifelt, auf den Knien und dann wieder zornig. Eine Antwort auf seine Fragen hatte er von ihnen nicht bekommen. So war es schon immer gewesen. Gerade in Zeiten, in denen er sie am meisten brauchte, hatte er am wenigsten das Gefühl, dass sie bei ihm waren. Sie hatten ihn verlassen, genau wie das Glück. Was hätte er auch anderes erwarten können?

In den endlos erscheinenden Stunden des Wartens hatte er angefan-gen, alles zu vernachlässigen. Taktvollerweise hatte sich sein Hauptmann in den letzten Tagen um seine politischen Angelegenheiten gekümmert und seinen Dienern war es zu verdanken, dass er das Nötigste an Essen

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und Trinken zu sich genommen hatte. Doch nachts war er ganz allein mit seiner Angst. Am Anfang hatte er noch versucht, ein wenig Ruhe zu fin-den, doch mittlerweile war er dazu übergangen, im Thronsaal die Nächte zu durchwachen und bis zum Morgengrauen auf den Boten zu warten. Jetzt spürte er, wie unaufhaltsam die Müdigkeit in ihm aufstieg. Seine Au-genlider schlossen sich fast von selbst und eine vereinzelte Träne kullerte über seine faltige Wange.

Der König war immer eine imposante Gestalt gewesen. Er war ein hochgewachsener, muskulöser Mann, der mit zunehmendem Alter auch weiser geworden war. Sein Haar war bereits ergraut und sein sonst so or-dentlich gestutzter Bart verlieh ihm Würde. Die Menschen liebten ihren König. Er war immer darauf bedacht, zu ihren Gunsten zu handeln, und hatte zu seiner Zeit Frieden geschaffen, der bis heute anhielt. Auch die anderen Könige und Königinnen wussten seine Politik zu schätzen. Aber er war nicht mehr so, wie er einmal gewesen war. Ein Krieger war er schon lange nicht mehr, doch nun begann er, auch die Freude am Leben zu ver-lieren und in seinem Kummer zu versinken. Seine Vergangenheit hatte ihn gezeichnet und er konnte noch immer nicht loslassen.

Als seine Tochter leise den Raum betrat, fühlte sie sofort, dass es schlimmer geworden war. Es schien, als wäre ihr Vater innerhalb kürzester Zeit ein ganzes Stück gealtert. Zusammengesunken saß er in seinem Sessel, den Kopf in die zu Fäusten geballten Hände gestützt. Sie schlich zu ihm und umarmte ihn sanft. Sein ganzer Körper wurde immer wieder von hef-tigem Zittern geschüttelt und es war seltsam, ihren sonst so starken Vater so schwach zu erleben. Sie hatte das Gefühl, ihn beschützen zu müssen, nicht umgekehrt.

Melankor hob langsam den Kopf und sah in ihre Augen, in der Hoff-nung irgendwo Halt zu finden. Lucia hatte wunderschöne smaragdgrüne Augen, die ihn unvermeidlich an ihre Mutter erinnerten. Vielleicht tat es deshalb so weh, ihr Lächeln zu sehen und gleichzeitig zu wissen, dass Rika niemals zurückkehren würde. Lucia war zierlich und hatte schon immer etwas zerbrechlich gewirkt, doch dieser Anblick täuschte. In ihr steckte die Sturheit ihres Vaters und sie besaß einen gewaltigen Dickschädel, gegen den niemand ankam. Sie war sein Ein und Alles.

Zwölf Jahre waren lang genug, um loszulassen, doch die Wunde war wieder aufgerissen. Es hatte sich damals angefühlt, als hätte jemand einen Teil seines Herzens aus seiner Brust gerissen, und er fürchtete, dass dies

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erneut geschehen würde. „Dieses Mal wird selbst Lucia es nicht schaffen, mich aufzumuntern“, dachte er voller Bitterkeit. Die bösen Gedanken nis-teten sich erneut in seinem Kopf ein und breiteten sich rasch aus.

Sein bester Freund, Adenor, lag im Sterben. Die letzte Nachricht über die Gesundheit des Königs von Morofin war entmutigend gewesen. Zwar lebte Adenor, doch lag er in einer Art Koma, über das keiner der Ärzte etwas wusste. Eine solche Krankheit hatte es noch niemals in Illionäsia gegeben und man wusste nicht, wie sie zu heilen war. Adenor war langsam aber stetig schwächer geworden und niemand konnte etwas für ihn tun.

Gyndolins König Melankor war verzweifelt. Er hatte seinen Freund noch einmal sehen wollen. Die beiden hatten als junge Männer in der großen Schlacht zwischen den sieben Ländern gekämpft und entscheidend zum Frieden beigetragen. Adenor hatte kurz nach dem Krieg das Erbe seines Vaters, des Königs von Morofin, antreten müssen und Melankor war für seine besonderen Verdienste mit dem Thron des Nachbarlandes Gyndolin geehrt worden.

Doch nun stand es schlecht um ganz Illionäsia. Zwischen den Ländern bestand seit einigen Jahren eine starke Spannung, die sich immer weiter vertiefte. Seit der undurchschaubare und berechnende Zerbor in Kibo-rien an die Macht gekommen war, gab es Unstimmigkeiten und Konflikte zwischen den sieben Königreichen, die vorher offen gelöst worden wären. Zwist und Gier waren zurückgekehrt und schwebten über ihnen, bereit zuzuschlagen.

Adenors Tod konnte die Situation eskalieren lassen und Zerbor dazu dienen, einen seiner Handlanger in Morofin zu positionieren. Ein Streit um das Erbe würde leicht die ohnehin gereizte Stimmung zum Kippen bringen. Das durfte auf keinen Fall geschehen. Es ging nicht nur um sein eigenes Wohl, sondern um das seines ganzen Volkes. Und das der sechs anderen Länder.

Melankor biss die Zähne zusammen und richtete sich auf. Adenor durfte, nein er würde nicht sterben. Alles würde so bleiben wie bisher!

Lucia fuhr erschrocken zurück, als ihr Vater plötzlich den Kopf hob. Er wirkte so müde und zermürbt, dass sie sich nicht nur um Adenor, son-dern auch um ihn Sorgen machte.

Ein gewaltiger Blitz zuckte über den Himmel. Für einen Moment war es taghell und sie schrie leise auf. Gleich darauf war ein lautstarkes Don-nern zu hören, das in den Ohren schmerzte. Das Geräusch war viel näher

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und bedrohlicher als sonst, Lucias ganzer Körper wurde davon erfasst. Sie starrte betroffen aus dem Fenster. Der Blitz war in die prächtige Eiche ein-geschlagen, die seit Jahrzehnten vor dem Schloss stand. Und als sie zum Fenster hinüberblickte, sah sie, wie Flammen das trockene Astwerk ver-zehrten und der Baum immer stärker Feuer fing. Nach dem letzten großen Krieg hatten die endlich miteinander versöhnten Länder beschlossen, als Zeichen des Friedens diese Eiche zu pflanzen. Unter normalen Umständen hätte das Lucia nicht sehr beunruhigt, da sie nicht an solche Geschichten glaubte, doch nun konnte sie einfach nicht anders: Es musste ein schlech-tes Omen sein.

Im nächsten Moment öffnete sich mit einem Ächzen das Portal. Der Bote trat herein. Seine schwarze Rüstung schmiegte sich wie ein Schatten in die Dunkelheit. Ein erneuter Blitzschlag erleuchtete den Saal und ließ alles in einem bizarren Licht erstrahlen. Für einen Augenblick war Lucia wie gelähmt. Es war Lord Neriell, begleitet von zwei in Umhänge gehüllte Gestalten. Lord Neriell. Sie vertraute ihm nicht. Seine Augen funkelten sie jedes Mal, wenn sie ihm begegnete, tückisch an und sie hatte das Gefühl, dass er zu jeder Intrige fähig war. Sein Körper war muskulös, doch er war nicht der Stärkste der Lords. Sein heller Verstand und seine List zeichneten ihn aus. Es war ihr unangenehm, dass ihr Vater gerade ihn als Boten ge-schickt hatte.

„Lord Neriell!“ Sie bemühte sich, fest und mutig zu klingen. Es ge-lang ihr nicht. Ein leichtes Zittern und der Anflug von Angst hatten sich unweigerlich in ihre Stimme geschlichen. Der Lord achtete nicht auf sie und wandte sich direkt an Melankor: „Mein König, ich muss Euch eine furchtbare Neuigkeit mitteilen. König Adenor verweilt nicht mehr unter den Lebenden!“ Mit diesen Worten senkte er betroffen den Blick. Melan-kors Gesicht blieb unbewegt und ausdruckslos, doch dann verzog es sich zu einer Grimasse aus Zorn und Schmerz, und der König brach in sich zusammen.