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Nomos Herausgeber Ulrich Beck Norman Braun Armin Nassehi In Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute e. V. 2009 60. Jahrgang Seite 115–234 ISSN 0038-6073 E 45959 2 Soziale Welt Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis SozW Aus dem Inhalt Alexander Bogner Ethisierung und die Marginalisierung der Ethik Heiner Meulemann Chanceneröffnung und Chancenausgleich Matthias Pollmann-Schult Arbeitszeitwunsch und -wirklichkeit im Familienkontext Hans J. Pongratz Konkurrenz und Integration in Reorganisationsprozessen Michael Schmid Theoriebildung und Theoriepolitik in der Soziologie Karl-Siegbert Rehberg Theoretische Homogenitätssehnsucht als Dominanzanspruch Norman Braun Eine Antwort auf meine Kommentatoren

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Nomos

HerausgeberUlrich BeckNorman BraunArmin Nassehi

In Verbindung mit der Arbeits gemeinschaft Sozialwissen schaft licher Institute e. V.

200960. JahrgangSeite 115–234 ISSN 0038-6073E 45959

2

Soziale WeltZeitschrift für

sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis

SozWSo

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009

Aus dem Inhalt

Alexander BognerEthisierung und die Marginalisierung der Ethik

Heiner MeulemannChanceneröffnung und Chancenausgleich

Matthias Pollmann-SchultArbeitszeitwunsch und -wirklichkeit im Familienkontext

Hans J. PongratzKonkurrenz und Integration in Reorganisationsprozessen

Michael SchmidTheoriebildung und Theoriepolitik in der Soziologie

Karl-Siegbert RehbergTheoretische Homogenitätssehnsucht als Dominanzanspruch

Norman BraunEine Antwort auf meine Kommentatoren

Soziale Welt – Sonderbände

Demokratie in der WeltgesellschaftSoziale Welt – Sonderband 18Herausgegeben von Hauke Brunkhorst2009, 524 S., brosch., 49,– € (für Bezieher der Zeitschrift 39,– €), ISBN 978-3-8329-4113-0

Konfl iktfeld Islam in EuropaSoziale Welt – Sonderband 17Herausgegeben von Monika Wohlrab-Sahr und Levent Tezcan2007, 468 S., brosch., 49,– €(für Bezieher der Zeitschrift 39,– €), ISBN 978-3-8329-2649-6

Die Wirklichkeit der StädteSoziale Welt – Sonderband 16Herausgegeben von Helmuth Berking und Martina Löw2005, 416 S., brosch., 49,– € (für Bezieher der Zeitschrift 39,– €), ISBN 978-3-8329-1458-5

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Der Sammelband beschäftigt sich mit den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Demokratie in der Weltge-sellschaft. Aus soziologischer, politik- und rechtswissen-schaftlicher Sicht analysieren die Autoren dieses Bandes de-tailliert brisante Entwick-lungen des Weltrechts, des Kapitalismus, der EU, des Irak-krieges und der Migration, um daran Fragen institutioneller Praxis demokratischer Selbst-bestimmung anzuschließen.

»dürfte (und sollte) zu einem Standardwerk zum Thema „Konflikt-feld Islam“ werden.«Fabian Virchow, W&F 08/08

»Eine eingehende Beschäftigung mit den vorgelegten Untersu-chungen lohnt.«Jürgen Haberland, Ministeri-

alrat a.D., ZAR 2/08

Die Stadt ist ein Begriff, der ei-ne ganze Welt im Schlepptau hält, eine semantische Ver-dichtung, mittels derer sich nicht nur Wahrnehmungen, Bilder und Erfahrungen, son-dern auch kulturelle Wissens-bestände produzieren und or-ganisieren lassen. Obwohl Städte seit 10.000 Jahren phy-sisch präsent sind, ist der Streit um den „ontologischen“ Sta-tus der Stadt längst nicht ent-schieden, die Frage nach einem vorgängigen Gegen-stand „Stadt“ heute umstrit-tener denn je.

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SozW Soziale Welt 2/2009Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis 60. Jahrgang

Herausgegeben von der ArbeitsgemeinschaftSozialwissenschaftlicher Institute e.V., Lennéstr. 30, 53113 Bonn

Seite 115 – 234

Geschäftsführende Herausgeber: Prof. Dr. Ulrich Beck, Prof. Norman Braun PhD,Prof. Dr. Armin Nassehi, Universität München, Institut für SoziologieGeschäftsführende Herausgeber: Prof. Dr. Ulrich Beck, Prof. Norman Braun PhD,Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Barbara Adam, University of Wales, Cardiff · Prof. Mar-tin Albrow, Roehampton Institute, London · Prof. Anthony Giddens, London School of Eco-nomics and Political Science (LSE), London · Prof. Uta Gerhardt, Universität Heidelberg ·Prof. Heinz Hartmann, Universität Münster · Prof. Bruno Latour, Sciences Po, Paris · Prof.Hermann Schwengel, Universität FreiburgRedaktion: Dr. Irmhild Saake, Universität MünchenRedaktionelle Bearbeitung: Julian Müller

Inhalt

Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

Aufsätze

1. Ethisierung und die Marginalisierung der EthikVon Alexander Bogner.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

2. Chanceneröffnung und ChancenausgleichVon Heiner Meulemann.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

3. Arbeitszeitwunsch und -wirklichkeit im FamilienkontextVon Matthias Pollmann-Schult. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

4. Konkurrenz und Integration in ReorganisationsprozessenVon Hans J. Pongratz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

Kommentare

5. Theoriebildung und Theoriepolitik in der SoziologieVon Michael Schmid.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

6. Theoretische Homogenitätssehnsucht als DominanzanspruchVon Karl-Siegbert Rehberg.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

7. Eine Antwort auf meine KommentatorenVon Norman Braun.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

Abstracts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

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ImpressumGeschäftsführende Herausgeber: Prof. Dr. Ulrich Beck, Prof. Norman Braun PhD, Prof. Dr. Armin Nassehi(V.i.S.d.P.), Universität München, Institut für SoziologieRedaktion: Dr. Irmhild Saake, Universität MünchenRedaktionelle Bearbeitung: Julian MüllerNamentlich gezeichnete Beiträge geben nicht in jedem Fall die Meinung der Herausgeber/Redaktion oder des Verlageswieder.Alle Einsendungen erbeten an die Redaktion »SOZIALE WELT«, Institut für Soziologie, Konradstraße 6, 80801 Mün-chen, Tel. (089) 2180-2458, Fax (089) 2180-5945, [email protected]. Die Redaktion behältsich eine längere Prüfungsfrist vor. Eine Haftung bei Beschädigung oder Verlust wird nicht übernommen. Bei unver-langt zugesandten Rezensionsstücken keine Garantie für Besprechung oder Rückgabe. Alle Rechte sind vorbehalten.Fotomechanische Vervielfältigungen der Beiträge und Auszüge sind nur im Einvernehmen mit dem Verlag möglich.Erscheinungsweise vierteljährlich.Die Homepage der Sozialen Welt erreichen Sie unter http://www.lrz-muenchen.de/~Soziale_Welt/.Bezugsbedingungen: Bezug durch alle Buchhandlungen oder unmittelbar durch den Verlag. Preis des Einzelheftes€ 26,–; Jahresbezugspreis € 92,–; Vorzugspreis für Studierende € 46,– (Jährliche Vorlage einer Studienbescheinigungerforderlich). Die Preise verstehen sich incl. MwSt. zzgl. Versandkosten. Kündigung drei Monate vor Kalenderjahres-ende. Die zur Abwicklung von Abonnements erforderlichen Daten werden nach den Bestimmungen des Bundesdaten-schutzgesetzes verwaltet. Bestellungen und Studienbescheinigungen bitte an: NOMOS Verlagsgesellschaft mbH & Co.KG, Postfach 100 310, D-76484 Baden-Baden, Telefon 0 72 21 / 21 04-0, Telefax 0 72 21 / 21 04 43.Druck: NOMOS Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Postfach 100 310, 76484 Baden-Baden,Telefon 0 72 21 / 21 04-0, Telefax 0 72 21 / 21 04 43.Anzeigen: sales_friendly, Bettina Roos, Siegburger Straße 123, 53229 Bonn,Telefon 02 28 / 9 78 98-0, Fax 02 28 / 9 78 98-20, [email protected] ISSN-Nr. 0038-6073

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EditorialNeben vier, wie wir meinen, spannenden Hauptbeiträgen präsentiert dieses Heft eine Diskus-sion des Beitrages „Theorie in der Soziologie“ von Norman Braun aus Heft 4 des letztenJahrgangs. Wir sind Michael Schmid und Karl-Siegbert Rehberg sehr dankbar dafür, dasssie sich der Mühe unterzogen haben, auf den sehr dezidierten Beitrag von Norman Braun zureagieren. Der Kommentierte hat selbst repliziert und wiederum sehr dezidiert seine Positionbehauptet. Es ist hier nicht der Ort, wiederum inhaltlich zu kommentieren. Aber vielleicht istder Hinweis erlaubt, wie schwierig eine diskursive Form der Auseinandersetzung über „Theo-rie in der Soziologie“ doch ist – schwierig in dem Sinne, dass in unserem Fach tatsächlichsehr unterschiedliche Standards herrschen. Ich meine damit nicht Qualitätsstandards oderStandards einer wohl kaum messbaren Größe der Einheit „Wissenschaftlichkeit“ oder so et-was. Unterschiedlich scheinen die Standards v.a. darin zu sein, mit welcher Sicherheit sichdie Positionen gegenüber anderen selbst ausstatten. Das ist zunächst keine Diagnose, keineBewertung, sondern nur eine Feststellung, an die vielleicht künftige Theoriedebatten anschlie-ßen können.

Wir meinen jedenfalls, dass solche Debatten wichtiger sind denn je, damit sich die unter-schiedlichen Paradigmata der Soziologie auch zukünftig gegenseitig noch etwas zu sagen ha-ben. Ich wiederhole jedenfalls meinen Dank an die beiden Kommentatoren für ihre fruchtba-re Arbeit und schließe den Mitherausgeber Norman Braun in diesen Dank ein, dessen dezi-dierter Aufschlag ja erst die beiden returns ermöglichte.

München, im August 2009

Armin Nassehi

Soziale Welt 60 (2009), S. 117

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Ethisierung und die Marginalisierung der EthikZur Mikropolitik des Wissens in Ethikräten

Von Alexander Bogner

Zusammenfassung: In diesem Beitrag wird das organisationssoziologische Konzept der Mikro-politik für die Analyse von Ethikexpertise verwendet. Aus dieser Perspektive wird deutlich, dassim Rahmen interdisziplinärer Expertiseproduktion immer auch über die Geltungsansprüche diszi-plinären Sonderwissens verhandelt wird. In dieser Mikropolitik des Wissens entscheidet sich, wererfolgreich Expertenstatus behaupten kann. Dies wird am Beispiel nationaler Ethikräte gezeigt.Die ethische Rahmung dieser Expertise führt nun, so die zentrale These, nicht zu einer Privilegie-rung sondern – im Gegenteil – zu einer Marginalisierung ethischen Wissens. Konstatiert wird da-mit eine gegenläufige Entwicklung: Während sich auf der Makroebene ein hegemonialer Trendzur Ethisierung wissenschaftlich-technischer Phänomene beobachten lässt, zeigt sich auf der ope-rativen Mikroebene eine relative Marginalisierung der Fachethik.

Der folgende Beitrag hat zum Ziel, in theoretischer wie empirischer Hinsicht zu einer Sozio-logie der Ethikexpertise beizutragen.1 In theoretischer Hinsicht wird der Versuch unternom-men, das organisationssoziologische Konzept der Mikropolitik für wissenschaftssoziologi-sche Interessen nutzbar zu machen. Dies eröffnet die Möglichkeit, die Aushandlung von Ex-pertise in interdisziplinären Expertengremien als Mikropolitik des Wissens zu analysieren.Es wird gezeigt, dass in interdisziplinären Expertengremien immer auch über die Geltungs-ansprüche disziplinären Sonderwissens verhandelt wird. Diese Auseinandersetzungen umWissensansprüche werden in wechselnden Experten-Laien-Konstellationen ausgetragen –schließlich ist jeder Fachexperte in der Nachbar(sub)disziplin ein Laie.2 Mit dem Bezug aufMikropolitik wird Interdisziplinarität also aus einer dezidiert machtanalytischen Perspektiveanalysiert. Mikropolitik des Wissens erscheint als ein notwendiger Bestandteil interdiszipli-nären Arbeitens.

In dieser Mikropolitik entscheidet sich: Welches Wissen zählt als Wissen? Was gilt als(gutes) Argument, was als relevante Kritik? Wem gelingt es, seine Wirklichkeitsinterpretati-on handlungs- und entscheidungsrelevant werden zu lassen? Wer kann erfolgreich Experten-status behaupten? Und, Stichwort „wechselnde Experten-Laien-Konstellationen“: Von wemund auf welcher Ebene sind Wissens- und Deutungsansprüche bestreitbar? Das Erkenntnisin-teresse richtet sich also darauf, welche „Hierarchie von Wissensformen“ (Bora 2009) sichim Rahmen interdisziplinärer Expertise etabliert.

Dass es sich beim empirischen Fallbeispiel um Nationale Ethikräte handelt, macht den be-sonderen Reiz dieser Studie und ihre Relevanz für eine Soziologie der Ethik aus. Denn da-mit wird die Frage virulent, welche Folgen diese Kommissionsethik für die professionelleEthik hat. Wird die Ethik zur „Dachwissenschaft“, die alle anderen Disziplinen zu Hilfswis-senschaften degradiert? Im Folgenden wird argumentiert, dass genau dies nicht der Fall ist.Zwar beobachten wir einerseits eine diskursive Entgrenzung der Ethik, die unter anderem

1 Intellektuelle und moralische Unterstützung verdanke ich einem anonymen Gutachten sowie Wolf-gang Menz.

2 Die verweist im Übrigen auf den implizit transdisziplinären Charakter interdisziplinären Arbeitens,auf den – wenn auch mit anderer Akzentsetzung – schon Jürgen Mittelstraß (1987) hingewiesen hat:Wenn Interdisziplinarität wirklich als Dialog über Fächergrenzen hinweg geführt wird, sitzen die Lai-en immer schon mit am Beratungstisch der Experten, und zwar im konkreten Fall – anders als imPartizipationskonzept von Nowotny et al. (2001) – in Form renommierter Fachexperten.

Soziale Welt 60 (2009), S. 119 – 137

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die Forschungs- und Technikregulierung als Aufgabe ethischer Reflexion kennzeichnet (Ethi-sierung). Andererseits lässt sich jedoch feststellen, dass die Organisation der ethischen Refle-xion in Form interdisziplinärer Expertengremien zu einer Infragestellung des ethischen Defi-nitionsmonopols führt. Konstatiert wird also eine gegenläufige Entwicklung: Während sichauf der Makroebene ein hegemonialer Trend zur Ethisierung wissenschaftlich-technischerPhänomene beobachten lässt, zeigt sich auf der operativen Mikroebene eine relative Margi-nalisierung der Fachethik.

Diese These wird in fünf Schritten entwickelt. Zunächst wird der Begriff der Ethisierungpräzisiert. Ethisierung wird als eine bestimmte Thematisierungsperspektive von wissenschaft-lich-technischen Phänomenen verstanden, die sich gerade in Abgrenzung zum Risikodiskursdeutlich profilieren lässt (1). Anschließend wird mit Rekurs auf die Organisationstheorie derBegriff der Mikropolitik präzisiert. Dies schafft die Grundlage, um die Aushandlungen inden Ethikgremien als Kampf um die Anerkennung von Wissen analysieren zu können (2).Danach wird eine Systematisierung unterschiedlicher Geltungskriterien vorgestellt, die fürdie Bestreitung von Wissensansprüchen innerhalb der Kommissionen eine Rolle spielen. Da-hinter steckt die Vorstellung, dass sich die Geltung von Wissen aus einer Kombination unter-schiedlicher Geltungskriterien ergibt (3). Im Mittelpunkt der empirischen Analyse steht dieFrage, welche Folgen ethische Deliberation für die interne Wissensordnung hat. Dabei rich-tet sich der Fokus auf die professionelle Ethik. Es wird gezeigt, dass sich in nationalen Ethik-räten eine relative Marginalisierung der Fachethik beobachten lässt (4). Dies wird gerade imVergleich mit juristischer Expertise deutlich. Die Dominanz der Jurisprudenz äußert sich dar-in, dass sie auch als Kommissionsrecht sachlich und sozial unangefochten bleibt (5). Ab-schließend werden die empirischen Befunde resümiert und im Hinblick auf die Entwicklungeiner – über die Soziologie der Ethikexpertise hinaus reichende – Soziologie der Ethik ge-wichtet (6).

Ethisierung: Die Ethik als RahmenDie Mikropolitik des Wissens wird im Folgenden am Beispiel von Politikberatungsgremienim Bereich der Bioethik dargestellt. In vielen westlichen Demokratien wurden in den letztenJahren nationale Bioethikkommissionen gegründet (Fuchs 2005; Galloux et al. 2002). InDeutschland hatte Kanzler Gerhard Schröder im Sommer 2001 einen Nationalen Ethikrat ein-berufen. Seit Ende 2007 heißt er Deutscher Ethikrat und operiert – anders als sein Vorgän-ger – auf Basis einer gesetzlichen Grundlage. In Österreich wurde im selben Jahr eine Bio-ethikkommission beim Bundeskanzleramt eingerichtet; und in der Schweiz hatte der Bundes-rat ebenfalls 2001 eine Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin konstituiert,jedoch nach einer wesentlich längeren Vorlaufphase und ausführlicher parlamentarischer Be-ratung.

Diese nationalen Ethikräte, die über das Für und Wider von Stammzellforschung, Sterbe-hilfe oder Gendiagnostik beraten, sind interdisziplinär besetzt – auch wenn die disziplinäreZuordnung im Einzelfall oft schwierig sein mag und die Experten außerdem in der Praxisnicht (immer) unbedingt als Disziplinvertreter auftreten müssen.3 Die Kommissionsförmig-keit der Ethikberatung bedeutet in jedem Fall, dass Ethikexpertise ein Produkt ist, das zwi-schen Vertretern verschiedener Disziplinen und Weltanschauungen ausgehandelt werden

3 In den Einrichtungsverordnungen der Ethikräte heißt es dazu, dass Expertise aus verschiedenen Wis-senschaftsgebieten vertreten sein soll, wobei Naturwissenschaften und Medizin meist an erster Stellegenannt werden – vor den Juristen, Philosophen und Theologen. Nur in der Schweizer Verordnungsteht die Ethik an erster Stelle. In den USA oder Österreich dagegen wird die Ethik gar nicht als ei-genständige Disziplin aufgeführt. Im Anschluss an die Auflistung der Disziplinen wird meist daraufhingewiesen, dass ein plurales Meinungsspektrum vertreten sein soll.

120 Alexander Bogner

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muss. Ethikexpertise hat nicht die Form des Einzelgutachtens oder redaktionell synthetisier-ter Einzelgutachten, etwa im Stil der Sachstandsberichte aus der Technikfolgenabschätzung.Zu den großen bioethischen Streitfragen publizieren nationale Ethikräte meist umfangreicheStellungnahmen inklusive politischer Handlungsempfehlungen, deren Heterogenität den oftunüberwindlichen Expertendissens zum Ausdruck bringt. Dieser Ethikexpertise kommt inder Regel erhebliche mediale Aufmerksamkeit und auch eine gewisse Relevanz für politi-sche Entscheidungsprozesse zu (Bogner et al. 2008).

Der Trend zur Institutionalisierung interdisziplinärer Ethikberatung lässt sich mit der ver-schiedentlich konstatierten Ethisierung von Wissenschafts- und Technikkontroversen in Ver-bindung bringen (Lindsey et al. 2001; Maasen 2002; Braun et al. 2008). Ethisierung heißt:Problematisierung von Forschung und Technologien sowie Prozessierung und Regulierungdieser Konflikte in ethischen Kategorien.4 Mit anderen Worten: Die Ethik stellt den maßgeb-lichen Rahmen (oder Frame) für diese Auseinandersetzungen dar, v.a. im Bereich der Biome-dizin. Frames sind dabei als machtvolle Organisationsprinzipien von Interaktionen zu verste-hen, denen die Funktion zukommt, eine gemeinsame diskursive Basis für die Austragungvon Konflikten herzustellen.5 Schließlich bedürfen Konflikte, wie schon Georg Simmel(1958) betont hat, gemeinsam geteilter Relevanzen, um überhaupt ausgetragen werden zukönnen. Ohne gemeinsam geteilten Rahmen gibt es nicht Dissens, sondern Indifferenz.

Dies sensibilisiert für die latenten Machtwirkungen von Frames: Zum einen steuern undstrukturieren Frames unsere Seh-, Denk- und Handlungsgewohnheiten; zum anderen deter-minieren Frames Kontroversen insofern, als die Kontrahenten sich konstruktiv auf etablierteFrames beziehen müssen. Für Biomedizin-Kontroversen heißt das: Politiker und Forscherkönnen ihr Plädoyer für die Stammzellforschung nicht einfach nur ökonomisch begründen(„Standortsicherung“); sie müssen es immer auch ethisch reformulieren. Zu diesem Zweckist der Rekurs auf eine „Ethik des Heilens“ sehr populär geworden (Rubin 2008).

Wissenschafts- und Technikkontroversen müssen nicht als ethisches Problem ausgetragenwerden. Beispiel grüne Gentechnik: In der Kontroverse um die Freisetzung gentechnisch ver-änderter Pflanzen wird nicht über das moralisch Gebotene gestritten, sondern um das richti-ge Wissen. Im Mittelpunkt steht die Frage: Wie hoch ist das Risiko eines Natureingriffs?Welche ökologischen und gesundheitlichen Gefahren resultieren aus dem Versuch, Pflanzenmit Hilfe der Gentechnik resistenter gegen Schädlinge zu machen? Die grüne Gentechnikwird also in erster Linie als ein Risiko-Problem verhandelt, nicht als Ethik-Problem. Es wirdum Sicherheitsbehauptungen und Risikoeinschätzungen gestritten, nicht um den Wert des Le-bens.

4 Ethisierung wird hier nur im Hinblick auf Wissenschaft und Technik verhandelt. Sie lässt sich alsTeil eines Ethik-Booms begreifen, der auch von distanzierten Beobachtern diagnostiziert wird (Luh-mann 1997: 156), und darum viel weiter fassen: etwa als Modus individueller Kaufentscheidungenund damit als Teil der Ökonomie (Moorstedt 2007; Stehr 2006); als Bezugsrahmen politischer Kon-fliktaufbereitung (Mouffe 2007), man denke an „Schurkenstaaten“ oder die „Achse des Bösen“; oderauch als politische Technologie der Selbststeuerung in Form diverser Beteiligungs- und Vorsorgeim-perative (Maasen / Kaiser 2007; Sutter 2005; Rose 2001).

5 Frames beinhalten „underlying structures of belief, perception, and appreciation“ (Schön / Rein1995: 23), die in politischen Auseinandersetzungen relevant werden. Allerdings werden in der Policy-Forschung Frames in der Regel zugleich mit spezifischen inhaltlichen Positionierungen in Verbin-dung gebracht (vgl. Entman 1993). Politische und gesellschaftliche Kontroversen werden somit pri-mär als Konfrontation unterschiedlicher Rahmungen aufgefasst. Demgegenüber zielt der hier verwen-dete Frame-Begriff darauf herauszufinden, auf welche gemeinsamen Begriffe, normativen Annah-men und Diskurse sich die Kontrahenten in ihren Auseinandersetzungen beziehen (und beziehen müs-sen, um anschlussfähig zu werden). Ethik wird damit als ein „Basis-Frame“ im Sinne Dahindens auf-gefasst (Dahinden 2006: 105ff, 210ff).

Ethisierung und die Marginalisierung der Ethik 121

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Natürlich: Hinter der Kritik an der grünen Gentechnik stehen nicht nur alternative Risiko-Kalkulationen, sondern auch ganz andere Werthaltungen, etwa ein alternatives Naturverständ-nis (Gill 2003). Doch der dominante Expertendiskurs wurde und wird weitgehend als Wis-senskonflikt gerahmt. Ein gutes Beispiel dafür bietet das WZB-Verfahren zur Herbizidresis-tenz (van den Daele et al. 1996). Den Kern der dortigen Auseinandersetzungen von Exper-ten und Gegen-Experten bildeten konfligierende Wahrheitsansprüche, nicht Wertkonflikte.6

Im Prinzip lässt sich die spezifische Rahmung einer Kontroverse also mit der Privilegie-rung eines bestimmten Wissens in Verbindung bringen. Im Fall der Risikokontroversen etwaspielt naturwissenschaftliches Expertenwissen, nicht zuletzt aufgrund seines Eindeutigkeits-und Objektivitätsversprechens, zweifellos eine besondere Rolle. Ob in bioethischen Wertkon-flikten fachethisches Expertenwissen eine ähnlich tragende Bedeutung erhält, bleibt zu prü-fen. In jedem Fall sensibilisiert das Frame-Konzept für das potenzielle Spannungsverhältniszwischen Diskurs und Wissen. So erlaubt es z.B. im Hinblick auf Ethikexpertise zu fragen,ob der für die spezifische Institutionalisierungsform von Expertise maßgebliche Diskurs –die Ethik – auf Ebene der Aushandlungsprozesse einem bestimmten Wissen besondere Gel-tung verschafft. Die für die empirische Analyse konstitutive Frage nach der Relevanz ethi-schen Fachwissens steht damit nicht außerhalb oder quer zu dem hier präsentierten Frame-Konzept, sie ergibt sich vielmehr daraus.

Mikropolitik des WissensUm Nutzen und Grenzen des Mikropolitik-Ansatzes für wissenschaftssoziologische Analy-sen diskutieren zu können, bedarf es einer kurzen Einordnung dieses Konzepts.

Mikropolitik und mikropolitisches Handeln sind im Zusammenhang mit Organisationen(und hier vor allem mit Unternehmen) zum Thema geworden.7 Auch wenn (erwartungsge-mäß) keine einheitliche oder allgemein überzeugende Definition von „Mikropolitik“ vorliegt(Neuberger 2006), so bezeichnet der Begriff innerhalb der Organisationssoziologie doch ei-ne ganz bestimmte Problematisierungsperspektive. Der Fokus auf Mikropolitik verdanktsich einer Kritik am Rationalmodell der Organisation (Elšik 1997). In diesem Modell erschei-nen Organisationen als durch stabile Strukturen bestimmte und nach Maßgabe der Zweckra-tionalität funktionierende Maschinen. Aus mikropolitischer Perspektive werden Organisatio-nen dagegen als Handlungsgeflecht von verschiedenen Akteuren mit heterogenen Zielen undInteressen verstanden. Dementsprechend erscheint die Organisation nicht länger als Maschi-ne, sondern als Spielfeld (Crozier / Friedberg 1993) oder Arena (Türk 1993). Der Fokus rich-tet sich auf politische Prozesse, die durch Handlungsspielräume für Individual- oder Kollek-tivakteure ermöglicht und zur Verfolgung eigener Interessen genutzt werden. Es sind dem-nach nicht Ressourcenknappheit oder bestimmte Persönlichkeitsmerkmale (vgl. Bosetzky1977), die zu Mikropolitik führen. Mikropolitik hat vielmehr mit grundsätzlichen Bedingun-gen organisatorischen Handelns zu tun, nämlich einem prinzipiell mangelhaften Regeldeter-minismus und (zumindest minimaler) Handlungsautonomie. Eine solche Perspektive ist er-kennbar gegen einen Strukturdeterminismus marxistischer oder funktionalistischer Prägunggerichtet.

Mit der Rehabilitierung von Subjektivität, Informalität und Indeterminiertheit in der Orga-nisationsanalyse ergeben sich Anschlussmöglichkeiten an neuere, poststrukturalistisch ge-

6 „Der Streit der Konfliktparteien betraf nicht die normativen Prinzipien – über Selbstverständlichkei-ten streitet man nicht. Er betraf die empirischen Voraussetzungen des moralischen Urteils: Sind schäd-liche Folgen gentechnisch veränderter Pflanzen tatsächlich zu erwarten?“ (van den Daele 2001: 10).

7 In der Politikwissenschaft wurde ein mikropolitischer Ansatz von Nullmeier et al. (2003) auf demFeld der Policy-Analyse eingeführt, und zwar unter dem Begriff „Mikro-Policy-Analyse“. Dabeigeht es um die Erforschung der Mikrostrukturen und -prozesse innerhalb eines Politikfelds.

122 Alexander Bogner

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prägte Analysen (Kneer 2008; Knights 1997). Eine grundlegende Voraussetzung dafür istdie Anerkennung der Kontingenz, d.h. die Annahme, dass Handeln im Medium von Struktu-ren stattfindet, ohne jedoch hierauf rückführbar zu sein (Friedberg 1992: 39). Die Betonungder Kontingenz unterstreicht den zentralen Stellenwert, der der Macht in diesen Analysenzukommt. Macht, so halten Crozier und Friedberg in ihrer einflussreichen Studie „ÜberMacht und Organisation“ fest, ist die „unausweichliche Dimension jeder sozialen Bezie-hung“ (1993: 17). Macht gilt demzufolge nicht als Defekt oder Negativum (Repression, Ge-walt), sondern als normal und allgegenwärtig. Soziale Beziehungen sind immer Machtbezie-hungen, sofern man die Akteure als relativ autonom und nicht als reine Marionetten begreift.Der Mikropolitik-Ansatz impliziert außerdem – wiederum in Abgrenzung zum Marxismus–, dass Machtbeziehungen nicht unilinear von oben nach unten verlaufen, sondern sich de-zentral und lokal in einer Vielfalt von Kräfteverhältnissen konstituieren (Küpper / Ortmann1986). Damit verbindet sich das spezifische Interesse an den jeweils besonderen, lokalen Kon-stitutionsbedingungen, den Praktiken und Techniken von Macht. Macht erscheint auf dieseWeise nicht als Besitztum, das sich im Alltag manifestiert oder repräsentiert, sondern als et-was, das ausgeübt wird und sich in der Beziehung zwischen Akteuren herstellt. All dies ver-weist auf eine – nur selten systematisch reflektierte (Ortmann 1992) – Macht-Konzeption,die eine große Nähe zu Foucault aufweist (vgl. Foucault 1983: 113ff; 1994), obwohl dermeist nur beiläufig und in der strategischen Organisationsanalyse gar nicht erwähnt wird.

In der Organisationssoziologie ist mittlerweile auch die Mikropolitik des Wissens explizitzum Gegenstand theoretischer und empirischer Analysen geworden. Die Betonung liegt hierauf explizit, denn tatsächlich ist ja die Berücksichtigung mikropolitischer Aspekte in der Ela-borierung von Wissen und wissenschaftlicher Wahrheit in einer konstruktivistisch ausgerich-teten Wissenschaftssoziologie gute Tradition. Dass wissenschaftliche Tatsachen nicht Reprä-sentationen sind, sondern in einem kollektiven Prozess geformt werden müssen, hat schonLudwik Fleck (1994: 117 f) betont. Das Erkenntnisinteresse späterer Analysen von Interakti-onsprozessen in Labors ließe sich immerhin zu einem Teil unter mikropolitischer Perspekti-ve reformulieren (Knorr-Cetina 1984). Das heißtt, hier existiert eine Forschungstradition,die für das Konzept einer Mikropolitik des Wissens erhebliche Bedeutung hat, aufgrund ih-rer Fokussierung auf Forschung aber nicht in den Blick der „Mikropolitologie“ gerät.

In organisationssoziologischen Zugängen ist das Expertenwissen hinsichtlich seiner An-schlussfähigkeit und Relevanz für organisationale Entscheidungsprozesse von Interesse. Esgeht also vordringlich darum, das Verhältnis zwischen Wissen und Entscheiden besser zuverstehen. Daraus ergeben sich zwei unterschiedliche, aber einander nicht ausschließendeAnalyseperspektiven. Zum einen lässt sich fragen, welche Rolle professionelle Expertise imKontext mikropolitischer Taktiken und Strategien hat. Damit gerät Expertise als Mittel undRessource von Mikropolitik in den Blick. Die Politik mit Expertise wird zu einem weiterender vielen Tricks im täglichen Machtspiel (Weißbach 2001). Zum anderen – aus einer stär-ker wissenssoziologisch angeleiteten Perspektive – kann Mikropolitik als konstitutiv für diegemeinsame Elaborierung und damit für die Anerkennung von Expertenwissen verstandenwerden, so etwa bei Lazega (1992), der in seiner Analyse auf Berger und Luckmann rekur-riert. Er geht davon aus, dass das, was als Wissen zählt, vom Prozess einer interaktiven Ela-borierung von Information abhängt. In diesem Prozess werden Wissensansprüche („know-ledge claims“) erhoben, je nach Rolle, Autorität und Gruppenzugehörigkeit in unterschiedli-cher Form; außerdem werden Kriterien ausgehandelt, nach denen die Anschlussfähigkeit desExpertenwissens beurteilt wird („appropriateness judgements“). Damit wird deutlich, dassdie interaktive Aushandlung von Wissensansprüchen einen deutlichen Einfluss darauf hat,was am Ende als informierte Entscheidung gelten wird.

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Für die Wissenschaftssoziologie sind diese Analysen zur Mikropolitik des Wissens instruk-tiv, weil sie – vor dem Hintergrund einer wachsenden Bedeutung von Expertise für betriebli-che Modernisierungsprozesse – die Wirkmächtigkeit von Expertenwissen als Ergebnis vonAushandlungsprozessen interpretieren. Jedoch bekommt die Mikropolitik des Wissens imKontext einer Mikrosoziologie von Ethikexpertise eine etwas anders gefärbte Semantik. DieMitglieder in Organisationen vom Typ Ethikrat sind in der Regel Experten. Das heißt zumeinen, dass Wissensansprüche kaum auf Status und formale Autorität setzen können.8 Vorallem aber kann das Expertenwissen nicht als homogene Entität, etwa in Abgrenzung zu nicht-professionellen Wissensformen, konzeptualisiert werden. Eine mikropolitische Analyse derinterdisziplinären Erstellung von Expertise interessiert sich gerade für Differenzierungs- undHierarchisierungsprozesse innerhalb des Expertenwissens.

Eher beiläufig wurde bisher im Rekurs auf Mikropolitik erwähnt, dass wir es im Fall dernationalen Ethikräte mit Organisationen zu tun haben. Genau dies dürfte allerdings erhebli-che Auswirkungen auf die internen Aushandlungen von Wissensansprüchen haben. Dennaus differenzierungstheoretischer Perspektive stellen Ethikräte multi-referenzielle Organisa-tionen dar, die die Relevanz- und Gültigkeitskriterien unterschiedlicher Funktionssysteme in-tegrieren (Jung 2009: 75ff); sie sind gewissermaßen immer schon „boundary organizations“(Guston 2001), weil sie divergierende Handlungsorientierungen und Ansprüche einander ver-mitteln müssen. Ethikräte explizit als Organisationen zu kennzeichnen erfordert daher in derempirischen Analyse, die Hierarchisierung von Wissensformen auch auf den Aspekt der Mul-tireferenzialität zu beziehen, und das heißt im konkreten Fall: die Notwendigkeit der An-schlussfähigkeit ethischer Deliberation für Politik und Wissenschaft zu berücksichtigen.

Kriterien der Geltung von WissenDie mikropolitische Perspektive gilt es nun im Hinblick auf das konkrete Fallbeispiel stärkerzu operationalisieren. Eine der relevantesten Fragen lautet: Auf welcher Ebene können Wis-sensbehauptungen und Deutungsansprüche in einem interdisziplinären Gremium bestrittenwerden? Wie und von wem wird Wissen in Frage gestellt? Und wird es das denn überhaupt?

Es wäre ja auf den ersten Blick nicht völlig unplausibel davon auszugehen, dass mit demEintritt in eine Kommission Geltungsfragen verblassen. Man könnte etwa annehmen, dasssämtliche im Gremium vertretene Expertise automatisch als gültig und relevant erscheint.Die Frage nach der Bestreitungsmöglichkeit von Wissensansprüchen wäre dann obsolet. Diebloße Tatsache der Mitgliedschaft hätte diese Frage bereits entschieden. Eine solche Annah-me ist jedoch im konkreten Fall nicht nur empirisch leicht widerlegbar. Sie ist auch theore-tisch unbefriedigend, weil sie eine Harmonie in interdisziplinären Gremien unterstellt, diefür die Analyse von Macht und Konflikt keinen Raum lässt.

Im Folgenden wird eine Systematisierung unterschiedlicher Geltungskriterien vorgestellt,die für die Bestreitung von Wissensansprüchen innerhalb der Kommissionen eine Rolle spie-len. Zwecks einer ersten Orientierung mag es sich anbieten, in loser Anlehnung an Haber-mas eine dreidimensionale Unterscheidung von Geltungsansprüchen vorzunehmen. Da essich in unserem Fall jedoch nicht um unterschiedliche „Welten“ handelt, auf die sich dieSprechakte beziehen, sind allerdings Modifikationen erforderlich. Für diese Modifikationenkann nicht allein auf Literatur zurückgegriffen werden. Die klassischen Texte zur Qualitäts-sicherung wissenschaftlicher Expertise (z.B. Clarke / Majone 1985; Jasanoff 1985) sind nur

8 Was nicht heißt, dass interdisziplinäre Gremien durch eine Gleichverteilung der Macht charakteri-siert wären. Ohne jede Asymmetrie in den sozialen Beziehungen gäbe es gar keinen Angriffspunktfür Mikropolitik. Tatsächlich sind die Aushandlungsprozesse durch spezifische Erwartungsstruktu-ren geprägt (z.B. Status der Disziplin, Problem-Framing), die zur Kontingenzreduktion beitragen.

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bedingt hilfreich, weil sie auf die Sicherung politischer oder gesellschaftlicher Legitimitätabheben (als Überblick vgl. Lentsch 2008; Weingart et al. 2007: 299ff). Und übergreifendeSystematiken gremieninterner Geltungskriterien sind angesichts der Vielfalt von Expertiseschwer vorstellbar. Daher ist die folgende Systematisierung gleichzeitig eine fallspezifischeRekonstruktionsleistung. Sie resultiert nicht zuletzt aus der empirischen Analyse der Prakti-ken selbst. Dabei ist diese Systematisierung von der grundlegenden Idee getragen, dass sichdie Geltung von Wissen aus der Kombination einzelner Geltungsdimensionen ergibt: 1) Wahr-heit, 2) Robustheit und 3) Relevanz.

1) Wahrheit bezeichnet die Ebene epistemischer Legitimität. Die Prüffrage lautet, ob einWissensanspruch den erkenntnistheoretisch abgestützten Kriterien, die von einer bestimm-ten peer group getragen werden, genügt. Wahrheitsprüfung heißt also: Wissensbehauptun-gen werden nach Maßgabe disziplinärer Qualitätsstandards beurteilt und können auf dieserEbene auch sehr wirkungsvoll kritisiert werden. Diese Variante der Geltungsbestreitungwird die Auseinandersetzung in der Regel auf die Disziplinenvertreter einschränken. Zwi-schen diesen allerdings findet sie auch statt, denn selbstverständlich gibt es – oft schon überGrundtatbestände – erheblichen Dissens innerhalb einer (Sub-)Disziplin. Wer nicht mit denWissenschaftlichkeitsstandards des betreffenden Fachs vertraut ist bzw. zur peer group ge-hört, kann nicht wirkungsvoll in diese Auseinandersetzung intervenieren – er muss vertrau-en. Voraussetzung der Wahrheitsprüfung ist also Fachexpertise. Wahrheit – das ist die Gel-tungsprüfung durch den Wissenschaftler als Fachexperten.

2) Robustheit bezeichnet die Ebene sozial-moralischer Legitimität, d.h. den Aspekt der Be-währung von Wissen in einem weiteren Kontext („viability“ im Sinne von Glasersfeld[1997: 49ff]). In unserem Zusammenhang ist dabei nicht der Anwendungsbezug des Wis-sens von Bedeutung; die Frage ist nicht, ob das Wissen in der „Realität“ funktioniert. UnserThema ist die Wissenspolitik innerhalb von Expertengremien, nicht die gesellschaftliche Ak-zeptanz von Forschung. In diesem Sinne soll mit dem Begriff der Robustheit dafür sensibili-siert werden, dass wissenschaftliches Wissen unter bestimmten Umständen für Laienkritikanfällig werden kann. Diese Kritik basiert nicht auf einer ebenbürtigen Fachexpertise, son-dern auf dem Wissen um maßgebliche Kontroversen im betreffenden Fachbereich, alternati-ve Studien, Gegenpositionen usw. Wissensansprüche können damit nicht widerlegt, wohlaber mehr oder weniger wirkungsvoll in Frage gestellt werden. Dafür ist allerdings Kenntnisder jeweiligen Begrifflichkeiten, Methoden und Forschungslogik wichtig – man muss unge-fähr wissen, wie das Fach funktioniert. Es bedarf also nicht Fachexpertise auf Basis von dis-ziplinärem Sonderwissen, sondern dessen, was Collins und Evans (2007) als „interactionalexpertise“ bezeichnen: sich in einem Forschungsfeld sicher bewegen zu können, ohne dieMittel zur potenziellen Teilhabe an der Wissensproduktion zu haben. Robustheit – das istdie Geltungsprüfung durch den Wissenschaftler als (wissenschaftskritischen) Laien.

3) Relevanz bezeichnet die Ebene einer praktisch-diskursiven Legitimität. Es wird thema-tisiert, welche Bedeutung dem Wissen – ganz ungeachtet seiner Wahrheit und Robustheit –für die Verhandlung der konkreten Problemstellung zukommt. Relevanz bezeichnet jene Di-mension der Geltung, in der diskursive Zwänge eine Rolle spielen, die sich aus den Struktur-bedingungen der Interaktion ergeben, wie z.B. der Funktion des Gremiums, dem spezifi-schen Status der Disziplin oder eben dem Problem-Framing. Das heißt nicht, dass die konkre-ten Interaktionen für den Relevanzstatus irrelevant würden, im Gegenteil. Relevanzansprü-che können immer auch praktisch unterlaufen werden, indem beispielsweise die etablierteProblematisierungsperspektive im Gremium kritisiert und reformuliert wird. Hinsichtlichder Relevanz operiert der Experte weder als Wissenschaftler im Dienste der Wahrheit nochals Laie im Sinne der Glaubwürdigkeit. Wissensansprüche lassen sich auf Ebene der Rele-vanz nur wirksam problematisieren, indem man sich kritisch auf den politischen Kontext,

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die konkrete Aufgabenstellung oder auf den hegemonialen Diskurs bezieht (in unserem Fall:die Ethik). Relevanz – das ist die Geltungsprüfung durch den Wissenschaftler als Diskurspo-litiker.

Natürlich ist diese Systematik als idealtypische Konstruktion zu heuristischen Zwecken zuverstehen. In der Praxis sind Unschärfen und Überlappungen zwischen den Typen erwart-bar. Die Systematik verdeutlicht aber, dass die Geltung des Wissens in Expertenkommissio-nen als komplexe Konfiguration zu verstehen ist.

Die Marginalisierung der EthikDie eingangs formulierte These, wonach die Ethisierung von Wissenschafts- und Technik-kontroversen eine relative Marginalisierung der Fachethik auf der Mikroebene bedeutet,wird im Folgenden anhand einer Mikroskopie interdisziplinärer Ethikexpertise entwickelt.Diese Mikroskopie führt die Erstellung von Ethikexpertise als Prozess der Aushandlung vonGeltungsansprüchen vor. Dabei können nicht alle Disziplinen und Wissensformen gleicher-maßen berücksichtigt werden. Im Folgenden wird insbesondere auf die Rolle fachethischerund juristischer Expertise fokussiert, weil sie in exemplarischer Weise kontrastieren. Außer-dem vermitteln sie kontraintuitive Einsichten in die Logiken der Aushandlungsprozesse.

Marginalisierung der Ethik heißt in diesem Zusammenhang: Das ethische Sonderwissenist nicht in der Lage, einen spezifischen Expertenstatus der Ethiker zu begründen – obwohles um ethische Fragen geht. Diese Marginalisierung resultiert nicht aus der Geringschätzungder konkreten Ethik-Repräsentanten in den Gremien oder der Ethik als Profession; sie ver-dankt sich auch nicht einer fundamentalen Kritik der Ethik als Rahmen (dass man es mit sub-stanziell ethischen Fragen zu tun habe, wird von niemandem bestritten). Es wird vielmehrgezeigt, dass die Marginalisierung mit konkreten Erwartungen, Strategien und Handlungs-zwängen zu tun hat, die aus der politischen Organisation von Ethikexpertise als Aushand-lungsprozess unter Anwesenden resultieren.

Die Analyse stützt sich auf empirische Arbeiten, die im Zuge mehrerer Projekte entstan-den sind.9 Für die Dokumentenanalyse wurden die Stellungnahmen der Ethikräte zu biome-dizinischen Themen und Sitzungsprotokolle – soweit zugänglich – berücksichtigt. Außer-dem wurden insgesamt 41 Leitfaden-Interviews mit Mitgliedern nationaler Ethikkommissio-nen in Deutschland, Österreich und der Schweiz durchgeführt. Die Interviewdauer betrug inder Regel anderthalb bis zwei Stunden. Die Interviews wurden vollständig transkribiert undin Anlehnung an die Strategie von Meuser und Nagel (2005) mithilfe der Software „Atlas-ti“ ausgewertet.

„Nicht besonders professionalisiert“: Zur Relevanz ethischen WissensDie konkreten bioethischen Streitfragen mögen die Mitglieder der nationalen Ethikräte regel-mäßig entzweien, über eines besteht weitgehend Konsens: dass sich ethische Deliberation in-nerhalb der Kommissionen in der Regel auf einem common-sense-Niveau abspielen. Eine ho-he Theorieladung der Debatte gilt überwiegend als unnötig, wenn das Ziel in der Verdich-tung des Gruppendissenses zu einigen wenigen Positionen besteht. Schließlich ließen sichgremieninterne Koalitionen gerade auf Basis pragmatischer Diskussion realisieren – Koali-tionen zwischen Kommissionsmitgliedern, die auf fundamentalethischer Ebene vielleicht

9 Dabei handelt es sich um das vom BMBF im Rahmen der Förderinitiative „Wissen für Entscheidungs-prozesse“ finanzierte Projekt „Expertenwissen, Öffentlichkeit und politische Entscheidung“(2004-2007), an dem Wolfgang Menz und Wilhelm Schumm vom Institut für Sozialforschung inFrankfurt am Main beteiligt waren, sowie das durch ein APART-Stipendium der ÖsterreichischenAkademie der Wissenschaften geförderte Projekt „Soziologie bioethischer Expertise“ (2007-2009).

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weit entfernten Positionen angehören. Zu diesem Zweck erscheint es kontraproduktiv, im-mer gleich die Frage mit zu thematisieren, welche theoretischen Begründungstraditionenden jeweiligen Positionen entsprechen. In diesem Sinne sind Kant, Mill oder Rawls für ethi-sche Deliberation weder unbedingt notwendig noch hilfreich. Gemeinsame Positionierungenlassen sich über weite Strecken eher auf „mittlerer Ebene“ erarbeiten, wie es ein Mitglieddes Nationalen Ethikrats formuliert.

„Wir müssen jetzt, um zu einem Konsensus in bestimmten Positionen zu kommen, nichtgleich einen Konsensus haben auf der Meta-Ethik. Ja, also wir müssen jetzt nicht sagen,wir müssen jetzt erst zwischen John Stewart Mill und Immanuel Kant entscheiden, um sa-gen zu können, dass wir gegen den Missbrauch von Menschen sind. Ja, es gibt also aufder mittleren Ebene gibt es schon einen Konsensus hinsichtlich der Prinzipien.“

Tiefschürfende Ethikkontroversen sind dysfunktional, wenn man ergebnisorientiert diskutie-ren und pragmatische Einigungen innerhalb recht enger Zeithorizonte finden muss. Ethikex-pertise hat in der Regel den Auftrag, einflussreiche Argumentationen zu strukturieren undpolitische Handlungsempfehlungen zu entwickeln. Fundamentalethische Argumentations-und Begründungsversuche, Theorievergleiche und Methodenkritik sind kein aussichtsreicherWeg für die Bewältigung dieser Aufgabe. Im Aushandlungsprozess setzt sich darum einePragmatisierung ethischer Deliberation durch. Das heißt, ethische Aspekte werden vor al-lem pragmatisch abgehandelt. Aus organisationssoziologischer Perspektive kann man diesePragmatisierung als Resultat der Vermittlung wissenschaftlicher Exaktheitsansprüche und re-alpolitischer Anschlussfähigkeit innerhalb der Organisation Ethikrat lesen. Im Fall der Ethikstehen dabei wissenschaftliche und politische Ansprüche nicht komplementär, sondern kon-trär zueinander: Die Notwendigkeit interner Koalitionsfähigkeit und realpolitischer Orientie-rung steht Bemühungen ethischer Differenzierung entgegen. Im Fall naturwissenschaftlicheroder juristischer Expertise verhält sich dies – wie wir noch sehen werden – anders. Doch dieAushandlung von Wertfragen in Ethikräten erreicht nicht die Ebene, wo Ethik als disziplinä-res Sonderwissen relevant werden könnte. In dem folgenden Zitat eines Mitglieds des Natio-nalen Ethikrats kommt dieser Effekt der Pragmatisierung von Ethikdebatten beispielhaftzum Ausdruck.

„Also sozusagen die Mediziner haben ihren Bereich, die Juristen haben eine sehr starkePosition. Und die ganzen ethischen Fragen werden auf dem Niveau von reflektiertem All-tagsverständnis behandelt. Und da finde ich nicht, dass das besonders professionalisiertist.“

Die Einschätzungen der Mitglieder lassen sich durch die Analyse der Berichte und Stellung-nahmen nationaler Ethikräte erhärten. Ethische Aspekte werden immer schon mit Blick aufden konkreten Problembereich debattiert und erhalten eine stark anwendungsorientierte No-te. Grundlagenethische Positionsbestimmungen haben in diesen Expertisen keinen Platz. Die-se Pragmatisierung gilt im Prinzip für alle der untersuchten Bioethikkommissionen, wennauch mit vereinzelten Ausnahmen.10 Für die professionelle Ethik bleibt da wenig Platz, wieein Mitglied der österreichischen Kommission erklärt:

„Die Ethiker stellen ein theoretisches Instrumentarium zur Verfügung und es gibt … siestellen auch bestimmte Methoden zur Verfügung, die wir aber in der Kommission ja über-haupt nicht anwenden. Da wird eben herum diskutiert. Es ist ja nicht so, dass wir sozusa-

10 So findet sich in der zweiten Stellungnahme der Nationalen Ethikkommission der Schweiz zurStammzellforschung (2002) eine Darstellung jener ethischen Leitmodelle (Kant, Utilitarismus, Ver-antwortungsethik), die der gremieninternen Orientierung in den Diskussionen dienten. Dies ist aller-dings auch für Schweizer Verhältnisse eine Ausnahme, wenngleich die professionelle Ethik in die-ser Kommission relativ stark vertreten ist.

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Page 14: Soziale Welt – Sonderbände SozW Soziale Welt · Zusammenfassung: In diesem Beitrag wird das organisationssoziologische Konzept der Mikro- politik für die Analyse von Ethikexpertise

gen methodisch angeleitete Fallanalysen machen. Das machen wir ja dort gar nicht. Ichglaub’, die professionelle Ethik, die ist irgendwie marginal. Aber das mag jetzt meine Ein-schätzung sein.“

Die Marginalisierung der professionellen Ethik wird durch eine diskursiv stabilisierte undgeneralisierte Dissenserwartung in den Kommissionen forciert. Die Erwartung, dass sich inden abschließenden ethischen Positionierungen ein Dissens manifestieren wird, trägt zumpragmatischen Charakter der Diskussion bei. Zwar wird konzediert, dass es ethisch mehroder weniger gut begründete Standpunkte gibt; andererseits aber existiert ein klares Bewusst-sein darüber, dass es in ethischen Fragen stets mehrere legitime Standpunkte gibt. Nur einestarke Konsenserwartung könnte einen theoretischen Begründungszwang freisetzen, durchden ein ethisches Sonderwissen in besonderer Weise relevant würde. Doch aufgrund der Dis-senserwartung muss man die Legitimität ohnehin geläufiger Werthaltungen nicht bis ins theo-retische Detail argumentieren. Es reicht aus, die eigene Position durch sachliche Informiert-heit und gegenseitige Kritik im Gremium robust zu machen. Diese Dissenserwartungschleift sich in der Kommissionsarbeit auch dort ein, wo sie anfangs vielleicht gar nicht be-stand. So diskutierte die österreichische Kommission in ihrer Frühphase – sei es aufgrunddes politisch verordneten Konsenszwangs,11 sei es aufgrund konsensueller Beschlüsse zuvor– das Stammzellen-Problem noch unter hoher Konsenserwartung. Die langwierigen, aber er-folglosen Versuche, eine gemeinsame Empfehlung zu formulieren, lassen sich als Lernpro-zess verstehen, in Folge dessen stärker auf Dissensorientierung umgeschaltet wurde. Dafürstehen etwa die wenig später einsetzenden Verhandlungen zur Präimplantationsdiagnostik(PID), in denen von Beginn an unter einer klaren Dissenserwartung operiert wurde.

Um es noch einmal zu betonen: Es ist nicht der Dissens an sich, der zur Relativierung ethi-scher Expertise beiträgt, sondern eine generalisierte Dissenserwartung, die innerhalb (vgl.van den Daele 2008), aber im Prinzip auch außerhalb der Expertenkommissionen vor-herrscht: also der allgemeine Glaube an die Unüberwindlichkeit des Dissenses in ethischenFragen sowie an das Fehlen einer übergeordneten, ordnungsstiftenden Instanz (Gott, Ver-nunft, Experten). Das heißt, im Fall von Wertedissens geht man gar nicht erst davon aus,durch den Rekurs auf widerstreitende Theorien und Paradigmen entscheiden zu können, werRecht hat – den Dissens begreift man im Weiteren vielmehr als ein politisches Problem undvertraut auf entsprechende Aushandlungsprozesse, z.B. im Parlament.

Insgesamt wird deutlich und nachvollziehbar, dass in den Ethikkommissionen gegenüberethischem Sonderwissen ein erheblicher Irrelevanzverdacht besteht. Die Ethiker werden inden Kommissionen denn auch weniger als Spezialisten wahrgenommen als die Vertreter an-derer Disziplinen. Sie werden in den Deliberationsprozessen nicht als Ethikspezialisten adres-siert; sie gelten den anderen Kommissionsmitgliedern eher als Menschen mit einem hohenReflexionsniveau in ethischen Belangen – gewissermaßen als ethikbewusste Bürger.

„Bei den Ethikern ist es nicht so, dass man zum Beispiel sagt: Jetzt sag doch mal, washat die deutsche Klassik dazu gesagt, oder was hat die antike Philosophie dazu gesagt,oder so. Das kommt eigentlich... also die diskutieren weniger eigentlich aus ihrer Wissen-schaft heraus […] Sondern mehr so allgemein, als dass sie jetzt als Spezialisten auftretenwürden. Während die anderen Wissenschaften eigentlich schon als Spezialisten auftreten.“

Auf Kommissionsebene tragen die Notwendigkeit zur Koalitionsbildung sowie die generali-sierte Dissenserwartung zu einem Pragmatisch-Werden ethischer Deliberation bei, die letzt-

11 In § 7 (2) der Einsetzungsverordnung heißt es, die Kommission habe „bei der Beschlussfassung ei-nen größtmöglichen Konsens anzustreben.“ Dass aus dem realpolitischen Selbstverständnis nationa-ler Ethikräte ein gewisser Zwang zum Konsens resultiert, liegt nahe. Als von der Politik verordneteAufgabe ist dies eine Ausnahme.

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Page 15: Soziale Welt – Sonderbände SozW Soziale Welt · Zusammenfassung: In diesem Beitrag wird das organisationssoziologische Konzept der Mikro- politik für die Analyse von Ethikexpertise

lich die Relevanz ethischen Sonderwissens in Frage stellt. Für die anderen Experten heißtdas: Die Ethik wird nicht zur Superdisziplin, die die Reflexionsstandards bestimmt oder Pro-fessionalisierungszwänge freisetzt. Niemand muss nachts bei Kant und Rawls nachlesen, umam nächsten Tag in der Kommissionssitzung bestehen zu können. „Ethik“ beschränkt sichauf das Niveau der allgemeinen Ansprüche an Konsistenz und interne Logik der Argumenteund Standpunkte. Im Übrigen werden auch von Seiten der beteiligten Ethiker keine Ansprü-che auf eine Sonderstellung in den Gremien erhoben.

„We are all ethicists“? Grenzen zwischen Laien und ExpertenEthische Problemstellungen werden nicht als reine Professionsdomäne oder aber als eine un-verhandelbare Privatangelegenheit begriffen; kein Kommissionsmitglied versteht Ethik indieser Weise. Vielmehr bringt die Ethik andere Disziplinen und Wissensformen als gleich-wertige Gesprächspartner über Wertefragen ins Spiel. Eine von generalisierter Dissenserwar-tung getragene Wertedebatte schafft Anschlussstellen für die Beteiligung und Aufwertungvon Ethiklaien. Mit anderen Worten: Ethisierung erzwingt Laienbeteiligung; sie lädt zum Mit-reden ein, weil die Meinungen als Meinungen Geltung haben – und nicht durch ethischesSpezialwissen unterfüttert werden müssen (eher schon durch ein entsprechendes Sachstands-wissen). Damit bringt Ethisierung eine tendenzielle Grenzauflösung zwischen Experten undLaien zum Ausdruck bzw. forciert diese. Im Lichte dieser Emanzipation der Laien kann mandie Beratungen der Ethikräte durchaus als „Symmetrisierungsveranstaltung“ (Saake / Kunz2006: 49) bezeichnen. Auf Seiten der Ethiker macht sich dies als Infragestellung ihrer Exper-tenschaft bemerkbar. Im Kommissionsalltag wird nicht recht klar, welche spezifische Exper-tise Ethiker exklusiv mobilisieren können, und manches Kommissionsmitglied fragt sich,was eigentlich deren wissenschaftliche Spezialisierung ist:

„Bei den Ethikern ist es, glaube ich, so, dass die einfach weniger spezialisiert sind, oderdass die… […] Die Kerngruppe, die die Ethik vertritt... Bei denen weiß ich nicht genau,was eigentlich ihre wissenschaftliche Spezialisierung ist.“

Ganz offensichtlich können Ethikräte mit ihren Ethikern recht wenig anfangen, sofern esnicht um prozedurale Aufgaben geht. Als Moderatoren, die im Deliberationsprozess für Fair-ness sorgen, sowie als Redakteure der Stellungnahmen sind die Ethiker durchaus gefragt; siegelten als nützlich, um die einzelnen Positionen innerhalb der Kommission „in ein guteswording zu verpacken“, wie es ein österreichisches Kommissionsmitglied formuliert, abernicht als Ethikspezialisten. Schließlich geht es lediglich um argumentativ einigermaßen halt-bare Positionierungen in konkreten Wertfragen und nicht um ethische Theoriebildung. DieFrage der ethischen Positionierung können Ethiker aber nicht monopolisieren: Hier beanspru-chen vielmehr alle Mitglieder der Ethikräte über entsprechende Kompetenzen zu verfügen.Und nicht nur die Mitglieder von Ethikräten – gerade in bioethischen Fragen wird der Ethik-expertise von informierten Laien, die von Partizipationsprofis etwa im Rahmen von Bürger-konferenzen mobilisiert werden (Abels / Bora 2004), ein erheblicher Orientierungswert zuge-schrieben. Darum lautet auch die Standard-Suggestivfrage in Talkshows und Parlamenten,sobald es um die Einrichtung von nationalen Ethikräten geht: Sind wir in Sachen Ethik dennnicht alle Experten?12

12 Nicht einmal die Vorsitzenden von Ethikkommissionen können sich einer positiven Antwort entzie-hen. Um ein illustres Beispiel zu zitieren: Die Baroness Kennedy, ehemalige Vorsitzende der Hu-man Genetics Commission, sagt im House of Lords zur Frage, ob man in England eine nationaleBioethikkommission brauche: „I am unhappy about subcontracting ethics to a group of ethicists.[…] we are all ethicists.“ (House of Lords, 28.1.2008, Human Fertilisation and Embryology Bill,Vol. 698, cols 489 f.).

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Diese Grenzauflösung zwischen Laien und Experten wird nicht zuletzt durch die spezifi-sche Logik ethischer Erkenntnisplausibilisierung stabilisiert. Erkenntnisplausibilisierungfunktioniert in der Ethik als Prozess, der in der Interaktion zwischen Experten und Laien inEchtzeit abläuft und nicht – wie in den Naturwissenschaften – durch den Verweis auf „Fak-ten“ oder stabilisierte Funktionszusammenhänge abgekürzt werden kann. Ethiker können ihrWissen nicht als „black box“ vorführen. Demgegenüber sind die Naturwissenschaften ab-strakt, d.h. sie unterhalten von der Lebenswelt abgeschirmte Laborwelten mit entsprechendkünstlichen Objekten. Die einzelnen Schritte ihrer Wahrheitsproduktion sind von außennicht unmittelbar nachvollziehbar – man muss vertrauen (und tut es in der Regel leichtenHerzens, weil das naturwissenschaftliche Wissen im Rahmen von Ethikexpertise meist nurals kanonisiertes Wissen relevant wird). Ethische Argumente muss man nicht glauben, siemüssen überzeugen. Die Plausibilität der Ethik ergibt sich über die In vivo-Darstellung desausgeführten Arguments. Die Ethiklaien können daher nicht auf Distanz gehalten, sie müs-sen einbezogen werden.

So sehen sich die Ethiklaien in den Ethikräten in die Lage versetzt, die Gültigkeit ethi-scher Argumentationen selbständig zu beurteilen und herauszufordern. Das heißt in der Pra-xis natürlich nicht, dass die Authentizität eines Kant-Zitats in Frage gestellt wird. Doch eswird geprüft, ob die damit korrespondierende Argumentation plausibel ist. In diesem Sinnewerden ethische Argumentationen einer Plausibilitätskontrolle durch die Laien geöffnet.Dies ist es, was einleitend unter dem Aspekt der Robustheit subsumiert wurde, auch wennan dieser Stelle die Schwierigkeiten einer Typisierung von Geltungskriterien offensichtlichwerden. Denn vielleicht ist Robustheit hier weniger als eigenständige Geltungsdimension,sondern eher als Variante einer Wahrheitsprüfung (durch Laien) zu verstehen. In jedem Falllässt sich festhalten, dass – mit Ausnahme der Theologie13 – kaum eine andere Disziplin in-nerhalb der Ethikräte sich derartigen Geltungsvorbehalten ausgesetzt sieht wie ausgerechnetdie Ethik.

„Nationaler Rechtsrat“? Die Dominanz der JurisprudenzDie relative Marginalisierung fachethischen Wissens wird in besonderer Weise durch denVergleich mit juristischer Expertise deutlich sowie durch deren Dominanz forciert. Im Fol-genden wird gezeigt, dass die den Juristen zugeschriebene Bedeutung eine Tendenz zur Ver-rechtlichung eines an sich durch Ethisierung geprägten Diskurses begründet. Verrechtli-chung meint in diesem Zusammenhang ein teilweises Reframing ethischer Deliberation nachMaßgabe des juristischen Relevanzsystems.14

Juristische Expertise erhält innerhalb der nationalen Ethikräte eine starke Stellung, weilsich die Mitglieder in den Aushandlungsprozessen auf etwas festgelegt sehen, was man ethi-sche Realpolitik nennen könnte. Im Rahmen dieser ethischen Realpolitik wird juristischer Ex-pertise eine hohe Praxis- und Entscheidungsrelevanz zugeschrieben. Die relevanten Rechts-normen, also Gesetze, Rechtsverordnungen und natürlich – gerade in Deutschland in Lebens-fragen an erster Stelle – die Verfassung werden zum archimedischen Punkt der kommissions-

13 Die Theologen sehen sich gezwungen, ihre theologischen Standpunkte säkular-ethisch zu reformu-lieren. Ein Ethikrat sei schließlich, so der Tenor unter den Mitgliedern, nicht ein Konzil, sondernein Ethics Council. Daher kommen weder in den Diskussionen noch in den Stellungnahmen Gottund die Offenbarung vor. Dies wird von anderen Kommissionsmitgliedern, denen selbst nichts anreligiösen Begründungen liegt, zuweilen als Korrumpierung der Theologen bewertet: „Aber es er-schreckt mich trotz allem, sage ich Ihnen schon, wenn ich auch von keinem Vertreter der Kirchenein einziges Mal das Wort Gott gehört habe. Existiert nicht! Verstehen Sie?“.

14 Vgl. mit ähnlicher Stoßrichtung Bora (2006), der am Beispiel der grünen Gentechnik zeigt, dassdie qua institutionalisierter Bürgerbeteiligung erhoffte Politisierung durch den rechtlichen Rahmenneutralisiert wird.

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internen Aushandlungen.15 Juristisches Wissen verspricht einer unübersichtlichen und prinzi-piell unendlichen Wertedebatte ein festes Fundament zu verleihen. Andererseits wird dieserBezug auf geltendes Recht natürlich wichtig, wenn sich Expertise zwecks politischer Rele-vanz in die Rechtsordnung einfügen muss – auch oder gerade wenn man Reformen anstrebt.In Form der Aufklärung über kodifizierte, rechtsverbindliche Normen und die maßgeblicheRechtsprechung bestimmen die Juristen immer auch, was als Empfehlung der Kommissionan geltende Normvorstellungen und bestehendes Recht anschlussfähig und damit auch poli-tikrelevant ist. Sie definieren sozusagen den Spielraum des „ethisch Möglichen“ und damitden Bereich relevanter Reflexion. Sie sind, wie ein Ethikrats-Mitglied aus dem Bereich derRechtswissenschaften sagt, die „Grenzer“.

„Wir sind, wenn Sie so wollen, die Grenzer. Also wir sagen zu beiden Seiten hin, daskannst du so meinen, aber du kannst es nicht durchsetzen. […] Wir sind diejenigen, dieverhindern, dass ein Thema von einer ethischen oder theologischen Seite so in Anspruchgenommen wird, dass dies für die anderen nicht mehr akzeptabel ist.“

Die Juristen verkörpern nach dieser Lesart das „Realitätsprinzip“, weil das Recht gewisser-maßen den ethischen Minimalkonsens repräsentiert. Die Juristen erscheinen als diejenigen,die im Sinne der freiheitlichen Grundordnung das Gemeinwesen gegen potenzielle „Funda-mentalisten“ aus Ethik und Theologie schützen. In Summe jedenfalls können die Juristen auf-grund der ihrem Sonderwissen zugeschriebenen Praxisrelevanz besondere Expertiseansprü-che durchsetzen. Die von vielen Kommissionsmitgliedern als „stark“ charakterisierte Stel-lung der Juristen ist jedoch nicht durch eine besondere Eindeutigkeit oder Verlässlichkeit ih-res Wissens begründet. Sie scheint vielmehr in den allgemeinen Erwartungen zu wurzeln,die sich an dieses Wissen richten, nämlich der „weichen“ Ethikmaterie einen klaren Rahmenzu geben.16

Weil das Wissen der Juristen eben als Sonderwissen für die Kommissionen relevant wird,wird die Grenze zwischen Experten und Laien stabil gehalten. Diskussionen über die Rechts-lage im In- und Ausland als auch rechtshermeneutische Streitigkeiten bezeichnen Verhand-lungsfelder, auf denen die Juristen unter sich bleiben. Aufgrund des hohen Niveaus der juris-tischen Debatte, die nicht zuletzt mit der besonderen Politikrelevanz des Rechts zu tun hat,ist disziplinäres Spezialwissen zur Teilhabe an diesen Diskussionen notwendig. Das hat zurFolge, dass die Expertise der Juristen von außen nicht leicht bestritten werden kann. Kritikan der Jurisprudenz äußert sich in den Ethikräten dementsprechend eher als Meta-Kritik: Kri-tisiert wird etwa die Monopolisierung ethischer Deliberation durch die Juristen; die ethischeDebatte um das normativ Wünschenswerte verschiebe sich, so der Tenor, oft hin zu einerDiskussion um das gegenwärtig Erlaubte. Wie die folgende Passage aus einem Interview miteinem Fachethiker zeigt, wehren sich gerade die Ethiker gegen das Deutungsmonopol derJuristen – mit eher geringer Aussicht auf Erfolg, sofern unsere Analyse schlüssig ist.

15 Der Stellenwert juristischer Argumentationen ist in Deutschland und Österreich ähnlich groß, auchwenn die Bedeutung der Verfassung deutlich differiert. So gibt es in Österreich weder ein vergleich-bares Verfassungsethos noch eine verfassungsrechtliche Garantie der Menschenwürde; diese ergibtsich allenfalls indirekt über den Bezug auf die Europäische Menschenrechtskonvention, die sich frei-lich kaum auf Embryonen beziehen lässt, vgl. Kopetzki (2003: 63 f.).

16 Die Dominanz des Rechts dürfte in jenen biopolitischen Bereichen, die nicht so eindeutig ethischgerahmt sind wie die Fragen der Embryonenforschung, noch deutlicher sein. Zum Beispiel Bioban-ken. Der bei diesem Thema weitgehende Konsens innerhalb der Kommissionen scheint denn auchnicht zuletzt auf der Homogenisierungswirkung des rechtlichen Rahmens zu beruhen. So erklärenKommissionsmitglieder, sie hätten trotz Bauchschmerzen der Gemeinschaftsposition zugestimmt,weil der Aufwand für die Fundierung einer haltbaren Rechtsposition, die den eigenen Standpunktbesser abbilden würde, zu hoch sei.

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„Die Juristen aber neigen dazu, die Fragen als rein juristisch anzusehen und sie damitdann auch schon für erledigt zu halten. Und neigen manchmal dazu, auch ein zusätzli-ches moralisches Argument als überflüssig anzusehen, weil man es für den Gesetzgebungs-prozess doch gar nicht braucht. Und da muss man sich dann behaupten. […] Da bin ichim ständigen Kampf auch für Einsichten, die … der Ethikrat, das ist ja kein deutschernationaler Rechtsrat, sondern es ist ja ein Ethikrat, dass diese Dimension nicht verlorengeht.“

Die Juristen verfügen über ein Sonderwissen, das in seiner Relevanz und Geltung durch dieLogiken der gremieninternen Interaktionsprozesse nicht relativiert wird. Und sofern das Wis-sen als Sonderwissen relevant bleibt, kann es von disziplinären Laien nicht wirkungsvoll inFrage gestellt werden. Genau das macht den Expertenstatus der Juristen und starke Diszipli-nen wie die Rechtswissenschaften aus: Auseinandersetzungen um Geltungsansprüche desWissens werden fast ausschließlich als interner Streit vorgeführt. Im Kontext dieser Geltungs-verhältnisse stabilisiert sich das Deutungsmonopol der Juristen: Ihre Wirklichkeitskonstruk-tionen werden handlungs- und orientierungsleitend für andere. Die Relevanz scheint somitdas für Geltungsfragen entscheidende Kriterium in interdisziplinären Gremien zu sein. Wahr-heit und Robustheit des Wissens können durch einen Irrelevanzverdacht unterlaufen werden.Die Anerkennung der Relevanz disziplinären Sonderwissens aber stabilisiert die Differenzzwischen Laien und Experten.

Dazu mag im Übrigen auch die Konsenserwartung beitragen, die gegenüber dem Rechtbesteht. In Bezug auf die Ethik war von einer generalisierten Dissenserwartung die Rede. InRechtsfragen besteht dagegen die Erwartung, dass mit Hilfe fachspezifischer methodischerStandards ein wenigstens temporärer Konsens hergestellt werden kann. Diese Erwartungmag nicht zuletzt durch praktische Anschauung geprägt sein. Tatsächlich wird in der PraxisDissens, wenn er in Verbindung mit dem Grundgesetz oder Landesverfassungen steht, mitHilfe des Verfassungsgerichts zumindest temporär überwunden – also mit den Mitteln desRechts. In ethischen Fragen scheint ein vergleichbarer Schließungsmodus der Konflikte,z.B. durch nationale Ethikräte, nicht möglich. Ethikräte haben weder die formale Autoritätnoch die Glaubwürdigkeit, Ethikfragen verbindlich zu regeln; sie glauben selbst nicht an dieÜberlegenheit ihrer Empfehlungen. In der Praxis verdoppeln sie lediglich den real existieren-den Dissens. Die Schließung des Wertkonflikts wird damit zur politischen Aufgabe. Kurz:Es gibt im Fall des Rechts Konsenserwartungen, die dauerhaften Dissens illegitim machenund die Überwindung des Dissenses nur mit Hilfe juristischer Methoden legitim erscheinenlasen. In jedem Fall existieren in Ethikräten offenbar disziplinspezifisch variierende Dissens-erwartungen. Naturwissenschaftliche oder rechtliche Sachstände werden in den Stellungnah-men der Ethikräte – anders als die Einlassungen zur Ethik – nicht schon im Plural abgefasst.Für interdisziplinäre Gremien müsste das heißen: Der Geltungs- und Expertisestatus korre-liert positiv mit den Konsenszuschreibungen an die Disziplin.

Die These von der Macht der Juristen in den Kommissionen lässt sich noch zuspitzen.Man könnte etwa von der Marginalisierung der Ethik durch das Recht sprechen. Das heißt,die Ethik bleibt zwar als Rahmen in einem abstrakten Sinne relevant, doch die konkreten

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Debatten werden in den Bahnen des juristischen Relevanzsystems geführt.17 Dafür sind zumeinen die kategorialen Konvergenzen zwischen Recht und Ethik maßgeblich. In den Aushand-lungsprozessen der Kommissionen wird deutlich, dass keine scharfen Grenzen zwischenEthik und Recht existieren. Es ist möglich, ethische Debatten in juristischen Begriffen zu re-formulieren (Menschenwürde, Forschungsfreiheit, Recht auf Leben usw.); und es gibt juristi-sche Pendants zu ethischen Konzepten, wie etwa das Recht auf körperliche Unversehrtheit,das geeignet ist, all jene Tatbestände aus rechtlicher Perspektive zu thematisieren, die demethischen Prinzip des Nicht-Schadens entsprechen. Dem ethischen Diskurs werden also juris-tische Begrifflichkeiten und Denkmuster nicht einfach übergestülpt. Vielmehr werden ethi-sche Argumente aus rechtswissenschaftlicher Perspektive rezipiert, angeeignet, reformuliertund damit dem juristischen Relevanzrahmen subsumiert.

Zum anderen trägt gerade der Dissens innerhalb der anwesenden Juristen zur Marginalisie-rung der Ethik bei. Dissens ergibt sich aus verschiedenen Gründen, aufgrund von Interpreta-tionsspielräumen, aber auch aufgrund unterschiedlicher Spezialisierungen und Traditionen.In den Ethikräten sitzen Verfassungsrechtler, Medizinrechtler und Datenschützer mit jeweilsganz unterschiedlichen normativen Bezugspunkten und Rechtsauslegungen am Tisch. Ent-sprechend heterogen sind die Einschätzungen über die Bedeutung des Rechts im konkretenFall.

„Dann sagt zum Beispiel ein Medizinrechtler, dass das eben sozusagen aus fachjuristi-scher Sicht nicht geht, und der Verfassungsjurist sagt: Das muss gehen, ja, weil zum Bei-spiel die Freiheit der Forschung in Artikel 5 des Grundgesetzes festgehalten ist und nichtin Artikel 91. Und da kann man nicht jetzt sagen, wir betrachten die Hierarchisierungnicht. – So bringen dann die Leute… oder die Praktiker sagen: Da gibt es aber schon 70Gerichtsentscheide, die in eine andere Richtung gehen, und die können wir nicht einfachignorieren.“

Derlei Problemstellungen machen deutlich, dass die juristischen Auseinandersetzungen aufder Höhe der rechtswissenschaftlichen Debatte geführt werden. Von einer Pragmatisierungder rechtlichen Debatte kann nicht die Rede sein, im Gegenteil. Dabei verhindert der Dis-sens unter den Juristen eine frühzeitige Schließung der Debatte unter Verweis auf gültigeRechtsnormen und ermöglicht damit im Weiteren eine Übersetzung ethischer Fragen in juris-tisch zu verhandelnde Problemstellungen. Erst der Dissens macht es möglich, ethische Fra-gen als juristische Rechtsauslegungsdebatte führen zu können.

ResümeeZusammenfassend lässt sich ein paradoxer Zusammenhang konstatieren: Einerseits beobach-ten wir – gewissermaßen auf der Makro-Ebene – ein Ausgreifen der Ethik, das unter ande-rem die Forschungs- und Technikregulierung als Gegenstand ethischer Reflexion kennzeich-net (Ethisierung). Andererseits macht die hier präsentierte Mikro-Analyse deutlich, dass dieOrganisation der ethischen Reflexion in Form interdisziplinärer Expertengremien zu einer re-lativen Marginalisierung ethischen Sonderwissens führt. Das heißt, die Ethisierung führt ge-rade nicht dazu, dass die Ethik ein besonderes Deutungsmonopol für die Reflexion ethischer

17 Alle Stellungnahmen der Ethikräte sind von einer starken juristischen Handschrift geprägt. Die Aus-führungen zur rechtlichen Situation sind stets ausführlich und nehmen vielfach bereits ethische As-pekte vorweg. In vielen Berichten (nicht allen!) gibt es einen eigenständigen Ethikteil. Doch oft-mals ist der Bezug auf Ethik nur um den Preis von Redundanzen möglich. So wird in der Empfeh-lung des Nationalen Ethikrats zum Stammzell-Import zum Beispiel die Widersinnigkeit eines vol-len Lebensschutzes für Embryos zuerst juristisch und dann noch einmal ethisch begründet, obwohldie Argumente – der Embryo sei, siehe Abtreibung oder Nidationshemmer, in vitro besser ge-schützt als in vivo – identisch sind (Nationaler Ethikrat 2002: 19ff).

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Fragen durchsetzen könnte. Denn im Ergebnis sind die Profi-Ethiker in den Ethikräten vondiskursiv gleichwertigen Ethiklaien umgeben, die auf Augenhöhe mitreden können, weil ethi-sche Deliberation sich – aus verschiedenen Gründen – auf einem common-sense-Niveau ab-spielt. Aus dieser Perspektive erscheint der Ruf nach einer stärkeren Besetzung der Ethikrätemit Ethikern (der z.T. auch aus den Reihen der Ethikräte selbst kommt) als so verständlichwie vergeblich. Kommissionsethik funktioniert nicht qua überlegener oder auch nur elabo-rierter ethischer Moralbegründung, sondern vermittels der Pragmatisierung ethischer Delibe-ration. Aus organisationssoziologischer Perspektive liest sich dies als Resultat der Vermitt-lung wissenschaftlicher und politischer Ansprüche, die den Ethikräten als „boundary orga-nizations“ aufgegeben sind.

Aus mikropolitischer Perspektive lässt sich diese Kommissionsethik als Interaktionsge-flecht verstehen, in dem sich Machtbeziehungen zwischen den einzelnen Experten und Dis-ziplinen konstituieren. Diese gründen ganz wesentlich auf der Geltung des Wissens, die inden Dimensionen von Wahrheit, Robustheit und Relevanz aufgeschlüsselt wurde. Ethikex-pertise ist nicht gleichbedeutend mit einem zwanglosen, herrschaftsfreien Diskurs unter gleich-berechtigten Fachexperten – und kann es nicht sein. Es wurde vielmehr deutlich, dass Mikro-politik zwangsläufige Folge einer Expertise ist, die als Aushandlungsprozess zwischen Ver-tretern verschiedener Disziplinen und Weltanschauungen organisiert ist. In diesem Prozessgreifen Koalitionsbildungen, Marginalisierungen und Strategien, die aus bestimmten Erwar-tungshaltungen herrühren. Mit letzterem Aspekt sind Strukturbedingungen des Handelns inden Blick geraten, die es verbieten, Machtbeziehungen allein als Ergebnis strategisch-inten-tionaler Konkurrenzen zwischen Fachexperten zu verstehen. Diese erscheinen vielmehr eben-so als Effekt von Erwartungsstrukturen, die eine erhebliche Bedeutung für die Einschrän-kung der Kontingenz haben.

Abschließend wäre zu überlegen, auf welche Weise diese empirische Analyse zu einernoch zu begründenden Soziologie der Ethik beiträgt. In diesem Beitrag wurden die epistemi-schen und institutionellen Bedingungen analysiert, unter denen Ethikexpertise entsteht undGeltung erlangt. Eine Soziologie der Ethik muss darüber hinaus greifen. Sie könnte in zeit-diagnostischer Absicht das Verblassen der Risikogesellschaft mit der Heraufkunft einer „Etho-gesellschaft“ in Verbindung bringen. Damit wäre ein Projekt definiert, das die Soziologieder Ethik in mehreren Dimensionen in Angriff nehmen könnte: Sie hätte sich mit der Fragezu befassen, auf welche Weise und in welcher Form die Ethik (als akademischer Diskurs,politikrelevante Expertise, Governance-Semantik…) sich in sozialen Systemen etabliert undGeltung erlangt. Sie hätte insbesondere das konjunkturelle Auf und Ab der Ethik im Verhält-nis zu der sich wandelnden Ordnung der Gesellschaft zu analysieren und auf diese Weiseden Funktionswandel der Ethik zu erklären. Vor allem aber hätte sie zu analysieren, welcheFolgen die aktuell zu beobachtende Ethisierung für bestehende institutionelle Architekturen,Konfliktkonstellationen, Politik- und Legitimationsmuster hat. Erste Ansätze dazu findensich in jenen Analysen, die die Subjektivierung politischer Regulation als Ethopolitik (N. Ro-se) fassen. In einem solchen Arbeitsprogramm hat dann natürlich auch die Soziologie derEthikexpertise ihren Platz: Sie hätte die Hochkonjunktur der Ethikkommissionen im Hin-blick auf veränderte Legitimationsansprüche und sich wandelnde Governance-Modelle inden verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zu analysieren.

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Dr. Alexander BognerInstitut für Technikfolgen-Abschätzung (ITA)

der Österreichischen Akademie der WissenschaftenStrohgasse 45

1030 [email protected]

Ethisierung und die Marginalisierung der Ethik 137

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Chanceneröffnung und ChancenausgleichDie Akzeptanz von Gesamt- und Ganztagsschule in der deutschen Bevölkerung

Von Heiner Meulemann

Zusammenfassung: Gesamtschulen und Ganztagsschulen zielen auf unterschiedliche Aspekteder Chancengleichheit, nämlich Chancenausgleich oder Chanceneröffnung. Untersucht wird mitBevölkerungsbefragungen, wie sich Bekanntheit und Bewertung der Gesamtschule und der Ganz-tagsschule in Deutschland entwickelt haben. Die Bekanntheit der Gesamtschule, nicht aber derGanztagsschule ist politisch selektiv. Nur wer die jeweilige Schulform kannte, wird auch nach ei-ner Bewertung gefragt. Drei Hypothesen dazu werden unter Kontrolle der Einstellung zur Chan-cengleichheit, der politischen Selbstverortung, des sozialen Status und der Elternschaft überprüft.Nach der Konkurrenzhypothese sollte sich die Bewertung der Gesamtschule in Westdeutschlandzwischen 1979 und 2005 verschlechtert haben; sie wird bestätigt. Nach der Egalitarismushypothe-se sollte 2005 die Gesamt- und die Ganztagsschule in West- schlechter bewertet werden als in Ost-deutschland; sie wird nur für die Gesamtschule bestätigt. Nach der Differenzhypothese sollte inGesamtdeutschland die Gesamtschule schlechter bewertet werden als die Ganztagsschule; siewird bestätigt. In der Konkurrenz mit dem dreigliedrigen Schulwesen verliert die GesamtschuleSympathie, weil sie die Zuweisung der Chancen aufschiebt, die die chancenreichen Formen desdreigliedrigen Schulwesens sofort gewähren.

Dass Chancengleichheit im Bildungswesen herrschen soll, ist Konsens; was sie aber fordert,ist strittig (Giesinger 2007). Man kann mit Blick auf die Nachfrage der Schüler und das An-gebot der Schule „faire Chancen“ und „formale Gleichheit“ (Rawls 1979: 86, 93), Chancen-ausgleich und Chanceneröffnung unterscheiden. Einerseits sollen die Schüler gleiche Chan-cen haben, so dass der Erfolg nur von Fähigkeit und Leistung abhängt, nicht aber von dersozialen Position der Eltern, und Unterschiede jenseits von Fähigkeit und Leistung ausgegli-chen werden. Anderseits soll die Schule Zugangshindernisse durch rechtliche Einschränkun-gen, hohe Preise, räumliche Unzugänglichkeit oder mangelnde Kapazitäten abbauen, so dasssich allen Chancen eröffnen. Chancenausgleich bringt eine Ungleichbehandlung mit sich,die persönlich nicht verantwortete „äußere“ (Durkheim 1950: 232-254) Vor- und Nachteileausgleicht (Deutscher Bildungsrat 1969: 28; Fend et al. 1976: 70 f; Meulemann 2004 a). Chan-ceneröffnung ist ein Gebot der Gleichbehandlung, das wie vor Polizei und Gericht, Arzt undVorgesetztem auch in der Schule gilt. Ausgeglichen wird zwischen schlechten und gutenChancen; eröffnet werden gleiche Chancen für alle. Pointiert: Chancenausgleich ist ein Null-summenspiel, Chanceneröffnung ein Nicht-Nullsummenspiel.

Chancenausgleich und Chanceneröffnung sind für die Sekundarschule kritisch, die erst-mals und langfristig wirksam Chancen verteilt. Sie lassen sich hier an zwei organisatori-schen Regelungen greifen: der Aufteilung der Schüler nach Leistung und der Aufteilung desTagesablaufs zwischen Schule und Familie. In Deutschland wurde bisher beides in einer Wei-se geregelt, die in den letzten Jahrzehnten häufig kritisiert und zu deren Reform zwei Maß-nahmen vorgeschlagen wurden: die Gesamtschule und die Ganztagsschule. Im Folgendenwird untersucht, wie Gesamtschule und Ganztagsschule als Wege zu Chancenausgleich undzu Chanceneröffnung in Deutschland zwischen 1979 und 2005 von der Bevölkerung bewer-tet wurden. In Abschnitt 1 werden Hypothesen zu dieser Frage entwickelt und in Abschnitt 2wird die Untersuchungsanlage dargestellt. Da Gesamt- und Ganztagsschule nur von denenbewertet werden können, die sie kennen, müssen die Ergebnisse in zwei Schritten dargestelltwerden. Zunächst wird in Abschnitt 3 geprüft, ob die Bekanntheit beider Formen politisch

Soziale Welt 60 (2009), S. 139 – 162

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neutral oder selektiv ist. Dann kann die Bewertung der Gesamtschule in Abschnitt 4 und derGanztagsschule im Vergleich mit der Gesamtschule in Abschnitt 5 dargestellt werden.

Hintergrund und Hypothesen

Von der Gesamtschule zur Ganztagsschule in der Bildungspolitik – und in derBevölkerung?

Die Gesamtschule verändert die Aufteilung der Schüler nach Leistung. Sie wurde im her-kömmlichen Sekundarschulwesen so geregelt, dass die Schüler nach dem 4. Grundschuljahrzwischen drei Schulformen wählen müssen, deren Abschlüsse eine Rangfolge der Lebens-chancen bilden: Gymnasium, Realschule, Hauptschule. Daran wurde kritisiert, dass Schülerfrüh und schwer revidierbar sowie stärker nach sozialer Herkunft als nach Leistung selegiertwerden (Oelkers 2006: 68 f). Als Konsequenz wurde gefordert, dass die Gesamtschule flä-chendeckend an die Stelle der drei Schulformen tritt. Sie bringt alle Schüler zusammen undteilt sie in Leistungsgruppen so ein, dass die Zuweisung kontinuierlich überprüft und revi-diert werden kann und erst zum 10. Schuljahr der Rang des Abschlusses feststeht (Köller2005: 459 f; Lange 2005: 35: 142 f). Der Aufschub der Trennung bedeutet einen Chancenaus-gleich zwischen Chancen, die zuvor mit der Zuweisung zu Schulformen unterschiedlich ge-währt wurden. Wer mehr Chancen hatte, verliert; wer weniger hatte, gewinnt. Die Gesamt-schule ist eine Reform, die verschiedene Interessen unterschiedlich bedient; sie tut einigenwohl und einigen wehe.

Die Ganztagsschule verändert die Aufteilung des Tagesablaufs der Schüler. Sie ist im her-kömmlichen Sekundarschulwesen so geregelt, dass die Schule die Schüler nur für eine be-grenzte Zeit aufnimmt und erwartet, dass in der Familie weitere Leistungen für die Schuleerbracht werden. Daran wurde kritisiert, dass die Schule auf Chancen der Förderung des cur-ricularen wie sozialen Lernens verzichtet. Als Konsequenz wurde gefordert, dass die Ganz-tagsschule (Höhmann et al. 2004; Baumert et al. 2005: 105 f; Fees 2005; Lange 2005: 209 f)Leistungen von der Familie in die Schule holen und die Schüler auch für Aktivitäten jenseitsdes Lernens, für Spiel, Sport und Mahlzeiten, behalten soll. Die Ausweitung der täglichenSchulzeit bedeutet eine Chanceneröffnung für alle. Denn alle erhalten von der Schule Dienst-leistungen, die zuvor jede Familie erbringen musste. Die Ganztagsschule weitet also das Leis-tungsangebot der Schule aus, so dass sich die Chancen aller erhöhen. Sie ist eine sozialstaat-liche Leistung für alle; sie tut allen wohl und niemand wehe.

Beide Schulformen sind fast gleichzeitig vom Deutschen Bildungsrat (1969; 1970) emp-fohlen wurden. In der bildungspolitischen Debatte um 1970 war jedoch die Gesamtschuleder Favorit. Symptomatisch dafür ist das Funk-Kolleg Erziehungswissenschaft, das als Ta-schenbuch weit verbreitet war. Es widmet der Gesamtschule ein ganzes Kapitel (Klafki1970: 194 f, 252 f), führt aber die Ganztagsschule nicht einmal im Stichwortverzeichnis.

Die Gesamtschule wurde als der „konsequenteste“, aber auch „umstrittenste Reformvor-schlag“ bezeichnet und die politische Kontroverse um sie ausführlich diskutiert. Der politi-sche Streit sollte durch Schulversuche geschlichtet werden. Aber das Ergebnis der ersten grö-ßeren Vergleichsstudie, dass die Gesamtschule „schichtspezifische Chancenungleichheit deut-lich reduziert“ (Fend et al. 1976: 191; Wenzler 2003: 74 f), hat den politischen Streit nichtentschieden. Obwohl bis in die 70er Jahre auch der Chancenausgleich unter den politischenParteien und Bundesländern weitgehend Konsens war (Deutscher Bildungsrat 1970: 150 f,166; Mayer 1977: 161; Gukenbiehl 2001: 96 f; Wenzler 2003: 71), blieb das Mittel Gesamt-schule umstritten. In den folgenden Jahren geriet es sogar in Misskredit, wie z.B. die Ableh-nung der im Landtag Nordrhein-Westfalen beschlossenen, auf das fünfte und sechste Schul-jahr beschränkten „Kooperativen Gesamtschule“ durch ein Volksbegehren 1979 zeigt. Die

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Gesamtschule hat das herkömmliche Sekundarschulwesen nicht ersetzen können. Seit den80er Jahren sprechen nur noch wenige bildungspolitische Stimmen für sie: die GEW, gele-gentlich die Bündnis90 / Grünen und die Evangelische Kirche, nicht aber die SPD. Sie istbildungspolitisch „kein Thema“ mehr.

Die bildungspolitische Favoritenrolle hat seitdem die Ganztagsschule übernommen. Sieumgeht die mit der Gesamtschule aufbrechenden Konflikte des Chancenausgleichs und zieltauf Chancengleichheit in der leichter konsensfähigen Form der Chanceneröffnung. Sympto-matisch dafür ist die unterschiedliche Resonanz, die zwei Ergebnisse des PISA-Konsortiums(2001: 107, 173, 229, 385) gefunden haben: Deutschland liegt bei der Testleistung der 15jäh-rigen Schüler nur im unteren Mittelfeld der 31 OECD-Länder, bei der Einflussstärke der so-zialen Herkunft auf die Testleistung aber – ebenso wie in einem weiteren Vergleich von 54Ländern (Schütz et al. 2005) – in der Spitzengruppe.

Das erste Ergebnis wurde als „PISA-Schock“ zum Gegenstand bildungspolitischer Selbst-kritik. Es hat die bildungspolitische Aufmerksamkeit auf Reformen zur Chanceneröffnunggerichtet: von der obligatorischen Vorschule, der Einführung von Bildungsstandards undTests bis zur Verpflichtung der Schule zur individuellen Förderung, die im Schulgesetz vonNordrheinwestfalen 2006 steht. Es geht darum, den Rückstand im internationalen Vergleichaufzuholen und dafür alle besser zu rüsten. Die Ganztagsschule ist vermutlich der bekanntes-te dieser Vorschläge; sie wird sogar durch Unterstützungen des Bundes für die Länder geför-dert, die sie einrichten. Sie ist eine Reform, die sich in das dreigliederige Schulwesen ein-fügt und in ihm allen mehr Chancen verspricht.

Das zweite Ergebnis hingegen hat die bildungspolitische Aufmerksamkeit nicht auf Refor-men zum Chancenausgleich gerichtet. Schon die Frage, ob es ein ungünstiges Licht auf dasherkömmliche Schulwesen wirft, wird als ideologisch verdächtigt. Auch nach dem „PISA-Schock“ ist die Gesamtschule offensiv nicht auf der bildungspolitischen Agenda. Sie wirdvielmehr gegen die Forderung ihrer Abschaffung verteidigt (Köller 2005: 458).

Spiegeln die gegenläufigen bildungspolitischen Konjunkturen der beiden Reformen sichin der Sympathie der Bevölkerung wider? Umfragen seit 1979 belegen das, ohne es zu erklä-ren. Die auf die Gesamtschule zielende (alle zwei Jahre erfragte) Forderung „Statt die Kin-der nach der Grundschule in verschiedene Schularten einzuteilen, sollte man sie besser wei-ter gemeinsam unterrichten“, bejahen zwischen 1979 und 2004 konstant rund 39 % der West-deutschen. Die Ganztagsschule hingegen hatte in Westdeutschland zunächst wenig, in jüngs-ter Zeit aber mehr Unterstützung: Zwischen 1979 und 1997 hat die (wiederum alle zwei Jah-re erfragte) Forderung, „mehr Ganztagsschulen einzurichten“, rund 42 % Anhänger, die2000 auf 49 %, 2002 auf 56 % und 2004 auf 57 % ansteigen (Rolff et al. 1980; Kanders2001; Holtappels et al. 2004). Um den Sympathieverlust nicht nur zu beschreiben, sondernauch zu erklären, sollte man die Frage also schärfer stellen: Wird die Gesamtschule, geradeweil sie Chancen ausgleichen will, als eine Einschränkung von Chancen bewertet, die im drei-gliedrigen Schulwesen und in der Ganztagsschule eröffnet werden? Und hat sie aus diesemGrunde heute weniger Sympathie als die Ganztagsschule?

HypothesenDer Wandel der Bildungspolitik und der vermutete Wandel der Bevölkerungssympathien be-ziehen sich auf einen Zeitraum, in dem die früheren deutschen Teilstaaten vereinigt wurden.Wenn der Wandel in der alten Bundesrepublik und der Unterschied zwischen West- und Ost-deutschland ohne Kontrolle von Personmerkmalen untersucht werden, kann es sein, dass siesich nicht aus der Zeitgeschichte oder den Unterschieden der früheren Sozialverfassungenallein, sondern aus Unterschieden und Wandlungen der Bevölkerungen ergeben. Deshalb

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Chanceneröffnung und Chancenausgleich 141

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müssen Wandel und Unterschiede im Aggregat der Landesteile auch unter Kontrolle von Per-sonmerkmalen betrachtet und Hypothesen nicht nur für die Aggregat-, sondern auch die Per-sonebene begründet werden.

Aggregatebene

Die Gesamtschule ist der Absicht nach eine Alternative zum dreigliedrigen Schulwesen.Aber sie ist in den alten Bundesländern meistens nicht an seine Stelle getreten, sondern alsvierte Schulform hinzugekommen (Wenzler 2003: 74 f). In der Konkurrenz um die Nachfra-ge der Eltern mit den chancenreichen Formen des dreigliedrigen Schulsystems aber gereichtihr gerade die Absicht des Chancenausgleichs zum Nachteil. Denn sie suspendiert einerseitsden Chancengewinn bis zum endgültigen Erreichen eines Abschlusses, während Realschuleund Gymnasium ihn von Anfang an versprechen. Sie dehnt anderseits den Wettbewerb umChancen durch die innere Leistungsdifferenzierung nach Kursen (Bönsch 2005) auf das gan-ze Leistungsspektrum dauerhaft aus, während das dreigliedrige Schulsystem ihn in jederSchulform vorläufig eingrenzt. Manche Eltern glauben daher sogar, dass die Gesamtschuleden Leistungsdruck gegenüber dem Gymnasium verschärft (Kilz 1980: 45).

Weil die Gesamtschule gleichzeitig mit einer allgemeinen Bildungsexpansion (Becker2006), also einer Chanceneröffnung eingeführt wurde, hat ihr das Ziel des Chancenaus-gleichs vermutlich sogar zunehmend zum Nachteil gereicht. In Westdeutschland steigen dieAspirationen von Eltern für das Abitur zwischen 1979 und 2004 von 37 % auf 53 % (Holtap-pels et al. 2004: 17) an. Und der Anteil von Eltern im dreigliedrigen Schulwesen der Sekun-darstufe I, die ihre Kinder auf das Gymnasium schicken, steigt in Westdeutschland zwischen1975 und 1991 von 27 % auf 34 % und in Gesamtdeutschland zwischen 1991 und 2003 von35 % auf 38 % an (BMBF 2005: 54 f; Baumert et al. 2005: 76 f). Immer mehr Eltern setzenalso auf das Versprechen des Statusgewinns in den höheren Formen der herkömmlichen Se-kundarschule. Dann aber fühlen sich die Eltern höherer Schichten aus Gründen des Statuser-halts gedrängt, ihre Kinder um jeden Preis auf das Gymnasium zu schicken (Holtappels etal. 2004: 19), so dass sich die Gesamtschule eher aus unteren Schichten und weniger Begab-ten rekrutiert (Fuchs / Reuter 2000: 54 f; Lange 2005: 155 f; Köller 2005: 481 f) und für allesozial wie leistungsmäßig zur zweiten Wahl wird. Aus allen diesen Tendenzen ergibt sichdie Konkurrenzhypothese: Die Gesamtschule sollte in Westdeutschland zwischen 1979 und2005 an Unterstützung verloren haben.In der DDR war Gleichheit der Ergebnisse jeder Interpretation von Chancengleichheit vorge-ordnet (Lötsch / Freitag 1981: 86, 91). Das hat die Mentalität so stark geprägt, dass nach derVereinigung die Ostdeutschen häufiger als die Westdeutschen erwarten, dass der Staat dasgesellschaftliche Leben steuert, und den Wert Gleichheit häufiger unterstützen (Meulemann2004 b: 160). Insbesondere unterstützen die Ostdeutschen die schon zitierte Forderung, „Kin-der nach der Grundschule gemeinsam zu unterrichten“, zwischen 1993 und 2004 um rund 24Prozentpunkte mehr als die Westdeutschen. Die ebenfalls schon zitierte Forderung nach„mehr Ganztagsschulen“ unterstützen die Ostdeutschen zwischen 1991 und 2004 jedoch umrund 3 Prozentpunkte weniger. Aus der allgemeinen Neigung der Ostdeutschen zur Gleich-heit ergibt sich, zusammen mit ihren Einstellungen zu beiden Schulformen, die Egalitaris-mushypothese: Im Jahre 2005 sollten die Ostdeutschen beide Reformen, insbesondere aberdie Gesamtschule, besser bewerten als die Westdeutschen.

Die Gesamtschule hat den bildungspolitischen Streit mit dem Ziel des Chancenausgleichsangefacht; die Ganztagsschule besänftigt ihn durch den Rückzug auf die Chanceneröffnung.Daraus ergibt sich die Differenzhypothese: Im Jahre 2005 sollte die Gesamtschule wenigerUnterstützung finden als die Ganztagsschule.

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Personebene

Gesamt- und Ganztagsschule zielen auf Chancengleichheit, aber die Gesamtschule zuerstauf Chancenausgleich, die Ganztagsschule zuerst auf Chanceneröffnung. Daraus ergibt sichdie Affinitätshypothese: Die positive Bewertung jeder Reform sollte mit der Befürwortungbeider Interpretationen ansteigen – aber die positive Bewertung der Gesamtschule stärkermit der Befürwortung des Chancenausgleichs, die positive Bewertung der Ganztagsschulestärker mit der Befürwortung der Chanceneröffnung.

Weil Chancengleichheit ein politisches Programm ist, sollte die Bewertung von Reformenaußerdem mit politischen Konfliktlinien verknüpft sein, die durch Ideen und durch Interes-sen abgesteckt werden.

Ideen geben Entscheidungskriterien für soziale Konflikte. Mit ihnen kann man sich unab-hängig von der eigenen Interessenlage identifizieren. In modernen, arbeitsteilig differenzier-ten Gesellschaften sollen soziale Positionen nach unterschiedlichen Leistungen auf der Basisgleicher Chancen zugewiesen werden. Leistung soll von Gleichheit ausgehen, aber Ungleich-heit produzieren. Der Konflikt zwischen Gleichheit und Leistung ist historisch mit der politi-schen Konfliktlinie Links und Rechts identifiziert: Die Linke favorisiert Gleichheit, die Rech-te Leistung (Meulemann 2004 b). Während aber auch die Rechte sich nicht gegen den Ab-bau von Barrieren ausspricht, will nur die Linke unverdiente Unterschiede ausgleichen. Dar-aus ergibt sich die Linkshypothese: Die Selbstidentifikation mit der politischen Linken solltedie Bewertung beider Reformen verbessern – aber bei der Gesamtschule mehr als bei derGanztagsschule.

Interessenlagen unterscheiden sich nach dem sozialen und dem familienzyklischen Status,die unterschiedlich mit den beiden Interpretationen der Chancengleichheit verknüpft sind.

Der soziale Status sensibilisiert für den Chancenausgleich, nicht aber für die Chanceneröff-nung. Weil der Chancenausgleich die einen auf Kosten der anderen begünstigt, müssen El-tern eines höheren Status einen Verlust, einen Abstieg ihrer Kinder befürchten, während El-tern eines niederen Status einen Gewinn, einen Aufstieg ihrer Kinder erwarten können. Weildie Chanceneröffnung alle begünstigt und niemanden beeinträchtigt, können alle eine Ver-besserung der Lebenschancen ihrer Kinder erwarten – Eltern höherer Status mit Blick aufden Statuserhalt und Eltern niederer Status mit Blick auf einen Statusgewinn. Daraus ergibtsich die Abwehrhypothese: Sozialer Status sollte die Bewertung der Gesamtschule verschlech-tern und die Bewertung der Ganztagsschule nicht beeinflussen.

Der familienzyklische Status sensibilisiert nicht für den Chancenausgleich, aber für dieChanceneröffnung. Wer mit Kindern zusammenlebt, identifiziert sich mit ihrem Lebens-schicksal. Er will „das Beste“ für sein Kind erreichen, nicht aber Verhältnisse unter Kindernnach übergeordneten Maßstäben regeln. Er sollte vom Schulwesen vor allem die Eröffnungvon Chancen erwarten und gegenüber dem Chancenausgleich gleichgültig sein. Daraus er-gibt sich die Betroffenheitshypothese: Elternschaft sollte die Bewertung der Gesamtschulenicht beeinflussen und die Bewertung der Ganztagsschule verbessern.

Untersuchungsanlage

StichprobenDie Untersuchung beruht auf einer face-to-face Bevölkerungsumfrage zur Gesamtschule inWestdeutschland 1979, die im Jahre 2005 in West- und Ostdeutschland als Telefonumfragerepliziert und durch Fragen zur Ganztagsschule erweitert wurde. Die Stichprobe 1979 um-fasst 2007 Befragte; sie wird nicht gewichtet. Die Stichprobe 2005 umfasst 1700 Befragte in

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Westdeutschland und 615 Befragte in Ostdeutschland. Sie wird für Landesteilvergleiche in-nerhalb jedes Landesteils demographisch gewichtet, so dass die Unterausschöpfung vor al-len unterer Bildungsabschlüsse ausgeglichen wird; sie wird für Analysen Gesamtdeutsch-lands zusätzlich noch repräsentativ gewichtet, so dass die beiden Landesteile mit ihrem Be-völkerungsanteil (etwa 4:1) eingehen. In der repräsentativen Gewichtung umfassen die west-deutsche Stichprobe 1851 und die ostdeutsche 464 Befragte. Zur regressionsanalytischen Prü-fung des Zeiteffekts wurden die Stichprobe 1979 und die gewichtete Stichprobe 2005 in ei-ner Datei mit einer Kodiervariable für 2005 zusammengefasst.1

Zielvariable

Bekanntheit und Bewertung der Gesamtschule 1979 und 2005

Die Bekanntheit wurde so erfragt: „Unter einer Gesamtschule versteht man, dass Kinder, diebisher in der Hauptschule, der Realschule und dem Gymnasium getrennt waren, gemeinsamunterrichtet werden. Haben Sie von dieser Schule schon einmal etwas gehört oder gelesen?“

Die Befragten, die die Gesamtschule kennen, wurden gebeten, sie unter dem Ziel der Chan-cengleichheit zu bewerten. Da dieses Ziel durch die Zusammenlegung der Schulformen er-reicht werden soll, ist auch das Mittel Kriterium der Bewertung. Ziel und Mittel, Chancen-gleichheit und organisatorische Effizienz, sind also die beiden Maßstäbe der Gesamtschule.Zu beiden Maßstäben wurden eine positive und eine negative Aussage vorgegeben, denendie Befragten auf fünf Stufen von 2 bis -2 zustimmen oder nicht zustimmen sollten. Zu jederder folgenden Frageformulierungen ist ein Kürzel hinzugefügt, das in den Analysen verwen-det wird.

Zur Chancengleichheit lautete die positive Aussage: „Die Gesamtschule sichert gleicheChancen für alle Kinder (Chancengleichheit)“. Da die Gesamtschule das dreigliedrige Schul-system der Absicht nach ersetzt und Chancengleichheit als Chancenausgleich anstrebt, muss-te die negative Aussage zur Chancengleichheit ausdrücken, dass in der Gesamtschule die Kin-der verlieren, die im dreigliedrigen Schulwesen besonders gefördert werden: die begabtenKinder, die auf die chancenreichen Schulformen gehen. Die negative Aussage zur Chancen-gleichheit lautete daher: „Die Gesamtschule fördert die begabten Kinder nicht genügend (Kei-ne Begabtenförderung)“. Sie drückt also eine negative Folge des Ziels des Chancenaus-gleichs aus: Weil die Gesamtschule „gleiche Chancen für alle Kinder sichern“ soll, fördertsie „begabte Kinder nicht genügend“. Wer sein Kind – wie viele Eltern bis zum ersten Miss-erfolg – für begabt hält, sieht die Gesamtschule als Nullsummenspiel, in dem es verlierenkann. Die positive und (mit umgekehrtem Vorzeichen) die negative Aussage wurden zu ei-nem Index zusammengefasst. Falls für eine der beiden Aussagen Werte fehlten, wurde derIndex nur aus der anderen gebildet, so dass fehlende Werte sich nicht kumulierten, sondernminderten; dasselbe gilt für alle folgenden Indizes.

Zur organisatorischen Effizienz ließen sich die positive und die negative Aussage als wech-selseitige Negation formulieren: „Die Gesamtschule bringt eine Vereinfachung und Verein-heitlichung der schulischen Organisation mit sich (Vereinfachung)“ und „Die Gesamtschuleist mit großen Schüler- und Lehrerzahlen verbunden und ist für viele Kinder nicht mehr über-

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1 Die Befragung 1979, der ZUMABUS-4, wurde durch Mittel der Deutschen Forschungsgemeinschaftfinanziert und von Getas erhoben. Sie ist unter der Studiennummer 1017 im Zentralarchiv der Univer-sität zu Köln erhältlich. Die Wiederholung 2005 wurde durch Mittel der Fritz-Thyssen-Stiftung, desInstituts für Angewandte Sozialforschung der Universität zu Köln und des Landes Baden-Württem-berg finanziert. Sie wurde von TNS-Emnid erhoben. Ich danke allen Mittelgebern.

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schaubar (Unüberschaubarkeit)“. Die positive und (mit umgekehrtem Vorzeichen) die nega-tive Aussage wurden zu einem Index zusammengefasst.2

Weiterhin wurde eine Globalbewertung erfragt: „Alles in allem genommen: Halten Siedie Gesamtschule für eine gute Sache oder lehnen Sie die Gesamtschule ab?“

Bekanntheit und Bewertung der Ganztagsschule 2005

Die Bekanntheit der Ganztagsschule wurde so erfragt: „Es bestehen Pläne für alle Schülerab dem fünften Schuljahr die Ganztagsschule einzuführen, wo Kinder nicht nur vormittags,sondern auch nachmittags Unterricht und Hausaufgabenbetreuung erhalten und mittags einEssen bekommen, so dass sie erst am späteren Nachmittag wieder nach Hause kommen. Ha-ben Sie von solchen Plänen gehört?“

Die Befragten, die die Ganztagsschule kennen, wurden gebeten, sie unter dem Ziel derChancengleichheit zu bewerten. Anders als bei der Gesamtschule ist hier das Mittel – dernachmittägliche Unterricht – mit der Reform identisch und kann nicht – wie die Zusammen-legung von Schulformen – an sich positiv oder negativ bewertet werden. Aber die Ganztags-schule verschiebt die Grenze zwischen Elternhaus und Schule, indem sie die Schüler längerunterrichtet und den Eltern Aufgaben abnimmt. Zur Bewertung der Ganztagsschule wurdeals zweite Dimension deshalb nicht mehr die organisatorische Effizienz, sondern die Entlas-tung der Familie vorgegeben (Ladenthin 2005).

Zur Chancengleichheit wurde die gleiche positive Aussage wie bei der Gesamtschule vor-gegeben. Da aber die Ganztagsschule das dreigliedrige Schulsystem nicht ersetzen, sondernverbessern soll, da sie also Chancen eröffnen und nicht ausgleichen soll, konnte die negativeAussage zur Chancengleichheit nicht von der Gesamtschule auf die Ganztagsschule übertra-gen werden. Die Ganztagsschule kann nicht wegen der Gefahr, Begabte nicht genügend zufördern, kritisch beurteilt werden. Sie soll im dreigliedrigen Schulsystem „gleiche Chancenfür alle Kinder sichern“, also in gleichem Maße zusätzliche Chancen eröffnen, indem sie mitmehr Unterricht und mehr Betreuung alle mehr fördert. An die Stelle von Keine Begabtenför-derung trat daher: „Die Ganztagsschule trägt zu einem größeren Lernerfolg der Schüler bei(Förderung)“.

Zur Entlastung der Familie wurden zwei positive und zwei negative Aussagen vorgege-ben. Die positiven Aussagen betonen die praktischen Gewinne für die einzelne Familie:„Die Ganztagsschule entlastet die Eltern (Elternentlastung).“ „Die Ganztagsschule machtMüttern die Erwerbstätigkeit leichter (Müttererwerbstätigkeit).“ Die negativen Aussagen be-ziehen sich auf die ideelle Sicht des Verhältnisses der Lebenssphären Familie und Staat undkritisieren die Ganztagsschule als Übergriff des Staates auf die vorpolitische Sphäre der Fa-milie: „Die Ganztagsschule nimmt die Kinder zu sehr aus der Obhut der Familie heraus (Fa-milienschwächung).“ „Die Ganztagsschule gibt dem Staat zu viel Einfluss auf die Erziehungder Kinder (Staatsstärkung).“ Die Befragten sollten allen Vorgaben wiederum auf einer Ska-la von 2 bis -2 zustimmen oder nicht zustimmen.3

2 In der Gesamtstichprobe korrelieren die beiden Aussagen zur Chancengleichheit r=-.45, die beidenAussagen zur organisatorischen Effizienz r=-.28, die beiden positiven Aussagen r=.53, die beiden ne-gativen Aussagen r=.48; die positive Aussage des einen Konzepts und die negative des anderen kor-relieren r=-.38 bzw. r=-.30. Die Korrelationen bestätigen also die theoretische Struktur der Aussagen.

3 Eine Faktorenanalyse (Eigenwerte über 1, Varimaxrotation) erbrachte einen Faktor mit 32,3 % derGesamtvarianz, der die beiden Aussagen zur Chancengleichheit und zur Entlastung der Familienlädt, und einen Faktor mit 32,1 % der Gesamtvarianz, der die beiden Aussagen zu Familie und Staatlädt. Sie bestätigt also die theoretische Struktur der Aussagen.

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Auch für die Ganztagsschule wurde mit der gleichen Formulierung wie für die Gesamt-schule eine Globalbewertung erfragt.

Korrelationen zwischen den Bewertungen beider Schulformen 2005

Für beide Schulformen wurden die Einzelbewertungen zur Chancengleichheit und die Glo-balbewertung gleich erfragt. 2005 korreliert die Bewertung nach Chancengleichheit zwi-schen den beiden Schulformen r=.03. Eine Faktorenanalyse (Eigenwert>1, Varimaxrotation)aller zehn Einzelbewertungen ergibt einen Faktor mit 22,2 % der Gesamtvarianz, der die vierAussagen zur Gesamtschule über |.70| und die Aussagen zur Ganztagsschule unter |.02| lädt,und einen Faktor mit 60,0 % der Gesamtvarianz, der die sechs Aussagen zur Ganztagsschuleüber |.99| sehr hoch und die Aussagen zur Gesamtschule unter |.02| lädt. Die Globalbewer-tung beider Schulformen korreliert r=.35.

Offenbar unterscheidet die Bevölkerung beide Schulformen und ihren Beitrag zur Chan-cengleichheit genau; aber sie hat eine gewisse, keineswegs starke Neigung, beide schuli-schen Reformen global gutzuheißen.

Unabhängige Variable

Zur Affinitätshypothese: Chancenausgleich und Chanceneröffnung

Chancenausgleich lässt sich als Forderung erfragen. Fragen dazu wurden nur im Jahre 2005erhoben – und zwar eine direkte und eine indirekte Frage. Die direkte Frage lautete: „Man-che Eltern haben mehr Möglichkeiten, zum Schulerfolg ihres Kindes etwas beizutragen alsandere, zum Beispiel weil sie mehr finanzielle Mittel, eine bessere Ausbildung oder mehrBekannte haben. Was meinen Sie, sollte die Schule solche unterschiedlichen Startbedingun-gen der Kinder ausgleichen oder sollte sie das nicht? (Chancenausgleich)“ In dieser Fragewird Gleichheit als Ausgleich unterschiedlicher außerschulischer Bedingungen verstanden;und Unterschiede werden so verstanden, dass sie das „Äußere“ (Durkheim 1991 [1950]:232 f), der Person nach sozialen Zugehörigkeiten Zugeschriebene widerspiegeln.

Die indirekte Frage lautete: „Sollte die Bildungspolitik Ihrer Meinung nach anstreben, denEinfluss des Schulwesen auf den Schulerfolg der Kinder zu verstärken oder sollte sie dasnicht tun? (Schulwesen stärken)“ In dieser Frage wird der Ausgleich nicht mehr direkt ange-sprochen, aber mitgedacht; denn das Schulwesen vertritt universalistische Leistungsmaßstä-be gegen partikularistische Ansprüche der Eltern für ihre Kinder (Parsons / Shils 1951).Auch in dieser Frage geht es also um den Ausgleich von unterschiedlichen außerschulischenBedingungen.

Chanceneröffnung kann als Forderung kaum erfragt werden. So gut wie niemand wirdsich gegen den Abbau von Schranken aussprechen. Die Selbstverständlichkeit verbietet hiereine direkte Frage. Deshalb wurde die Chanceneröffnung nur indirekt erfragt, und zwar mitzwei Fragen. Die erste Frage richtet sich auf die Einschätzung realisierter Chancengleich-heit und wurde 1979 wie 2005 erhoben: „Was meinen Sie: Hat bei uns heute jeder die Mög-lichkeit, sich ganz nach seiner Begabung und seinen Fähigkeiten auszubilden? Ja / nein (Chan-cengleichheit realisiert)“ Wer die Frage bejaht, sieht keine Schranken mehr; wer sie ver-neint, will weitere Schranken abbauen. In dieser Frage wird Gleichheit als Fehlen sozialerSchranken des Zugangs verstanden, als Gleichberechtigung; und Unterschiede werden so ver-standen, dass sie das Innere, von der Person Geleistete widerspiegeln.

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146 Heiner Meulemann

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Die zweite Frage richtet sich auf Bewertung des Bildungswesens allgemein und wurdenur 2005 erhoben: „Bitte sagen Sie mir auf einer Skala von 0 bis 10, wie Sie – alles in allem– den derzeitigen Zustand des Bildungssystems in Deutschland einschätzen: 0 bedeutet, dassSie das Bildungssystem als äußerst schlecht einschätzen, 10 bedeutet, dass Sie es als äußerstgut einschätzen (Bildungssystem gut).“ Zwar wird Chancengleichheit in dieser Frage nichtangesprochen; da aber das Bildungssystem von der Bevölkerung im Wesentlichen nichtnach übergreifenden Maßstäben wie dem Chancenausgleich, sondern nach seiner Leistungfür seine Klientel, also Eltern und Kinder, beurteilt wird, kann auch diese Frage indirekt alsEinschätzung der Chanceneröffnung verstanden werden.

Zur Links-, Abwehr- und Betroffenheitshypothese: Ideen und Interessen

Die Selbstidentifikation mit der politischen Linken wurde mit zwei Konzepten erhoben. Ers-tens wurde 2005 die Identifikation im politischen Raum mit folgender Frage erhoben: „Inder Politik spricht man manchmal von „links“ und „rechts“. Wo auf der folgenden Skala wür-den Sie sich selbst einstufen, wenn 1 für links steht und 11 für rechts?“ Ausgewertet wurdedie Frage so, als wäre der höchste Wert für links vorgegeben gewesen, so dass sich eine me-trische Variable Linke politische Selbstverortung ergab. Eine Antwort wurde von 5 % derBefragten verweigert.

Zweitens wurde eine Variable Wahlentscheidung aus der 1979 retrospektiv erfragten Zweit-stimmenwahl in der Bundestagswahl 1976 und aus der „Sonntagsfrage“ 2005 gebildet. Hierergeben sich beträchtliche Anteile fehlender Werte, weil keine Wahlberechtigung vorlag(1979: 9,2 %), nicht gewählt wurde (1979: 6,4 %, 2005: 12,5 %) oder die Antwort verwei-gert wird (1979: 7,1 %, 2005: 17,3 %). SPD, Bündnis 90 / Die Grünen und PDS wurden alslinke Parteien gegen CDU / CSU, FDP und Republikaner abgegrenzt und „andere Parteien“(2005: 1,5 %) ignoriert, so dass sich eine Kodiervariable Wahl linker Partei ergab.

Der soziale Status wurde mit sechs Bildungsabschlüssen erfasst, die metrisch analysiertwurden. Die familienzyklische Betroffenheit wurde durch die Elternschaft erhoben. Kinderlo-se wurden bis zum 29. Lebensjahr als „Voreltern“, also potenziell Betroffene, und ab dem30. Lebensjahr als nicht mehr Betroffene, also Kinderlose klassifiziert. Für Eltern und „Vor-eltern“ wurden zwei Kodiervariablen mit den Kinderlosen als Basis gebildet.

Kontrollvariablen: Erfahrungen und Demographie

Die Erfahrung wurde direkt erfragt: „Geht ein Kind aus Ihrer eigenen Familie oder von Be-kannten auf eine solche Gesamtschule / Ganztagschule?“ Und sie wurde indirekt durch dieZugehörigkeit zu sechs Kohorten erfasst, die Erfahrungen öffentlicher Auseinandersetzun-gen widerspiegeln. Weil beide Variablen nur den Saldo positiver und negativer Erfahrungenerfassen, können sie nicht mit gerichteten Hypothesen verbunden werden.

Als demographische Kontrollvariable werden das Geschlecht (Kodiervariable Mann), dieVoll- und Teilzeit-Erwerbstätigkeit als Kodiervariablen mit der Basiskategorie Nichterwerbs-tätigkeit und die Ortsgröße mit vier Klassen als metrische Variable eingesetzt.

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Bekanntheit von Gesamt- und Ganztagsschule

Selektivität der Bekanntheit: neutral oder politisch?Die Prozentsätze der Bekanntheit sind in den ersten beiden Zeilen von Tabelle 1 dargestellt.Es zeigt sich dreierlei. Erstens hat die Bekanntheit der Gesamtschule in Westdeutschland zwi-schen 1979 und 2005 um 26 Prozentpunkte, also erheblich, zugenommen.4 Zweitens liegtdie Bekanntheit der Gesamtschule im Jahre 2005 in West- um 6 Prozentpunkte höher als inOstdeutschland. Da die Sekundarschule der DDR eine Gesamtschule ohne diesen Namenwar (Wenzler 2003: 80), spiegelt die geringere Vertrautheit der Ostdeutschen mit der Gesamt-schule wohl nicht geringere Erfahrung, sondern die Nichtteilhabe an der politischen Ausein-andersetzung in Westdeutschland. Drittens ist die Ganztagsschule im Jahre 2005 in beidenLandesteilen gleich bekannt. Während die Gesamtschule ein westdeutscher Streitpunkt war,ist die Ganztagsschule eine gesamtdeutsche Hoffnung nach dem „PISA-Schock“.

Diese Unterschiede können sich aus allgemeinen oder spezifischen Strategien der Informa-tionssuche ergeben haben. Allgemeine Strategien bestimmen die Bekanntheit eines jeden The-mas, so dass sie die Selektivität politisch neutral und für die Bewertung folgenlos bleibt.Zusätzlich können spezifische Strategien aufgrund der politischen Selbstverortung die Infor-mationssuche steuern, so dass die Selektivität politisch und für die Bewertung folgenreichwird. Wenn etwa überwiegend Personen, die sich zur politisch Linken rechnen, die Gesamt-schule kennen, und wenn diese Personen weiterhin die Gesamtschule besonders günstig be-urteilen, dann fällt die Bewertung der Gesamtschule günstiger aus als bei einer neutralen Se-lektivität.

Ob die Selektivität neutral oder politisch ist, wurde in Regressionen der Bekanntheit aufdie allgemeinen Strategien der Informationssuche und auf diese sowie zusätzlich die politi-sche Selbstverortung untersucht. Wenn die Selektivität der Bekanntheit neutral ist, sollte beiKontrolle der allgemeinen Strategien die politische Selbstverortung keinen Einfluss haben.Als allgemeine Strategien der Informationssuche werden Motivation, Betroffenheit und Ge-legenheit betrachtet. Die Motivation wurde durch das (auf fünf Stufen erfragte) politischeInteresse und das Bildungsniveau erfasst; sie sollten die Bekanntheit steigern. Die Betroffen-heit wurde die Elternschaft erfasst, die die Bekanntheit steigern sollte, und durch das Alter,das die Bekanntheit mindern sollte. Gelegenheiten wurden durch die Gemeindegröße er-fasst: je größer die Gemeinden, desto größer und daher leichter reformierbar sollte das Schul-angebot sein und desto größer sollten die bildungspolitischen Konflikte und schließlich dieBekanntheit der Reform sein. Indikator der politischen Selbstverortung ist die Wahlentschei-dung. Weiterhin wird das Geschlecht ohne Voraussage kontrolliert.

Gesamtschule in Westdeutschland 1979-2005Zunächst wurde die Zunahme der Bekanntheit der Gesamtschule in Westdeutschland1979-2005 durch drei (tabellarisch nicht ausgewiesene) logistische Regressionen in der Ge-samtdatei mit der Kodiervariablen für 2005 geprüft. In der ersten Regression, in der der Zeit-punkt alleiniger Prädiktor war, ist die Zunahme signifikant. In der zweiten Regression, inder zusätzlich die Informationssuche kontrolliert wurde, mindert sich der Effekt des Zeit-punkts nicht. In der dritten Regression, in der zusätzlich die Wahlentscheidung kontrolliertwurde, bleibt der Effekt des Zeitpunkts wiederum bestehen und das politische Kriterium derWahlentscheidung beeinflusst die Bekanntheit nicht. Die Zunahme der Bekanntheit ist alsonicht durch Wandlungen der Bevölkerung bedingt. Zudem könnte man schließen, dass dieBekanntheit nicht politisch motiviert ist.

3

3.1

3.2

4 Irrtümlich wurde statt 58 % die Gegenwahrscheinlichkeit berichtet.

148 Heiner Meulemann

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Aber die Analyse der Gesamtdatei führt irre, weil der Einfluss der Wahlentscheidung sichzwischen 1979 und 2005 verändert hat. Deshalb müssen für beide Zeitpunkte getrennte Re-gressionen berechnet werden, die in der ersten und zweiten Spalte der Tabelle 1 dargestelltsind.5 Weil die politische Selbstverortung zu beiden Zeitpunkten nur durch die Wahlentschei-dung erfasst wird, die viele fehlende Werte aufweist, werden beide Regressionen zweimalberechnet: mit den Prädiktoren der Informationssuche allein in Modell 2 und zusätzlich derWahlentscheidung in Modell 3. Modell 1, das nur den Landesteileinfluss prüft, kann erstbeim Vergleich der beiden Schulformen 2005 besprochen werden. Weiterhin kann der Lan-desteil nur in den Regressionen 2005 unter die Prädiktoren aufgenommen werden.

Tabelle 1: Bekanntheit der Gesamtschule und der Ganztagsschule in West- und Ostdeutsch-land 1979 und 2005: Prozentwerte und standardisierte multiplikative Koeffizienten logisti-scher Regressionen

H Gesamtschule 79 Gesamtschule 05 Ganztagsschule 05% bekannt: West 60,5 86,6 78,2% bekannt: Ost 79,5 78,3M1: Landesteil Ost - 1.22-1*** 1.00M2:Informationssuche Ost - 1.32-1*** 1.04-1

Politisches Interesse + 1.70*** 1.67*** 1.42***Bildung + 1.95** 1.47*** 1.27***Voreltern + 1.04-1 1.04 1.16Elternschaft + 1.29*** 1.36*** 1.23***Alter - 1,82-1*** 1.30-1*** 1.13BIK-Gemeindegröße + 1.31*** 1.27*** 1.06Mann ? 1.08-1 1.08-1 1.11-1

R2-Nagelkerke .307 .158 .070% fehlend 0,8 7,0 6,3M3:+ Wahlentscheidung Ost - 1.35-1*** 1.09-1

Wahl links ? 1.14-1 1.28** 1.18R2-Nagelkerke .323 .200 .111% fehlend 36,1 33,7 34,2

H=Hypothese. M=Modell. Zur Vergleichbarkeit mit den positiven Standardkoeffizienten sind die nega-tiven als Kehrwert dargestellt. – *** p<,001, ** p<,01, * p<,05. 1979: n=2007, 2005: n= 2315 gewichtet.

Im Modell 2 steigt zu beiden Zeitpunkten die Bekanntheit wie erwartet mit dem politi-schen Interesse, dem Bildungsniveau, der Elternschaft sowie der Gemeindegröße an undgeht mit dem Alter zurück; das Geschlecht hat keine Bedeutung. Die Motivation hat alles inallem einen stärkeren Einfluss als die Betroffenheit und die Gelegenheiten. Die Stichprobenzur Bewertung der Gesamtschule sind also wie erwartet nach allgemeinen Strategien der In-formationssuche selektiv. Diese Selektivität geht weiterhin zwischen 1979 und 2005 – wiedie R2-Werte zeigen – um die Hälfte zurück. Das ist gut erklärbar: Wenn die Bekanntheitsich der Obergrenze nähert, muss der Einfluss aller Unterschiede zurückgehen.

5 Für den Vergleich zwischen den Spalten dieser und aller folgenden Tabellen sind Roh-Regressions-koeffizienten einschlägig. Da aber die Varianzen der unabhängigen Variablen gleich bleiben und dieVarianzen der Zielvariablen sich nur geringfügig unterscheiden, können die standardisierten Koeffi-zienten hier nicht nur über Zeilen, sondern auch über Spalten verglichen werden. Auf die Darstel-lung der Roh-Regressionskoeffizienten kann zu Gunsten einer größeren Übersichtlichkeit verzichtetwerden.

Chanceneröffnung und Chancenausgleich 149

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In Modell 3 verändern sich die Effekte der allgemeinen Strategien der Informationssuchenicht und sind deshalb nicht erneut dargestellt. Die Wahl einer linken Partei hingegen hatzwar 1979 keinen signifikanten, aber 2005 einen signifikant positiven Effekt auf die Bekannt-heit.6 Die Selektivität steigt 2005 nicht nur mit dem politischen Interesse, sondern auch mitder politischen Interessenlage an, sie verliert ihre Neutralität und wird politisiert. Die Politi-sierung verstärkt zugleich die Selektivität 2005: Die R2-Werte steigen zwischen Modell 2und Modell 3 von.158 auf.200 an; wird Modell 2 allerdings mit der reduzierten Befragten-zahl des Modells 3 berechnet, so steigen die R2-Werte nur von.184 auf.200 an, und der R2-Wert für ein Modell allein mit der Linkswahl beträgt.024. Grob geschätzt ist 2005 also einZehntel der Selektivität politisch. Trotz der Politisierung aber geht die Selektivität der Be-kanntheit insgesamt – wie die R2-Werte des Modells 3 zeigen – zwischen 1979 und 2005 umein Drittel zurück. Insgesamt ist also die wachsende Bekanntheit von einer starken und einerschwachen Tendenz begleitet: die Selektivität geht zurück und wird politisiert.

Gesamt- und Ganztagsschule in West- und Ostdeutschland 2005Die Bekanntheit der beiden Schulformen 2005 wird in der zweiten und dritten Spalte analy-siert, in der alle drei Modelle betrachtet werden.

In der zweiten Spalte prüft der Regressionskoeffizient Ost des Modells 1 die Differenz derProzentsätze statistisch: Die Gesamtschule ist in Ostdeutschland weniger bekannt. In Modell2 geht dieser Effekt nicht zurück, sondern wächst leicht. Die für die Bekanntheit günstigenEinflüsse sind in Westdeutschland insgesamt schwächer; wären sie so stark wie in Ostdeutsch-land, dann wäre der westdeutsche Vorsprung noch größer. In Modell 3 wächst der westdeut-sche Vorsprung noch einmal leicht an. Die Wahl linker Parteien steigert 2005 die Bekannt-heit der Gesamtschule und linke Parteien werden in Westdeutschland seltener gewählt; wür-den sie so häufig wie in Ostdeutschland gewählt, so würde der westdeutsche Vorsprung einzweites Mal wachsen. Wie das Wachstum der Bekanntheit in Westdeutschland ist der Lan-desteilunterschied politisiert.

In der dritten Spalte prüft der Regressionskoeffizient Ost des Modells 1 die Differenz derProzentsätze statistisch: Die Ganztagsschule ist in beiden Landesteilen gleich bekannt. Dasgilt auch in Modell 2 und Modell 3. Die allgemeinen Strategien der Informationssuche ha-ben – aufgrund ihrer Allgemeinheit erwartbar – die gleichen Einflüsse wie bei der Gesamt-schule: Wiederum ist die Motivation stärker als Betroffenheit und Gelegenheiten. Allerdingshängt die Bekanntheit der Ganztagschule nicht von der Wahl einer linken Partei ab.7 Sie istnicht politisiert. Sie ist zudem – wie die R2-Werte zeigen – weniger selektiv als die Bekannt-heit der Gesamtschule.

Die Selektivität der Bekanntheit hängt also für beide Schulformen in gleicher Weise vonallgemeinen Strategien der Informationssuche, aber nur für die Gesamtschule auch von derpolitischen Interessenlage ab. 2005 ist die Gesamtschule eher auf der Linken bekannt. Wenn– was im nächsten Abschnitt geprüft wird – die linke politische Selbstverortung eine günsti-ge Bewertung der Gesamtschule mit sich bringt, könnte die positive Bewertung der Gesamt-schule 2005 überschätzt und die Entwicklung seit 1979 als zu günstig beurteilt werden.

3.3

6 2005 wurden auch die Links-Rechts-Einordnung und die Parteipräferenz erhoben; werden sie stattder Wahlentscheidung in Modell 3 als Prädiktoren eingesetzt, so hat die Identifikation mit der Lin-ken den gleichen signifikanten Effekt.

7 Wird die Links-Rechts-Einordnung oder die Parteipräferenz an Stelle der Wahlentscheidung einge-setzt, hängt die Bekanntheit der Ganztagsschule ebenfalls nicht von der politischen Interessenlage ab.

150 Heiner Meulemann

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Bewertung der Gesamtschule in Westdeutschland 1979-2005 sowie in West-und Ostdeutschland 2005

AggregatebeneDie Bewertung der Gesamtschule in Westdeutschland 1979 und 2005 ist in der linken Hälfteder Abbildung 1 dargestellt. Zur Chancengleichheit geht die positive Einschätzung geringfü-gig zurück, aber die negative Einschätzung, Keine Begabtenförderung, nimmt deutlich zu.Zur Organisationseffizienz geht die negative wie die positive Einschätzung minimal zurück,so dass sich insgesamt nichts ändert. Die durchschnittliche und die Globalbewertung gehenebenfalls leicht zurück. Bei den metrischen Variablen sind F-Tests des Zeitunterschieds nurfür Keine Begabtenförderung (p<.001, Eta=.126) und den Durchschnitt (p<.01, Eta=.052) si-gnifikant mit nennenswertem Effekt. Die Konkurrenzhypothese wird also im Durchschnittund schwach, aber im charakteristischen Kriterium Keine Begabtenförderung deutlich undstark bestätigt. Wie vermutet, bedroht die Gesamtschule durch die Suspension der Entschei-dung über die Höhe der Schullaufbahn den stärker gewordenen Wunsch, dem eigenen Kindfrühzeitig einen Zugang zu höheren sozialen Positionen zu garantieren, den das dreigliedrigeSchulwesen bei oft geringen Hürden des Zugangs zum Gymnasium bedient. Deshalb bringtdas positive Ziel des Chancenausgleichs der Gesamtschule keinen Gewinn, aber seine mut-maßliche negative Folge einen herben Verlust an Sympathie.

Abbildung 1: Bewertung der Gesamtschule in Westdeutschland 1979-2005 und in Ostdeutsch-land 2005: Mittelwerte (Auszug aus 5 Punkte-Skala von -2 bis 2) der Bevölkerung, der dieGesamtschule bekannt ist

0

0,1

0,2

0,3

0,4

0,5

0,6

0,7

0,8

0,9

1

West 1979 West 2005 Ost 2005

����������+����,�������

-���������������

���./'�� ����'�������������������0���� �������1��������'��,)������

�����$����2� ��������3(������������������������������������������������������������������(�����������������������������������������������������������������4(�

Die Standardabweichungen der vier Einzelbewertungen sind in Abbildung 1 nicht darge-stellt. Sie sind 1979 (zwischen 1.10 und 1.14) und 2005 (zwischen 1.35 und 1.48) nahezugleich, steigen aber zwischen 1979 und 1985 deutlich und durchgängig an. Obwohl also dieBewertung im Durchschnitt überwiegend konstant bleibt, wird sie zunehmend strittiger.

4

4.1

Chanceneröffnung und Chancenausgleich 151

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Die Bewertung der Gesamtschule durch West- und Ostdeutsche 2005 ist in der rechtenHälfte der Abbildung 1 dargestellt. Wie in der Egalitarismushypothese vermutet, bewertendie Ostdeutschen die Gesamtschule deutlich günstiger als die Westdeutschen: Sie stimmenden positiven Aussagen häufiger und den negativen Aussagen seltener zu; und sie bewertendie Gesamtschule im Durchschnitt und global besser. Bei den metrischen Variablen sind alleUnterschiede im F-Test auf dem 0,1 %-Niveau signifikant mit Eta-Werten von.14 für Chan-cengleichheit,.08 für Keine Begabtenförderung,.17 für Vereinfachung,.09 für Unübersehbarund.15 für den Durchschnitt. Die Unterschiede zwischen den Landesteilen 2005 sind also –mit Ausnahme von Keine Begabtenförderung – deutlich größer als die Veränderungen inWestdeutschland zwischen 1979 und 2005. So wie die Ostdeutschen Gleichheit als Bauprin-zip einer Gesellschaft überhaupt stärker unterstützen, so unterstützen sie auch die Gesamt-schule als ein Mittel zur Erhöhung der Chancengleichheit stärker als die Westdeutschen.

PersonebeneUm zu prüfen, ob diese Aggregatunterschiede durch unterschiedliche Zusammensetzungender Stichproben bedingt sind, wurden die Indizes der Chancengleichheit und der organisato-rischen Effizienz sowie die Globalbewertung als Zielvariable von Regressionen eingesetzt.In der Gesamtdatei beider Zeitpunkte korreliert der Index Chancengleichheit mit dem Indexorganisatorische Effizienz r=.59 und mit der Globalbewertung r=.66; der Index organisatori-sche Effizienz korreliert mit der Globalbewertung r=.56. Chancengleichheit hat also in derGlobalbewertung ein etwas größeres Gewicht als organisatorische Effizienz. Diese Korrela-tionen unterscheiden sich nicht zwischen Zeitpunkten und Landesteilen.

Die drei Zielvariablen wurden auf diejenigen Variablen zur Unterstützung von Chancen-gleichheit, zur politischen Selbstverortung, zum sozialen Status und zum familienzyklischenStatus regrediert, die sowohl 1979 wie 2005 erhoben wurden. Die Indizes Chancengleichheitund organisatorische Effizienz wurden in metrischen Regressionen, die Globaleinschätzungwurde in logistischen Regressionen mit multiplikativen Effekten analysiert; beide Regressio-nen sind in Tabelle 2 dargestellt. Wegen des hohen Anteils fehlender Werte werden Regres-sionen ohne und mit der Wahlentscheidung als Prädiktor berechnet. Auch in den Regressio-nen der Indizes Chancengleichheit und Organisation ohne die Wahlentscheidung ergebensich 12,4 % fehlende Werte; der entsprechende Prozentsatz liegt in der Regression der Glo-balbewertung mit 23,8 % noch höher, weil die Zielvariable hier noch mehr fehlende Werteaufweist.

4.2

152 Heiner Meulemann

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Tabelle 2: Regression der Bewertung der Gesamtschule auf Einstellungen zur Chancengleich-heit, politische Selbstverortung und Status in Westdeutschland 1979 und 2005 und in Ost-deutschland 2005: Standard-Koeffizienten

Chancengleichheit Organisation GlobalVariablen H Ohne Mit Ohne Mit Ohne MitChancengleichheit realisiert + .06*** .10*** .04 .07** 1.09* 1.21***Wahl linker Partei + .18*** .1*** 1.51***Bildung - -.11*** -.10*** -.09*** .10*** 1.22-1*** 1.15-1**Vor Elternschaft 0 -.01 -.00 -.03 -.01 1.06-1 1.02-1

Eltern 0 -.01 -.02 -.02 -.03 1.11-1 1.14-1

Erfahrung über Kinder .08*** .08*** .03 .03 1.35*** 1.32***K1: -1913 (nur 1979) -.08*** -.09*** -.09*** .09*** 1.32*** 1.19-1**K2: 1914-1933 -.04 -.03 -.01 .03 1.11-1 1.08-1

K3: 1934-1948 -.07* -.03 -.01 .05 1.12-1 1.07-1

K5: 1960-1974 (nur 2005) -.02 .02 .01 .04 1.02 1.15*K6: 1975+ (nur 2005) -.07* -.05 -.00 .02 1.02-1 1.05-1

Mann -.07*** -.07** -.02 -.02 1.08-1 1.10-1

Erwerbstätig voll .00 -.01 -.00 -.01 1.01-1 1.09-1

Erwerbstätig halb .01 -.00 -.03 -.03 1.05 1.04-1

Ortsgröße .05** .03 .04* .01 1.15** 1.051979 .12** .17*** .03 .05 1.14* 1.27***Ost .14*** .09*** .12*** .10*** 1.52*** 1.44***R2 (bzw. R2 Nagelkerke) .053 .085 .030 .050 .091 .128% gültig 87,6 60,8 87,6 60,8 76,2 53,4

H=Hypothese. K=Kohorte. Ohne / Mit: Linkswahl. Basis für Kohorten: K4: 1949-1959. Zur Vergleich-barkeit mit positiven multiplikativen Standardkoeffizienten negative als Kehrwert. – % gültige Wertevon gewichtetem n=3146, denen Gesamtschule bekannt. – *** p<,001, ** p<,01, * p<,05.

Die Regressionen der Bewertung nach Chancengleichheit in der ersten und zweiten Spaltewerden zuerst ausführlich dargestellt und dann kurz mit den Regressionen der beiden ande-ren Zielvariablen verglichen. Die Variablen, für die Hypothesen formuliert wurden, findensich im ersten Zeilenblock. In der Regression ohne den Prädiktor Wahlentscheidung in derersten Spalte steigt die Bewertung nach Chancengleichheit mit der Einschätzung realisierterChancengleichheit; sie fällt mit dem sozialen Status, also dem Bildungsniveau.8 In der Re-gression mit dem Prädiktor Wahlentscheidung in der zweiten Spalte hat die Wahl linker Par-teien einen positiven Einfluss. Affinitäts-, Links- und Abwehrhypothese werden also bestä-tigt. Von diesen drei Einflüssen ist die politische Selbstverortung deutlich stärker als die ide-elle Affinität und die interessenbedingte Abwehrhaltung. Wenn aber die linke politischeSelbstverortung der Gesamtschule Sympathien einbringt, dann wird das Ergebnis aus Ab-schnitt 3 bedeutsam, dass die Bekanntheit der Gesamtschule zwischen 1979 und 2005 poli-tisch selektiv geworden ist: Der Sympathieverlust der Gesamtschule wäre größer, wenn sie

8 Zusätzlich wurden auch der Berufsstatus und das Einkommen als Prädiktor eingesetzt. Der Einflussder Bildung wurde dadurch nicht verringert und war stärker als der Einfluss des Berufsstatus, wäh-rend das Einkommen keinen Einfluss hatte. Aber die Stichproben wurden dadurch auf Erwerbstätigeverkleinert. Die Bildung erfasst also den Einfluss des Status entscheidend, so dass Analysen mit wei-teren Indikatoren nicht berichtet werden müssen.

Chanceneröffnung und Chancenausgleich 153

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auch 2005 bei der politisch Rechten, die ihr skeptisch gegenübersteht, noch so bekannt wärewie bei der Linken. In beiden Regressionen ist die Bewertung der Gesamtschule nach Chan-cengleichheit weiterhin unabhängig vom familienzyklischen Status. Auch die Betroffenheits-hypothese wird bestätigt. Insgesamt wird die Gesamtschule nach politischen Interessenla-gen, aber nicht nach privatem Bedarf beurteilt.

Die Variablen, für die keine Hypothesen formuliert wurden, finden sich im zweiten Zeilen-block. Die Erfahrungen mit der Gesamtschule – unmittelbar über Kinder oder mittelbar alsKohortenzugehörigkeit – haben in beiden Regressionen weitgehend den gleichen Einfluss.Wer mit der Gesamtschule Erfahrung über Kinder hat, bewertet sie günstiger. Die Erfahrungist also im Saldo positiv. Aber sie hat weniger Einfluss als die bildungspolitische Einstellungund die politische Interessenlage. Sie ist ein zusätzlicher vorpolitischer Maßstab, der erstnach politischen Ideen und Interessenlagen zum Zuge kommt. Die Kohortenzugehörigkeithat schwach einen umgekehrt U-förmigen Einfluss. Die älteste und die jüngste Kohorte be-werten die Gesamtschule am schlechtesten, die mittleren Kohorten 4 und 5 am besten; fürKohorte 3 sind die Ergebnisse nicht einheitlich in beiden Regressionen. Die Skeptiker fin-den sich also bei den Alten, die die politischen Auseinandersetzungen um den Ersatz des drei-gliedrigen Schulwesens durch die Gesamtschule in den 70er Jahre erlebt haben, und bei denJungen, die die Gesamtschule in der Konkurrenz mit dem dreigliedrigen Schulwesen erle-ben. – Von den demographischen Kontrollvariablen hat nur das Geschlecht einen durchgän-gigen Einfluss: Männer bewerten die Gesamtschule schlechter als Frauen.

Die zu überprüfenden Aggregatvariablen schließlich finden sich im dritten Zeilenblock.Auch bei Kontrolle aller genannten Einflüsse wird die Gesamtschule in Westdeutschland1979 günstiger als 2005 bewertet; der Einfluss wird bei Kontrolle der Wahl linker Parteienstärker, weil in unseren Stichproben die Wahl linker Parteien mit dem Effekt 1979 negativkorreliert (also 1979 seltener war) und den Effekt 1979 statistisch unterdrückt hat. Der Rück-gang wird also unterschätzt, weil zwischen 1979 und 2005 linke politische Selbstverortun-gen zugenommen haben, die „eigentlich“ eine stärkere Unterstützung der Gesamtschule hät-ten hervorrufen müssen. Weiterhin wird die Gesamtschule 2005 in Ost- günstiger als in West-deutschland bewertet; der Ost-West-Unterschied wird bei Kontrolle der Wahl linker Parteienschwächer, weil die Wahl linker Parteien in Ostdeutschland häufiger ist und als erklärendeVariable für den Effekt Ost wirkt. Der ostdeutsche Vorsprung wird also überschätzt, weil erzu einem Teil dadurch bedingt ist, dass in Ostdeutschland sich mehr Personen der politischLinken zurechnen.

Die Bewertung der Gesamtschule nach Chancengleichheit lässt sich insgesamt – wie dieR2-Werte zeigen – nur schwach erklären. Aber die Erklärbarkeit steigt um zwei Drittel an,wenn die Wahl linker Parteien zu den Prädiktoren hinzukommt.9 Wie die Regressionskoeffi-zienten belegen auch die R2-Werte, dass die Gesamtschule als Mittel zur Chancengleichheitnach politischen Konfliktlinien stärker als nach Ideen und Interessenlagen beurteilt wird, diehinter den politischen Konfliktlinien stehen.

Die Regressionen der Bewertung nach organisatorischer Effizienz und der Globalbewer-tung sind in der dritten und vierten bzw. fünften und sechsten Spalte dargestellt. Beide Be-wertungen hängen in der gleichen Weise wie die nach Chancengleichheit von den Prädikto-ren ab. Die Bewertung nach organisatorischer Effizienz ist – wie die R2-Werte zeigen –schlechter zu erklären als die Bewertung nach Chancengleichheit.

9 Das gilt auch, wenn beide Regressionen auf der gleichen Basis berechnet werden. Das R2 für die Re-gression Ohne beträgt dann.055 und die Koeffizienten verändern sich nicht wesentlich. Weiterhinwird das R2 der Regression Mit durch eine Korrektur für den zusätzlichen Freiheitsgrad nur geringfü-gig auf.077 reduziert. – Entsprechendes gilt für die beiden anderen Zielvariablen.

154 Heiner Meulemann

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ZusammenfassungDie Aggregatergebnisse bleiben auch bei Kontrolle der Personmerkmale bestehen. Aber siewerden durch den positiven Einfluss der linken politischen Orientierung auf die Bewertungder Gesamtschule modifiziert.

Das gilt erstens für die Konkurrenzhypothese: Die Gesamtschule verliert in Westdeutsch-land Anhänger. Aber dieser Sympathieverlust ist stärker, als die Prozentwerte anzeigen.Denn gleichzeitig hat zwischen 1979 und 2005 in unseren Stichproben die Wahl linker Par-teien zugenommen und den Sympathieverlust abgemildert. Zudem hat sich – wie in Ab-schnitt 3 gezeigt – der Hintergrund der Bekanntheit verändert: Die Gesamtschule war 1979in allen politischen Lagern gleich, 2005 aber eher unter politisch Linken bekannt, so dass2005 ihre Bewertung günstiger eingeschätzt und ihr Sympathieverlust abgemildert wurde.

Das gilt zweitens für die Egalitarismushypothese: Die Gesamtschule hat in Ostdeutsch-land mehr Anhänger. Aber dieser Vorsprung ist weniger stark, als die Prozentwerte anzei-gen. Weil die Wahl linker Parteien in Ostdeutschland häufiger ist, wird der Landesteilunter-schied überschätzt.

Auf der Personebene gilt für alle drei Zielvariablen zweierlei. Erstens: Die Gesamtschuleschneidet besser bei denen ab, die den Wert der Chancengleichheit unterstützen und linkeParteien wählen, und schlechter bei denen, die besser ausgebildet sind; und ihre Bewertungist unabhängig vom Familienzyklus. Affinitäts-, Links-, Abwehr- und Betroffenheitshypothe-se werden bestätigt. Zweitens: Die Wahl linker Parteien hat den stärksten Einfluss und über-trifft den Einfluss der Bildung. Die Links- fährt besser als die Abwehrhypothese. Die politi-sche ist stärker als die soziale Konfliktlinie.

Bewertung der Ganztagsschule im Vergleich mit der Gesamtschule inWest- und Ostdeutschland 2005

AggregatebeneDie Bewertung der Ganztagsschule ist in Abbildung 2 dargestellt. Die Ostdeutschen bewer-ten die Ganztagsschule nach Chancengleichheit (p<=.001; Eta=.09) und Förderung (p<=.001; Eta=.09) günstiger; die Westdeutschen nach der praktischen Entlastung der einzelnenFamilie: Müttererwerbstätigkeit (p<=.001; Eta=.129) und Elternentlastung (p<=.001; Eta=.102). In der ideellen Sicht auf das Verhältnis von Elternhaus und Schule – Familienschwä-chung und Staatsstärkung – wird die Ganztagsschule in beiden Landesteilen gleich bewertet(beide p>.10). Den Ostdeutschen ist die Ganztagsschule eher wichtig, weil sie die Schule ver-bessert, den Westdeutschen, weil sie die Familie entlastet; für die Ostdeutschen ist die Ganz-tagsschule eher ein Instrument der Bildungspolitik, für die Westdeutschen eher ein Instru-ment der Familienpolitik; für die Ostdeutschen bringt die Ganztagsschule eher Chancen-gleichheit, für die Westdeutschen eher Lebenserleichterung. Allerdings gleichen sich die Un-terschiede insgesamt aus, wie die Durchschnittswerte (p>.10) und die Globalbewertung zei-gen. Die Egalitarismushypothese wird also insgesamt nicht bestätigt.

4.3

5

5.1

Chanceneröffnung und Chancenausgleich 155

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Abbildung 2: Bewertung der Ganztagsschule in West- und Ostdeutschland 2005: Mittelwer-te (Auszug aus 5 Punkte-Skala von -2 bis 2) der Bevölkerung, der die Ganztagsschule be-kannt ist

Chancengleichheit

Förderung

Elternentlastung

Müttererwerbs-tätigkeit

Familienschwächung

Staatsstärkung

Durchschnitt

-0,5

0

0,5

1

1,5

2West 2005 Ost 2005

Gute Sache % 82 85

Augenfälliger als die Unterschiede sind die Gemeinsamkeiten der Einstellungen zur Ganz-tagsschule in beiden Landesteilen: Die Ganztagsschule wird in erster Linie positiv bewertet,weil sie die Familie entlastet. Darüber, dass sie die Müttererwerbstätigkeit erleichtert und El-tern entlastet, besteht – bei dem Höchstwert der Skala von 2 – nahezu Konsens. Weitaus we-niger – um fast einen Skalenpunkt – wird die Ganztagsschule aus den bildungspolitischenGründen der Chancengleichheit und der Förderung positiv bewertet. Und noch weniger –um wiederum fast einen Skalenpunkt – wird befürchtet, dass die Ganztagsschule die Familiezurückdrängt. Die Bewertungen haben also ein scharfes Profil: Die Ganztagsschule hilft derFamilie mehr, als dass sie die Schule verbessert; und sie schwächt die Familie nicht. DieGanztagsschule ist in den Augen der Bevölkerung mehr familienpolitisches als bildungspoli-tisches Instrument; sie wird mehr als sozialpolitische Leistung des Staates denn als bildungs-politische Reform gefordert. Es geht mehr um die Eltern als um die Schüler. Die Schule sollbleiben, wie sie ist – und angenehmer werden für die Familie.

Die Standardabweichungen der sechs Einzelbewertungen sind in Abbildung 2 nicht darge-stellt. Sie sind in den Landesteilen nahezu gleich, unterscheiden sich aber zwischen den Be-wertungen. Sie sind für Müttererwerbstätigkeit (.69) und Elternentlastung (.85) am niedrigs-ten, für Chancengleichheit (1.06) und Förderung (1.04) höher, für Familienschwächung(1.18) und Staatsstärkung (1.15) am höchsten. Die Standardabweichungen sind also bei denhöchsten Mittelwerten am kleinsten und bei den Mittelwerten im Mittelbereich der Skala amgrößten; ihre Unterschiede spiegeln wenigstens z.T. einen Dacheffekt.

Ein Vergleich der west- und ostdeutschen Mittelwerte für 2005 zwischen Abbildung 1und Abbildung 2 zeigt, dass die Bewertungen der Gesamtschule viel enger – zwischen 0 und1 – beieinander liegen als die Bewertungen der Ganztagsschule – zwischen -0.3 und 1.6. Zu-gleich sind die Standardabweichungen der Bewertungen der Gesamtschule im Schnitt größer

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als die der Bewertungen der Ganztagsschule. Der mit der Gesamtschule angestrebte Chan-cenausgleich provoziert unter bildungspolitischen wie organisatorischen Gesichtspunkten zu-gleich Zustimmung und Ablehnung, so dass sich die Mittelwerte in einem engen Bereich mitgroßen Standardabweichungen bewegen. Die durch die Ganztagsschule versprochene Chan-ceneröffnung findet als Entlastung der Familie fast einhellige Zustimmung, als bildungspoli-tische Neuerung deutliche Zustimmung und als Beeinträchtigung der Familie so gut wie kei-ne Ablehnung, so dass die Mittelwerte ein klares Profil mit geringen Standardabweichungenbilden. Die Gesamtschule ist strittig, die Ganztagsschule Konsens.

Die Bewertungen beider Schulformen in Gesamtdeutschland 2005 ergeben sich als mit4:1 gewichtete Mittel der in Abbildung 1 und 2 dargestellten Werte. Der Durchschnitt liegtfür die Gesamtschule bei 0.11 und für die Ganztagsschule bei 0.76; als gute Sache wird dieGesamtschule von 56 % und die Ganztagsschule von 83 % aller Deutschen angesehen. DieBewertung der Chancengleichheit durch die Gesamtschule liegt bei 0.50, die Bewertung derChancengleichheit durch die Ganztagsschule bei 0.67. Die Ablehnung der Aussage, dass dieGesamtschule Begabte nicht genügend fördert, liegt bei -0.31,10 die Zustimmung zur Aussa-ge, dass die Ganztagsschule zum größeren Lernerfolg beiträgt, bei 0.65. In allem Fällen alsowird die Differenzhypothese bestätigt.

PersonebeneDie unterschiedlichen Einflüsse der Personmerkmale auf die Bewertung beider Schulformenkann nur an den Aussagen untersucht werden, die für beide Schulformen gleich formuliertwaren: der Einzelaussage zur Chancengleichheit und der Globalbewertung. Die metrischebzw. logistische Regression dieser beiden Bewertungen der Ganztagsschule und der Gesamt-schule auf Einstellungen zur Chancengleichheit, politische Selbstverortung, sozialen Statusund familienzyklischen Status ist in Tabelle 3 dargestellt. 2005 können zwei Einstellungenzum Chancenausgleich – Schulwesen stärken und Startbedingungen ausgleichen – und zweiEinstellungen zur Chanceneröffnung – Chancengleichheit realisiert und Zustand Bildungswe-sen gut – als Prädiktoren eingesetzt werden. Weiterhin kann die politische Selbstverortungauf der Links-Rechts-Skala erhoben werden, so dass die fehlenden Werte sich erheblich re-duzieren. Schließlich kann bei der Betrachtung nur eines Zeitpunkts das Alter metrisch dar-gestellt werden.

5.2

10 Das negative Vorzeichen ergibt sich daraus, dass in Abbildung 1 die Zustimmung dargestellt ist, zuder sich die Ablehnung spiegelbildlich verhält.

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Tabelle 3: Regression der Bewertung der Ganztagsschule und der Gesamtschule auf Einstel-lungen zur Chancengleichheit, politische Selbstverortung und Status 2005: Standard-Koeffi-zienten

Hypothesen Ganztagsschule GesamtschuleVariablen Ganz Gesa Changl. Global Changl. GlobalSchulwesen stärken + ++ .11*** 1.47*** .08*** 1.10Startbedingungen ausgleichen + ++ .03 1.20* .02 1.06Chancengleichheit realisiert ++ + .07** 1.01-1 .10*** 1.01Zustand Bildungswesen gut ++ + .01 1.04 .07** 1.12Linke politische Selbstverortung + ++ .06* 1.37*** .12*** 1.32***Bildung 0 - -.06* 1.01-1 -.10*** 1.18-1**Vor Elternschaft + 0 .01 1.25-1 -.07 1.18-1

Eltern + 0 .02 1.04-1 .03 1.11-1

Erfahrung über Kinder .04 1.36** .09*** 1.40***Alter -.02 1.17 -.06 1.14-1

Mann -.05 1.01-1 -,09*** 1.09-1

Erwerbstätig voll -.02 1.14 -.02 1.01-1

Erwerbstätig halb -.03 1.06 -.03 1.03-1

Ortsgröße .01 1.03 .03 1.02.Ost .06* 1.07 .16*** 1.65***R2 (bzw. R2 Nagelkerke) .034 .065 .095 .095% gültige Werte 77,5 61,5 75,7 69,1

Zur Vergleichbarkeit mit positiven multiplikativen Standardkoeffizienten negative als Kehrwert. % gül-tige Werte von gewichtetem n=1931 und n=1762, denen Gesamtschule bzw. Ganztagsschule bekannt. –*** p<,001, ** p<,01, * p<,05.

Die Bewertung der Ganztagsschule ist in der ersten und zweiten Spalte dargestellt. Siewird nur von einer der vier Einstellungen zur Chancengleichheit durchgängig positiv be-stimmt: dem Wunsch, den Einfluss des Schulwesens auf den Schulerfolg zu stärken. DieAffinitätshypothese wird also nur sporadisch bestätigt. Eine linke politische Selbstverortungsteigert die Bewertung der Gesamtschule durchgängig, so dass die Linkshypothese bestätigtwird. Aber das Bildungsniveau senkt nicht und die Elternschaft steigert nicht die Bewertung,so dass weder Abwehr- noch Betroffenheitshypothese bestätigt werden. Von den Kontrollva-riablen hat keine einen durchgängigen Einfluss. Schließlich sind auch die Landesteilunter-schiede gering und nur für die Bewertung nach Chancengleichheit signifikant, so dass dieEgalitarismushypothese auch bei Kontrollen insgesamt nicht bestätigt wird. Insgesamt ist –wie die R2-Werte zeigen – die Bewertung der Ganztagsschule nur schwach erklärbar.

Die Bewertung der Gesamtschule, die bereits in Tabelle 2 analysiert wurde, wird zur Prü-fung der Hypothesen über unterschiedliche Einflüsse auf beide Schulformen in der drittenund vierten Spalte der Tabelle 3 noch einmal mit dem erweiterten Prädiktorsatz analysiert.Die Affinitätshypothese, dass die Ganztagsschule eher nach Einstellungen zur Chanceneröff-nung, die Gesamtschule eher nach Einstellungen zum Chancenausgleich positiv bewertetwird, bestätigt sich nicht. Die Linkshypothese, dass eine linke politische Selbstverortung derGesamtschule stärker freundlich stimmt als der Ganztagsschule, bestätigt sich ebenfallsnicht. Die Abwehrhypothese wird insoweit bestätigt, als Bildung eine stärkere Abneigung ge-gen die Gesamtschule als gegen die Ganztagsschule hervorruft. Schließlich wird die Betrof-fenheitshypothese, dass Elternschaft der Ganztagsschule stärker freundlich stimmt als der Ge-

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samtschule, nicht bestätigt. Insgesamt unterscheiden sich die Einflüsse auf die Bewertung bei-der Schulformen weniger als erwartet. Aber die Erklärungskraft aller Prädiktoren ist – wiedie R2-Werte zeigen – für die Gesamtschule höher als für die Ganztagsschule. Wiederumgilt: Die Gesamtschule ist stärker kontrovers als die Ganztagsschule.

ZusammenfassungFür die Ganztagsschule wurde die Egalitarismushypothese nicht bestätigt: Die Ostdeutschenbewerten die Ganztagsschule nicht besser. Im Vergleich beider Schulformen wurde die Dif-ferenzhypothese bestätigt: Die Gesamtschule wird schlechter bewertet als die Ganztagsschule.

Die Einflüsse auf die Bewertung beider Schulformen lassen sich in zwei Punkten zusam-menfassen. Erstens: Sie sind nicht wie erwartet unterschiedlich, sondern überwiegend ähn-lich profiliert. Zweitens: Für die Bewertung beider Schulformen ist die politische Selbstver-ortung der stärkste Prädiktor – stärker als der Prädiktor Bildung. Wiederum fährt die Links-besser als die Abwehrhypothese. Wiederum ist die politische bedeutsamer als die soziale Kon-fliktlinie.

Fazit: Chancenausgleich als Einschränkung der ChanceneröffnungDie Gesamtschule verliert also an Sympathie und ist heute weniger beliebt als die Ganztags-schule. Denn gerade ihr Ziel des Chancenausgleichs macht sie weniger beliebt als das drei-gliedrige Schulwesen und die Ganztagsschule, die beide versprechen, Chancen zu eröffnen.

Während die Gesamtschule Lebenschancen erst am Ende der Sekundarschulzeit zuweist,legen die chancenreichen Zweige des dreigliedrigen Schulwesens Lebenschancen schon mitdem Übergang vorläufig fest. Während die Gesamtschule die Konkurrenz um Lebenschan-cen durch die innere Differenzierung nach Leistungskursen über die ganze Sekundarschul-zeit dramatisiert, spielt das dreigliedrige Schulwesen sie durch die Vorauswahl nach einerpunktuell ausgewiesenen Leistung herunter. Das Bemühen um Chancenausgleich bringt derGesamtschule daher keine Sympathie, sondern den Vorwurf ein, „die begabten Kinder nichtgenügend zu fördern“. In der allgemeinen Expansion weiterführender Schulen scheint dasGymnasium neue Chancen zu eröffnen, die Gesamtschule aber neu eröffnete Chancen zunehmen. Die Chanceneröffnung, so fürchtet man, wird durch den Chancenausgleich frus-triert: Die Gesamtschule könnte die gestiegenen Chancen im Gymnasium wieder zurück-schrauben, wenn sie als Regelschule eingeführt und die Entscheidung über die Lebenschan-cen aller bis zum Ende der Sekundarstufe I suspendiert würde. Die politische Reform zumChancenausgleich kommt in der Bevölkerung als das Gegenteil der Chanceneröffnung an:als Beschneidung der Chancen, die die höheren Formen des dreigliederige Schulwesens wach-senden Bevölkerungsteilen zu eröffnen scheinen. Genau diesen Wunsch der Chanceneröff-nung aber bedient die Ganztagsschule, weshalb sie heute in der Bevölkerung die beliebtereSchulform ist.

Diese Erklärung der Aggregatunterschiede wirft zudem Licht auf das auffälligste Ergebniszu den Personeinflüssen: den Vorrang der politischen vor der sozialen Konfliktlinie, odervon Ideen vor Interessen. Sie macht einerseits den starken Einfluss der politischen Selbstver-ortung auf die Bewertung beider Schulformen verständlich. Wenn früher Reformen in derBevölkerung weitgehend begrüßt wurden, so sind sie heute alle Bildungsreformen politischstärker kontrovers geworden. Sie gibt anderseits dem relativ schwachen Einfluss des sozia-len Status ein besonderes Gewicht. Offenbar fürchten nicht nur privilegierte Schichten dieFrustration des Wunschs nach Chanceneröffnung, sondern auch die, die der Chancenaus-gleich begünstigen soll. Daher wird es nicht leicht sein, Unterstützung für die Gesamtschuleüber die Interessen unterer sozialer Status zu mobilisieren.

5.3

6

Chanceneröffnung und Chancenausgleich 159

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Der Sympathieverlust der Gesamtschule durch die Konkurrenz mit dem dreigliedrigenSchulwesen ist Beispiel für eine Regel. Unterstützung für eine politische Reform des Chan-cenausgleichs kann man nur so lange erwarten, als keine Alternativen offen stehen, in denenBegünstigte – und weniger stark auch nicht so ganz Begünstigte – sich dem Risiko des Ver-lusts entziehen können. Genau das versprechen die chancenreichen Formen des dreigliedri-gen Schulwesens allen – und können das Versprechen natürlich nicht für alle halten. Aberdavon sehen viele ab, die mit dem gewährten Startvorteil in den Wettbewerb um Chanceneintreten. Und die Erfahrung, dass der Startvorteil nicht auf Dauer garantiert war, kommt fürviele zu spät, um sich in Zustimmung für eine Gesamtschule ohne Konkurrenz durch alterna-tive Schulformen, also für einen Chancenausgleich, umzumünzen.

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Chanceneröffnung und Chancenausgleich 161

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Prof. Dr. Heiner MeulemannUniversität zu Köln

Forschungsinstitut für Soziologie (FIS)Greinstr. 2

50939 Kö[email protected]

162 Heiner Meulemann

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Arbeitszeitwunsch und -wirklichkeit im FamilienkontextEine Analyse der Diskrepanzen zwischen präferierter und tatsächlicher Arbeitszeit

Von Matthias Pollmann-Schult

Zusammenfassung: Der Beitrag analysiert Diskrepanzen zwischen dem erwünschten und demfaktischen Erwerbsumfang. Im Zentrum des Interesses steht dabei die Wirkung der familialen Si-tuation und der Erwerbskonstellation innerhalb des Haushalts auf den Wunsch zur Arbeitszeitre-duktion oder -ausweitung. Die Analysen auf Basis der Daten des Sozio-oekonomischen Panels(SOEP) zeigen, dass ein beträchtlicher Anteil der Erwerbstätigen die Arbeitszeit reduzieren möch-te. Bezüglich der familialen Situation werden geschlechterdivergente Effekte auf die Arbeitszeit-wünsche beobachtet. Während Mütter im Vergleich zu kinderlosen Frauen eher zur Reduktion derArbeitszeit neigen, wünschen Väter deutlich seltener eine Arbeitszeitverkürzung als Männer ohneKinder. Ferner zeigt sich, dass bestimmte Personengruppen, die überdurchschnittlich häufig unterZeitkonflikten leiden, wie allein erziehende Mütter und Väter in Doppelverdienerhaushalten, ver-gleichsweise selten ihre Arbeitszeit verkürzen möchten. Die Analysen legen nahe, dass Konfliktezwischen Beruf und Familie nicht zwangsläufig den Wunsch nach kürzeren Arbeitszeiten hervor-rufen, sondern die Wirkung solcher Zeitkonflikte auf die Arbeitszeitwünsche durch moderierendeFaktoren wie die ökonomischen Ressourcen des Haushalts sowie soziale Normen abgeschwächtoder verstärkt wird.

EinleitungWie die große Anzahl neuerer Publikationen zur „work-life balance“ zeigt, kommt der Ver-einbarkeit von Arbeit und Privatleben seit einigen Jahren eine wachsende Aufmerksamkeitzu. Dieses Thema ist nicht nur von akademischem Interesse, sondern gleichfalls für einenbeträchtlichen Anteil der Erwerbstätigen von hoher Relevanz: Bei jedem fünften Beschäftig-ten gerät das außerberufliche Leben aufgrund der Erwerbstätigkeit häufig unter Zeitdruck(Bauer et al. 2004). Erwartungsgemäß erfahren Eltern öfter Zeitkonflikte als kinderlose Per-sonen; so berichtet jede dritte vollzeitbeschäftigte Mutter akute Vereinbarkeitsprobleme.

Der Umstand, dass trotz der im historischen Vergleich relativ niedrigen Arbeitszeiten einzunehmender Anteil der Erwerbstätigen Zeitkonflikte empfindet, hat verschiedene Gründe.Eine mögliche Ursache für den wachsenden Zeitdruck wird in der Einführung neuer Arbeits-und Organisationsformen gesehen, die Veränderungen der Lage und Dauer von Arbeitszeitmit sich bringt (Jürgens 2005). Mit dem sich vollziehenden Wandel vom traditionellen Mo-dell der Normalarbeitszeit zu flexiblen Arbeitszeitmustern verbreiten sich zusehends atypi-sche Arbeitszeiten wie Abend-, Schicht- und Wochenendarbeit, wodurch die Vereinbarkeitvon Familie und Beruf erschwert wird. Zweitens hat sich das Arbeitsangebot der Haushaltein den letzten Jahrzehnten gravierend verändert. So nimmt der Anteil an Partnerschaften, indenen beide Partner erwerbstätig sind, stetig zu, wodurch sich die Zeitkonflikte verstärken,da die Gesamtzeit innerhalb einer Partnerschaft, die auf Hausarbeit und Kinderbetreuung ver-wendet werden kann, kontinuierlich sinkt. Drittens verzeichnen bestimmte Beschäftigten-gruppen gegenwärtig eine schleichende Verlängerung der Arbeitszeiten, woraus ebenfallsVereinbarkeitsprobleme resultieren. Zwar hat sich das durchschnittliche Arbeitsvolumen inden vergangen Jahrzehnten kaum verändert, jedoch sind Polarisierungstendenzen zu beob-achten, die sich in einer Zunahme von Erwerbstätigen mit niedrigen als auch sehr hohen Ar-beitszeiten äußern (Bosch 2000; Lehndorff 2003; Wagner 2001).

1

Soziale Welt 60 (2009), S. 163 – 178

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Die oben skizzierten Entwicklungen lassen erwarten, dass ein erheblicher Anteil der Be-schäftigten länger als eigentlich erwünscht arbeitet. Der vorliegende Beitrag geht der Fragenach, inwiefern die tatsächlichen Arbeitszeiten der Beschäftigten mit den gewünschten Ar-beitszeiten übereinstimmen, wobei insbesondere der Zusammenhang zwischen familialer Si-tuation sowie der Erwerbssituation des Haushalts einerseits und dem Wunsch zur Verände-rung der Arbeitszeit andererseits beleuchtet wird. Damit zielt dieser Beitrag darauf ab, zweibislang weitgehend unverbundene Forschungsstränge miteinander zu verknüpfen. Dies istzum einen die arbeitsmarkt- und familiensoziologische Forschung zur Vereinbarkeit von Fa-milie und Beruf, die häufig Zeitkonflikte konstatiert und daraus an die betriebliche Seite ge-richtete Forderungen nach familienfreundlicheren als auch kürzeren Arbeitszeiten ableitet(Bauer / Munz 2005; Garhammer 2004; Rürup / Gruescu 2005), jedoch häufig die tatsächli-chen Arbeitszeitwünsche der Beschäftigten unberücksichtigt lässt oder nur aggregiert betrach-tet. Zum anderen untersucht die ökonomische Arbeitsmarktforschung zwar die individuelleÜbereinstimmung von tatsächlicher und gewünschter Arbeitszeit, jedoch erfolgt die Ergeb-nisinterpretation primär in Hinblick auf die Passung von Arbeitsangebot und -nachfrage aufder Makroebene, woraus dann die Forderung nach attraktiveren Teilzeitarbeitsplätzen (Beck-mann / Kempf 1996) oder einer Arbeitszeitreduktion zur Schaffung neuer Arbeitsplätze (Grö-zinger et al. 2008) resultiert.

Weitgehend unberücksichtigt bleiben in diesen Studien die Determinanten der Nichtüber-einstimmung zwischen gewünschter und tatsächlicher Arbeitszeit. Insbesondere fehlen bis-lang Erkenntnisse darüber, inwiefern zeitknappe Haushaltskonstellationen den Wunsch nachkürzeren Arbeitszeiten fördern. Unabdingbar ist hier die Unterscheidung zwischen zeitbezo-genen und ökonomischen Faktoren: Einerseits verstärken aus der Familien- und Erwerbssi-tuation resultierende Zeitkonflikte den Wunsch nach kürzeren Arbeitszeiten, andererseitswird dieser Wunsch zur Arbeitszeitverkürzung durch die finanziellen Bedürfnisse des Haus-halts restringiert. Die gegensätzliche Wirkung verschiedener Faktoren auf die Arbeitszeit-wünsche kann dazu führen, dass bestimmte Erwerbstätige zwar erheblichen Zeitkonfliktenausgesetzt sind, aufgrund ihrer prekären finanziellen Situation ihre Arbeitszeit jedoch nichtreduzieren oder gar ausweiten möchten. Unklar ist ferner, ob Frauen und Männer in gleichar-tigen Kontexten ebenfalls ähnliche Arbeitszeitwünsche formulieren. Insbesondere stellt sichhier die Frage, ob geschlechtsspezifische Wirkungen der familialen Situation vorliegen. An-gesichts der zumeist traditionellen Arbeitsteilung ist etwa anzunehmen, dass Väter im Ver-gleich zu kinderlosen Männern seltener zur Arbeitszeitverkürzung oder zur Ausweitung derArbeitszeit neigen, wogegen bei Frauen im Zuge der Familiengründung der Wunsch zur Ar-beitszeitreduzierung zunimmt.

Aus Diskrepanzen zwischen der tatsächlichen und gewünschten Arbeitszeit ergeben sichsowohl für die Erwerbstätigen als auch für die Unternehmen vielfältige negative Folgen. Er-werbstätige, die deutlich länger arbeiten als sie eigentlich möchten, erfahren nicht nur gravie-rende Vereinbarkeitsprobleme zwischen dem Erwerbs- und dem Privatleben (Berg et al.2003; Moen / Dempster-McClain 1987; Reynolds 2005), sondern erleiden ebenfalls häufigergesundheitliche Probleme (Galinsky et al. 2001). Für die Unternehmen ergeben sich vermut-lich negative Produktivitätseffekte, wenn die tatsächliche Arbeitszeit signifikant von den Ar-beitszeitpräferenzen der Arbeitnehmer abweicht. So verzeichnen Erwerbstätige mit Diskre-panzen zwischen tatsächlichem und präferiertem Erwerbsumfang eine geringe Betriebsbin-dung und eine niedrige Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber (Stamper / Van Dyne 2001)sowie eine höhere Kündigungswahrscheinlichkeit (Böheim / Taylor 2004; Reynolds 2006).

Im folgenden Abschnitt werden zunächst theoretische Überlegungen zur Auswirkung indi-vidueller und arbeitsplatzbezogener Merkmale auf die Diskrepanz zwischen tatsächlicherund präferierter Arbeitszeit dargelegt. Hieran anschließend werden die Datenbasis und das

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methodische Vorgehen beschrieben (Abschnitt 3). Der vierte Abschnitt enthält die Ergebnis-se verschiedener Modellschätzungen zum Mismatch zwischen erwünschtem und tatsächli-chem Arbeitsvolumen. In einem Vorschritt werden die Folgen von Diskrepanzen zwischender gewünschten und der tatsächlichen Arbeitszeit für das subjektive Wohlbefinden analy-siert; konkret wird untersucht, inwiefern solche Diskrepanzen die Lebens- und Arbeitszufrie-denheit beeinflussen. Im fünften Abschnitt werden die Ergebnisse zusammenfassend kom-mentiert.

Determinanten der Diskrepanz zwischen erwünschtem und tatsächlichemArbeitsvolumen

Gemäß der Arbeitsangebotstheorie teilen Erwerbstätige die ihnen insgesamt zur Verfügungstehende Zeit nutzenmaximierend auf. Im einfachsten Fall besteht die Wahlmöglichkeit zwi-schen Zeit, die auf dem Arbeitsmarkt verkauft wird, und Zeit, die für Freizeit, Haus- undFamilienarbeit oder Bildung verwendet wird. Sowohl die für Marktarbeit verwendete Zeitals auch die nicht auf dem Arbeitsmarkt angebotene Zeit stiften einen Nutzen. Dies ist zumeinen das Erwerbseinkommen (bzw. die Güter, die hiermit erworben werden können) undzum anderen der Wert der Freizeit, der die Opportunitätskosten der Arbeit darstellt. Die prä-ferierte Arbeitszeit der Erwerbstätigen hängt somit von dem Nutzen ab, den eine Stunde stif-tet, die für Erwerbsarbeit oder Freizeit verwendet wird. Die Höhe des Nutzens einer zusätzli-chen Stunde an Erwerbsarbeit wird durch private Lebensumstände wie die familiale Situati-on als auch Eigenschaften des Arbeitsplatzes wie die Lohnhöhe geprägt. Gemäß der Arbeits-angebotstheorie können die Arbeitnehmer ihre Arbeitsmenge frei wählen, womit die tatsäch-liche Arbeitszeit stets der präferierten Arbeitszeit entsprechen würde. Dieses Postulat der nicht-restringierten Arbeitszeiten ist jedoch nicht haltbar; vielmehr werden die tatsächlichen Ar-beitszeiten seitens des Beschäftigungsbetriebs vorgegeben und orientieren sich an den kon-kreten Arbeitsanforderungen und der Arbeitsorganisation.1 Der Analyse von Arbeitszeit-Dis-krepanzen liegt somit die Annahme zugrunde, dass die tatsächliche Arbeitszeit, zumindest inder kurz- und mittelfristigen Betrachtung, nicht variiert werden kann. Diskrepanzen zwi-schen der erwünschten und der faktischen Arbeitszeit entstehen dann, wenn Arbeitgeber undArbeitnehmer unterschiedliche Präferenzen hinsichtlich des Arbeitsvolumens aufweisen.

Die erwünschte Arbeitszeit und damit auch das Ausmaß der Diskrepanz zwischen tatsäch-licher und präferierter Arbeitszeit werden zum einen durch die familiale Situation geprägt.Das Arbeitsangebot der Erwerbstätigen hängt stark davon ab, wie viel Reproduktionsarbeit,also Hausarbeit und Kinderbetreuung, ein Haushalt zu leisten hat und wie die Mitglieder sieuntereinander aufteilen (Bielenski et al. 2002). Im Zuge der Familiengründung bildet sichzumeist ein traditionelles Arrangement der Arbeitsteilung heraus, bei der sich die Frau pri-mär um die Hausarbeit und Kinderbetreuung kümmert und der Mann sich auf die Erwerbsar-beit fokussiert (Schulz / Blossfeld 2006). Da die Familienarbeit zumeist der Frau zugewie-sen wird, ist anzunehmen, dass Mütter ihre Arbeitszeit eher reduzieren möchten als kinderlo-se Frauen mit vergleichbaren Arbeitszeiten. Analog ist zu erwarten, dass Väter nach der Fa-miliengründung ihre Arbeitszeit ausdehnen möchten, um den Verdienstausfall der Partnerinzu kompensieren. Bisherige Studien zum Arbeitsmarktverhalten von Vätern finden zwar kei-ne nennenswerten Veränderungen der Arbeitszeit im Zuge der Familiengründung (Hamerme-sh 1996; Pollmann-Schult / Diewald 2007; Vaskovics et al. 2000), jedoch bleibt unklar, obsich das Arbeitsangebot der Väter tatsächlich nicht ändert, oder aber ob mögliche Änderungs-wünsche aufgrund rigider Arbeitszeitvorgaben nicht realisiert werden können.

2

1 Verschiedene empirische Studien (etwa Böheim / Taylor 2004) zeigen, dass Änderungen der tatsäch-lichen Arbeitszeit eher durch zwischenbetriebliche Stellenwechsel denn betriebsinterne Wechseloder „on-the-job“ realisiert werden.

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Ein weiterer Faktor, der das Arbeitsangebot und damit ebenfalls den Wunsch zur Arbeits-zeitreduktion oder -ausweitung prägen dürfte, ist das Erwerbsverhalten des Partners bzw.der Partnerin (siehe Drago et al. 2005; Jacobs / Gerson 2001; Jacobs / Gerson 2004). Allge-mein wird davon ausgegangen, dass Individuen in Paarhaushalten ihr Arbeitsangebot nichtvoneinander unabhängig bestimmen, sondern das Arbeitsangebot des einen Partners das desanderen beeinflusst (Lundberg 1988). Hier zeigt sich, dass insbesondere das Arbeitsangebotvon Frauen durch die Erwerbssituation ihrer Partner geprägt wird, wobei mit steigenden Ein-kommenschancen des Mannes das Arbeitsangebot der Frau sinkt (Blau / Kahn 2007; De-vereux 2004; Morissette / Hou 2008). Das Erwerbseinkommen der Ehefrau oder Partnerinhat dagegen einen deutlich geringen Effekt auf das Arbeitsangebot des Mannes (Blau / Kahn2007). Somit ist eine substituierende Beziehung des Arbeitsangebots im Paarkontext zu er-warten, wobei mit zunehmender Arbeitszeit des einen Partners der gewünschte Erwerbsum-fang des anderen Partners sinkt. Wir nehmen daher an, dass Frauen und Männer in Doppel-verdienerhaushalten eher zu einer Reduktion und seltener zu einer Ausweitung der Arbeits-zeit neigen als Personen in Einverdienerhaushalten. Im Gegensatz zu Paaren mit Kindernsind kinderlose Haushalte, bei denen das Arbeitsangebot nicht durch die notwendige Famili-enarbeit eingeschränkt wird, wesentlich flexibler in der Gestaltung ihrer Arbeitszeiten. Da-her sollten die Auswirkungen des Erwerbsstatus des Partners auf das Arbeitsangebot bei kin-derlosen Paaren deutlich schwächer ausfallen als bei Müttern und Vätern.

Ferner ist ein positiver Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau und der Neigungzur Arbeitszeitreduktion zu erwarten. Akademiker üben überproportional häufig gut bezahl-te Tätigkeiten mit hohen Arbeitsbelastungen aus; beide Faktoren dürften einen positiven Ef-fekt auf die Bereitschaft zur Arbeitsverkürzung haben (siehe unten). Schließlich erwartenwir, dass die Neigung zur Reduktion der Arbeitszeit im Berufsverlauf zu- und die zur Arbeits-zeitausdehnung abnimmt. Diese Annahme basiert auf der empirischen Beobachtung einesmit dem Alter sinkenden präferierten Erwerbsumfangs (Bielenski et al. 2002), wodurch sichder Wunsch zur Verlängerung bzw. Verkürzung der Arbeitszeit entsprechend verschiebensollte.

Neben individuellen Charakteristika haben ebenfalls Arbeitsplatzmerkmale Einfluss aufdie präferierten Arbeitszeiten. Gemäß der Arbeitsangebotstheorie wird das gewünschte Ar-beitsvolumen wesentlich durch die Einkommenshöhe geprägt. Hier ist ein so genannter Ein-kommenseffekt zu erwarten, wonach Erwerbstätige mit steigendem Reallohn ihr Arbeitsan-gebot reduzieren, da das gleiche Einkommen in einer kürzeren Arbeitszeit erzielt werdenkann (Franz 2003). Inwiefern sich die Arbeitszeitwünsche tatsächlich realisieren lassen, istvor allem von der Arbeitszeitregelung und der Arbeitszeitflexibilität des Beschäftigungsbe-triebs anhängig. Allgemein bieten Großbetriebe häufiger als kleinere Betriebe familienfreund-liche Arbeitszeitmodelle an, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichtern (Glass /Estes 1997). Folglich ist anzunehmen, dass Beschäftigte in größeren Unternehmen eine hö-here Passung von tatsächlicher und gewünschter Arbeitszeit aufweisen. Unterschiede in derArbeitszeitflexibilität sind ebenfalls zwischen Beschäftigten im öffentlichen Dienst und inder Privatwirtschaft vorhanden. Die Arbeitszeitregelung im öffentlichen Dienst ist oftmalsweniger rigide und ein Wechsel in die Teilzeitbeschäftigung leichter möglich als in der Pri-vatwirtschaft, womit Erwerbstätige im öffentlichen Dienst ihre präferieren Arbeitszeiten bes-ser realisieren können und seltener zur Arbeitszeitverkürzung neigen sollten. Ferner ist anzu-nehmen, dass Beschäftigte im hochqualifizierten Bereich, die oftmals besonders stark gefor-dert werden und deren Arbeitszeit durch hohe Arbeitsanforderungen weitgehend vorgegebenist, häufiger einen Mismatch hinsichtlich der Arbeitszeit berichten als andere Beschäftigte.

Selbstständig Erwerbstätige unterscheiden sich von abhängig Beschäftigten hinsichtlichder Arbeitszeit dahingehend, dass Selbstständige in weitaus geringerem Maße institutionel-

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len Restriktionen unterworfen sind. Demnach sollten Selbstständige in höherem Maße ihregewünschte Arbeitszeit realisieren können als abhängig Beschäftigte und insbesondere selte-ner den Wunsch nach einer Arbeitsreduktion äußern. Ferner ist zu erwarten, dass die tatsäch-liche Arbeitszeit selbst einen starken Effekt auf die Diskrepanz zwischen erwünschter undfaktischer Arbeitszeit hat. Ein Großteil der Beschäftigten präferiert ein Arbeitsvolumen zwi-schen 30 und 40 Wochenstunden (Bielenski et al. 2002; Bosch 2000). Demgemäß ist anzu-nehmen, dass Erwerbstätige mit langen Arbeitszeiten zu einer Verringerung sowie Personenmit einem eher geringen Arbeitsvolumen zu einer Ausdehnung der Arbeitszeit neigen.

Neben den geschilderten individuellen und arbeitsplatzbezogenen Faktoren dürften diewirtschaftlichen Rahmenbedingungen das Ausmaß der Übereinstimmung von erwünschterund tatsächlicher Arbeitszeit beeinflussen. Hier ist zu erwarten, dass viele Beschäftigte inPhasen hoher Arbeitslosigkeit aus Furcht vor einem Arbeitsplatzverlust eher zu einer Arbeits-zeitausweitung und seltener zu einer Verringerung des Arbeitsvolumens neigen.

Daten und Methode

Datenbasis und VariablenDie Datenbasis der Analysen ist das Sozio-oekonomische Panel (Wagner et al. 2007). DasSOEP ist eine seit 1984 in Westdeutschland und ab 1990 ebenfalls in den neuen Bundeslän-dern durchgeführte Wiederholungsbefragung repräsentativer Haushalte. Dieser Datensatz ent-hält detaillierte Informationen zum tatsächlichen sowie präferierten Erwerbsumfang und eig-net sich daher sehr gut zur Untersuchung der hier präsentierten Fragestellung. Für die folgen-den Analysen werden die Daten der Jahre 1985 bis 2005 (Wellen B-V) verwendet.2 Berück-sichtigt werden erwerbstätige Personen zwischen 18 und 60 Jahren. Personen in Ausbildungbleiben von der Analyse unberücksichtigt. Die Analyse beschränkt sich ferner auf die altenBundesländer, da sich die Arbeitszeitpräferenzen sowie die Wechselwirkungen von Erwerbs-tätigkeit und familialen Prozessen in den neuen Bundesländern deutlich von denen in denalten Ländern unterscheiden dürften. Nach Anwendung der Selektionskriterien stehen fürdie Analyse 123.321 Personenjahre von 22.369 Personen zur Verfügung.

Zur Messung der Diskrepanz zwischen dem präferierten und dem faktischen Arbeitsvolu-men werden die im SOEP enthaltenen Informationen zur tatsächlichen und gewünschten Ar-beitszeit genutzt. Bei der Nennung der erwünschten Arbeitszeit sollen die Respondenten be-denken, dass sich ihr Einkommen entsprechend ihrer Wunscharbeitszeit erhöhen oder ver-mindern würde.3 In Anlehnung an Baaijens et al. (2005) gehen wir von einem Mismatch zwi-schen der erwünschten und tatsächlichen Arbeitszeit aus, wenn das präferierte Arbeitsvolu-men um mindestens vier Wochenstunden von dem faktischen Volumen abweicht. Somit las-sen sich drei Gruppen von Beschäftigten unterscheiden: Personen, die mehr arbeiten als sieeigentlich möchten und folglich ihre Arbeitszeit reduzieren wollen, Personen, bei denen er-wünschte und tatsächliche Arbeitszeit übereinstimmen und Personen, die weniger als er-wünscht arbeiten und folglich ihre Arbeitszeit ausweiten möchten.

In einem ersten Analyseschritt werden die Auswirkungen von Diskrepanzen zwischen er-wünschtem und tatsächlichem Erwerbsumfang auf die Lebens- sowie die Arbeitszufrieden-heit untersucht. Die Lebenszufriedenheit wird im SOEP mit folgender Frage erhoben: „Wiezufrieden sind Sie gegenwärtig, alles in allem, mit Ihrem Leben“. Hinsichtlich der Zufrieden-

3

2 Die Daten der Wellen A (1984) und M (1996) werden nicht genutzt, da die gewünschte Arbeitszeitin diesen Jahren nicht erhoben wurde.

3 Hier wird unterstellt, dass die Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit bei gleich bleibendem Stundenlohn än-dern können. Dies ist jedoch häufig nicht der Fall, da etwa der Wechsel auf eine Teilzeitstelle dauer-haft die Karrierechancen verringert und damit langfristig einen niedrigeren Stundenlohn nach sich zieht.

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heit mit der Erwerbstätigkeit wird gefragt: „Wie zufrieden sind Sie mit Ihrer Arbeit?“ DieLebens- und Arbeitszufriedenheit wurde anhand einer 11-stufigen Skala von 0=ganz und garunzufrieden bis 10=ganz und gar zufrieden erhoben.

Eine zentrale Kovariate ist die Familiensituation, die hier über das Zusammenwohnen miteinem Partner/einer Partnerin und das Alter des jüngsten Kindes erfasst wird. Wir unterschei-den zwischen kinderlosen Personen ohne Partner, verheirateten Personen bzw. Personen ineiner nichtehelichen Partnerschaft ohne Kinder, ferner zwischen Personen, deren jüngstesKind unter sieben Jahren alt ist, Personen, deren jüngstes Kind zwischen sieben und 17 Jah-ren alt ist, sowie Personen mit volljährigen Kindern. Weiterhin werden allein erziehende Frau-en mit Kindern unter 18 Jahren berücksichtigt, nicht aber allein erziehende Väter.4 Die Refe-renzkategorie in den multivariaten Analysen bilden kinderlose Frauen bzw. Männer in einerPartnerschaft.

Als weitere Kovariaten werden in den multivariaten Analysen Alter, Qualifikationsniveau(kein Ausbildungsabschluss, Berufsausbildung, Fach- / Hochschulabschluss), tatsächlicheWochenarbeitszeit (1-14 Stunden, 15-29 Stunden, 30-45 Stunden, über 45 Stunden), Brutto-erwerbseinkommen (logarithmiert5 und deflationiert zum Basisjahr 2000), Berufsposition(hochqualifizierte Tätigkeiten und Tätigkeiten mit umfassenden Führungsaufgaben vs. ande-re), Beschäftigung im öffentlichen Dienst, Betriebsgröße (bis 20 Mitarbeiter, 20-199 Mitar-beiter, 200-1999 Mitarbeiter, 2000 und mehr Mitarbeiter) und die jährliche Arbeitslosenquo-te auf Ebene der einzelnen Bundesländer berücksichtigt. Da die Effekte von familialer Situa-tion und Geschlecht auf die Diskrepanz zwischen erwünschtem und faktischem Arbeitsvolu-men stark interagieren dürften, werden alle Berechnungen getrennt für Frauen und Männerdurchgeführt.

Um für Veränderungen im Zeitverlauf zu kontrollieren, werden zusätzlich Dummy-Varia-blen, die das jeweilige Befragungsjahr abbilden, in die Modelle aufgenommen. Die Koeffizi-enten dieser Dummy-Variablen werden in den Tabellen jedoch nicht ausgewiesen.6

AnalyseverfahrenDie Analyse des Mitmatches im Arbeitsvolumen erfolgt anhand von Random-Effects LogitRegressionen7 (siehe zu diesem Verfahren Wooldridge 2000). Hierbei handelt es sich umein Regressionsverfahren für Paneldaten mit einer binären abhängigen Variablen. Der Vor-teil der Panelanalyse besteht insbesondere darin, dass für unbeobachtete Heterogenität kon-trolliert werden kann. Unbeobachtete Heterogenität der Respondenten führt in der Regel zueiner Verzerrung der Schätzergebnisse, wenn diese Eigenschaften mit der anhängigen Varia-blen als auch mit den unabhängigen Variablen korrelieren. In Bezug auf die hier zu untersu-chende Fragestellung ist denkbar, dass unbeobachtete Eigenschaften wie die Karriereorien-

4 Im verwendeten Datensatz konnten praktisch keine allein erziehenden Väter identifiziert werden, sodass diese Kategorie wegfällt.

5 Da vorherige Analyseschritte einen kurvlinearen Effekt des Einkommens die Wahrscheinlichkeit ei-nes Mismatches hinsichtlich der Arbeitszeit aufgezeigt haben, wird das Bruttoeinkommen nicht inlinearer, sondern in logarithmierter Form berücksichtigt.

6 Über den Zeitraum sind keine systematischen Veränderungen des Mismatches hinsichtlich der Ar-beitszeit beobachtbar.

7 Eine Alternative zur Random-Effects Regression stellt die Fixed-Effects Regression dar. Dieses Ver-fahren hat bei der Analyse binärer abhängiger Variablen jedoch den entscheidenden Nachteil, dassalle Fälle aus der Analyse ausgeschlossen werden müssen, bei denen die Responsevariable zeitkon-stant ist. Aus diesem Grund werden in der Regel Random-Effects Logit Regressionen gegenüber Fixed-Effects Logit Regressionen bevorzugt (Madalla 1987).

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tierung der Befragungspersonen sowohl mit der gewünschten Arbeitszeit als auch mit derfamilialen Situation korrelieren.

Vereinfacht formuliert unterscheidet sich die Random-Effects Regression von der OLS-Regression dahingehend, dass die abhängige Variable sowie die unabhängigen Variablenum den individuellen Mittelwert bereinigt werden, indem jeweils die Differenz zwischendem aktuellen Wert einer Variablen zu einem bestimmten Zeitpunkt und dem Mittelwert fürdiese Person über alle beobachteten Zeitpunkte berechnet wird. Bei der Random-Effects-Schätzung wird sowohl die Variation der Beobachtungen um den jeweiligen Mittelwert alsauch die Variation dieser Mittelwerte um dem Gesamtmittelwert berücksichtigt. Der Fehler-term wird in zwei Komponenten zerlegt, einen zeitpunktbezogenen idiosynkratischen Fehlerund einen zeitkonstanten unbeobachteten Faktor, wobei der letztere Faktor als Zufallsvaria-ble geschätzt wird. Anhand dieser Vorgehensweise wird die unbeobachtete Heterogenität mi-nimiert. Die Interpretation der Koeffizienten entspricht der einer gewöhnlichen logistischenRegression.

Empirische Ergebnisse

Arbeitszeit-Mismatch und subjektives WohlbefindenIn einem ersten Schritt werden die Auswirkungen einer Nichtübereinstimmung zwischen prä-ferierter und tatsächlicher Arbeitszeit auf das subjektive Wohlbefinden untersucht. Hierzuwird zunächst in Tabelle 1 der Anteil der Personen ausgewiesen, die ihre gegenwärtige Le-bens- bzw. Arbeitszufriedenheit mit 8-10 auf einer Skala von 0 bis 10 bewerten und somitals zufrieden bzw. sehr zufrieden bezeichnet werden können. Wie ersichtlich ist, sind Er-werbstätige, bei denen erwünschte und faktische Arbeitszeit übereinstimmen, deutlich zufrie-dener als Personen, die entweder länger oder aber kürzer arbeiten als sie eigentlich möchten.So sind beispielsweise 54 % der Frauen ohne einen Mismatch hinsichtlich der Arbeitszeit,aber nur 48 % der weiblichen Erwerbstätigen, die ihre Arbeitszeit reduzieren wollen, mit ih-rem gegenwärtigen Leben zufrieden oder sehr zufrieden. Ferner zeigt sich, dass unterbeschäf-tigte Erwerbstätige eine deutlich geringere Lebenszufriedenheit berichten als überbeschäftig-te Personen.

Tabelle 1: Anteil der Erwerbstätigen, die mit ihrem gegenwärtigem Leben bzw. ihrer Arbeitzufrieden/sehr zufrieden sind

Lebenszufriedenheit Arbeitszufriedenheit Frauen Männer Frauen MännerErwünschte = tatsächliche Arbeitszeit 54 52 54 54Arbeitszeitreduktion erwünscht 48 49 47 50Arbeitszeitausweitung erwünscht 40 39 44 45Zufrieden/sehr zufrieden = Werte 8-10 auf einer Skala von 0 bis 10.Quelle: SOEP 1985-2006, eigene Berechnungen.

Ein sehr ähnliches Ergebnismuster ergibt sich bei der Betrachtung der Arbeitszufrieden-heit. Auch hier findet sich bei Erwerbstätigen ohne Arbeitszeit-Mismatch der höchste Anteilund unter den Erwerbstätigen mit dem Wunsch zur Arbeitszeitausweitung der niedrigste An-teil an zufriedenen bzw. sehr zufriedenen Personen.

Die in Tabelle 1 ausgewiesenen Befunde erlauben jedoch keine Rückschlüsse auf die Kau-salrichtung des beobachteten Zusammenhangs. Die niedrigere Zufriedenheit bei Personenmit Diskrepanzen zwischen erwünschter und tatsächlicher Arbeitszeit bedeutet nicht zwangs-läufig, dass sich eine solche Nichtübereinstimmung negativ auf die Lebens- oder Arbeitszu-friedenheit auswirkt. Ebenfalls ist eine umgekehrte Kausalwirkung denkbar, indem Personen

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mit einer niedrigen Lebenszufriedenheit überproportional häufig Beschäftigungsprobleme er-fahren und daher Schwierigkeiten haben, einen ihren Wünschen entsprechenden Arbeits-platz zu finden. Gleichfalls kann eine niedrige Arbeitszufriedenheit den Wunsch zur Arbeits-zeitreduktion hervorrufen. Eine Analyse des Effekts des Arbeitszeit-Mismatches auf die bei-den betrachteten Zufriedenheitsdimensionen erfordert eine Längsschnittbetrachtung. Im Fol-genden wird dieser Effekt anhand einer Random-Effects Panelregression untersucht, wobeifür die geschilderten Selektionseffekte kontrolliert wird. Als Referenzgruppe fungieren Per-sonen, bei denen erwünschte und tatsächliche Arbeitszeit übereinstimmen.

Tabelle 2: Determinanten der Lebens- und Arbeitszufriedenheit(Random-Effects Regressionen)

Lebenszufriedenheit Arbeitszufriedenheit Frauen Männer Frauen MännerErwünschte = tatsächliche AZ - - - -Arbeitszeitreduktion erwünscht -0,1119** -0,1157** -0,3207** -0,2536**Arbeitszeitausweitung erwünscht -0,2532** -0,2375** -0,2480** -0,1940** Signifikanzniveau: ** = p<0,01; * = p<0,05; + = p<0,1.Fallzahl (Personenjahr) 49.293 70.677 48.401 69.881R2 0,03 0,03 0,02 0,03Kontrolliert wird für: Familiensituation, Alter, Qualifikationsniveau, tatsächliche Arbeitszeit, Bruttomo-natseinkommen, hochqualifizierte Tätigkeit, Beschäftigung im öffentlichen Dienst, Betriebsgröße, Ar-beitslosenquote.Quelle: SOEP 1985-2006, eigene Berechnungen.

Wie die in Tabelle 2 dargestellten Ergebnisse verdeutlichen, hat eine Nichtübereinstim-mung zwischen dem gewünschten und dem faktischen Erwerbsumfang in der Tat signifikantnegative Auswirkungen auf die Lebens- und Arbeitszufriedenheit. Im Gegensatz zu den de-skriptiven Befunden deuten die multivariaten Ergebnisse allerdings darauf hin, dass Überbe-schäftigte mit ihrer Arbeit unzufriedener sind als Unterbeschäftigte, wogegen Unterbeschäf-tigte eine niedrigere Lebenszufriedenheit verzeichnen als Überbeschäftigte.

Determinanten der Diskrepanzen zwischen tatsächlicher und erwünschter ArbeitszeitZunächst präsentieren wir einige deskriptive Befunde zum Ausmaß der Nichtübereinstim-mung zwischen erwünschter und tatsächlicher Arbeitszeit. Hieran anschließend wird der Ein-fluss individueller sowie arbeitsplatz- und betriebsbezogener Faktoren auf die Wahrschein-lichkeit des Mismatches hinsichtlich der Arbeitszeit multivariat untersucht. In einem zwei-ten multivariaten Analyseschritt wird zusätzlich der Erwerbsstatus des Partners bzw. der Part-nerin berücksichtigt.

Die durchschnittliche erwünschte und tatsächliche Arbeitszeit der abhängig Beschäftigtensind in Tabelle 3 ausgewiesen. Wie ersichtlich ist, liegt die gewünschte Arbeitszeit bei allenbetrachteten Gruppen unter dem faktischen Arbeitsvolumen. Die größte Abweichung zwi-schen präferierter und tatsächlicher Arbeitszeit ist bei kinderlosen Frauen in Partnerschaft zubeobachten; hier beträgt die mittlere Differenz 5,3 Stunden. Die größte Übereinstimmung ver-zeichnen Mütter mit Kindern im Vorschulalter, bei denen die tatsächliche Arbeitszeit die er-wünschte durchschnittlich um 2 Wochenstunden übersteigt.

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Tabelle 3: Erwünschte und tatsächliche Arbeitszeit in Wochenstunden

Männer Frauen Erwünschte

ArbeitszeitTatsächlicheArbeitszeit

ErwünschteArbeitszeit

TatsächlicheArbeitszeit

Kein/e Partner/in 38,4 42,6 35,7 39,8Mit Partner/in, keine Kinder 38,4 43,6 33,3 38,6Mit Partner/in, Kind unter 7 Jah-ren 39,6 44,4 25,0 27,0

Mit Partner/in, Kind 7-17 Jahre 39,5 44,6 26,2 28,4Allein erziehend - - 32,4 34,5Kind über 17 Jahre 39,2 44,4 29,4 32,7Quelle: SOEP 1985-2006, eigene Berechnungen.

Wie erwartet wurde, wirkt sich die familiale Situation sehr unterschiedlich auf die Arbeits-zeitpräferenzen und das tatsächliche Arbeitsvolumen von Frauen und Männern aus. Das Ar-beitsangebot der Männer scheint im Zuge der Familiengründung leicht zuzunehmen. So be-richten Väter eine um eine Wochenstunde höhere gewünschte sowie tatsächliche Arbeitszeitals kinderlose Männer in Partnerschaft. Dagegen nimmt das tatsächliche als auch das präfe-rierte Arbeitsvolumen bei Frauen im Zuge der Familiengründung stark ab, wobei Mütter mitKindern im Vorschulalter die kürzeste Arbeitszeit als auch das niedrigste erwünschte Arbeits-volumen berichten. Beachtenswert ist die hohe gewünschte Arbeitszeit der allein erziehen-den Frauen, die unterhalb dem präferieren Arbeitsvolumen der kinderlosen Frauen, aber deut-lich über dem der Mütter in einer Partnerschaft liegt. Offensichtlich wird das Arbeitsangebotder allein Erziehenden stärker durch finanzielle Notwendigkeiten als durch die familiärenZeitbedürfnisse geprägt.

Die in Tabelle 3 dargestellten Durchschnittswerte geben keine Auskunft über den Anteilder Erwerbstätigen, die ihre Arbeitszeit reduzieren oder ausdehnen möchten. Diese Anteils-werte sind in Tabelle 4 ausgewiesen. Hier zeigt sich, dass lediglich bei etwa jedem zweitenBeschäftigten tatsächliche und erwünschte Arbeitszeit übereinstimmen. Die Mehrheit der Be-schäftigten mit einer Diskrepanz zwischen präferiertem und faktischem Arbeitsvolumen ar-beitet länger als gewünscht und möchte die Arbeitszeit reduzieren. Auch in Tabelle 4 ist beiMännern nur ein schwacher Zusammenhang zwischen der familialen Situation und der Wahr-scheinlichkeit eines Mismatches bezüglich der Arbeitszeit ersichtlich. Bemerkenswert ist al-lerdings, dass partnerlose Männer die höchste Übereinstimmung zwischen erwünschter undtatsächlicher Arbeitszeit berichten, was wahrscheinlich auf die Tatsache zurückzuführen ist,dass diese Personen ihr Arbeitsangebot frei von partnerschaftlichen und familialen Verpflich-tungen festlegen können.

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Tabelle 4: Anteil der Erwerbstätigen mit einer Diskrepanz zwischen gewünschter und tat-sächlicher Arbeitszeit

Männer Frauen Arbeitszeitre-

duktionerwünscht

Arbeitszeitaus-weitung

erwünscht

Arbeitszeitre-duktion

erwünscht

Arbeitszeitaus-weitung

erwünschtKein/e Partner/in 43,8 8,5 45,6 6,9Mit Partner/in, keine Kinder 50,1 6,5 52,5 6,2Mit Partner/in, Kind unter 7 Jah-ren 48,8 5,9 31,5 15,3

Mit Partner/in, Kind 7-17 Jahre 48,7 5,6 32,6 15,7Allein erziehend - - 34,6 17,1Kind über 17 Jahre 48,5 4,7 37,5 9,7Quelle: SOEP 1985-2006, eigene Berechnungen.

Bei Frauen variiert der Wunsch zur Arbeitszeitreduzierung oder -ausweitung stark mit derfamilialen Situation. Während kinderlose Frauen oftmals ihren Erwerbsumfang reduzierenmöchten, streben Mütter vergleichsweise häufig eine Verlängerung ihrer Arbeitszeit an. Soäußern nur etwa 7 % der kinderlosen Frauen, aber 15 % der Mütter den Wunsch zur Arbeits-zeitausweitung. Gerade allein erziehende Mütter, die sich oftmals in einer ökonomisch pre-kären Lage befinden und ein hohes Armutsrisiko aufweisen, neigen relativ häufig zur Aus-dehnung des Erwerbsumfangs. Anscheinend erfolgt die Arbeitszeitreduktion von Frauennach der Familiengründung oftmals nicht freiwillig, sondern ist unzureichenden Möglichkei-ten der Kinderbetreuung geschuldet. Der Befund, dass Frauen mit Kindern vergleichsweiseselten ihre Arbeitszeit reduzieren möchten, widerspricht nicht zwangsläufig der oben formu-lierten Annahme, wonach Mütter eher zu einer Arbeitszeitreduktion neigen sollten als kinder-lose Frauen mit vergleichbaren Arbeitszeiten. Angesichts des geringeren Erwerbsumfangsder Mütter dürften so genannte „Floor Effekte“ vorliegen. Dies bedeutet, dass Mütter auf-grund ihrer bereits niedrigen Arbeitszeiten eher zu einer Arbeitszeitverlängerung und selte-ner zu einer Arbeitszeitverkürzung neigen als Personen mit einem durchschnittlichen Er-werbsumfang. Diese Verzerrungen lassen sich in den multivariaten Analysen eliminieren, in-dem für die tatsächliche Arbeitszeit kontrolliert wird.

Im Folgenden werden die Determinanten eines Mismatches jeweils getrennt für Männerund Frauen anhand von Random-Effects Logit Regressionen untersucht (Tabelle 5). Bemer-kenswert ist erst einmal der Befund, dass persönliche Charakteristika und Arbeitsplatzeigen-schaften auch dann einen Effekt auf den Arbeitszeit-Mismatch haben, wenn für die objekti-ve Arbeitsbelastung in Form des tatsächlichen Arbeitsvolumens kontrolliert wird. Offenbarwird die subjektive Wahrnehmung der Arbeitsbelastung und der daraus resultierendeWunsch zur Arbeitszeitreduktion oder -ausweitung erheblich durch persönliche als auch be-triebliche Merkmale beeinflusst. Die in Tabelle 5 ausgewiesenen Ergebnisse deuten daraufhin, dass partnerlose Männer signifikant seltener ihre Arbeitszeit ausdehnen sowie reduzie-ren möchten als kinderlose Männer mit einer Partnerin und damit eine höhere Übereinstim-mung zwischen der erwünschten und tatsächlichen Arbeitszeit verzeichnen. Dies mag, wieschon oben erwähnt, darauf zurückzuführen sein, dass Männer ohne Partnerin ihre Arbeits-zeiten freier bestimmen können als Männer in einer Partnerschaft.

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Tabelle 5: Determinanten einer gewünschten Arbeitszeitreduktion / Arbeitszeitausweitung(Random-Effects Logit Regression)

Männer Frauen

Arbeitszeitre-

duktionerwünscht

Arbeitszeitaus-weitung

erwünscht

Arbeitszeitre-duktion

erwünscht

Arbeitszeitaus-weitung

erwünscht Kein/e Partner/in -0,1838** -0,2473** -0,4571** 0,2075*Kind unter 7 Jahren -0,2142** -0,0311 0,2008** -0,5867**Kind 7-17 Jahre -0,2198** -0,0319 0,0977 -0,1934*Allein erziehend - - -0,5606** 0 ,8406**Kind über 17 Jahre -0,1619** -0,1330 -0,1482* 0,0566Alter in Jahren 0,0006 -0,0285** 0,0112** -0,0367**Berufsausbildung 0,2816** 0,0529 0,4765** -0,0019Hochschulabschluss 0,5788** 0,0777 0,8866** 0,1449Arbeitszeit: bis 14 Stunden -4,1279** 4,1934** -4,5659** 3,9022**Arbeitszeit: 15-29 Stunden -1,8884** 3,4848 -1,9623** 2,6446**Arbeitszeit: über 45 Stunden 2,6673** -1,6360 2,7394** -1,5096**Log. Bruttoeinkommen 0,4000** -0,3805** 0,3596** -0,7053**Hochqualifizierte Tätigkeit 0,3146** -0,1777+ 0,1430* -0,0333Öffentlicher Dienst 0,0823* -0,1938* -0,0817+ 0,0968Betriebsgröße bis 20 MA 0,0625 -0,0618 0,0725 -0,0502Betriebsgröße 200-1999 MA -0,1591** -0,6801 -0,1445** 0,0334Betriebsgröße 2000+ MA -0,1576** -0,0605 -0,3305 -0,0605Selbstständig -0,1183+ 0,4095** -0,0589 0,3620**Arbeitslosenquote -0,0017 0,0372** 0,0099 0,0408**Konstante -4,1352** 0,1243** -3,3484** 1,1871** Signifikanzniveau: ** = p<0,01; * = p<0,05; + = p<0,1.Fallzahl (Personenjahre) 70.832 49.413Wald χ2-Test (DF=38/39) 8.014** 2.579** 5.107** 3.322**rho 0,3880 0,5305 0,4053 0,4882

Abhängige Variable: 1=Arbeitszeitreduktion um mind. 4 Stunden gewünscht, 0=Sonstige //1=Arbeitszeitausweitung um mind. 4 Stunden erwünscht, 0=Sonstige.Referenzkategorien: Kinderlos mit Partner, Arbeitszeit: 30-45 Stunden, keine abgeschlossene Berufsaus-bildung, keine hochqualifizierte Tätigkeit/Führungsaufgaben, in der Privatwirtschaft beschäftigt, Be-triebsgröße 20-199 Mitarbeiter.Quelle: SOEP 1985-2006, eigene Berechnungen.

Väter wünschen sich seltener eine Arbeitszeitverkürzung als kinderlose Männer, jedochsind keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich des Wunsches zur Arbeitszeitverlänge-rung erkennbar. Die oben formulierte Annahme, wonach Väter aufgrund erhöhter finanziel-ler Belastungen ihre Arbeitszeit verlängern wollen, findet indirekte empirische Unterstüt-zung, indem Väter signifikant häufiger einer Verkürzung der Arbeitszeit ablehnend gegen-über stehen als kinderlose Männer. Der erwartete Wunsch zur Arbeitszeitverlängerung äu-ßert sich damit nicht in einer zunehmend positiven Differenz zwischen erwünschter und tat-sächlicher Arbeitszeit, sondern darin, dass sich die negative Differenz verringert, indem sichdie (niedrigere) gewünschte Arbeitzeit der (höheren) tatsächlichen Arbeitszeit annähert. ImGegensatz zu Vätern wünschen sich Mütter mit Kindern im Vorschulalter, wie erwartet wur-de, eher eine Arbeitszeitreduzierung und seltener eine Verlängerung der Arbeitszeit als kin-derlose Frauen. Die Diskrepanz zwischen den oben präsentierten deskriptiven Ergebnissenund den multivariaten Befunden lässt sich dadurch erklären, dass multivariat für die tatsäch-liche Arbeitszeit kontrolliert wird und somit mögliche „Floor Effekte“ eliminiert werden. Ei-

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ne Ausnahme bilden allein erziehende Frauen, die signifikant häufiger eine Ausweitung so-wie seltener eine Verkürzung der Arbeitszeit anstreben.

Die Koeffizienten der übrigen Kovariaten entsprechen weitgehend den formulierten Erwar-tungen. Mit zunehmendem Lebensalter nimmt der Wunsch zur Arbeitszeitverkürzung zuund die Neigung zur zeitlichen Intensivierung der Erwerbsarbeit ab. Die tatsächliche Arbeits-zeit als auch das Erwerbseinkommen wirken sich deutlich auf den Wunsch zur Arbeitszeit-verkürzung bzw. -verlängerung aus. Wie erwartet wurde, hat der Erwerbsumfang einen posi-tiven Effekt auf den Wunsch zur Arbeitszeitverkürzung und einen negativen Effekt auf denWunsch zur Arbeitszeitverlängerung. Ähnliches gilt für die Einkommenshöhe: Personen miteinem hohen Einkommen streben eher eine Arbeitszeitreduktion und seltener eine Verlänge-rung der Arbeitszeit an. Ferner zeigt sich, dass Frauen und Männer, die hochqualifizierte Tä-tigkeiten ausüben, stärker zu einer Arbeitszeitverkürzung neigen als andere Berufsgruppen.Entgegen unseren Erwartungen tendieren im öffentlichen Dienst beschäftigte Männer eherzu einer Reduzierung und seltener zu einer Ausweitung der Arbeitszeit. Der Zusammenhangzwischen Arbeitszeit-Mismatch und der Größe des Beschäftigungsbetriebs ist nur schwachausgeprägt. In der Tendenz zeigt sich, dass Beschäftigte in mittleren und größeren Betriebenwie erwartet eher eine Übereinstimmung zwischen erwünschtem und faktischem Arbeitsvo-lumen erfahren als Personen, die in Kleinbetrieben tätig sind. Auch der Effekt der Arbeits-marktlage auf die Übereinstimmung von Arbeitszeitpräferenzen und tatsächlichem Arbeits-volumen bestätigt die oben formulierten Annahmen. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit neigtein größerer Anteil der Erwerbstätigen zu einer Ausweitung der Arbeitszeit als in konjunktu-rellen Aufschwungphasen.

Der nächste Analyseschritt berücksichtigt zusätzlich den Erwerbsstatus der Partnerin bzw.des Partners. Wir unterscheiden zwischen partnerlosen Personen, kinderlosen Personen miteinem erwerbstätigen Partner, kinderlosen Personen mit einem nichterwerbstätigen Partner,Eltern mit einem erwerbstätigen Partner, Eltern mit einem nichterwerbstätigen Partner, al-lein Erziehenden und Personen mit erwachsenden Kindern.

Tabelle 6: Determinanten einer gewünschten Arbeitszeitreduktion / Arbeitszeitausweitung(Random-Effects Logit Regression)

Männer Frauen

Arbeitszeit-reduktionerwünscht

Arbeitszeit-ausweitungerwünscht

Arbeitszeit- re-duktion

erwünscht

Arbeitszeit-ausweitungerwünscht

Kein/e Partner/in -0,2367** -0,2823** -0,4734** 0,2230*Kein Kind, Partner NEWT -0,1016 -0,0765 -0,2421* 0,0044Kind, Partner EWT -0,1877** -0,2261* 0,1736* -0,4236**Kind, Partner NEWT -0,3157** 0,0173 -0,2468** 0,3804*Allein erziehend - - -0,5801** 0,8136**Kind über 17 Jahre -0,1966** -0,2000+ -0,1322+ -0,0846 Signifikanzniveau: ** = p<0,01; * = p<0,05; + = p<0,1.Fallzahl (Personenjahre) 69.189 47.789Wald χ2-Test (DF=37/38) 7.848** 2.514** 4.922** 3.225**rho 0,3870 0,5321 0,4053 0,4864

Abhängige Variable: 1=Arbeitszeitreduktion um mind. 4 Stunden gewünscht, 0=Sonstige //1=Arbeitszeitausweitung um mind. 4 Stunden erwünscht, 0=SonstigeEWT=Erwerbstätig; NEWT=Nichterwerbstätig.Referenzkategorie: Kinderlose Personen mit erwerbstätigem/er Partner/inIn den Modellen sind ferner alle in Tabelle 5 ausgewiesenen Kovariaten enthalten.Quelle: SOEP 1985-2006, eigene Berechnungen.

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Hier zeigt sich, dass die Neigung zur Arbeitszeitreduktion nicht allein durch die familialeSituation, sondern ebenfalls durch den Erwerbsstatus der Partnerin oder des Partners geprägtwird, wobei jedoch starke geschlechtsspezifische Effekte zu beobachten sind. Bei Männernhat die Erwerbstätigkeit der Partnerin nur geringe Auswirkungen auf die Neigung zur Ar-beitszeitverkürzung oder -reduktion. So haben kinderlose Männer mit einer erwerbstätigenPartnerin keinen stärkeren Wunsch zur Arbeitszeitreduktion als solche mit einer nichterwerbs-tätigen Partnerin. Ebenfalls sind nur vergleichsweise geringe Unterschiede zwischen Vätern,deren Partnerin eine Erwerbstätigkeit ausübt, und Vätern mit einer nichterwerbstätigen Part-nerin zu beobachten. Hier zeigt sich immerhin, dass Erstere häufiger zu einer Arbeitszeitre-duktion neigen und seltener ihren Erwerbsumfang ausdehnen möchten als Letztere. Die ins-gesamt schwachen Effekte des Erwerbsstatus der Partnerin auf den Wunsch zur Arbeitszeit-reduktion oder -ausdehnung deuten darauf hin, dass das Arbeitsangebot der Väter in nur ge-ringem Maße durch die Einkommensressourcen der Partnerin beeinflusst wird. Hier schei-nen vielmehr gesellschaftliche Normen zu wirken, die eine Intensivierung der Erwerbsarbeitim Zuge der Familiengründung vorgeben. Dieses Ergebnis steht in Einklang mit dem Be-fund von Grunow et al. (2007), wonach Ehepaare im Zuge der Familiengründung – unabhän-gig von den jeweiligen relativen Bildungs-, Erwerbs- und Einkommensressourcen der Part-ner – in der Regel zu einem traditionellen Arrangement der Arbeitsteilung übergehen.

Dagegen hat bei Frauen neben der familialen Situation ebenfalls der Erwerbsstatus des Part-ners starke Auswirkungen auf die Neigung zur Arbeitszeitverkürzung und -ausweitung. Wiezu erkennen ist, tendieren Frauen mit einem erwerbstätigen Partner häufiger zu einer Arbeits-zeitreduktion und seltener zu einer Ausdehnung der Arbeitszeit als Frauen mit einem nicht-erwerbstätigen Partner, wobei der Effekt der Partnererwerbstätigkeit bei Müttern deutlichstärker ausfällt als bei kinderlosen Frauen. Die interagierenden Effekte von familialer Situa-tion und Erwerbsstatus des Partners werden besonders anhand des Vergleichs von Mütternmit einem erwerbstätigen Partner und Alleinerziehenden deutlich. Obwohl beide Personen-gruppen in hohem Maße Zeitkonflikte erfahren, sind grundsätzlich unterschiedliche Neigun-gen zur Arbeitszeitreduktion und -ausweitung erkennbar. Während Mütter mit einem erwerbs-tätigen Partner überdurchschnittlich häufig zu einer Verkürzung der Arbeitszeit und eher sel-ten zu einer Arbeitszeitverlängerung tendieren, ist bei allein erziehenden Frauen ein ver-gleichsweise starker Wunsch zur Arbeitszeitverlängerung und eine schwache Neigung zurArbeitszeitverkürzung erkennbar. Damit zeigt sich, dass eine hohe zeitliche Beanspruchungnicht immer den Wunsch nach kürzeren Arbeitszeiten nach sich zieht. Der Wunsch zur Ar-beitszeitverkürzung ist offensichtlich nicht nur von der zeitlichen Belastung, sondern eben-falls den hierzu notwendigen finanziellen Ressourcen abhängig.

FazitBei einem beträchtlichen Anteil der Erwerbstätigen weicht das tatsächliche Arbeitsvolumenerheblich von den gewünschten Arbeitszeiten ab, wobei die überwiegende Mehrheit dieserPersonen den Wunsch zur Arbeitszeitreduktion äußert. Diskrepanzen zwischen dem fakti-schen und dem präferierten Erwerbsumfang haben stark negative Auswirkungen auf das sub-jektive Wohlbefinden, was sich in einer niedrigeren Arbeits- sowie Lebenszufriedenheit äu-ßert.

Der Befund, dass ein erheblicher Anteil der Erwerbstätigen den Erwerbsumfang reduzie-ren möchte, steht in Einklang mit der Erkenntnis früherer Studien, wonach eine beträchtlicheAnzahl der Beschäftigten Vereinbarkeitsprobleme zwischen Arbeit und Privatleben erfährt.Allerdings ist der Zusammenhang zwischen der zeitlichen Belastung und dem Wunsch zurArbeitszeitreduktion weniger eindeutig, als es auf den ersten Blick erscheint. Wie gezeigtwurde, wird der Wunsch zur Verringerung oder Erhöhung der Arbeitszeit wesentlich durch

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Arbeitszeitwunsch und -wirklichkeit im Familienkontext 175

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den Familien- und Haushaltskontext geprägt. Gemäß unseren Erwartungen zeigte sich, dassMütter – insofern sie sich in einer Partnerschaft befinden – überdurchschnittlich häufig ihreArbeitszeit verringern möchten. Dagegen neigen Väter seltener zu einer Arbeitszeitverkür-zung als kinderlose Männer. Offensichtlich wirken sich die zeitlichen und finanziellen Belas-tungen unterschiedlich auf das Arbeitsangebot von Müttern und Väter aus: Während die Ar-beitszeitwünsche der Mütter eher durch die zeitlichen Restriktionen geprägt werden, wirdder gewünschte Erwerbsumfang der Väter stärker durch die finanziellen Bedürfnisse desHaushalts beeinflusst. Gleichzeitig scheinen gesellschaftliche Erwartungen die Arbeitszeit-wünsche der Väter zu prägen, was sich darin zeigt, dass Väter ihr Arbeitsangebot ungeachtetder ökonomischen Haushaltsressourcen und der Erwerbskonstellation des Haushalts festlegen.

Zeitkonflikte initiieren nicht zwangsläufig einen Wunsch nach kürzeren Arbeitszeiten,wie auch der Wunsch nach kürzeren Arbeitszeiten nicht unbedingt auf Zeitkonflikte schlie-ßen lässt. So äußern bestimmen Personengruppen, die generell überdurchschnittlich häufigunter Zeitkonflikten leiden, wie Väter in Doppelverdienerhaushalten oder allein erziehendeMütter (siehe Künzler et al. 2001), eher selten den Wunsch nach kürzeren Arbeitszeiten. Ineinem besonderen Spannungsfeld befinden sich allein Erziehende, die zum einen hohen fa-milialen Belastungen ausgesetzt sind, zum anderen jedoch offenbar aufgrund ihrer oftmalsungünstigen finanziellen Situation eine mit der Arbeitszeitverringerung einhergehende Ein-kommensreduktion nicht verkraften können. Dagegen möchten kinderlose Frauen und Män-ner in einer Partnerschaft – die eher geringe Zeitkonflikte erfahren dürften, aber über ein re-lativ hohes Haushaltseinkommen verfügen – besonders häufig ihre Arbeitszeit reduzieren.

Studien zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf fordern in der Regel eine Verkürzungder Arbeitszeit als ein probates Mittel zur Verminderung von Zeitkonflikten. Die vorliegen-de Untersuchung macht allerdings deutlich, dass der Zusammenhang zwischen Zeitkonflik-ten und den Arbeitszeitwünschen wesentlich komplexer ist als häufig angenommen wird. ObErwerbstätige ihren Erwerbsumfang reduzieren oder erhöhen möchten, hängt offenbar vonihrer Arbeitszeit und ihren familialen Verpflichtungen, aber auch von finanziellen Ressour-cen und verinnerlichten gesellschaftlichen Normen ab.

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Dr. Matthias Pollmann-SchultUniversität Bielefeld

Fakultät für SoziologiePostfach 10 01 31

33501 [email protected]

178 Matthias Pollmann-Schult

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Konkurrenz und Integration in ReorganisationsprozessenZur Problematik „schöpferischer Zerstörung“ innerhalb von Organisationen

Von Hans J. Pongratz

Zusammenfassung: Reorganisationsprozesse generieren innerbetriebliche Konkurrenzverhältnis-se, die sich mit Schumpeter als „schöpferische Zerstörung nach innen“ interpretieren lassen. Ver-änderungsprojekte setzen die Strukturen, Prozesse und Strategien einer Organisation immer wie-der neuen Bewährungsproben aus. Der verdeckte Wettstreit um die Neukonzeption von Teilen derOrganisation öffnet diese für ständige Anpassungsanforderungen, ohne bewährte Handlungsmus-ter vorschnell preiszugeben. Diese theoretische Interpretation der Konkurrenzdynamik und ihrerIntegrationsproblematik wird entwickelt auf der Grundlage von Befunden der empirischen Reor-ganisationsforschung (einschließlich einer Befragung aller privatwirtschaftlichen Großbetriebe inDeutschland zu Problemen tief greifender Veränderungsprozesse). Deren scheinbar widerspruchs-volle Ergebnisse werden als Ausdruck kompetitiver Kooperation gedeutet, die nicht nur in Reor-ganisationsprojekten, sondern in Projektarbeit generell zu beobachten ist. Die kompetitive Dyna-mik von Projektarbeit weckt unternehmerische Energien bei Managern und Mitarbeitern und gibtzugleich Anlass, diese durch aktive Koordinierungsleistungen auf gemeinsame Ziele auszurichten.

Perspektivenwechsel in der ReorganisationsforschungReorganisationsprozesse sind verwickelte Angelegenheiten. Manager und Mitarbeiter in Un-ternehmen verschiedenster Branchen, in Nonprofit-Organisationen oder in staatlichen Behör-den haben in den letzten Jahren ähnliche Botschaften vernommen: Der Wandel von Strategi-en, die Veränderung von Organisationsstrukturen oder Arbeitsabläufen werden von der Or-ganisationsleitung als neue Ära angekündigt und mit hochgesteckten Effizienzzielen ver-knüpft. Das Überleben der Organisation hänge vom Erfolg solcher Umwälzungen ab, bekom-men sie in der Regel zu hören. Dafür müssten Opfer gebracht werden (vor allem im Zugevon Personalabbau und Leistungsverdichtung), doch im Gegenzug stünden ansehnliche Be-lohnungen in Aussicht (etwa in Form gesicherter Arbeitsplätze oder erweiterter Verantwor-tungsbereiche).

Was Manager und Mitarbeiter (damit sind in diesem Text immer Männer wie Frauen ge-meint) dann oft erleben, ist ein geschäftiges Treiben in eigens geschaffenen Projektgruppen,das ihnen als Außenstehenden weitgehend undurchsichtig bleibt. Unter der Anleitung vonUnternehmensberatungen werden die zu reorganisierenden Bereiche durchleuchtet und neukonzipiert. Da die Mehrheit der Betroffenen nicht so recht weiß, welche Veränderungen mitwelchen Absichten im Projekt vorbereitet werden, bleibt sie auf Distanz zum Reorganisati-onsgeschehen. Dem Aktionismus von Beratern und Projektverantwortlichen gegenübernimmt sie eine abwartende Beobachterposition ein: Die Alltagsarbeit müsse schließlich wei-terhin erledigt werden, ist eine verbreitete Haltung, und wie das wirkungsvoll geschehe, daswüssten immer noch die Manager und Mitarbeiter vor Ort am besten.

Unterdessen wird das Projekt – innerhalb eines engen Zeitrahmens mit mehr oder wenigerVerspätung – zum Abschluss gebracht mit der Verkündigung des erfolgreichen Vollzugsvon Reorganisationsmaßnahmen. Was das faktisch bedeutet, ist zu diesem Zeitpunkt meistunklar, da die konzipierten Veränderungen nur bedingt mit den Erfahrungen und Interessender betroffenen Manager und Mitarbeiter in Einklang zu bringen sind. Die Auseinanderset-zung mit den Projektergebnissen bleibt nun ihnen überlassen: So werden manche Verände-rungskonzepte in wesentlichen Teilen realisiert, andere stark modifiziert, und wieder andere

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Soziale Welt 60 (2009), S. 179 – 197

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verlieren sich im Alltagsgeschäft und sind spätestens beim nächsten Reorganisationsprojektvergessen.

Den vorliegenden Forschungsbefunden zufolge (siehe Kap. 2) stellt diese Skizze ein realis-tisches Szenario eines typischen Reorganisationsprozesses dar. Organisationsmitglieder allerEbenen berichten von Erfahrungen dieser Art – und von damit einhergehenden Verunsiche-rungen und Enttäuschungen. Das Auftreten solcher Probleme ist aus sozialwissenschaftli-cher Perspektive nicht verwunderlich: Die Neugestaltung grundlegender Strukturen und Pro-zesse stellt einen gravierenden Eingriff in das weit verzweigte Gewebe routinisierter Abläu-fe und bewährter Kooperationsmuster dar. Unter der Annahme komplexer Organisationssys-teme und dynamischer Umwelten ist nicht zu erwarten, dass Reorganisationskonzepte frikti-onslos implementiert werden können und die geplanten Resultate zeitigen (vgl. Collins1998; Kieser / Hegele / Klimmer 1998; Dawson 2003). Die geschilderten Probleme zeugenvon der vielfach unterschätzten Schwierigkeit der Aufgabe.

Überraschend sind weniger die Probleme an sich, sondern dass sie im Verlauf von nun-mehr gut zwanzig Jahren Reorganisationsforschung immer wieder in ähnlicher Form und an-haltender Frequenz festzustellen sind. Das gilt für Veränderungen der unterschiedlichsten Or-ganisationsbereiche und ungeachtet ständig wechselnder Managementmoden und Beratungs-konzeptionen. Obwohl die Syndromatik früh beschrieben wurde und in der Managementlite-ratur (z.B. Kanter / Stein / Jigg 1992) wohl bekannt ist, scheinen kaum Konsequenzen dar-aus gezogen worden zu sein. Mehr noch: Trotz vielfach beklagter Erfolgsdefizite von Verän-derungsmaßnahmen ist der Aufwand dafür kräftig gesteigert worden, wie die Umsatzzahlender Beratungsbranche belegen (Salaman 2002; Faust 2005). Auch für die nähere Zukunftwird eine Zunahme von Reorganisation erwartet (Pongratz / Trinczek 2006: 112 f) unddurch die Unternehmensergebnisse legitimiert: Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit steigtund auch besonders ertragreiche Organisationen halten an weiteren Umstrukturierungenfest.1

Die Forschung zur Reorganisation ist ebenso vielfältig wie unübersichtlich2 – und konntebisher nur wenig zur Vermeidung wiederkehrender Umsetzungsprobleme und zur Behebunganhaltender Erfolgsdefizite beitragen. Die meisten empirischen Studien konzentrieren sichals Fallstudien auf einzelne Veränderungsmaßnahmen oder Organisationen. Da sie fast aus-schließlich mit qualitativen Erhebungs- und Auswertungsmethoden arbeiten, zeichnen siezwar ein anschauliches Bild typischer Reorganisationsprobleme, sind jedoch kaum systema-tisch miteinander vergleichbar und wenig verallgemeinerungsfähig (siehe Kap. 2.1). Die we-nigen Metaanalysen, die bislang verfügbar sind, beschränken sich selektiv auf spezifische

1 Die diversen Ursachen und Anlässe von Reorganisationsmaßnahmen werden in der folgenden Analy-se nicht behandelt. Im weitesten Sinne treibt der Wettbewerbsdruck einer globalisierten kapitalisti-schen Ökonomie die Unternehmen zu immer neuen Umstrukturierungen (vgl. z.B. Kanter / Stein /Jigg 1992). Neben der Bewältigung interner Probleme sind auch externe Erwartungen an die ständi-ge Anpassungsbereitschaft von Organisationen zu erfüllen, die in vielen Fällen zur Nachahmung vonReorganisationsmoden führen (vgl. Kieser 1996).

2 Sie ist vorwiegend interdisziplinär angelegt – mit Schwerpunkten in der betriebswirtschaftlichen Ma-nagementlehre, der Sozialpsychologie und der Soziologie. Die Ursprünge dieser Forschungsrichtungliegen in den sozialpsychologischen Untersuchungen des Verhaltens in Gruppen durch den Kreis umKurt Lewin in den 1940er Jahren. Eine breitere Basis gewann sie in der Fundierung praxisnaher An-sätze zur Veränderung von Organisationsstrukturen in den 1960er und 1970er Jahren, zum Beispielim Konzept der Organisationsentwicklung (French / Bell 1994). In den 1980er Jahren erlangten Bera-ter und Managementanalytiker schnelle Berühmtheit (und den Status von Management-Gurus) mitwissenschaftlich durchaus relevanten, aber normativ ausgerichteten Veränderungsrezepten (u.a. Pe-ters / Waterman 1983; Kanter / Stein / Jigg 1992; Kotter 1996). Die parallel sich entwickelnde empi-rische Forschung fand mit ihren weniger plakativen Erkenntnissen weit geringere Aufmerksamkeit.

180 Hans J. Pongratz

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Forschungsbereiche oder regionale Schwerpunkte (siehe Damanpour 1991; Armenakis / Be-deian 1999; Sauer / Boes / Kratzer 2005; Caldwell 2005).

Die Vergleichbarkeit der Befunde leidet überdies unter der unzureichenden organisations-theoretischen Fundierung der gesamten Forschungsrichtung. Das herkömmliche organisati-onstheoretische Instrumentarium liefert zwar eine Reihe von Ansatzpunkten zur Analyse or-ganisatorischen Wandels (vgl. als Übersicht Demers 2007), aber zur neuen Dimension despermanenten Wandels von Organisationen sind allenfalls erste Interpretationsansätze vorhan-den.3 Die Frage, warum es trotz allen Erfahrungszuwachses nicht gelungen ist, die Reorgani-sationsproblematik zuverlässiger zu meistern, ist so bisher nicht zufriedenstellend beantwor-tet. Deshalb wird im Folgenden ein Wechsel der Perspektive vorgeschlagen: Wenn die ge-schilderten Schwierigkeiten den Unternehmenserfolg nicht verhindert und die Wandlungsdy-namik nicht gebremst haben, dann sind sie selbst möglicherweise ein substanzieller Aspektder Lösung. Sie zeugen nicht einfach (zumindest nicht vorrangig) von Lernunfähigkeit oderunzureichendem Veränderungsmanagement. Vielmehr sind sie Ausdruck und Begleiterschei-nung eines neuen Organisationsprinzips, nämlich einer spezifischen Form der Konkurrenzinnerhalb von Organisationen.

Dieser Perspektivenwechsel wird verknüpft mit Schumpeters Theorem von der „schöpferi-schen Zerstörungsleistung“ des Unternehmers als Triebkraft der Erneuerung kapitalistischerMärkte (Kap. 3.1). In formaler Analogie zu Schumpeter (bei erheblichen inhaltlichen Diffe-renzen) wird die Reorganisationsdynamik als organisationsinterne Konkurrenzsituation inter-pretiert, die produktive Energien weckt (vgl. auch Pongratz 2008). Da die Theorie Konkur-renzphänomene innerhalb von Organisationen bisher weitgehend ignoriert hat, muss das ana-lytische Instrumentarium für ein solches Phänomen erst noch entwickelt werden. VorläufigeÜberlegungen dazu führen zum Begriff der kompetitiven Kooperation (Kap. 3.2) und der Fra-ge nach der Motivation kompetitiver Leistungen (Kap. 3.3). Abschließend wird die Proble-matik der organisatorischen Integration derartiger Konkurrenzbeziehungen erörtert (Kap. 4).Hat die Organisationstheorie den Wandel bisher als Übergangsphänomen des prinzipiell sta-bilen Organisationsgefüges gesehen, so postuliert dieser Perspektivenwechsel, dass perma-nente Reorganisation durch die Etablierung unregulierter, aber produktiver Konkurrenzbezie-hungen zum Normalzustand von Organisationen werden kann. Dieser Blickwechsel ermög-licht zum einen eine stringente Deutung der disparaten empirischen Befunde der Reorganisa-tionsforschung und liefert zum anderen Ansatzpunkte für die erforderliche Theorieentwick-lung. Zunächst wird (in Kap. 2) mit der Präsentation maßgeblicher Forschungsbefunde dieempirische Ausgangslage skizziert.

Forschungsbefunde zu den unbewältigten Problemen der ReorganisationNach einem Überblick über zentrale Befunde der internationalen empirischen Forschung zuReorganisationsprozessen (Kap. 2.1) soll etwas ausführlicher auf die Ergebnisse einer eige-nen Erhebung zu tief greifenden Veränderungsprozessen in deutschen Großbetrieben einge-gangen werden (Kap. 2.2). Zwar greift auch diese Studie nur auf die subjektiven Einschät-zungen betrieblicher Experten zu (und nicht auf objektive Unternehmensdaten), aber auf derGrundlage einer repräsentativen Unternehmensauswahl liefert sie ein – wenn auch sehr gro-

2

3 Caldwell (2005) spricht in seinem Überblick über konzeptionelle Zugänge der Reorganisationsfor-schung deshalb nicht von Theorien, sondern von „competing disciplinary discourses on agency andchange in organizations, classified into rationalist, contextualist, dispersalist and constructionist dis-courses“ (2005: 83). Engere Theoriebezüge finden sich in kritischen Analysen zu Reorganisations-konzepten, z.B. von Collins (1998). Im Rahmen der Critical Management Studies wird die kritischeGesellschaftstheorie (v.a. im Anschluss an Foucault und Habermas) zur Interpretation empirischerReorganisationsanalysen genutzt (z.B. Knights / Willmott 2000; Clark / Fincham 2002).

Konkurrenz und Integration in Reorganisationsprozessen 181

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bes – Gesamtbild der Problematik. Zudem waren es die Resultate dieser Studie, die Anlasszu einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Konkurrenz und Integrati-on in Unternehmen gegeben haben.

Ergebnisse der empirischen Reorganisationsforschung im ÜberblickDie Befunde der internationalen Forschung lassen sich in drei Themensträngen bündeln, dieerstens die Effektivität von Interventionsstrategien, zweitens deren ungeplante soziale Dyna-mik und drittens die Reaktionen der betroffenen Organisationsmitglieder im Fokus haben.

(1) Zur Optimierung des Change-Managements wurde früh nach entscheidenden Gestal-tungsoptionen für den Erfolg von Reorganisationsprojekten gefahndet.4 Im Mittelpunkt ste-hen häufig die Einflussmöglichkeiten einzelner Managementgruppen:

§ Ein wesentlicher Faktor ist die Kommunikationsstrategie des Top-Managements (Pon-gratz / Trinczek 2006: 118). Als erfolgreich werden Unternehmensleiter beschrieben,die eine positive Vision des Veränderungsanliegens vermitteln (z.B. in Form einer„New Vision Speech“, Armenakis / Harris / Mossholder 1993: 697) und zugleich ei-nen realistischen Blick für praktische Umsetzungsprobleme behalten (Pettigrew 1987:666). Als Machtpromotoren (zur Unterscheidung von den Fachpromotoren siehe Wit-te / Hauschildt / Grün 1988) stehen sie für die Dringlichkeit und Entschiedenheit desVeränderungsanspruchs ein. Die Wirksamkeit solcher Botschaften gilt als höher,wenn sie in direktem persönlichem Kontakt vermittelt werden und die Möglichkeitzum Gespräch einschließen (Foehrenbach / Goldfarb 1990; Bernecker / Reiß 2002).

§ Die vielfältigen Rollenanforderungen und Qualifikationsvoraussetzungen so genann-ter Change Agents gerieten frühzeitig in den Fokus der Reorganisationsforschung (sie-he Wooten / White 1989) und führten zu diversen Typisierungsversuchen (Tichy /Hornstein 1976; Ottaway 1983). Es zeigt sich, dass Change Agents aufgrund der Be-schränkungen ihrer formalen Machtbefugnisse auf laterale Netzwerkbildung und infor-melle Einflusstaktiken („influence rather than command“, Hartley / Benington / Binns1997: 71) angewiesen sind.

§ Im Vergleich zur Erfolgsrelevanz der Kommunikation von Unternehmensleitung undProjektteam erweist sich die Bedeutung des Projektmanagements und der Organisati-onsberatung als unerwartet gering (vgl. Greif / Runde / Seeberg 2004: 291ff). Ausrei-chende Ressourcenausstattung und effiziente Projektorganisation erscheinen im Urteilvon Managern als notwendige Voraussetzung, aber keineswegs als hinreichende Be-dingung für den Veränderungserfolg (Pongratz / Trinczek 2006: 117 f). Da Evaluatio-nen von Reorganisationsprozessen selten sind, ist auch die Rolle der (internen und ex-ternen) Berater noch wenig erforscht; Fallstudien belegen ihre Verstrickung in mikro-politische Auseinandersetzungen (Iding 2000).

(2) Aus der schwierigen Suche nach Erfolgsfaktoren erwuchs die Einsicht, dass organisatori-scher Wandel nur in Grenzen planmäßig steuerbar und durch zentrale Instanzen beherrsch-bar ist. Die Aufmerksamkeit richtete sich deshalb verstärkt auf die komplexe soziale Eigen-dynamik von Reorganisationsprozessen:

2.1

4 Methodisch ist der Nachweis von Erfolgsfaktoren für ein komplexes soziales Geschehen schwierig.Auch für die Reorganisationsforschung gilt die Kritik, die generell an der Erfolgsfaktorenforschungin der Managementlehre geübt wird (siehe March / Sutton 1997; Nicolai / Kieser 2002): Sowohl dieMessung des Veränderungserfolgs (als abhängiger Variable) als auch die Operationalisierung mögli-cher Erfolgsfaktoren (als unabhängigen Variablen) wirft beträchtliche Probleme auf (die etwa beiGreif / Runde / Seeberg 2004 erörtert werden). Die Erfolgsfaktoren, die immer wieder in privat finan-zierten Studien ausgewiesen werden (siehe z.B. Capgemini 2005; IBM 2007), beruhen in der Regelauf deskriptiven Analysen mit ungeklärter Stichprobenbasis.

182 Hans J. Pongratz

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§ Im Mittelpunkt steht die Frage nach den Ursachen und Formen jenes Widerstandsvon Mitarbeitern und Managern gegen Reorganisationsprojekte, der in den meistenFallstudien in mehr oder weniger ausgeprägter (und offener) Weise zutage tritt. „Re-sistance to change“, von Lewin (1947) noch als gruppendynamischer Effekt begrif-fen, wurde oft als vorsätzliche Gegnerschaft gedeutet, die es zu überwinden gelte. Zu-nehmend werden die ambivalenten Motive vieler Betroffener und das konstruktive Po-tenzial ihrer veränderungskritischen Haltungen erkannt (als Überblick siehe Dent /Goldberg 1999 und Piderit 2000). Neben Verlustängsten bezüglich Arbeitsplatz undKarriere führen vor allem Verunsicherungen hinsichtlich Leistungsanforderungen undKooperationsbeziehungen zu distanzierten Haltungen (Armenakis / Bedeian 1999:304ff).

§ Der Dissens zwischen engagierten Change Agents und zurückhaltenden Betroffenengibt Anlass zu Aushandlungsprozessen und Konflikten, in denen ein ganzes Arsenalvon Handlungsstrategien und Machtmitteln zum Einsatz kommen kann (Buchanan /Badham 1999). Für Change Agents wird machtpolitisches Taktieren zur systemati-schen Rollenanforderung (ebd.: 624). Die Vielzahl der beteiligten Akteure mit unter-schiedlichen Interessenlagen erzeugt unübersichtliche mikropolitische Konstellatio-nen, deren Konfliktlinien und Koalitionsbildungen von den in der Organisation übli-chen Kontroversen oft abweichen; Arrangements und taktische Machtbalancen sindeher von kurzer Dauer (Ortmann et al. 1990: 395ff).

(3) Im Gefolge derartiger Analysen reiften realistischere Einschätzungen des Reorganisati-onsgeschehens heran, wonach viele Veränderungsprojekte nicht nur ihre Ziele verfehlen, son-dern auf die Betroffenen geradezu lähmend wirken (zur Psychodynamik der Erwartungsstruk-turen im Organisationswandel siehe Becke 2008). Die Erforschung der Reaktionen von Ma-nagern und Mitarbeitern liefert ein ernüchterndes Resultat:

§ Der durch Reorganisationsmaßnahmen verursachte Stress hängt mit der Infragestel-lung bewährter Routinen zusammen (Armenakis / Bedeian 1999: 306 f); bisher erfolg-reiche Praktiken und Kompetenzen werden als entwertet empfunden. Die Verunsiche-rung ergreift auch viele Führungskräfte, die sich unklaren und widersprüchlichen Rol-lenanforderungen ausgesetzt sehen und den Veränderungsprozess als Zumutung erle-ben (Kotthoff 1996; Faust / Jauch / Notz 2000).

§ Reorganisationen lösen starke Emotionen aus, die von enthusiastischer Zustimmungbis zu bitterer Enttäuschung reichen (Finstad 1998: 731). Positive Gefühle steheneher im Zusammenhang mit dem alltäglichen Arbeitsumfeld, während negative Gefüh-le primär Enttäuschung vom oberen Management ausdrücken (Kiefer / Müller / Ei-cken 2001; Kiefer 2002). Manager der mittleren Ebenen (ebenso wie Gewerkschafts-vertreter im Betrieb) können durch „emotional balancing“ zur Bewältigung diesesSpannungsverhältnisses beitragen, indem sie mit einem realistischen positiven Com-mitment offen bleiben für Bedenken und Ängste der Mitarbeiter (Huy 2002).

§ So unterschiedlich wie die Emotionen fallen auch die Handlungsmuster der Betroffe-nen aus (Armenakis / Bedeian 1999: 309 f), wobei eher von spontanen situativen Ar-rangements als von gezielten Bewältigungsstrategien auszugehen ist (Orlikowski1996). Ein typisches Muster ist: „temporary adoption, but ultimate rejection of thenew behaviors necessary to achieve lasting success“ (Armenakis / Bedeian 1999:310). Im Extremfall von „excessive change“, vor allem bei sich in widersprüchlicherWeise überlagernden Veränderungsanforderungen, werden Reaktionen von passivemGehorsam bis hin zu Sabotage beobachtet (Stensaker et al. 2002: 303ff) – sowie be-sonders häufig BOHICA („bend over, here it comes again“) als Lernerfahrung aus ver-gangenen Projekten, die da lautet: in Deckung gehen und abwarten „until this wind ofchange had blown over“ (ebd.: 304).

Konkurrenz und Integration in Reorganisationsprozessen 183

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Im Zusammenhang gesehen vermitteln diese Befunde jenes eingangs skizzierte Bild einerverwickelten und aufreibenden sozialen Konstellation: anspruchsvolle Veränderungsvisio-nen der Geschäftsführung (die aber nicht geschlossen vertreten werden), motivierte ChangeAgents (denen Überlastung durch eine Vielzahl von Aufgaben droht), verunsicherte Füh-rungskräfte und abwartende Mitarbeiter. Machtauseinandersetzungen und emotionale Belas-tungen zeugen von einer intensiven sozialen Dynamik und von erheblichen Problemen ihrerBewältigung. Die Gleichzeitigkeit von Zentralisierungs- und Dezentralisierungsbestrebun-gen (vgl. Kühl 2002; Pongratz 2008) erzeugt zusätzliche Widersprüche: Ergebniserwartun-gen werden zentral verfügt und organisationsstrategisch verfolgt, operative Gestaltungsfor-men werden dezentral entwickelt und mikropolitisch verhandelt. Auf welche Weise die aus-einanderstrebenden Bewegungen wieder organisatorisch integriert werden, lässt die bisheri-ge Forschung noch kaum erkennen (vgl. Kap. 4).5 Doch können diese Probleme keineswegsmehr als vorübergehende Begleiterscheinungen begrenzter Transformationen gelten (wie eszunächst den Anschein haben mochte), sondern sie werden als dauerhaftes Organisationsphä-nomen erkennbar, das permanente Anpassungsfähigkeit erzwingt (Kratzer 2003).

Reorganisationsprobleme in deutschen GroßbetriebenMit einer Befragung deutscher Großunternehmen (Vollerhebung aller privatwirtschaftlichenBetriebe mit mehr als 1000 Mitarbeitern) im Jahr 2006 wollten wir nicht die genannten For-schungsdefizite beheben, sondern ein (notwendig pauschal bleibendes) Gesamtbild der Reor-ganisationsproblematik zeichnen.6 Ziel der Studie war ein systematischer Überblick über Er-folgsquoten und zentrale Problemfaktoren tief greifender Veränderungsprozesse: strategi-sche Neuausrichtung, grundlegende Restrukturierung, Kulturwandel sowie Mergers & Ac-quisitions. Bezüglich der Messung des Reorganisationserfolgs ebenso wie hinsichtlich derBerücksichtigung der Diversität von Veränderungsprozessen steht sie vor denselben Heraus-forderungen wie die Erfolgsfaktorenforschung (siehe Fußnote 4). Das Kernproblem ist derMangel an objektiven Unternehmensdaten zu Verlauf und Ergebnis von Umstrukturierungs-maßnahmen. Auch die hier durchgeführte schriftliche Expertenbefragung muss sich auf sub-jektive Urteile von Projektverantwortlichen stützen, von denen zwar kompetente Einschät-

2.2

5 Für die Forschungslage trifft weiterhin die Einschätzung Pettigrews zu, „that, with a few limited andnoteworthy exceptions […], much research on organization change is ahistorical, aprocessual, andacontextual in character“ (1987: 655). Die Berücksichtigung historischer Konstellationen, dynami-scher Prozessverläufe und konkreter Kontextbedingungen würde indessen die Komplexität des Erklä-rungsanspruchs erheblich steigern – und nicht nur hohe Anforderungen an die Datengewinnung stel-len, sondern wesentlich erweiterte Theoriegrundlagen voraussetzen.

6 Die Studie wurde von der Unternehmensberatung C4 Consulting GmbH, Düsseldorf, in Auftrag ge-geben und als Forschungsbericht veröffentlicht (Houben et al. 2007). Beteiligt waren Rainer Trinc-zek und Christa Herrmann von der TU München sowie Hans Pongratz, Christoph Biester und MarenTäger von der LMU München. An die Geschäftsführer und Vorstände aller privatwirtschaftlichenGroßbetriebe in Deutschland (insgesamt 1017 Betriebe entsprechend der Betriebsstatistik der Bundes-agentur für Arbeit) wurde die Bitte gerichtet, den Fragebogen an Führungskräfte weiterzureichen,die tief greifende Veränderungsprozesse geleitet hatten. Da jedes Unternehmen drei Fragebögen er-hielt, kamen aus einigen Betrieben mehrere Antworten. In der Zeit von Mai bis Juli 2006 gingen ins-gesamt 201 gültige Fragebögen aus 167 Unternehmen ein, was einer Rücklaufquote (bezogen auf dieZahl der Betriebe) von 16 % entspricht. Gemessen an den Kriterien Betriebsgröße und Branche weistdas Untersuchungssample einen hohen Grad an Repräsentativität auf; leicht überrepräsentiert sindsehr große Unternehmen sowie die Finanzbranche.

184 Hans J. Pongratz

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zungen erwartbar sind, die dennoch von persönlichen Eindrücken und partikularen Verände-rungsmotiven bestimmt bleiben.7

Abb. 1: Analytisches Modell zur Erklärung von Veränderungserfolg (unter Angabe der inder Regressionsanalyse untersuchten Einflussfaktoren)

Erfolgsquote

Motivations- grad

Kongruenz

H1

H6

Systeme

Führung

Kommunikation

Kultur

Personen

Organisation

Problem- komplexe

Veränderungs-maßnahmen

Ressourcen

Orientierung

Unsicherheits-bewältigung

.209**

.384** H4-.221*

H5-.026

H2-.055

H3.098

Auf der Grundlage der qualitativen Reorganisationsforschung (siehe Kap. 2.1) – aber wegender geschilderten Theoriedefizite ohne explizite theoretische Begründung – wurde vorab einexploratives analytisches Modell zum Zusammenhang zentraler Problemfaktoren mit demVeränderungserfolg entwickelt (Abb. 1). Diesem Modell liegen drei Basisannahmen zugrunde:

§ Annahme A: Der Reorganisationserfolg hängt primär von der Veränderungsmotivati-on ab (H1); zahlreichen Fallstudienbefunden zufolge werden Veränderungsprozessedurch mangelnde Beteiligung der Betroffenen massiv beeinträchtigt.

§ Annahme B: Als Einflussfaktoren sowohl auf die Motivation als auch auf den Verän-derungserfolg werden in der Reorganisationsforschung vier zentrale Problemkomple-xe identifiziert: Führungsprobleme (H2) und mangelnde Ressourcenausstattung (H3),Defizite der Orientierung (H4) und der Unsicherheitsbewältigung (H5) reduzierenden Veränderungserfolg.

§ Annahme C: Art und Umfang von Veränderungsmaßnahmen beeinflussen die genann-ten Zusammenhänge: Generell steht eine Reduzierung von Maßnahmen und eine ent-sprechend geringe Kongruenz (Ganzheitlichkeit im Sinne von Breite und Häufigkeitder Maßnahmen) dem Reorganisationserfolg im Wege (H6).

7 Auch für erfahrene Projektmanager ist es schwierig, im Großbetrieb einen Überblick über sämtlicheReorganisationsprozesse zu gewinnen und ein zuverlässiges Urteil zum Gesamtgeschehen abzuge-ben. Aufgrund der eigenen Projektverantwortung sind eine Überschätzung des Erfolgs und die Unter-schätzung von Problemen zu erwarten. Diese Verzerrungstendenz wird bestätigt durch Kontrollfra-gen zu dem zuletzt geleiteten Veränderungsprojekt. Die Befragten zählen größtenteils zum Top-Ma-nagement (25 % Geschäftsführung, 30 % Bereichsleitung) und verfügen über eine langjährige Be-triebszugehörigkeit (von durchschnittlich 14 Jahren) bei einem Durchschnittsalter von 45 Jahren.

Konkurrenz und Integration in Reorganisationsprozessen 185

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Die Auswertung liefert zunächst eine Reihe aufschlussreicher deskriptiver Befunde (zur Ope-rationalisierung der Variablen und zu weiteren Resultaten siehe Houben et al. 2007). DieSchätzungen zur Erfolgsquote von Reorganisation bestätigen die verbreitete Problemdiagno-se: Nur 30 % der Veränderungsprozesse werden im Durchschnitt als „voll erfolgreich“, 41 %als „überwiegend erfolgreich“ gewertet. Demgegenüber werden zwar lediglich 10 % der Pro-zesse als „gescheitert“ befunden, aber gemeinsam mit 20 % „wenig erfolgreichen“ Prozes-sen gilt ein knappes Drittel der Veränderungsprojekte als Problemfall.8 Noch etwas skepti-scher fällt das Expertenurteil zur Veränderungsmotivation der Belegschaft aus: Knapp dieHälfte der Mitarbeiter gilt als entweder „nicht motiviert“ (16 %) oder „wenig motiviert“(29 %). „Eher motivierte“ (37 %) und „voll motivierte“ (19 %) Mitarbeiter werden zwar inder Mehrheit gesehen, aber für eine breite Mitwirkung an Umstrukturierungsmaßnahmensprechen auch diese Werte nicht.

Abb. 2: Problempunkte nach der Rangfolge der subjektiv geschätzten Erfolgsrelevanz (Anga-ben in Prozent)

20

33

34

22

37

32

35

30

27

23

24

19

18

18

16

10

41

23

22

34

15

18

11

13

10

13

10

10

10

6

5

3

0 10 20 30 40 50 60 70

Engagement obere Führung

Unklares Zielbild

Erfahrung mit Verunsicherung

Uneinigkeit oberste Führung

Unterstützung Linienmanagement

Informationen Mitarbeiter

Bewältigung von Ängsten

Psychologische Faktoren

Personelle Ressourcen

Vertrauensvolle Kommunikation

Planung Veränderungsprozess

Widersprüchliche Veränderungsziele

Aktive Beteiligung der Mitarbeiter

Unterstützung anderer Abteilungen

Beschränkung Planungsperspektive

Finanzielle Ressourcen

Sehr relevant

Entscheidend

Als den wichtigsten Problemkomplex identifizieren die Experten den Faktor „Führung“. Ineiner Liste von 16 Problempunkten (Abb. 2) rangiert das konsequente Auftreten der Füh-rungsspitze an vorderster Stelle: In „entscheidender“ Weise behindern demnach den Verän-derungserfolg „unzureichendes Engagement der oberen Führungsebenen“ (41 %) und „Unei-

8 Die Frage zur Schätzung der Erfolgsquote lautet: „Wenn Sie an alle tief greifenden Veränderungspro-zesse denken, die Sie in Ihrem Unternehmen kennen gelernt haben, zu welcher Gesamteinschätzungkommen Sie? Wie viel Prozent dieser Veränderungsprozesse schätzen Sie ein als (von insgesamt100 %): voll erfolgreich … %, überwiegend erfolgreich …%, wenig erfolgreich …%, gescheitert …%?“ Der Motivationsgrad wird analog dazu durch die Schätzung der Prozentanteile der Belegschafthinsichtlich von vier Motivationsstufen gemessen.

186 Hans J. Pongratz

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nigkeit auf den obersten Führungsebenen (sprechen nicht mit einer Stimme)“ (34 %). Für dieaddierten Werte „sehr relevant“ und „entscheidend“ (Abb. 2) liegen die Items des Faktors„Führung“ auf den Rängen 1, 4, 5 und 6. Den zweitwichtigsten Problemkomplex aus Sichtder Experten bildet die „Unsicherheitsbewältigung“ (Rang 3, 7, 8, 10 und 14), gefolgt vonden Faktoren „Orientierung“ (Rang 2, 11, 12 und 15) und „Ressourcen“ (Rang 9, 16). Nebeninkonsequenter Führung wird also vor allem der unzulängliche Umgang mit den psychi-schen Belastungen der Reorganisation für Veränderungsprobleme verantwortlich gemacht.Diese Bewertungen der deutschen Führungskräfte stimmen in bemerkenswertem Maße mitden Erkenntnissen der Reorganisationsforschung überein.

Die Annahmen des analytischen Modells zum Zusammenhang von Veränderungsmaßnah-men und Problemkomplexen mit Erfolgsquote und Motivationsgrad werden durch die Re-gressionsanalyse nur teilweise gestützt (siehe Abb. 1). Die Faktoren „Führung“ (H2), „Res-sourcen“ (H3) und „Unsicherheitsbewältigung“ (H5) weisen nur schwache Zusammenhängemit der Erfolgsquote auf. Nur der Faktor „Orientierung“ (H4) zeigt in der multivariaten Ana-lyse einen signifikanten Einfluss auf die Erfolgsquote: Seine vier Merkmale „Klarheit derZielbilder“, „Klarheit der Planungsperspektive“, „Widerspruchsfreiheit der Veränderungszie-le“ und „Beschränkung der Planungsperspektive“ kommen also relativ unabhängig vom Mo-tivationsgrad zur Wirkung. Das sind alles Merkmale, die einen Veränderungsprozess als über-legtes, planvolles Vorgehen kenntlich machen und rational nachvollziehbar erscheinen las-sen. Im Kontrast zur emotionalen Dimension von Motivation und Unsicherheitsbewältigungverweist der Orientierungs-Faktor auf die kognitive Dimension der Stimmigkeit von Rich-tung und Ziel der Veränderung, welche dem Vorhaben Sinn verleiht.

Neben dem Faktor „Orientierung“ weist die Regressionsanalyse den Motivationsgrad unddie Kongruenz der Veränderungsmaßnahmen als unabhängige Einflussfaktoren auf die Er-folgsquote aus – und bestätigt damit die Hypothesen H1 und H6 (siehe Abb. 1). Erwartungs-gemäß hat der Motivationsgrad den stärksten Einfluss auf die Erfolgsquote: Je höher die Ex-perten den Anteil der motivierten Mitarbeiter einschätzen, umso größer fallen auch die ange-gebenen Anteile an erfolgreichen Veränderungsprozessen aus (H1). Die Kongruenz der Ver-änderungsmaßnahmen stellt neben dem Orientierungs-Faktor ein zweites bislang unterschätz-tes Wirkungsmoment dar. Mit Kongruenz wird die Ganzheitlichkeit der Veränderung in denBlick genommen: Wie umfassend und konsequent sind Veränderungsmaßnahmen ange-legt?9 Beschränken sie sich auf die „harten“ Komponenten „Organisation“ und „Systeme“oder schließen sie die „weichen“ Komponenten „Kommunikation“, „Kultur“ und „Perso-nen“ mit ein? Der Anteil erfolgreicher Prozesse wird von den befragten Experten höher an-gesetzt, wenn „harte“ und „weiche“ Komponenten zu einer ausgeprägten Kongruenz beitra-gen (H6).

Zusammenfassend betrachtet erweisen sich die drei Faktoren Motivation, Orientierungund Kongruenz als relativ unabhängig voneinander wirksame Einflüsse auf die (von betrieb-lichen Experten geschätzte) Erfolgsquote tief greifender Reorganisationsprozesse in deut-schen Großbetrieben. In welcher Weise Orientierung und Kongruenz genau wirksam wer-den, ist mit dieser schriftlichen Befragung nicht zu klären und bedarf neuer Aufmerksamkeitin der Forschung. Alle drei Faktoren lassen sich indes verstehen als Hinweise auf die Rele-vanz von Integrationsleistungen in sich reorganisierenden Betrieben. Denn im Reorganisati-onsprozess geraten bewährte Handlungsmuster und Veränderungsansprüche in Widerspruchzueinander und divergierende Innovationsvorschläge stellen das gemeinsame Organisations-verständnis in Frage. Der Kongruenz-Faktor verweist auf die Anforderung, Veränderungs-

9 Gemessen wird die Kongruenz mit einem Index, der die Häufigkeit aller 13 abgefragten Verände-rungsmaßnahmen erfasst. Auf die Bedeutung der Kongruenz von Veränderungsvorhaben, Umfeldbe-dingungen und Prozessmerkmalen für den Reorganisationserfolg hat Damanpour (1991) hingewiesen.

Konkurrenz und Integration in Reorganisationsprozessen 187

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maßnahmen wirkungsvoll aufeinander abzustimmen. Orientierung macht Verlauf und Rich-tung der Reorganisation nachvollziehbar und damit als sinnvoll erfahrbar. Und Motivationträgt zur Akzeptanz von Veränderungen bei – als Voraussetzung, um an deren Umsetzungkonstruktiv mitzuwirken.

Reorganisation als innerbetriebliche KonkurrenzDie geschilderte soziale Dynamik von Reorganisationsprozessen (Kap. 2.1) und der Beitragvon Integrationsleistungen zum Reorganisationserfolg (Kap. 2.2) lassen sich in einen sinn-vollen Zusammenhang miteinander bringen, wenn sie als Ausdruck innerbetrieblicher Kon-kurrenzverhältnisse interpretiert werden. Dieses Argument soll in drei Schritten entwickeltund vertieft werden: Die Analogie zum Theorem „schöpferischer Zerstörung“ betont den not-wendigen Perspektivenwechsel (Kap. 3.1), der den Modus kompetitiver Kooperation (Kap.3.2) und dessen Zusammenhang mit projektförmiger Arbeitsorganisation (Kap. 3.3) in denBlick rückt.

Schöpferische Zerstörung nach innenIn der Reorganisationsdynamik ist (beabsichtigt oder unbeabsichtigt) ein Konkurrenzverhält-nis angelegt: Strategien, Strukturen und Prozesse werden unter dem Veränderungspostulatständigen Bewährungsproben ausgesetzt, in denen sie entweder bestehen oder sich ändernmüssen. Veränderungsprojekte schaffen Konkurrenzsituationen zwischen bestehenden Orga-nisationselementen und deren Neukonzeption: Die Verfechter beider Seiten sind gehalten,ihre Ressourcen zu mobilisieren, um entweder erprobte Routinen zu behaupten oder Neue-rungen durchzusetzen.10 Dieser Konkurrenzmechanismus bedeutet nicht kontinuierlichenWandel (im Sinne etwa von Schreyögg / Noss 2000), sondern regelmäßige Konfrontationmit Veränderungsanforderungen bei prinzipiell offenem Ausgang. Die Funktion dieses Prin-zips ist die Öffnung der Organisation für permanente Anpassungsoptionen an sich änderndeUmweltbedingungen (Märkte, Technologien, Managementmodelle, Arbeitskräfte usw.), oh-ne bewährte Handlungsmuster bedingungslos preiszugeben. Es erhöht die Flexibilität beigleichzeitiger Beschränkung des Risikos vorschnellen und übermäßigen Wandels. In diesemSinne können auch Reorganisationen, die nichts verändern, dann als wirkungsvoll gelten,wenn sie ein bestehendes Handlungsmuster als weiterhin geeigneten Lösungsansatz auswei-sen. Der Projekterfolg hängt nicht von der Umsetzung eines Plans ab, sondern von der Aus-sagekraft des Wettstreits zwischen Erneuerungs- und Bewahrungsbestrebungen.11

Das der Reorganisation inhärente Konkurrenzprinzip lässt sich – in Analogie zu Schumpe-ters berühmtem Theorem – als „schöpferische Zerstörung nach innen“ verstehen. Schumpe-ter sieht im innovativen Unternehmer den Agenten jener schöpferischen Zerstörung, welchedie kapitalistische Wirtschaft immer wieder von Neuem revolutioniert und damit ihre Ent-wicklung vorantreibt. Das „Erkennen und Durchsetzen neuer Möglichkeiten“ als „Wesender Unternehmerfunktion“ (Schumpeter 1929: 483) richtet sich vorwiegend nach außen aufdas Marktumfeld des Unternehmens, nämlich auf die Erschließung neuer Produkte, Absatz-märkte und Bezugsquellen (ebd.). Auf organisatorische Veränderungen in Form neuer Pro-duktionsmethoden und überbetrieblicher Kooperationsformen (z.B. Vertrustung) weist

3

3.1

10 Zur Vereinfachung der Argumentation werden im Folgenden antagonistische Positionen unterstellt,obwohl realiter von einem Kontinuum von Haltungen zwischen Erneuerung und Bewahrung (mitvielen Zwischenpositionen) auszugehen ist.

11 Verschiedene Analysen bestätigen die Gleichzeitigkeit von Wandel und Stabilität in Reorganisati-onsprozessen: „Empirically and theoretically, change and continuity need one another“ (Pettigrew1987: 649; vgl. auch Leana / Barry 2000 oder Huy / Mintzberg 2003). Hier wird sie interpretiert alsKonkurrenzbeziehung zwischen Akteuren mit unterschiedlichen Interessen.

188 Hans J. Pongratz

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Schumpeter hin, ohne diesen Aspekt weiter zu vertiefen. In seinem Spätwerk geht er (im An-schluss an Weber) von stabilisierten Organisationsstrukturen und mechanisierten Abläufenaus: Im bürokratisierten Betrieb habe sich der Unternehmer selbst überflüssig gemacht undseine Innovationsfunktion an spezialisierte Expertengruppen abgegeben (Schumpeter 1950:213ff).

Im Widerspruch zur Bürokratisierungsannahme macht die Reorganisationsdynamik dieProzesse und Strukturen der Organisation selbst zum Gegenstand schöpferischer Zerstörung.Der unternehmerische Impuls richtet sich nach innen auf die Umwälzung des organisatori-schen Kooperationsgefüges. Sein Erfolg entscheidet sich nicht im Marktmodus (wie im Au-ßenverhältnis), sondern in der Konkurrenz zwischen Erneuerern und Bewahrern (im Innen-verhältnis). Dabei wirkt der Anreiz zur kreativen Lösungssuche nicht nur für die Neuerer,sondern auch für deren Opponenten. Denn beide Seiten geraten unter den Druck, nach inno-vativen Kombinationen alter und neuer Elemente zu suchen, um ihre Grundposition durchzu-setzen. Dass alles beim Alten bleibt, ist ebenso die Ausnahme wie eine vollständige und plan-mäßige Neugestaltung: Das Innovationspotenzial liegt in der Synthese von Alt und Neu – injener erfinderischen Neukombination der Produktionsfaktoren, welche Schumpeter als die ei-gentlich unternehmerische Leistung erachtet. Das Theorem „schöpferischer Zerstörung“trägt zum Verständnis von Reorganisationsprozessen bei, indem es die produktiven Potenzia-le von zunächst chaotisch und destruktiv erscheinenden Konkurrenzbeziehungen aufzeigt.

Merkmale kompetitiver KooperationNoch stellt die Konkurrenz zwischen Organisationsmitgliedern ein wenig systematisch be-handeltes Gebiet der Organisationsforschung dar. Zwar ist der Kampf um Führungspositio-nen, mit denen in hierarchischen Organisationen der Aufstieg in verantwortungsvolle und lu-krative Stellen (und der individuelle Karriereerfolg) verbunden sind, ein klassisches Thema.Allerdings hat sich das Forschungsinteresse mehr auf Ursachen und Verlaufsmuster von Kar-rieren als auf die Rivalität der Kollegen im Ausleseprozess gerichtet (vgl. Adamson / Doher-ty / Viney 1998; Sullivan 1999). Stärkere Aufmerksamkeit wird den Kollegenbeziehungenin interaktionistischen Studien zur Auseinandersetzung um die Gestaltung der Kooperations-strukturen zwischen verschiedenen Berufsgruppen in professionalisierten Organisationen ge-widmet (z.B. Strauss et al. 1963; Stelling / Bucher 1972). Anlass zu Konflikten geben dem-nach vor allem unterschiedliche berufsfachliche Kulturen und Statusansprüche; die Ergebnis-se der Aushandlungsprozesse lassen sich mit Strauss (1978) als „negotiated order“ charakte-risieren (siehe auch Fine 1984; Hall 1987). Zumeist aber wird die Konkurrenz um Ressour-cen (Budgets, Verantwortungsbereiche) und Erträge (Lohn, Anerkennung) als Führungspro-blem im Verhältnis von Management und Mitarbeitern und nicht als laterale Konkurrenz be-handelt.

In Reorganisationsprozessen weist die Konkurrenz um Ressourcen und Erträge systema-tisch über klassische Fragen der Personalführung hinaus. Der besondere Modus des verdeck-ten Wettstreits um die Gestaltung des organisatorischen Wandels lässt sich als kompetitiveKooperation kennzeichnen. Damit wird betont, dass die Konkurrenz (a) nicht zwischen belie-bigen Akteuren, sondern im Wesentlichen zwischen Organisationsmitgliedern (und derenVerbündeten) stattfindet und (b) den organisatorischen Rahmen nicht nur voraussetzt, son-dern konstitutiv an seiner Erhaltung und Entwicklung mitwirkt. Kompetitive Kooperationweist (c) zudem umfassenden Charakter auf und erfasst potenziell alle Organisationsmitglie-der – unabhängig von ihren Interessenpositionen.

Drei weitere Merkmale sind essenziell: (d) das experimentelle Prinzip, (e) die unbestimm-ten Entscheidungsbedingungen und (f) die Endlosigkeit des Wettstreits. Das experimentellePrinzip kompetitiver Kooperation folgt der Logik von Versuch und Irrtum und erfordert eine

3.2

Konkurrenz und Integration in Reorganisationsprozessen 189

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Vielzahl von Lösungsversuchen: Teile der betrieblichen Handlungsarena werden frei gege-ben für die Sondierung effizienter betrieblicher Gestaltungsansätze. Dabei bleiben die Ent-scheidungskriterien großenteils unbestimmt; sie können im Prozessverlauf variieren und so-wohl Aspekte von Effizienz als auch von Legitimation und Macht beinhalten. Entscheidun-gen über „erfolgreiche Lösungen“ beenden deshalb das Konkurrenzverhältnis nicht, sondernmarkieren lediglich Zwischenetappen in einem fortdauernden Wettstreit.

Aus organisationstheoretischer Sicht fallen neben den machtanalytischen Bezügen die Ana-logien derart verdeckt-experimenteller Konkurrenzbeziehungen mit dem Mülleimer-Modelldes Entscheidungsverhaltens in mehrdeutigen Situationen vom Typus „organisierter Anar-chie“ ins Auge: etwa bezüglich inkonsistenter Ziele, wechselnder Teilnehmer oder unklarerEntscheidungsregeln (Cohen / March / Olsen 1972; March / Olsen 1976). Doch steht hier(im Unterschied zum Mülleimer-Modell) nicht die Entscheidungsfindung im Mittelpunkt,sondern die Generierung innovativer Gestaltungsansätze aus Initiativen der Organisationsba-sis. „Schöpferische Zerstörung nach innen“ mobilisiert die Kreativitätsressourcen der Beleg-schaft für die organisatorische Entwicklung relativ unabhängig von zentralen Entscheidungs-verfahren. Hier kommt die Gleichzeitigkeit von Zentralisierungs- und Dezentralisierungsten-denzen (siehe Kap. 2.1) zur Wirkung: Dezentrale Handlungsfelder werden unregulierter Kon-kurrenz ausgesetzt, um den Pool an Lösungsansätzen für zentrale Entscheidungen zu erwei-tern. Das Votum der Organisationsleitung leistet dann zwar eine formale Integration der Wett-bewerbsresultate, beendigt aber nicht die durch die rivalisierenden Aktivitäten ausgelöstenTurbulenzen.

Denn auch nach einer formalen Entscheidung bleibt die Dynamik kompetitiver Kooperati-on spürbar: Machtkämpfe wirken nach, Bündnisse und Gegnerschaften bestehen fort, Intrans-parenz von Entscheidungskriterien wird als Ungerechtigkeit bewertet, vergebliche Anstren-gungen münden in Enttäuschung, nicht anerkannte kreative Leistungen werden trotzig wei-terverfolgt. Dieses Unruhepotenzial droht destruktiv zu werden, wenn es nicht mehr in denWettstreit innovativer Gestaltung eingebunden ist. Dieser Gefahr begegnet die Strategie per-manenter Reorganisation, indem sie stets von neuem Umstrukturierungsprojekte zur nutzbrin-genden Verwertung der einmal geweckten kreativ-zerstörerischen Kräfte schafft. Empiri-sche Forschungen (siehe v.a. Stensaker et al. 2002) lassen allerdings darauf schließen, dassauch diese Form der Einbindung auf längere Frist die Energien aufzehren und die Innovati-onsressourcen erschöpfen kann. Permanente Reorganisation ist kein Perpetuum mobile, dasseine Antriebskraft auf Dauer aus sich selbst heraus erneuert.

Projektförmige Arbeit als Organisationsmodus interner KonkurrenzDamit stellt sich die Frage, welche Handlungsmotive die skizzierte Konkurrenzdynamik inGang halten. Schumpeter konzipiert schöpferische Zerstörung als Prozess, der durch die Tat-kraft unternehmerischer Akteure vorangetrieben wird (Swedberg 1994). Als deren Motivezur innovativen Ressourcenkombination gibt er an: „der Traum und der Wille, ein privatesReich zu gründen“, „Siegerwille“ und „Freude am Gestalten“ (Schumpeter 1964: 138). Auswelchen Quellen speist sich die Innovationsenergie von Reorganisation (insbesondere wennman die geschilderten Motivations- und Orientierungsprobleme in Rechnung stellt)? Ein „pri-vates Reich“ lässt sich mit der Beteiligung an Veränderungsprozessen kaum schaffen: Gestal-terische Initiativen führen innerhalb der Organisation nicht zur eigenständigen Unterneh-mung (wie unter Marktbedingungen), sondern bleiben auf die Bewilligung von Handlungs-freiräumen angewiesen. Auch für „Siegerwillen“ gibt es wohl ergiebigere Betätigungsfelder(innerhalb der Organisation beispielsweise den Aufstieg in der Hierarchie), selbst wenn dieKonkurrenzsituation gelegentlich Wettbewerbscharakter annimmt. Als Motiv für innovatori-sches Unternehmertum innerhalb von Organisationen ist in erster Linie die „Freude am Ge-

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stalten“ in Betracht zu ziehen. Denn durch Dezentralisierungsmaßnahmen werden organisa-torische Handlungsbeschränkungen abgebaut und eigenständige Initiativen ermutigt.

In den empirischen Reorganisationsstudien ist eine hohe intrinsische Motivation von Chan-ge Agents vielfach belegt, aber bisher kaum systematisch untersucht. Eingehendere Analy-sen der Motivation zur gestalterischen Initiative in Organisationen stammen aus Studien zuselbstbestimmter Projektarbeit (vgl. Kalkowski / Mickler 2009). Projekte sind zeitlich befris-tete und ergebnisorientierte Kooperationszusammenhänge zur Bewältigung nicht-alltägli-cher komplexer Aufgaben. In einer explorativen Studie zu Gruppen- und Projektarbeit in deut-schen Unternehmen haben Pongratz und Voß (2003: 66ff) Leistungsorientierungen von Be-schäftigten ermittelt, die gerade aus den schwer kalkulierbaren Anforderungen von Projek-ten emotionale Befriedigung (ihren „Spaß“ an der Arbeit) ziehen. Diese Haltung der „Leis-tungsoptimierung“ ist vom Anspruch der gemeinsamen Bewältigung einer ungewöhnlichenprofessionellen Herausforderung geleitet (vgl. auch das psychologische Konzept der Proakti-vität: Crant 2000; Parker / Turner / Williams 2006). Trotz häufig bis an die Leistungsgren-zen reichender Belastungen sind diese Manager und Mitarbeiter willens, den eigenen Projekt-beitrag in einem selbstgesteuerten Optimierungsprozess auf flexible Handlungserfordernisseabzustimmen. Dazu werden unternehmerische Handlungsstrategien eingesetzt, wie die Be-reitschaft zum kalkulierten Risiko oder Improvisation zur kreativen Lösungsfindung.

Der Orientierungstypus „Leistungsoptimierung“ findet sich auch in anderen Arbeitsfor-men (vgl. Pongratz / Voß 2004), aber unter Bedingungen qualifizierter Projektarbeit schei-nen die Voraussetzungen dafür besonders günstig zu sein (Pongratz / Voß 2003: 199ff).Denn Projekte bieten einerseits reizvolle und bei begrenzter Ressourcenausstattung recht an-spruchsvolle Aufgaben und andererseits Handlungsspielräume für selbstbestimmtes Arbei-ten und kreative Lösungssuche. In einer kultursoziologischen Analyse zeigen Boltanski undChiapello (2006: 147ff), wie die „projektbasierte Organisation“, die „der Kreativität und derInnovation verpflichtet“ (ebd.: 176) ist, in den 1990er Jahren zum vorherrschenden Modellder Managementliteratur geworden ist. Mit ihr verbinde sich ein unternehmerisches Verständ-nis von Aktivität im Sinne von „etwas in Angriff nehmen, etwas unternehmen, sich verän-dern“ (ebd.: 209 f). Projektarbeit schafft eher als die klassisch hierarchische Führungspositi-on Anreize, im Schumpeterschen Sinne unternehmerisch tätig zu werden.

Die Analogien von Ergebnissen zur innovativen Projektarbeit mit der vorgeschlagenen In-terpretation der Innovationsdynamik von Reorganisation geben Anlass zur Annahme, dassin beiden Fällen ein ähnlicher Konkurrenzmechanismus wirksam ist – zumal auch Reorgani-sation in aller Regel in Projektform organisiert ist. Reorganisationsprojekte weisen sicher-lich eine Reihe von Besonderheiten auf: Sie provozieren in besonderem Maße internen Wi-derstand, sofern sie eingespielte Verhaltensmuster außer Kraft zu setzen versuchen, und ver-ursachen damit erhebliche Anpassungskosten (siehe Kap. 2). Der Spaß an der inhaltlichenHerausforderung verschleißt sich selbst bei erfahrenen Change Agents häufig im „mikropoli-tischen Kleinkrieg“ mit dem Kollegenkreis. Marktbeziehungen und die Ansprüche externerPartner spielen dagegen meist nur eine geringe Rolle. Mit der Interpretation von Projektar-beit und Reorganisation als gleichartigen, aber unterschiedlich ausgeformten Modi kompeti-tiver Kooperation wird diese als grundlegendes Organisationsprinzip innovativer, dezentra-ler Leistungen bestimmt.

Integration „von unten“ durch Koordination kompetitiver LeistungenBleibt abschließend zu klären, warum die durch Projektarbeit entfesselten Kräfte (direktoder indirekt) kompetitiver Optimierungsansprüche an die Arbeitsgestaltung nicht das Orga-nisationsgefüge sprengen – und konsequenter Weise in Marktbeziehungen münden. BeiSchumpeter sorgt der Markt dafür, dass die „schöpferische Zerstörung“ der Unternehmer der

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wirtschaftlichen Entwicklung insgesamt zugute kommt: Die für die Marktteilnehmer vorteil-haften Angebote behaupten sich in interessengeleiteten Tauschakten und führen dazu, dassnicht konkurrenzfähige Angebote letztlich vom Markt genommen werden. Innovatives unter-nehmerisches Handeln innerhalb der Organisation erfordert eine marktäquivalente Koordina-tion, die nur bedingt durch zentrale Steuerung erfolgen kann und dezentrale Adaptionshand-lungen voraussetzt. Die Annahme ist deshalb, dass die miteinander konkurrierenden Organi-sationsmitglieder zugleich die Integration ihrer Leistungen anstreben – und dass die Projekt-form nicht nur zu kompetitiver Arbeit anspornt, sondern zugleich deren wirkungsvolle Koor-dination ermöglicht.

Wenn die Konkurrenzdynamik von Projektarbeit und Reorganisation ähnlich ist, könnenauch vergleichbare Integrationsmechanismen wirksam werden. Grundsätzlich gilt: Je ideen-reicher und eigenwilliger Manager und Mitarbeiter ihre dezentralen Initiativen entwickeln,umso schwieriger sind sie in eine zentral gelenkte Unternehmensstrategie einzubinden. Dieklassischen Integrationsformen liefern dafür keine hinreichende Erklärung (ohne dass ihreprinzipielle Wirksamkeit bestritten werden soll): Formale Steuerung per Hierarchie und Leis-tungsnormen kann ebenso wie der (weniger formale) Einfluss der Organisationskultur eineminnovativ optimierenden Gestaltungsanspruch – je nach Situation – förderlich oder hinder-lich sein. Und die Permanenz der Reorganisation generiert zwar beständige Optimierungsan-reize, bedingt aber auch eine Menge frustrierender Erfahrungen. Die Spezifik kompetitiverKooperation erfordert zusätzlich zu diesen Einbindungsformen einen spezifischen Integrati-onsmodus.

Durch kompetitive Kooperation verändert sich das Verhältnis von Individuum und Organi-sation: Kompetitive Leistungen sind durch den organisatorischen Rahmen angeregt und ein-gehegt, aber ihr kreatives Potenzial können sie nur über eigenständige Initiativen von Mana-gern und Mitarbeitern entfalten. Die kompetitive Dynamik geht von den Individuen aus.Gleichzeitig lässt die empirisch belegte Haltung der Leistungsoptimierung auf aktive Integra-tionsleistungen „von unten“ schließen: Manager und Mitarbeiter gehen nicht nur ihre unmit-telbare Arbeitsaufgabe unternehmerisch an, sondern sorgen aus eigenem Willen und in schöp-ferischer Weise zugleich dafür, dass ihr individueller Arbeitsbeitrag eine effektive Eingliede-rung in den kollektiven Kooperationszusammenhang erfährt. Denn nur wenn diese Einglie-derung gelingt, können sie ihr Selbstverständnis als selbstständig und professionell handeln-de Akteure behaupten. Diese Interpretation lässt sich stützen durch die (leider noch spärli-chen) empirischen Befunde zur Projektarbeit:12 Projekte entwickeln regelmäßig ein Eigenle-ben, das zwar nicht absichtlich gegen die Organisation gerichtet ist (zumal es letzten Endesderen Zielen dient), das sich aber von formalen Regelungen sukzessive löst. Die Einschrän-kung der Verfügungsrechte der Linienvorgesetzten über Projektmitarbeiter ist Ausdruck die-ser Abkoppelung. Eben diese Verselbstständigung soll jene kreativen Potenziale wecken, wel-che die besondere Leistungsfähigkeit von Projekten ausmachen.

Reorganisationsprojekte sind mit der Zielsetzung der Änderung organisatorischer Routi-nen als Sonderfall von Projektarbeit zu betrachten. Sie schaffen die paradoxe Situation, dassder offizielle Auftrag die Aufhebung bestehender Normen verlangt und alle, die an ihnen fest-halten, zu delegitimierten Oppositionellen macht. Übereinstimmung mit Organisationsnor-men ist so zumindest während der Umstellungsphase schwer zu erreichen, weil bislang kon-formes Handeln im Verlauf des Veränderungsprozesses eine grundlegende Umwertung er-

12 Da die spezifischen Bedingungen von Projektarbeit empirisch wenig untersucht sind (siehe z.B. Be-cker-Beck / Fisch 2001; Bollinger 2001; Hodgson 2002; Latniak / Gerlmaier 2006; Hodgson / Ci-cmil 2006; Kalkowski / Mickler 2009), ist vor allem auf Studien zu den Arbeitsbedingungen in Bran-chen mit hohen Anteilen von Projektarbeit zu verweisen (vgl. Boes / Baukrowitz 2002; Eichmann2003; Mayer-Ahuja / Wolf 2005; Marrs 2007).

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fährt. Solange die künftigen Regelungen umstritten sind, bleiben die Handlungsspielräumewesentlich erweitert: Wechselseitige Zuschreibungen von konformem versus obstruktivemHandeln werden zum taktischen Instrument in der mikropolitischen Auseinandersetzung.Die daraus resultierenden Verwicklungen können zu subjektiv empfundener Willkür und Ent-täuschung führen.

Ausdruck dieser Problematik sind jene drei Integrationsfaktoren, deren Relevanz für tiefgreifende Veränderungsprozesse in deutschen Großunternehmen oben (Kap. 2.2) gezeigt wor-den ist: Mäßige Veränderungsmotivation, Desorientierung im Prozess und inkongruente Maß-nahmen stehen in engem Zusammenhang mit der Unklarheit über gültige Handlungsregeln.Sie lassen unterschiedliche Ansatzpunkte zur Bewältigung des Grundproblems der (zumin-dest phasenweise unvermeidbaren) Simultaneität alter und neuer Normen erkennen:

§ Die Kongruenz der Anpassungskomponenten trägt zur Unmissverständlichkeit der neu-en Verhaltensanforderungen durch die Stimmigkeit des Maßnahmenbündels bei; sindVeränderungen breit angelegt, so besteht weniger Anlass zum Zweifel an ihrer Ernst-haftigkeit.

§ Orientierung bieten eindeutige Rahmensetzungen für den Prozess des Übergangs: Jeklarer und widerspruchsfreier Ziel und Plan von Veränderungsvorhaben zutage treten,umso eher können sie als Leitlinie dienen und der Gefahr machtpolitisch motivierterAuslegungen entgehen.

§ Den empirischen Befunden zur Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer zufolge istdie Arbeitsmotivation (nicht nur beim Typus Leistungsoptimierung) generell hoch:Dieses Motivationspotenzial wird für kompetitive Kooperationsbeziehungen im Rah-men von Reorganisationsprozessen in sehr unterschiedlichem Maße erschlossen.

Mit der vorgeschlagenen Interpretation dieser Reorganisationsproblematik gerät ein grundle-gender Wandel im Verhältnis von Individuum und Organisation in den Blick. Die spannungs-reiche Beziehung zwischen Erneuerern und Bewahrern, die sich in Analogie zu Schumpeterals „schöpferische Zerstörung nach innen“ charakterisieren lässt, kann genauer bestimmt wer-den als kompetitive Kooperation: ein verdeckter Wettstreit zwischen Organisationsmitglie-dern um kreative Lösungen von Organisationsproblemen. Dieser Konkurrenzmodus wird ge-nerell in dezentral organisierten Leistungsformen wirksam – etwa mit dem Anspruch der Leis-tungsoptimierung bei Projektarbeit. Solche unternehmerischen Impulse nach innen werdennicht marktförmig integriert, sondern im Wesentlichen – so die hier vorgeschlagene Interpre-tation – durch gezielte koordinative Aktivitäten der Projektarbeiter selbst.

Noch wird diese Handlungsmacht erst allmählich erkennbar und von den Projektarbeiternkaum strategisch genutzt. In dieser frühen Phase der Entwicklung ist das Bewusstsein für dieneuen Handlungsmöglichkeiten wenig ausgeprägt – bei Managern wie Mitarbeitern. Offenist deshalb nicht nur die Frage nach der Reichweite der Entwicklung, deren Schwerpunkt zur-zeit im Bereich gestaltungsoffener Projektarbeit und bei zur Leistungsoptimierung bereitenPersonen liegt. Ungeklärt ist vor allem, welche konkreten strategischen Optionen Managerund Mitarbeiter für die Koordination kompetitiver Leistungen wählen. Unabhängig von sol-chen empirisch zu bearbeitenden Forschungsfragen bleibt als theoretischer Kern der Argu-mentation festzuhalten: Individuen sind zu ungewöhnlich kreativen Leistungen für Organisa-tionen in der Lage, wenn sie ihre Individualität in Abgrenzung zur Organisation über eigen-ständig entwickelte und kooperativ umgesetzte Vorstellungen einer produktiven Praxis defi-nieren können.

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Prof. Dr. Hans J. PongratzLudwig-Maximilians-Universität München

Institut für SoziologieKonradstraße 6

80801 Mü[email protected]

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Theoriebildung und Theoriepolitik in der SoziologieEin Kommentar zu Norman Braun: „Theorie in der Soziologie“1

Von Michael Schmid

Norman Brauns Philippika zugunsten einer erklärenden SoziologieMan ahnt die Verbitterung und Besorgnis, die Norman Braun dazu bewogen haben mögen,vor ein breiteres Fachpublikum zu treten, um sich über den in seinen Augen fatalen Zustandder soziologischen Theoriebildung zu äußern. Wie ich denke, steht hinter der theoriepoliti-schen Wortmeldung des Autors (neben der sachlich begründeten Ablehnung alternativerTheorieauffassungen und der damit verbundenen Wissenschaftsphilosophien) auch die Be-fürchtung, dass (zumindest) die Außenwirkung unseres Fachs und damit die langfristige Chan-ce seiner akademisch-universitären Institutionalisierung nachhaltig darunter leiden, dass sichseine Vertreter auf zwei Dinge nicht einigen können: So ist es offenbar nach wie vor unklar,wenn nicht sogar strittig, ob die Soziologie als eine erklärende Wissenschaft auftreten oderdoch eher ‚literary criticism‘, sozialkritische ‚cultural studies‘ etc. oder ebenso narrativ wiespekulativ verfasste Zeitdiagnosen vorlegen möchte und/oder, falls sie sich als erklärendeWissenschaft profilieren will, auf welchen Theorienbestand sie zur Lösung der damit verbun-denen Sachprobleme zurückgreifen kann. Diese zuletzt angesprochene Frage resultiert nichtvornehmlich daraus, dass verschiedene Theorieentwürfe miteinander konkurrieren, sondernaus der Tatsache, dass der Begriff der ‚Theorie‘ – Brauns Analyse folgend – in weitem Um-fang für vage Abstraktionen, rein klassifikatorische Typologien und „schwammige Begriff-lichkeiten“ (Braun 2008: 375) steht, nachgerade aber nicht für möglichst exakte, formalisier-bare und damit deduktionsgeeignete und erklärungstaugliche allgemeine (kausale) Annah-men (bzw. Gesetze), die die Frage auf empirisch kontrollierbare Weise zu beantworten hel-fen, warum wir bestimmte soziale Phänomene beobachten können (oder nicht). Eine der Ne-benfolgen dieses beklagenswerten Zustands ist zudem, dass es keinen Katalog haltbaren em-pirischen Wissens gibt, an dessen unstrittiger Relevanz alle Fachvertreter festhalten können,und dass einem interessierten Laienauditorium nicht zu vermitteln ist, welche Theorie(n) da-bei eine Rolle spielen sollten. Im Ergebnis heißt dies unter anderem: Die derzeitige soziolo-gisch-empirische Forschung verläuft höchst theoriefern, wohingegen viele der existierendenTheorielehrbücher empirische Forschungen nicht berücksichtigen, sondern sich in der (un-verbundenen) Aufzählung überkommener Dogmen und tradierter Lehrmeinungen mittlerwei-le verstorbener Denker und Schulgründer erschöpfen.

Um ihrem Schicksal vorzubeugen, sich intellektuell zu zersplittern, am Ende belanglos zuwerden und jeden Einfluss auf die gesellschaftlichen Gestaltungsaufgaben zu verlieren, ver-schreibt Norman Braun seiner Disziplin eine ebenso eindeutige wie starke Rezeptur: Zur „Re-habilitierung“ (vgl. Braun 2008: 392) ihrer (in seinen Augen völlig haltlosen und verfahre-nen) Theoriebildung muss sich die Soziologie dem Ideal einer kausalerklärenden Wissen-schaft annähern, und sich zu diesem Zweck den dafür zuträglichen wissenschaftslogischenAnforderungen, wie sie in den Natur- bzw. in einer Reihe von Nachbarwissenschaften (be-reits) Gültigkeit besitzen, anschließen und (gefälligst!) fügen. Dazu benötigt die Soziologieeine nicht-konstruktivistische und d.h. realistische Metaphysik, die die Möglichkeit vorbe-haltlos unterschreibt, (empirisch) wahrheitsfähige Aussagen zu formulieren, und zudem eineErklärungslogik, die die Existenz „kausaler Beziehungen“ (Braun 2008: 373) bzw. von „Re-gelmäßigkeiten“ (Braun 2008: 384) und die Kenntnis von Verallgemeinerungen voraussetzt,

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1 Vgl. Braun 2008.

Soziale Welt 60 (2009), S. 199 – 213

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mit deren Hilfe (auch vorhersagetaugliche und empirisch-statistisch prüfbare) Erklärungsar-gumente zu bilden sind. Norman Braun ist sich nicht ganz einig, ob er diese Erklärungslogikals Hempelsches DN-Modell, als Poppersche Situationslogik, als variablensoziologische Kau-salanalyse oder als eine mikrofundierende Logik mechanismischer Erklärung deuten sollund sagt auch nichts darüber, ob diese (durchaus unterschiedlich gelagerten) Zugriffe sichunterstützen oder einander im Wege stehen, die Zielrichtung seines Verbesserungsvor-schlags aber ist eindeutig: Die Soziologie muss sich auch dann für eine erklärende Theorie-und Forschungspraxis engagieren, wenn die dabei unterlegten Gesetze unvermeidlicherwei-se abstrakt und unvollständig, ceteris paribus-klausuliert und anwendungsrestriktiv (und folg-lich vereinfacht) formuliert sind. Dabei verteidigt der Autor nachdrücklich und offensiv dieVorbildlichkeit einer axiomatischen (und entsprechend mathematisierten) Formulierung theo-retischer Aussagensysteme und zudem eine Bestätigungs- und Testmethodologie, die in ers-ter Linie, wenn nicht ausschließlich auf quantitativ orientierte Prüfungs- bzw. Darstellungs-verfahren setzt. Erst wenn diese Bedingungen erfüllt sind, lassen sich seiner Meinung nach(auch in der Soziologie) heuristisch fruchtbare Forschungsprogramme etablieren, die in eineempirisch kontrollierte Konkurrenz zueinander treten und damit „Erkenntnisfortschritte“(vgl. Braun 2008: 391 f) garantieren können. Die wesentliche Folgerung dieses Plädoyersliegt auf der Hand: Nur auf dem beschriebenen Weg einer wissenschaftstheoretisch angelei-teten Neuorientierung der Theoriebildung lässt sich der unbefriedigende Zustand der „multi-plen Paradigmatase“ – wie Luhmann (1981: 50) gesagt hatte –, mit je eigenständigen undd.h. untereinander unverbundenen Forschungen auf Dauer vermeiden und eine wissensakku-mulative Theoriendynamik etablieren.

Ein Kommentar in zwei SchrittenMeinen Kommentar möchte ich zweiteilen. In einem ersten Schritt will ich in gebotener Kür-ze zu der von Norman Braun entwickelten Theorie- und Forschungsprogrammatik Stellungnehmen und in einem zweiten einigen Überlegungen nachgehen, wie man deren Durchset-zungs- und Erfolgschance erhöhen könnte.

Das Programm der erklärenden SoziologieZunächst komme ich nicht umhin, meine grundsätzliche Zustimmung zu der Braunschen Si-tuationsanalyse wie zu seiner Skizze einer möglichen Abhilfe zur Prämisse und Leitlinie mei-ner weiteren Überlegungen zu machen. Auch mir schwebt vor, dass die Soziologie dem Ide-al einer theoriegeleiteten empirischen Forschung folgen sollte, die zumindest nicht aus Prin-zip auf (prüfungsfähige) Prognosen verzichtet und sich deshalb für unfähig erklären muss,gesellschaftsreformerische Vorschläge zu unterbreiten (und zu bewerten). Zu diesem Zwecksind in der Tat (möglichst) exakt formulierte, gehaltsreiche, entsprechend vorhersagekräftigeTheorien zu konsultieren (vielleicht auch erst zu entwickeln), die – wo dies logisch möglichund praktisch erwünscht ist – in ein Verhältnis wechselseitiger Kritik treten können, wes-halb ich mich immer wieder für die Verfertigung logisch kontrollierter Theorienvergleicheund für eine (wissenschaftslogisch verteidigungsfähige) Methodologie der Theoriekorrekturund damit für einen „Methodologischen Revisionismus“ einsetze, wie ihn Hans Albert(2000) genannt hat. Solche Theorievergleiche sind nur sinnvoll, wenn man voraussetzenkann, dass die unterschiedlichen soziologischen Theorien einen gemeinsamen Gegenstands-bereich besitzen und logisch vereinbare und d.h. miteinander (auch empirisch) konfrontierba-re Behauptungen abzuleiten erlauben. Im Gegensatz zur Mehrzahl der an Theorie interessier-ten Kolleginnen und Kollegen, welche die Möglichkeit und Sinnhaftigkeit von korrigieren-den Vergleichen verneinen, halte ich es deshalb weder für zwingend, dass die Soziologie inverfeindete bzw. sich ignorierende Lager zerfallen müsste, noch für erwünscht, weil sich aufdiese Weise die wechselseitige Erkenntniskritik, aufgrund derer wir die Reichweite von Er-

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klärungsangeboten abzuschätzen lernen, nicht organisieren lässt. Auch fällt mir zu NormanBrauns Vorschlag, man solle ein soziologisches Erklärungsprogramm auflegen, dessen hand-lungstheoretischer Kern aus einer kritikoffenen Theorie der (rationalen) Wahl, in jedem Fallaber aus einer erweiterungsfähigen Lern- und Entscheidungstheorie bestehen sollte, die inden verschiedensten „Handlungszusammenhängen“ (Braun 2008: 382) konkretisiert werdenmuss, um deren Funktionsweise und Folgewirkungen zu erklären, kein Einwand ein.

Eine einheitliche Theoriebildung scheint uns beiden demnach nicht nur theoriepolitisch,sondern rein sachlich geboten und insoweit erstrebenswert zu sein – nur bin ich unsicher, obNorman Braun zur Verteidigung seines Vorgehensvorschlags nicht einige Argumente be-müht, die man sich näher ansehen sollte. Zunächst scheint es mir einem empiristischen Vor-urteil geschuldet anzunehmen, dass die handlungstheoretischen Gesetzmäßigkeiten als „em-pirisch fundierte Regelmäßigkeiten“ zu begreifen seien. Ich bin mir im Klaren darüber, dassder von Braun ins Auge gefasste „handlungstheoretische Kern“ (Braun 2008: 385) die „ro-busten Befunde“ (Braun 2008: 384) bereit stellen soll, vermittels derer Erklärungen in varia-blen situativen Umständen möglich werden. Ich frage mich aber, ob in diesem Zusammen-hang „Generalisierungen“ eine Rolle spielen können. Mein Gegenargument ist zum einen,dass es – was Norman Braun selbstverständlich weiß – keine gültigen Induktionsverfahrengibt, die Hypothesen als ‚Verallgemeinerungen‘ zu kennzeichnen erlauben. Mir scheint da-mit aber auch die auf Hempel und Nagel zurückreichende Auffassung, man solle Gesetzes-aussagen, ihrer implikativen logischen Form wegen, als (‚verallgemeinerte‘ oder ‚universa-le‘) Darstellungen von repetitiv beobachtbaren Ursachen-Wirkungszusammenhängen verste-hen, nicht länger naheliegend zu sein. Gesetze geben vielmehr – wie dies Nancy Cartwrightentwickelt hat – die „capacities“ von (mit Potenzialen versehenen) Systemen (im handlungs-theoretischen Anwendungsfall: von Akteuren) an, die sich angesichts bestimmbarer Umstän-de (oder Randbedingungen) empirisch prüfbar „manifestieren“ (können) (vgl. Cartwright1999).

Welches diese „capacities“ sind, hat (in der Tat) eine Handlungstheorie zu klären; aller-dings impliziert eine solche Theorie keine Folgerungen darüber, was passiert, wenn mehrereAkteure ihr Handeln – wie Renate Mayntz oder Peter Hedström bisweilen sagen – ‚verknüp-fen‘ (Mayntz 2004; Hedström 2005). Ich habe den stillen Verdacht, dass Norman Braun über-sieht, dass eine ganze Reihe von „Ansätzen“, die er als untheoretisch disqualifiziert, Antwor-ten auf die Frage zu geben suchen, welches diese Verknüpfungen sind und wie sie sich aufdas Handeln der interdependenten Akteure auswirken. So hat er natürlich Recht, dass Zeit-diagnosen „keine Theorie(n) darstellen“ (Braun 2008: 384), wohl aber Beschreibungen vonaktuellen „Randbedingungen“ enthalten (können), deren Effekte wir – wie weiland Fried-richs / Lepsius / Mayer (1998: 27) vermutet hatten – durchaus auch dazu verwenden können,„die den Diagnosen und Prognosen zugrunde liegenden Theorien zu verbessern“.

Damit ist auch angedeutet, welche logische Form ein soziologisch (oder, wie auch Braunverallgemeinernd fordert: ein sozialwissenschaftlich) verwertbarer Erklärungsversuch habenmuss. Ich bin wie er der Meinung, dass alle sozialwissenschaftlichen Erklärungen als einmehrstufiges, mikrofundierendes Argument angelegt sein müssen, mit dessen Hilfe wir zei-gen können, wie (d.h. auf welchem prozesshaften Weg) sich die „Interaktionsregimes“ (Heds-tröm 2005: 86) und deren aggregierbare Kollektivfolgen aus den aufeinander bezogenen undd.h. interdependent organisierten Handlungen einzelner Akteure ergeben und wie diese Fol-gen auf deren Intentionen und Kapazitäten zurückwirken. Dabei ist aber wichtig zu sehen,dass auf jeder Stufe zusätzliche Annahmen benötigt werden, die man aus den „unteren Stu-fen“ nicht logisch ableiten kann: Situationsannahmen folgen nicht aus handlungstheoreti-schen Gesetzen, Aussagen über die Funktionsweise eines Interaktionssystems folgen nicht

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aus Situationsbeschreibungen, die Effekte von Interaktionsmechanismen folgen nicht lo-gisch aus ihren Funktionsbedingungen etc.

Diese Überlegung führt zu einem Einwand gegen genau jene Form der kausalanalytischenForschungen, die Normen Braun offenbar sehr am Herzen liegen. Was mich verblüfft, kannich an Brauns eigenem Beispiel darüber demonstrieren, was er als eine vorbildliche Kausal-theorie einzustufen bereit ist. Auf Seite 387 f seines Beitrags entwickelt er eine „Theorie“darüber, die einen Zusammenhang zwischen (statistisch erhobenen) Makrovariablen einer be-stimmter Gewaltrate behauptet, wobei der „kausale Mechanismus der Theorie“ (Braun2008: 388) darin besteht, dass Wohlstand zu einer geringen Gebärquote und zugleich zu ei-ner Steigerung der Bildungsinvestitionen pro Kind führt und gleichaltrige Personen eine er-höhte Binneninteraktion haben. Daraus folgt, dass die Zahl der Männer in Wohlstandsgesell-schaften abnimmt, sich das Bildungsniveau aller Kinder erhöht und die Gewaltrate sinkt. Ichwill nicht die Folgerungstreue dieses Erklärungsarguments untersuchen, sondern seinen Sta-tus als „Kausalerklärung“ in Frage stellen, denn ich halte mit Daniel Little nachdrücklich da-für, dass wir diese auf John Stuart Mill zurückgehende Kausalanalytik (vgl. Little 1991,S. 13ff) auch dann verlassen sollten, wenn unsere (zumal statistischen und faktoranalyti-schen) Forschungstechniken sehr gut auf sie abgestimmt sein sollten. Der Grund ist der fol-gende: Wie Braun selbst betont, erfolgt seine Auswahl der jeweiligen Kausalfaktoren völligtheorieunabhängig, wenn nicht theorielos. Das zeigt sich alleine daran, dass der Autor zurPlausibilisierung seines Beispiels auf die Hilfe der einzigen Theorie, über die wir in der So-ziologie verfügen, nämlich die Theorie intentionalen (rationalen oder durch Gründe bestimm-ten) Handels zur Konstruktion seines Modellfalls gar nicht bemühen möchte (vgl. Braun2008: 387). Damit entsteht der Eindruck, als schlügen die Handlungsumstände einer als ho-mogen modellierten Population von Akteuren unmittelbar auf deren Intentionen und Hand-lungsmöglichkeiten durch. Eine solche Argumentationsweise ist zwar seit Marx und Durk-heim strukturalistischer Usus der soziologischen Erklärungspraxis, man kann aber nicht der-art vorgehen, wenn man zu erkennen beabsichtigt, welchen (das Handeln energetisierendenbzw. situativen und insoweit handlungsrestringierenden) Faktoren man welche ‚Kausalrele-vanz‘ zumessen möchte. D.h. man muss zumindest zeigen können, wie und dass sich struktu-relle Umstände auf die Erwartungen und Bewertungen der Akteure auswirken und wie sieinfolgedessen die Erfolgschancen ihres Handelns abschätzen, weil davon – wie die Hand-lungstheorie sagt – abhängt, was sie tun werden. Im Gegensatz zur Braunschen Bestimmungdessen, was darunter zu verstehen sei, gilt dies mit Nachdruck (auch und gerade) für die Be-schreibung von „Mechanismen“. Dass entsprechende Einzelthesen darüber, welches der Me-chanismus sei und wie er wirkt, empirisch geprüft werden können (und müssen), bleibt selbst-verständlich und richtig, beantwortet aber nicht die Frage, weshalb wir des Glaubens seinsollten, auf diese Weise Kausalitäten identifiziert zu haben satt eine beliebige Reihe theorie-unabgesicherter (und entsprechend nichtsagender) Korrelationen (vgl. für diese Bedenken Es-ser 1996; Mayntz 1997: 15ff; Hedström 2005: 101ff etc.).

Tatsächlich haben wir keine (handlungs-)theorieunabhängige Vorstellung davon, was Kau-salität in den Sozialwissenschaften sein kann und wie sie funktioniert. Darunter, das nicht zusehen, leiden auch die ansonsten höchst verdienstvollen (logischen!) Analysen unserer Kau-salitätsvorstellung bei Pearl (2000) und Woodward (2003), wobei letzterer zwar handlungs-theoretisch argumentiert, um sein Interventionskriterium der Kausalität plausibel zu machen,damit aber natürlich eine petitio principii begeht, wenn es um die Explikation dessen gehensoll, was unter ‚Handlungskausalität‘ zu verstehen ist. Für die Sozialwissenschaften im All-gemeinen und die Soziologie im Besonderen heißt dies, dass als Kausalfaktor nur das behaup-tet werden kann, was das Handeln einzelner Akteure in Gang setzt (oder motiviert) oder ka-nalisiert, was dazu führen sollte, zwei unterschiedliche Formen von kausalen Analysen zuunterscheiden, nämlich Motivationsanalysen und Restriktionsanalysen; und die Handlungs-

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theorie hat die Produktionsfunktion anzugeben, die klärt, warum und wie sich die Organisati-on des individuellen Handelns vollzieht. Gültige (oder zumindest testbare) kausale Erklärun-gen liegen demnach nur dann vor, wenn man die handlungstheoretischen Prämissen kenntund zeigt, wie sich die Eigenart der Interdependenzverhältnisse und deren Folgen aus ihnenfaktisch ergeben. Alle sozialwissenschaftlichen Erklärungen sind demnach mikrofundieren-de Erklärungen. Um meine Kritik dogmatisch zu beenden: Es gibt keine Makrokausalitäten,die sich mit Hilfe von Zusammenhängen zwischen (makroskopischen) Verteilungseffektenbeschreiben ließen, wie Coleman, Esser, Lindenberg und andere von Braun zitierten Auto-ren mehr als deutlich machen, weshalb der Methodologische Individualismus auch kein Fia-ker ist, den man – entgegen dem Eindruck, den Norman Braun beiläufig vermittelt (Braun2008: 387) – nach Belieben besteigen und wieder verlassen kann (um unseren Säulenheili-gen Max Weber zu paraphrasieren). Ich halte diese Position auch angesichts der Tatsachefür verständlich und verteidigungswürdig, dass es (natürlich, wie sollte das anders sein) Ge-genstimmen gibt, wie die derzeit stattfindenden Diskussion über das Mikro-Makro- und dasEmergenzproblem (erneut) zeigt, die von einigen an solchen Fragen interessierten Kollegin-nen und Kollegen initiiert wurde (vgl. Greve et al. 2009).

Ich würde deshalb die Braunsche Analyse unserer Malaise gerne durch den Hinweis ergän-zen, dass die miserable Außendarstellung der soziologischen Forschung auch darauf zurück-zuführen ist, dass unsere Erklärungsmodelle in einer theoretisch ganz unkontrollierten Wei-se Kausalfaktoren nennen, deren Alternativen in jedem Fall sofort auf der Hand liegen. VonArthur Stinchcombe wird erzählt, er habe einmal süffisant bemerkt, jeden Studenten aus sei-nem Seminar zu werfen, der länger als zwei Minuten bräuchte, um sich eine Kausalerklä-rung für einen beliebigen sozialen Sachverhalt auszudenken; jedenfalls kann es keine ernst-haften Hindernisse aufwerfen, beliebige Strukturfaktoren (auch mit Hilfe höchst exakt formu-lierter Regressionsgleichungen) zu kombinieren, wenn man darauf verzichten darf anzuge-ben, welche der verwendeten Faktoren handlungsgenerierende oder -restringierende (und in-soweit kausale) Bedeutung haben sollten und weshalb (vgl. Stinchcombe 1968: 129, Stinch-combe 1993: 28). Oder erinnern wir uns der ebenso furiosen wie unabschließbaren Diskussi-on zwischen Max Weber und seinen Kritikern, die sich in Stinchcombes Seminar hätten je-derzeit halten können, weil sie keinerlei Schwierigkeiten sahen, Webers Erklärung der Gene-se des Kapitalismus aus dem Geist des Protestantismus zu ergänzen, zu falsifizieren und mitAlternativen zu versehen (vgl. Weber 1978). Und wenn man Sombarts Erklärungen dessel-ben Phänomens nachliest, kann man den Eindruck völliger Beliebigkeit auch dann nurschwer vermeiden (vgl. vom Brocke 1987), wenn man in Rechnung stellt, dass dieser Den-ker seine Kausalfaktoren nicht etwa deshalb auswechselte, weil er seine entsprechenden Vor-gängerthesen ‚empirisch‘ geprüft und verworfen hätte, sondern weil ihm im Verlauf weite-ren Nachdenkens ‚noch etwas‘ eingefallen ist. Es fällt einem beim Konstruieren von struktu-rellen Kausalmodellen immer etwas Zusätzliches ein – aber das ist das Problem, nicht etwaein Zeichen einer erhöhten heuristischen Fruchtbarkeit entsprechender Modellierungen.

Um diesen ersten Teil meines Kommentars abzuschließen: Ich denke, dass Norman BraunRecht hat, wenn er der soziologischen Erklärungspraxis mehr wissenschaftslogische Diszi-plin abverlangt, und es ist folgerichtig, wenn er zu diesem Zweck empfiehlt, sie möge ihreTheoriebildung an entsprechenden Kriterien orientieren. Nur ist es leider so, dass darüber,wie eine angemessene Erklärungslogik auszusehen hat, auch unter Wissenschaftstheoreti-kern offensichtlich keine wirkliche Einigkeit besteht. Das zeigt im Übrigen auch der Problem-überblick zur Geschichte der Hempelschen Erklärungsauffassung von Wesley Salmon, denBraun zitiert und in dem Salmon selbst über seine Irrwege berichtet, denen er (und seine An-hängerschaft) folgen musste, um von der Hempelschen Erklärungslogik im Allgemeinenund der Logik sogenannter ‚statistischer Erklärungen‘ im Besonderen Abstand zu gewinnen(vgl. Salmon 1987). Man sollte das in Rechnung stellen, wenn man verstehen will, weshalb

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sich Sozialwissenschaftler nicht notwendig davon überzeugen lassen, dass die Wissenschafts-theorie tatsächlich verbindliche Leitlinien der Theorieforschung gefunden und kanonisiert ha-be. Jeder Blick in ein beliebiges wissenschaftstheoretisches Lehrbuch, die in der letzten Zeitgehäuft erscheinen, zeigt, dass – auch wenn das Theo Kuipers, Norman Braun und ich selbstdas anders sehen wollen – der Popper-Hempel-Lakatossche Konsens schwankt. Man musssich darauf gefasst machen – und auch meine eigenen Überlegungen zur „Logik mechanismi-scher Erklärungen“ (Schmid 2006) sind von dieser Intention getragen – dass man die Erklä-rungslogik selbst verändern, wenn auch nicht, wie viele Soziologen gerne hoffen, abschaffenmuss, wenn es darum gehen soll, die Theoriebildung der Soziologie auf ein strapazierfähigesFundament zu stellen. Darüber, dass zu diesem Zweck konstruktivistische (und wie ich mitBlick auf das aktuelle Geschehen in der Wissenschaftslogik ergänzen würde: auch neo-induk-tivistische und vor allem pragmatische) Auffassungen untauglich sind, bin ich mit NormanBraun (natürlich) jederzeit einig; eine empirizistische Deutung von Theorien, wie sie etwaBas van Fraassen oder auch Nancy Cartwright favorisieren, halte ich für ebenso kritikwür-dig wie jedes nicht-realistische Theorieverständnis (vgl. Kukla 2000 und Manicas 2006); sieführen die soziologische Theorieentwicklung auf Abwege, die man nicht schön reden kann –nur muss man in Erinnerung halten, dass nicht alle Wissenschaftstheoretiker das so sehen.Vielleicht kann man Brauns Petitum als eine Aufforderung dafür verstehen, dass sich die So-ziologie ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlagen (wieder einmal) versichern sollte; an-zunehmen, dass die Fronten geklärt und die Meriten verteilt seien, dürfte sachlich nicht rich-tig sein. (Aus demselben Grund sollte man auch nicht so tun, als sei die Frage völlig ausdis-kutiert, welchen der marktgängigen Prüfverfahren der Zuschlag zu geben sei. Jedenfallsscheint mir eine abgewogene Beurteilung der Leistungskraft sozialwissenschaftlicher Erklä-rungen nicht logisch zwingend davon abzuhängen, dass man sie mit der ausschließlichen Hil-fe statistisch-quantitativer Methoden bearbeitet hat).

Interparadigmatische Verständigung?Aber weiter zur zweiten Frage: Können wir uns vorstellen, wie wir die desolate Lage dersoziologischen Theoriebildung merklich verbessern könnten? Ich formuliere diese Frage vordem Hintergrund meiner Überzeugung, dass die Adressaten des Braun‘schen Traktats seinenVorschlag, alles werde sich zum Besseren wenden, wenn die „Theoriebildung im Fach sichan erfolgreicheren Vorbildern orientiert“ (Braun 2008: 392), nicht ohne Weiteres akzeptie-ren werden. Die Gründe dafür liegen auf der (handlungstheoretischen) Hand. Wer viel Zeitund Anstrengung in die Erkundung oder Fortschreibung von Forschungsprogrammen inves-tiert hat, in deren Mittelpunkt – aus beliebigen, und in der Regel durchaus bedenkenswertenGründen – verallgemeinerungsfähige DN-Erklärungen nachgerade nicht stehen (man denkean Luhmanns Strukturphänomenologie, Webers Erforschung „kulturbedeutsamer Einzeler-scheinungen“ oder die Interaktions- bzw. Konversationsanalyse, die alle zusammen eherteils beschreibend, teils rekonstruktiv verfahren als erklärend, oder man denke an die zahllo-sen Zeitdiagnosen, die beschreiben wollen, „in welcher Gesellschaft wir leben“, aber nicht,wie wir deren Eigenheiten erklären können, oder aber an vorwiegend deskriptive Milieustu-dien oder am Ende an Gesellschaftsanalysen, die in erster Linie in Erfahrung bringen wol-len, wie man die Risikobehaftetheit, wenn nicht die Desaströsität der gesellschaftlichen Ent-wicklung identifizieren kann usf.), wird ein an Hempel, Popper und Lakatos / Kuhn geschul-tes Wissenschaftsverständnis nicht zwangsweise übernehmen wollen. Noch schwierigerwird es sein, jene von der Notwendigkeit einer nomologisch erklärenden Soziologie zu über-zeugen, die fest davon überzeugt sind, dass die Sozialwissenschaften den (idiographischenund d.h. ebenso ‚beschreibenden‘ wie ‚deutend verstehenden‘) Geisteswissenschaften glei-chen und nicht den (nomothetischen) Naturwissenschaften, was ja nicht als völlig verwegenvon der Hand zu weisen ist, wenn man sich ausschließlich mit ‚cultural studies‘ beschäftigt,

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Beschreibungen der historisch kontingenten Veränderung von Persönlichkeitstypen und Men-talitäten verfertigen möchte oder darauf aus ist, die Sinndeutungen und Überzeugungssyste-me historisch wichtiger ‚Trägergruppen‘ zu ‚rekonstruieren‘ (vgl. im Überblick Reckwitz2000; Moebius 2009). Und geradezu sinnlos wird jeder Versuch sein, jene zu einer erklären-den Wissenschaftsauffassung zu bekehren, denen es in erster Linie nicht um Erklärungen be-liebiger Verhältnisse, sondern um deren Kritik und Verurteilung geht (vgl. Denzin 1992).Die Verteidiger einer solchen Analyseform werden sich den Mund auch dann nicht verbie-ten lassen, wenn sich in der Außenbetrachtung entsprechender Bemühungen um eine „criti-cal social theory“ (vgl. Calhoun 1995) natürlich die Frage stellt, wie man die Veränderungeines Gesellschaftssystems kontrolliert vorantreiben möchte, wenn man nicht weiß, wie ihrFunktionieren erklärt werden kann, und inwieweit dem Projekt der „Gesellschaftskritik“ da-mit gedient ist, wenn es sich auf die „historische Rekonstruktion“ und Integration der Begriff-lichkeiten beschränkt, mit deren Hilfe „Großtheoretiker“ die geistigen Strömungen ihrer Zeitzu verstehen suchen. Auf der anderen Seite wird man den sachlichen Gehalt solcher Bemü-hungen auch dann nicht rund heraus leugnen können, wenn man infolgedessen zu akzeptie-ren hat, dass Kritische Theoretiker Tatsachenfeststellungen nicht alleine der Empirischen So-zialforschung und amtlichen Statistiken überlassen wollen.

Was aber ist angesichts der erwartbaren Verweigerung, sich einer Reform der wissen-schaftslogischen Theorie- und Erklärungsgrundlagen anzuschließen und die „Spezifikationvon Erklärungsproblemen“ (Braun 2008: 375) ernst zu nehmen, zu tun? Solange indoktrinä-re Schulungen unmöglich und ‚Zwangsmaßnahmen‘ verboten sind und offensive Forderun-gen, Beschimpfungen und missionarische Proselytenmacherei Reaktanzen erwarten lassen,kann sich ein gemeinsam begehbarer Weg zur Steigerung der theoretischen Leistungskraftder Soziologie allenfalls dann eröffnen, wenn die Vertreter divergierender Theorieauffassun-gen sich darüber zu verständigen beginnen, in welchem Verhältnis ihre jeweiligen Überle-gungen stehen und wie man die augenscheinlich ganz heterogenen Beiträge nebst der im Hin-tergrund stehenden philosophischen (oder metawissenschaftlichen) Überzeugungen mitein-ander verknüpfen und verträglich gestalten kann. Ich sehe dazu verschiedene Wege: Ganzvordergründig kann es keine wirklichen Schwierigkeiten aufwerfen, wenn sich die erklären-de Soziologie anhand phänomenologischer Beschreibungen von Handlungsbeziehungen, spe-zifischer Milieuschilderungen und zeitdiagnostischer Analysen oder (auch) von Umfragefor-schungen die Themen vorgeben lässt, um deren Erklärung es gehen kann. So hat etwa UweSchimank vorgeschlagen, die Systemtheorie damit zu beauftragen, gesellschaftlich wirksa-me Strukturkonstellationen oder Prozessdynamiken zu identifizieren, die aus Handlungstheo-rien gleich welcher Herkunft und Couleur nicht ableitbar sind, die aber ihrerseits akteurtheo-retisch und d.h. mikrofundierend erklärt werden müssten (vgl. Schimank 2005). Ebensokann man die im Kontext der üblichen makrostrukturellen Analysen anfallenden Strukturbe-schreibungen und Verteilungsbefunde dazu benutzen, den Einfluss der Situationsparameterabzuschätzen, mit denen es intentionale Akteure zu tun bekommen, wenn sie (angesichts fest-stehender, handlungstheoretisch entschlüsselter Interaktionsprobleme) erfolgsorientiert agie-ren wollen (vgl. McAdam et al. 2008), oder Historiker können solche Strukturen rückbli-ckend erforschen, um die situationslogischen Probleme und Opportunitäten, vor denen dieMenschen in ‚alter Zeit‘ gestanden hatten, und deren Deutungsversuche zu klären (vgl. z.B.Kiser 1987). Generalisiert gesprochen kann es (in meinen Augen) nicht schaden, wenn sichan Erklärungen interessierte Soziologen zur Bestimmung erklärungswürdiger Zustände undzur Ausleuchtung der dafür benötigten Anwendungs- und Randbedingungen von jenen infor-mieren und aufklären lassen, die das betreffende Milieu kennen; wie wenig es (umgekehrt)verboten sein kann, sich um die Erhebung von situativen Umständen, Handlungsgepflogen-heiten oder Deutungsmustern zu kümmern, an deren genaueren Erklärung kontingenterweisegerade niemand interessiert ist, die aber werbewirksam und aufmerksamkeitsheischend inden Medien platziert werden können – wie Dirk Kaesler gerne fordert – oder die der Erwe-

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ckung und Formatierung politischer Überzeugungen auch dann dienen, wenn über deren wis-senschaftliche Erklärung Uneinigkeit besteht. An derartigen Werbemaßnahmen und am Er-folg eines entsprechenden Aufmerksamkeitsmanagements sollten auch erklärende Soziolo-gInnen interessiert sein – und sei es nur, um jene nicht zu verschrecken, die trotz der Leug-nung der Reichweite soziologischer Erkenntnisbemühungen immer noch glauben, dass unserFach eine förderungswürdige Veranstaltung sei. Aus jeder Sicht bedenklich sind allenfallsempirische Untersuchungen, die sich (auch auf höchst fachtechnisch abgesicherte und anden neuesten methodischen Errungenschaften orientierte Weise) um (zumeist politisch odermoralisch auffällige) Zusammenhänge bemühen, deren Theorierelevanz sich auch nach ge-nauerem Studium nicht erschließt. Natürlich kann man nicht ausschließen, dass sich Drittefür solche Ergebnisse interessieren, aber es wäre für die Neuorganisation der Theorieanstren-gungen der Soziologie sicher misslich, wenn sich herumspricht, dass die am eifrigsten rezi-pierten empirischen Beschreibungen unserer Gesellschaften auch ohne Theorieanleitung zu-stande kommen.

Aber es leuchtet noch eine ganz andere Art der Zusammenarbeit ein. Es kann doch nichtfalsch sein, wenn aus thematisch ganz verschieden interessierten Theorielagern bekannt ge-macht wird, dass bestimmte Aspekte des Handelns in mikrofundierende Erklärungen einzu-beziehen seien, etwa weil allzu restriktiv verfahrende Handlungstheorien bestimmte Phäno-mene nicht in den Blick rücken können (oder wollen). Braun hat die Zulässigkeit solcherAnfragen offenbar durchaus im Auge, wenn er zugesteht, dass man Optimierungstheoriendes Handelns nicht auf (im engeren Wortsinn) „ökonomische“ Fragestellungen festschreibenmuss (vgl. Braun 2008: 382); tatsächlich kann es jederzeit sinnvoll sein, sich auch dann umdie emotionale, ästhetische, rituell-performative, regelbeachtende oder expressive Dimensi-on des zwischenmenschlichen Handelns zu kümmern, wenn jene, die das vorschlagen, keineerklärenden Theorien zu kennen meinen bzw. die ihnen bekannten Versionen für erweite-rungsbedürftig halten (oder gar aus vielleicht fehlgeleiteten Gründen gänzlich ablehnen)(vgl. Vanberg 1992; Schuessler 2000; Giesen 2006; Collins 2004 usf.). Um die in diesemZusammenhang im Umlauf befindlichen Fehleinschätzungen der Sachlage zu beheben, müs-sen sich die Befürworter einer Theorie der (rationalen) Wahl vor allem mit jenen Theorieent-würfen ins Einvernehmen setzen, die davon ausgehen, dass zahlreiche handlungsleitende Fak-toren nachgerade nicht auf (rationale) Entscheidungen ‚reduziert‘ werden können (vgl. etwaAlexander 1988; Schimank 2005 a), oder die davon ausgehen, dass die RC-Theorie ihrer un-übersehbaren Mängel wegen durch eine Alternative ersetzt werden muss, die zu erklären er-laubt, weshalb Rationalannahmen nur approximativ wahr sind (vgl. Collins 2004; Hedström2005; Elster 2007 u.a.). In ein austauschorientiertes Gespräch wird man mit Vertretern sol-cher andersgearteten Handlungstheorien natürlich dann nicht eintreten können, wenn mannichts gegen den Eindruck unternimmt, die erklärende Soziologie sei jederzeit in der Lage,alle neu auftauchenden Gesichtspunkte nach dem Prinzip „ich bin all hier“ aufzusaugen(oder zu ‚verwursten‘) und in den Augen jener, die für die Beachtung ‚neuer‘ Faktoren plä-dieren, entsprechend zu trivialisieren. Das wäre nicht nur unhöflich, sondern im Zweifelsfallauch eine Fehleinschätzung der Leistungskraft (im Normalbetrieb ansonsten höchst) belieb-ter und auch bewährter Akteurtheorien.

Stattdessen wäre es angebracht, die vorliegenden Handlungstheorien gezielt zu erweitern,was allerdings die Anerkennung der Tatsache erfordert, dass deren Integration nicht damiterledigt werden kann, die unterschiedlichen Begriffssysteme oder Semantiken ineinander zu‚übersetzen‘. Vielmehr müssten jene, die glauben, dass die Erklärung des menschlichen Han-delns eine komplexere Anlage erfordert, zeigen und (in letzter Instanz empirisch) nachwei-sen, in welcher Weise und in welcher Richtung sich die Selektions- bzw. Produktionsfunktio-nen der (bisherigen und von ihnen kritisierten) Handlungstheorie korrigieren und entspre-chend umbauen lassen, um die Erklärungskraft ‚neuer‘ Faktoren angemessen abschätzen zu

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können. Dabei ist es keineswegs so, dass nur die Verteidiger eines nomologischen Erklä-rungsprogramms dazu neigen, in höchst dogmatischer Weise an den überkommenen undd.h. simplen Ausgangsformulierungen ihrer Theorien festzuhalten und deshalb nur erfor-schen, was sich mit ihrer Hilfe erforschen lässt (vgl. zu diesem Vorbehalt Mayntz 2009: 19,31 u.a.). So macht es, etwa um die Ansprüche eines RC-Programms abzuwehren, keinen wirk-lichen Sinn, alles Handeln als nicht-rationales Routinehandeln zu kennzeichnen, um dannkleinlaut festzuhalten, dass bisweilen (und unter uneinsichtigen Umständen natürlich) auchnicht-routiniert entschieden wird. Man muss auch in diesem Fall zeigen, welche wie ausge-statteten Akteure wann was tun und damit, wann sie sie welchen Handlungsmodus verfolgen(vgl. zur Explikation des damit angesprochenen Problems z.B. Esser 2004: 47ff), sonst be-steht unsere Handlungstheorie noch in hundert Jahren aus theoretisch isolierten ‚Typen desHandelns‘, ohne dass wir je erfahren, wie die unterschiedlichen „Bestimmungsfaktoren desHandelns“ (vgl. Mayntz 2009: 31) zusammenhängen und sich beeinflussen und wie eine aus-baufähige und heuristisch verwertbare Theorie des Handelns lauten muss. Braun liegt völligrichtig, wenn er der ‚community‘ der theoretisch interessierten SoziologInnen anrät, sich zurKlärung der an dieser Stelle auftauchenden Sachfragen weiträumig zu informieren. Die Ge-genrechnung sollte natürlich berücksichtigen, dass komplex angelegte Handlungstheorien we-niger leicht zu handhaben sind und ein umfänglicheres Anwendungs- und Prüfungsdesignerfordern (vgl. Lindenberg 1992). Ein auch methodologisch explizierbarer Kompromiss die-ses Optimierungsproblems könnte darin bestehen, den Grabenkampf der falschen Abstraktio-nen aufzugeben, indem jene Forscherinnen und Forscher, die an bestimmten, d.h. vereinfach-ten handlungstheoretischen Zusammenhängen interessiert sind, dazu übergehen, jene Fakto-ren zumindest (parametrisch) zu ‚kontrollieren‘, die sie aus ihren Modellbetrachtungen aus-zuschließen wünschen (vgl. Schmid 2009). Eine solche Verfahrensentscheidung könnte diediskussionsförderliche Folge haben, dass man die Bemühungen jener Kolleginnen und Kol-legen, die an ‚anderen Faktoren‘ interessiert sind, vernachlässigen darf, ohne à tout prix de-ren Sinnhaftigkeit zu bestreiten.

Zu guter Letzt könnten gezielte Kontakte zwischen verschiedenen Theorielagern auch klä-ren helfen, dass die jeweiligen Vertreter vielseitiger argumentieren oder vielschichtigere The-sen verfolgen als jene vermuten, die bislang nicht mit ihnen hatten reden wollen. So sindauch Vertreter einer Theorieauffassung, die sie (vorgeblich unter Abwahl jeder üblichen Er-klärungsabsicht) als „Tiefenbeschreibung“ qualifizieren, nachweislich dazu in der Lage,höchst rationalistische Erklärungen der Informationsbedingungen auf nordafrikanischenTauschmärkten zu erstellen (vgl. Geertz 1978). In ähnlicher Richtung arbeitet eine Vielzahlvon alltags-, familien-, betriebs- und organisationssoziologischen oder generell: interaktions-soziologischen Studien, die sich um die Anpassungen der Akteure an die Erfordernisse ihrerHandlungssituation kümmern wollen und dabei selbstverständlich auch dann davon ausge-hen, dass dies auf eine ebenso überlegte wie intentionale Weise geschieht, wenn sie, um dieunterstellten Kommunikations- oder Verhandlungsmechanismen modellieren zu können, dieProduktionsfunktionen des Handelns inhaltreicher und variabler ansetzen als sich dies dieum methodische Strenge bemühte Rational Choice-Theorie erlauben möchte (vgl. für vieleWeihrich / Dunkel 2003). Demgegenüber veröffentlichen auch beinharte Rationalisten bis-weilen Zeitdiagnosen über gesellschaftliche Veränderungen, die dazu führen, dass Akteuresich gehäufter als Agenten von kollektiv organisierten Korporationen begegnen als dem Ide-albild des für sich selbst verantwortlichen Staatsbürgers lieb sein kann (vgl. Coleman 1982),ohne dass man solchen Beschreibungen sachlich misstrauen und vermuten müsste, mit ihnenließen sich keine Erklärungsansprüche verbinden. Dass es nicht richtig sein kann, dass einhandlungsnomologisch orientiertes Forschungsprogramm zwangsläufig, derweil es das Idealder theoretischen Sparsamkeit auf keinen Fall verfehlen dürfe, darauf verzichten müsste, den(interpretationsbedürftigen, aber im Prinzip verstehbaren) Einfluss von Kulturfaktoren aufdie Ziel- und Erwartungsbildung der Akteure zu bedenken, sollte sich mittlerweile herumge-

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sprochen haben (ich brauche die vielen Arbeiten von Hartmut Esser nicht erneut zu zitieren;vgl. zum Erklärungsanspruch der ‚Kulturtheorie‘, der mit dem Standardmodell sozialwissen-schaftlichen Erklärens durchaus kompatibel ist, auch Reckwitz 2000: 129ff). Und besondershäufig kann man beobachten, dass jene, die sich in erster Line auf die Typisierung oder Be-schreibung von Verteilungsdynamiken und deren Effekte konzentrieren, durchaus bemerkenkönnen, dass sie Erklärungen solcher Erscheinungen nur dann anbieten können, wenn siesich auch dafür interessieren, wie sich Akteure angesichts unterschiedlicher Bedingungenoder heterogener Strukturkontexte entscheiden, d.h. Systemtheoretiker müssen das Luhmann-Dogma, die Prozess- und Systemanalyse dürfe und müsse den Akteur ‚ausblenden‘, keines-wegs teilen (vgl. Buckley 1967; Miebach 2009). Und ähnlich gelagert wissen zumal Vertre-ter von Forschungsprogrammen, die die Verfertigung von eigenständigen und informations-reichen „analytic narratives“ politischer Systeme favorisieren, nur zu gut, dass man die Pro-blematik beliebiger Interaktionssituationen und Interdependenzverhältnisse ohne Hilfe einerinformativen Handlungstheorie gar nicht zu Gesicht bekommt (vgl. Bates u.a. 1998).

Ich halte es aufgrund solcher Beobachtungen für wahrscheinlich, dass ganz unterschiedli-che Theorielager genau besehen dadurch entstehen (oder entstanden sind), dass sich derenAnhänger (aus jederzeit verteidigungsfähigen Gründen im Übrigen) auf unterschiedliche Tei-le eines übergreifenden Arguments konzentrieren, mit dessen Hilfe eine – wie Lindenbergsagt (vgl. Lindenberg 1977) – „vollständige Erklärung“ eines fragwürdigen Gegenstandsbe-reichs erstrebt werden kann. Die bereits zugestandene Mehrstufigkeit von Erklärungen reflek-tiert diesen Tatbestand sehr genau. Um zur ebenso kontinuierlichen wie stückweisen Entwick-lung eines solchen Arguments beizutragen, wird es jederzeit legitim sein, wenn sich eineTheoretikerin oder ein Theoretiker darauf beschränkt, die situationsrelevanten Bedingungeneines einzelnen Handelnden oder nur weniger Akteure (exakt und detailverliebt) zu analysie-ren, auch ohne die Genese der Handlungssituation und der in ihr ablaufenden Prozesse zuerforschen; wenig dagegen spricht, wenn sich Systemtheoretiker mit dem Ablauf und der äu-ßeren Form (wie Simmel gesagt hätte) von Systemprozessen befassen möchten, ohne im Ein-zelnen zu wissen, wie sich diese Prozessformen aus den Einzelhandlungen der Akteure erge-ben, und es kann genau besehen keinen Einwand nach sich ziehen, wenn sich eine Forsche-rin oder ein Forscher um die Aggregation von Kollektiveffekten des interaktiven oder sys-temgesteuerten Handelns einer Vielzahl von Akteuren bemühen möchte, ohne etwa die De-tails der Institutionen (oder Handlungssysteme und -mechanismen) oder der Handlungsmoti-vationen und -deutungen zu kennen, die diese Effekte zu produzieren helfen. Eine solche ar-beitsteilige Bearbeitung ausgewählter Aspekte eines mehrschichtigen Sachzusammenhangssollte nur niemanden, der an derartigen Ausschnittbetrachtungen interessiert ist, glauben ma-chen, er habe gleichwohl „das Ganze“ im Blick, und was ihn aktuellerweise nicht beschäfti-ge, sei der näheren Beachtung nicht wert. Spätestens dann, wenn die Erklärung der internenVariabilitäten des herausgeschnitten Problemaspekts ansteht oder wenn sich im Rahmen derÜberprüfung entsprechender Annahmen unhaltbare Prognosen über die Bedingungen seinesFunktionierens nicht länger übersehen lassen, muss sich ein Blick über den parametrischenGartenzaun des eigenen Modells lohnen.

In Folge einer solchen Sicht der soziologischen Forschungsanlage und angesichts der na-heliegenden Folgerung, dass deren arbeitsteilige Organisation offensichtlichen ebenso erfor-derlich wie zulässig sein muss, würde ich gelegentlich gerne in Frage gestellt sehen, ob estatsächlich richtig ist, dass die Soziologie durch eine unkontrollierte Vielfalt „überwiegendunvereinbarer Theorieansätze“ (Braun 2008: 392) zu kennzeichnen ist, die sich weder erset-zen noch ergänzen können. Es würde die Aufnahme einer erfolgversprechenden Grundsatz-debatte über die Aufgaben der Theoriebildung in der Soziologie (und in anderen Sozialwis-senschaften) sicher erleichtern, wenn die Beschreibung des zu bearbeitenden Problems dar-auf verzichten könnte, die eventuellen Teilnehmer an einer solchen Diskussion mit der The-

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se zu konfrontieren, sie seien – aus ihrer Sicht – gar nicht dazu in der Lage, einen behand-lungswürdigen Beitrag zur Problemlösung zu leisten. Auf der anderen Seite kann ich michnatürlich auch nicht des Eindrucks erwehren, dass die Multiparadigmatik des Fachs oftmalsnur vorgeschoben wird, um sich einen eigenen Schrebergarten von Themen und Methodenzu beschaffen, den man von kritischen Blicken und Fremdinterventionen ungestört und nachparadigma-intern ausgehandeltem Belieben bearbeiten kann. Dass diese Sachlage grenzüber-schreitende Verständigungsversuche erschwert, liegt nahe, muss aber nicht das Ende aller Ei-nigungsversuche bedeuten.

So stellt sich am Ende natürlich die Frage, wer die Kosten auf sich nehmen sollte, die Hoff-nungen zu nähren, zu begründen und zu verbreiten, dass sich eine ernsthafte, die Lager über-brückende Unterhaltung über die Theoriezukunft der Soziologie lohnen kann, und dass hin-ter einem entsprechenden Vorschlag nicht die finstere Absicht einer feindlichen Übernahmesteckt. Denn in der Tat müsste man sich, um eine fruchtbringende Theoriendebatte in Gangzu setzen, um Annäherungen zwischen den unterschiedlichen ‚Stämmen‘ und ‚Theorieclans‘bemühen, müsste man deren Spezialsemantiken beherrschen (also Fremdsprachen lernen),die jeweiligen Wissenschaftstheorien nacharbeiten und sich um gemeinsame Theoriebeurtei-lungsstandards bemühen. Darüber hinaus wird ein Gespräch zwischen Tür und Angel nichtausreichen, um die erforderlichen Klarheiten darüber zu schaffen, wo jenseits aller Unver-träglichkeiten, die niemand leugnen muss, die Gemeinsamkeiten liegen, wo Parallelitätenund am Ende Gleichartigkeiten zu erwarten sind; man wird entsprechend dauerhafte undauch belastbare Kontaktnetzwerke aufbauen und pflegen müssen, wobei man sich nicht da-von entmutigen lassen darf, dass es in allen Theorielagern erklärte Lokalisten oder Partikula-risten gibt, die sich lieber am eigenen Lagerfeuer mit Ihresgleichen zusammentun, um dieChance zu erörtern, irgendwoher Gelder für den Neuanstrich des eigenen Totempfahls einzu-werben, als einem dahergelaufenen ‚Fremdling‘ zuzuhören, der ebenso vage wie überspann-te Thesen über die ertragreiche gemeinsame Zukunft einer theorieintegrierten Soziologie inUmlauf zu bringen versucht. Und man wird sich überdies darauf gefasst machen müssen,dass sich angesichts durchaus berechtigter Einwände aus dem gegnerischen Lager die Ein-sicht nicht vermeiden lassen wird, dass nicht alles Gold ist, was so hell im eigenen Theorie-baukasten zu glänzen scheint. Ignoriert man solche Einwände und Revisionsvorschläge aufDauer, so sind Gesprächsabbrüche vorprogrammiert und das damit provozierte ‚Weiterbas-teln‘ am eigenen Modell führt zur Aufrechterhaltung genau jenes Zustands wechselseitigerSprachlosigkeit, der ursprünglich Anlass zu Klage war. In jedem Fall gleicht Theoriepolitikdieser Art wie jede andere Form der Politik dem „Bohren harter Bretter“ (um Max Webererneut zu zitieren).

Um diesen Zustand der fortgesetzten Erstarrung zu verhindern, sollten die Vertreter einererklärenden Soziologie vielleicht damit beginnen, sich erkundigen, was die Vertreter andererLager (genau besehen) eigentlich treiben, und sie sollten bereit sein, sich überraschen zu las-sen. In jedem Fall scheint mir angesichts der von Braun identifizierten Umstände festzuste-hen, dass sie die Initiative zur Kontaktaufnahme ergreifen müssen, da sich ihre Gegner offen-kundig nicht genötigt fühlen, den vordergründig ganz unerwünschten Heilsversprechungeneiner theorieintegrierenden und in ihren Augen „naturalistischen Forschungspraxis“ nachzu-geben. Meiner eigenen Erfahrung nach, die ich im Überschreiten der Grenze zwischen Sozio-logie und Ökonomik habe machen können, braucht es dazu natürlich Mut, denn es bestehtnicht nur die Chance, dass einem die Hüter und Sprecher der anderen Paradigmata nicht zu-hören, sondern es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass die derzeitige Binnengruppedas Aufbrechen zu einer Erkundungsfahrt bei fremden Völkern als Illoyalität oder gar alsAbtrünnigkeit und Verrat bewertet.

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Fest steht leider auch, dass der bislang institutionalisierte Versuch, einen fachweiten inter-theoretischen Dialog in Gang zu bringen und in Gang zu halten, wie er im Rahmen der seit1975 bestehenden Arbeitsgruppe zum ‚Theorienvergleich‘ (vgl. Hondrich / Matthes 1978)und der späteren ‚Sektion für soziologische Theorien‘ (in der DGS) vorangetrieben wurde,keinen wirklich vollen Erfolg für sich verbuchen konnte, denn niemand muss zu entsprechen-den Veranstaltungen kommen und das Leben ist eh zu kurz, um alles kennenzulernen, wobeizusätzlich in Rechnung zu stellen ist, dass zahlreiche empirisch arbeitende Kolleginnen undKollegen nur schwer davon zu überzeugen sind, dass sich die Klärung – aus ihrer Sicht –abgehobener theoretischer Grundlagenfragen lohnen kann. Auch darf ich daran erinnern,dass es die Vertreter der erklärenden Soziologie waren, die die Geduld für eine kontinuierli-che Auseinandersetzung mit alternativen Theorieangeboten als erste verloren und sich selbst-ständig gemacht hatten, worauf die Kultursoziologie mit der Gründung einer eigenen Sekti-on geantwortet und der Theoriesektion den ‚schäbigen Rest‘ überantwortet hatte. Infolge die-ser bewusst inszenierten Schismen, deren Verlauf und Wirkungen offensichtlich verdrängtwerden oder doch wenigstens in Vergessenheit geraten sind, sprechen natürlich mittlerweiledie Begutachtungserfordernisse von Berufungsverfahren in vielen Fällen gegen die Doku-mentation eines zu stark ausgeprägten Interesses an den Theoriefrüchten in Nachbars Garten.

So weiß ich angesichts dieser Vorkommnisse nicht, ob es sich für die FachvertreterInnen,die daran interessiert sind, dass alle FachgenossInnen eine „Theoriekonzeption übernehmen,die in der quantitativ orientierten, empirischen Sozialforschung verbreitet ist“ (Braun 2008:373), auszahlt, Anstrengungen in einen (erneuten) Verständigungsprozess zu investieren, zu-mal ich mir gut vorzustellen vermag, dass sich die Empirische Sozialforschung unter Rück-griff auf ihre eigene Tradition als einer Deskriptiven Sozialstatistik von der soziologischenTheorie verabschiedet, um ihren (in Mannheim und Köln gepflegten) Methodenidealen nach-zugehen, dass die zunehmend zahlreicher werdenden Verfechter einer nicht-realistischen So-ziologie sich zu einem losen Verband post-post-strukturalistischer Kon- und Destruktivistenvereinigen, die die kontingenten Lebenspraktiken und Selbstthematisierungsversuche ihrerGesellschaft beschreiben und sich ab und zu, auch angeregt durch mediale Debatten, die sievielleicht sogar selbst mit inszenieren, um die Frage kümmern, was das alles zu bedeuten hatund wohin es führen soll, während das letzte aufrechte Fähnlein erklärender Soziologen einRefugium in der Nebenkammer eines ökonomischen Departements findet, um dort – wie esaus der hämischen Sicht ihrer Gegner scheinen will – zur Unterstützung des ‚ökonomischenImperialismus‘ beizutragen und auf diese Weise den eigenen Untergang zu beschleunigen.

Aber ich will kein Menetekel an die Wand malen, weil ich nur zu gerne glauben würde,dass die soziologische Theoriegemeinde Norman Brauns Wortmeldung als eine Aufforde-rung dafür verstehen könnte, in einen zwischentheoretischen Dialog einzutreten. Auch wennes schwer fällt, den Argwohn zu überlesen, den Norman Braun seinen Adressaten entgegen-bringt, könnte eine nachsichtige Lektüre seines Textes am Ende vielleicht doch zu der Ein-sicht führen, dass es an der Zeit sein könnte, sich – wie 1974 – zusammenzusetzen und überdie Möglichkeiten (und Erforderlichkeiten) eines disziplinintegrierenden Theorienprofilsnachzudenken. Welche Chancen eine solche Vollversammlung interessierter Theoretikerund Theoretikerinnen hat, kann ich allerdings nicht sagen. Auf der einen Seite ist es zur Be-stimmung der Erfolgsaussichten eines Verständigungsversuchs sicher wichtig zu wissen,dass es entsprechende Veröffentlichungen und Tagungen bereits gibt; auf der anderen Seiteaber ist nicht zu übersehen, dass es nicht gelingen will, alle (zumal auch finanziellen) Vor-aussetzungen bereitzustellen, um einen inter-theoretischen Dialog dauerhaft zu institutionali-sieren. Auch hat sich im Vorfeld solcher Bemühungen gezeigt, dass die Bereitschaft jener,die Norman Braun zu einem Wechsel ihrer Wissenschaftsauffassung drängt, bei Weitem zugering ist, um vom Sinn und Ertrag einer solchen Debatte überzeugt zu sein. Wenn die vor-behaltsreichen Bemerkungen, mit denen der Vorsitzende der DGS anlässlich seiner Rede zur

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Eröffnung des letzten Soziologenkongresses in Jena die Tragweite und Erfolgsaussichtendes rationalistischen Forschungsvorhabens kommentiert hat, repräsentativ sein sollten, sodarf man befürchten, dass das auf absehbare Zeit so bleiben wird.

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Prof. Dr. Dr. (i.R.) Michael SchmidUniversität der Bundeswehr München

Institut für Soziologie und GesellschaftspolitikWerner-Heisenberg-Weg 39

85577 [email protected]

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Theoretische Homogenitätssehnsucht als DominanzanspruchEin Kommentar zu Norman Braun: „Theorie in der Soziologie“1

Von Karl-Siegbert Rehberg

„Von allen Gegensätzen, die die Sozialwissenschaftenkünstlich spalten, ist der grundlegendste und verderb-

lichste der zwischen Subjektivismus und Objektivismus“(Pierre Bourdieu)

ISich der weit verbreiteten Sorge um eine mangelnde Resonanz und Praxisrelevanz der Sozio-logie anschließend fordert Norman Braun mit Entschiedenheit jene paradigmatische Einheitdes Faches, die schon Auguste Comte vorschwebte. Dieser unterschied das „historische“ (al-so eine Vielfalt unterschiedlichster Ansätze voraussetzen müssende) vom „dogmatischen“(mit Thomas S. Kuhn zu sprechen: paradigmatischen) Stadium. Wie in diesem enthusiasti-schen Entwurf der Soziologie als der komplexesten aller Disziplinen, war das 19. Jahrhun-dert bestimmt durch große umfassende Wissenschaftskonzepte, wie sie in der NachfolgeCharles Darwins von Herbert Spencer oder Ernst Haeckel, in anderen Wissenschaftstraditio-nen aber auch von Friedrich Engels, Wilhelm Ostwald oder Wilhelm Wundt entwickelt wur-den. Nachdem die realen Wissenschaften durch ihre Ausdifferenzierung und den mit ihr ver-bundenen Modellpluralismus eine derart imaginierteEinheit unwiderruflich zerbrochen ha-ben, verstummt die Klage darüber nicht. Inzwischen ist man selbst in den Naturwissenschaf-ten mit einer Multiperspektivität und Theoriekoexistenz konfrontiert. Gescheitert scheint dieHoffnung, die unbelebte und die belebte Natur und darin wiederum die physischen, psychi-schen und gesellschaftlichen Zusammenhänge „aus einem Punkte zu kurieren“ (Goethe,Faust I, Schülerszene), ein nicht willkürlich herbeigezogenes Bild, weil Braun (doch wohlnicht juristisch, sondern therapeutisch gemeint) ein Programm der „Rehabilitation“ soziolo-gischer Theorie entwirft.

Sein Aufsatz, der abermals eine derartige Forderung nach Einheitswissenschaftlichkeit er-hebt, hinterlässt zwiespältige Gefühle. Immer neu wiederholte Feindbilder rahmen eine Skiz-zierung des Kritischen Rationalismus, die im Ganzen als gute und selbstständig weiterentwi-ckelte Studien-Einführung in die wissenschaftstheoretische Tradition seit Carl Gustav Hem-pel und Paul Oppenheimer, Karl R. Popper, Hans Albert, Imre Lakatos und der Weiterent-wicklung in der elementaren Verhaltenstheorie und im Rational Choice gelten kann.

IIDominant aber ist eine Situationsbeschreibung der Soziologie als heillos heterogener Diskurs-gemeinschaft, der man nach der Lektüre selbst den Namen „Disziplin“ absprechen müsste,da es ihr intellektuell gerade an dieser zu mangeln scheint. Nicht nur von Braun werden Bil-der eines Tribalismus in unvereinbaren Eigenwelten gerne verbreitet, während sich in der Un-terschiedlichkeit der Sichtweisen, Begriffe und Methoden doch keineswegs notwendig Frag-

1 Sehr danke ich Matthes Blank für die Unterstützung bei der Verfertigung dieser Kritik-Kritik, so-dann den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Mittwochs-Kolloquiums des Dresdner Lehrstuhlsfür Soziologische Theorie, Theoriegeschichte und Kultursoziologie, in welchem wir den Aufsatz vonNorman Braun in eingeübter Offenheit und Bereitschaft auch zu Kontroversen diskutiert haben. Vorallem sind hier wichtige Anregungen von Dominik Schrage, Guido Mehlkop, Tino Heim und TimDeubel dankbar zu erwähnen. Das Motto ist entnommen: Bourdieu 1993: 49.

Soziale Welt 60 (2009), S. 215 – 222

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mentierung zeigt, vielmehr die unaufhebbare Komplexität des ‚Gegenstandes’ der Soziolo-gie. Als Vorurteil erweist sich wenigstens die Rede von den unübersetzbaren Stammesspra-chen, wenn man die Arbeit der Sektionen und Arbeitsgruppen der DGS empirisch analysiert(vgl. Orth / Schwietring / Weiß 2003). Die Rückgriffe auf zentrale Autoren des Faches (undkeineswegs nur auf die der je eigenen ‚Schule’) zeigen einerseits die Weite der Bezugnah-men und verarbeiteten Informationen. Aber ebenso deutlich wird die Präsenz von Hauptauto-ren in den unterschiedlichsten Kontexten. Man mag das als ‚modisch’ abkanzeln – aber ‚tri-balistisch’ ist es gewiss nicht.

Derzeitige soziologische Theoriebildung wird durch eine Beschränktheit auf Beschreibun-gen und Kategorisierungen sowie auf eine „überwiegend praktizierte Vernachlässigung derEmpirie“ gekennzeichnet. Dabei seien die Ansprüche vieler Theoretiker nicht gerade beschei-den, fehlten „Theorien mittlerer Reichweite“ im Sinne Robert K. Mertons. Stattdessen domi-nierten „Großtheorien“ oder als „Theorie“ sich ausgebende Denkansätze, die mit „eigenwil-ligen Beschreibungen und Deutungen“ aufträten. Zumeist handele es sich um „mehr oder we-niger erschöpfende Kategorisierungen und Begrifflichkeiten, sowie journalistisch anmuten-de Zeitdiagnosen“. Man darf raten, welche Lektüren Braun sich zugemutet hat und wen ermeinen könnte, wenn er (für ihn) nicht theoriefähige „Theorien“ folgendermaßen vorstellt:Sie seien „normalerweise beeindruckend weitschweifige, häufig aber wenig präzise theoreti-sche Ausführungen“ mit „schwammigen Konzepten und Begrifflichkeiten sowie unschlüssi-gen oder sogar fehlerhaften Argumentationen“.

IIIObwohl Norman Braun (wie lange vor ihm Vilfredo Pareto) nicht zu Unrecht in vielem, was„Theorie“ heißt, Konstrukte „rein verbaler Natur“ sieht, liefert er selbst in der Beschreibungder soziologischen Arbeit doch nur Behauptungen, was dem Autor des „Trattato di Sociolo-gia“ dann doch eher missfallen hätte. Denn alle prinzipiellen Fragen bleiben ungeklärt.

1. Eines der Grundprobleme der Wissenschaften seit der Antike ist ihr Wirklichkeitsbezug.Braun setzt (einer Naturontologie gefährlich nahe kommend) einen „Naiven Realismus“(Halbfass 1992), welcher von der „Existenz einer Wirklichkeit, die nicht nur eine Vorstel-lung ist“ ausgehe, einem Konglomerat unterschiedlichster Ansätze gegenüber. Deren Zusam-menhang ist für ihn in einer „idealistischen“ [?] Prägung gegeben, wofür er etwa Dekonstruk-tivismus, Phänomenologie, Semiotik, Strukturalismus und Poststrukturalismus unterschieds-los die Annahme unterschiebt, Wirklichkeit werde „im Diskurs geschaffen“. Zwar gab es inden ‚Wohlstandsgesellschaften’ postmoderne Verflüssigungen und spielerische Kontingenz-überziehungen, die es so erscheinen lassen konnten, als bestehe Realität allein aus den mensch-lichen Konstruktionen. Aber die meisten der genannten Positionen gehen doch eher davonaus, was der ‚Erfinder’ des „Positivismus“ sowenig wie der „Mythos von Heidelberg“ oderauch Michel Foucault, Jean Baudrillard u.a. bestritten hätten und was die kaum eines „Idea-lismus“ verdächtigen Soziologen Thomas Luckmann und Peter L. Berger zum Titel einesfachlichen Weltbestsellers gemacht haben: Alle Gegebenheiten, von den Naturzuständen biszu den faits sociaux, sind immer auch gesellschaftlich konstruiert. Gerade wenn Kultur dieder Natur abgerungene, umgearbeitete „Welt“ des Menschen ist, gibt es keine Formen derVergemeinschaftung und Vergesellschaftung, des Öffentlichen und Intimen, des Ästheti-schen und des Technischen ohne Deutung, ist „das Soziale“ durch und durch kulturell co-diert. Weber nannte das, wenn man mir den Bezug auf einen jener toten Autoren, die nachBraun „heutzutage kaum mehr praktische Bedeutung haben“, nachsehen will: „Kulturbedeu-tung“. Braun trägt selbst zu einer produktiven Klärung dieser anthropologisch notwendigenVerbindung von Realitätsvoraussetzung und Konstruiertheit nichts bei, sondern belässt es

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bei der behaupteten Unüberwindlichkeit eines Dualismus’ von Realismus und Konstruktivis-mus.

2. Nicht anders steht es mit dem die gesamte Fachgeschichte durchziehenden Verhältnisvon Verstehen und Erklären (vgl. Greshoff u.a. 2008). Richtig unterstellt Braun, dass (dernun auch von ihm selbst herangezogene) Weber keineswegs in der neukantianischen Entge-gensetzung von naturwissenschaftlichem Erklären und kulturwissenschaftlichem Verstehenbefangen blieb, sondern auch als Soziologe an „Warum-Fragen“ interessiert war. Das bedeu-tet doch wohl, dass er auf deren Beantwortung gespannt gewesen wäre. Und gerade da liegtdas Problem. Da auch Braun sich vor elementaren Erläuterungen nicht scheut, darf ich viel-leicht auf den selbst im Bachelor-Studium nicht unbekannt bleibenden Sachverhalt verwei-sen, dass Weber (1976) im berühmten ersten Paragraphen der Soziologischen Grundbegriffeunserem Fach die Aufgabe des Erklärens zwar zuschreibt, gerade dafür ein Verstehen aberzu dessen Voraussetzung machend: „Soziologie […] soll heißen: eine Wissenschaft, welchesoziales Handeln deutend verstehen und dadurch [kursiv von K.-S. R.] in seinem Ablauf undseinen Wirkungen ursächlich erklären will.“ Man sieht also, dass Klassiker-Philologie nichtimmer unnütz ist.

3. Es ist ja auch nicht so, dass Soziologen wie die von Braun benannten Ethnomethodolo-gen oder die unter der Rubrik „verstehende Soziologie“ zusammengefassten Forscherinnenund Forscher die „Notwendigkeit von Erklärungen“ bezweifelten. Gerne würde jeder wohldie kausalen Ursachen und Verkettungen der gegebenen Welt, etwa auch von Prozessdyna-miken, aufdecken, und alle Bemühungen in dieser Richtung sind ja durchweg unangefoch-ten. Demgegenüber wird die De-Legitimation anderer Erkenntnismethoden dort, wo der Kau-salnexus nicht freizulegen ist, allein von Seiten derer betrieben, die ihrer Methoden so sicherzu sein scheinen. Das legt die Assoziation an den Zusammenhang von „Angst und Methode“nahe, wie Georges Devereux ihn für die „Verhaltenswissenschaften“ untersucht hat; im Vor-wort dazu beobachtete der amerikanische Anthropologe Weston La Barre, dass die Sozial-wissenschaften, die seit dem 17. Jahrhundert „nach dem Prestige der exakten physikalischenWissenschaften“ strebten, sich unverändert nach dem mechanistischen Newtonschen Modelljener Zeit ausrichteten, „als hätten Einstein und Heisenberg in der Zwischenzeit die Physiknicht revolutioniert“ (zit. in: Devereux 1984: 9). Wie anders war das in der Hochzeit einerreflektierten Kultur der Relativität am Anfang des 20. Jahrhunderts, von der auch der wis-senssoziologische Relationismus Karl Mannheims inspiriert war. Aber auch damals entfes-selte die Zumutung des Einheitsverlustes sofort scharfe Angriffe aus kulturkritischer, ge-schichtsphilosophischer und szientistischer Sicht.

Zumeist werden methodologische Vereinheitlichungsforderungen mit dem selbstbewuss-ten Anspruch begründet, selbst einer „erklärenden“ Theorie zu folgen, obwohl diese Präten-tion oft gar nicht einlösbar ist. Ein Beispiel dafür mögen Analysen sein, die auf dem Axiomder ‚rationalen Wahl’ aufbauen. Meine These, dass bei aller erkenntnisfördernden Modellie-rungsarbeit überhaupt nichts „erklärt“ wird, das nicht vorher verstanden worden wäre, wirddadurch bestätigt, dass ein Rational Choice-Theoretiker wie Hartmut Esser zunehmendmehr unbestimmte, aber prägende Rahmenbedingungen für die Entscheidungsrationalität Ein-zelner einbeziehen und insofern zu einer Analyse der „Logik der Situation“ kommen muss-te. Man braucht kulturell produzierte, objektive Sinnsysteme und deren Verstehen, um Hand-lungsoptionen rekonstruieren und bewerten zu können.

4. Ähnliches gilt für Prognosen, deren Voraussagesicherheit man sich auch wünschen wür-de. Allerdings ist Skepsis ihrer Reichweite gegenüber angebracht. Der Soziologie wurdenach dem Zusammenbruch des Sowjet-Imperiums oft vorgeworfen, dass sie diesen, wieauch die Implosion der DDR, in keiner Weise vorausgesehen habe (was mitzuteilen übri-gens auch die von Braun hoch gelobte „amerikanische Politologie“ versäumte). Sicher hat

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sich auch hier bewahrheitet, dass die suggestive Kraft des Faktischen und scheinbar Notwen-digen den Blick für Alternativen und Umbrüche schwächt. Aber die Frage nach der Progno-sefähigkeit der Soziologie erfordert eine wissenschaftstheoretisch reflektiertere Auseinander-setzung, wie beispielsweise Renate Mayntz (1996: 141, 144, 148) sie in großer Klarheit ge-führt hat: Eine Prognose für Makrophänomene könne „grundsätzlich nicht aufgrund theoreti-scher Ableitungen“ gegeben werden, denn gesellschaftliche Umbrüche seien ein besondererTyp sozialer Diskontinuität auf allen Systemebenen bis in den Mikrobereich hinein. Pfadab-hängigkeiten schließt das nicht aus, aber es gebe nichtlineare Einflüsse und „Phasensprün-ge“, sodass gilt: „Je dynamischer, turbulenter und verflochtener das Ganze wird, umso weni-ger wird, was wir vorhersehen und als nomologische Verallgemeinerung formulieren kön-nen“. Das klingt doch vielschichtiger als die Formulierung Brauns, wonach das „beste Szena-rio“ für eine prognosefähige Theorie darin bestehe, dass diese „unabhängig vom jeweiligenFach […] sämtliche relevanten Voraussetzungen […] identifiziert und in kausalen Beziehun-gen miteinander verknüpft“ und dadurch (wie es, selbst auf eine Zukunftserwartung bezo-gen, etwas zu normativ heißt) festlege [!], „wann etwas wo stattfindet oder abläuft“.

IVSehr mag man Norman Braun darin zustimmen, dass die Verbindung der Soziologie mit vie-len für sie wichtigen Wissenschaften zerbrochen sei und mehr Interdisziplinarität notwendigwäre. Fraglich allerdings bleibt, ob das an der Selbstbornierung sich abschottender soziologi-scher Sprachspiel-Gruppen liegt oder an einem Ausdifferenzierungsprozess, der etwa die füh-rende Modellökonomie dazu brachte, „die Gesellschaft“ weitgehend auszugrenzen – ausge-nommen solche Ansätze, die sich einer neoklassischen Zurichtung der Welt einfügen. SchonAlvin W. Gouldner (1974: 118) hatte (selbst-)kritisch von der Soziologie als einer „N+1-Wis-senschaft“ gesprochen, welche nur noch das in der akademischen Arbeitsteilung „übrigge-bliebene ‚soziale’ Element zu ihrem Bereich“ gemacht habe.

Zu unterstützen ist ein Programm, das auch die Naturwissenschaften, erst recht die vonBraun treffend benannten „Hybriddisziplinen“ (z.B. Demographie und Psychophysik) mitden Kultur- und Sozialwissenschaften wieder in Kontakt brächte, wie das in der ersten Hälf-te des 20. Jahrhunderts beispielsweise für die kenntnisreiche Aufnahme der neuesten biologi-schen Fortschritte durch die Philosophische Anthropologie geschehen war. Das heißt abernicht, dass man eine naturwissenschaftliche Methodik einfach zu übernehmen hätte, wiedies wohl auch umgekehrt kaum aussichtsreich sein dürfte. Und nicht sollte vergessen wer-den, dass es eine spezialistische Abwendung von „großen Fragen“ gerade auch in den neuenlebenswissenschaftlichen Leitdisziplinen gibt. Zwar fehlt es nicht an oftmals dramatisieren-den öffentlichen Debatten, etwa um die „Willensfreiheit“ (vgl. Geyer 2004). Im ‚Inneren’dieser Disziplinen gibt es jedoch eine Arbeitsteilung, die sich transdisziplinären Verknüpfun-gen tendenziell entzieht, schon weil sie für die Kollegen desselben Fachs an einem Hoch-schulort kaum mehr Chancen zum Austausch bereit hält – wohl aber für Spezialistengruppenauf der ganzen Welt. Fast sehnsüchtig sagte mir jüngst ein Zellbiologe, dass er einen Lehrerhatte, der Konrad Lorenz kannte und sich noch Fragen gestellt habe, wie ich sie an ihn her-antrüge. Zwar sind ungewöhnliche disziplinäre Kooperationen nach wie vor erkenntnisför-dernd, jedoch dürfte die Hoffnung auf ein einheitliches Paradigma gerade dadurch nicht er-füllt werden.

Man nehme Niklas Luhmanns Adaption des biologischen „Autopoiesis“-Konzeptes als Bei-spiel: Keineswegs wird damit, wie Braun suggeriert, nur ein „Begriff“ übernommen, viel-mehr ein Prozessmodell von Systemen entwickelt. Diese Umstellung der LuhmannschenTheorie hat, weit über die 1940 bei ihrer Formulierung durch Norbert Wiener noch enormdynamisierend wirkenden kybernetischen Regelkreise hinaus, ihm und seinen Lesern ganz

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neue Wirklichkeitsausschnitte eröffnet. Damit reagierte er auch auf die Übernahme der Ky-bernetik in politikwissenschaftliche Modelle, denn dort war sie – sei es bei Karl W. Deutschoder in der staatssozialistischen Hoffnung auf umfassende Steuerung durch die allwissendePartei – nur noch von bedingter Erklärungs- und Konzeptionskraft gewesen. Und doch kames zu keinem ‚einheitlichen Paradigma’, weder interdisziplinär, noch innerhalb der Soziolo-gie. Das Modell relativ autonomer interner Komplexitätserhöhung und Selbstergänzungbliebt heuristisch wertvoll, wenn es auch keinerlei methodische Annäherung zwischen denNeurobiologen Humberto R. Maturana und Francisco J. Valera einerseits und dem Bielefel-der, in autopoietischer Eigenproduktivität schreibenden Soziologen auf der anderen Seite er-zeugte. Maturana (1991: 39 f) hat die Differenz zwischen seinem und dem Ansatz von Luh-mann dadurch deutlich zu machen gesucht, dass soziale Systeme, wie beispielsweise Famili-en, in keiner Weise als Netzwerke der Produktion ihrer eigenen Komponenten aufzufassenseien, vielmehr als eine Form des Zusammenlebens ganz unterschiedlicher Individuen. Zwarmag die Kritik darauf beruhen, dass Maturana nicht anerkennen will, dass die Elemente so-zialer Systeme „Kommunikation“ sein sollen. Aber es zeigt dieses Beispiel doch, dass ganzunterschiedliche Konzepte und, wie in der gesamten Wissenschaftsgeschichte nicht selten:Missverständnisse sehr wohl neue Perspektiven eröffnen können, ohne dass irgendeine jenerVereinheitlichungen, die Braun für einen Königsweg hält, erfüllt wäre. Gleichwohl kann je-de Bemühung, Kriterien und Regeln für Aussagesysteme, etwa „Theorien mittlerer Reichwei-te“, und darauf beruhende Prüfverfahren zu formulieren und in der scientific community ver-bindlich zu machen, die Vergleichbarkeit und Überprüfbarkeit von Forschungsergebnissenund die Anschlussfähigkeit neuer Untersuchungen fördern. Aber daraus ergibt sich die auchvon Braun unterstellte Nutzlosigkeit, ja Schädlichkeit unterschiedlicher Ansätze innerhalbder soziologischen Theoriearbeit eben nicht.

VDurchgängig wird in Brauns provozieren sollender Streitschrift die Ebene der öffentlichenGeltung der Soziologie als Rezeptionsphänomen vermischt mit den Produktionsbedingun-gen wissenschaftlicher Theoriebildung, worin man einen schwerwiegenden Denk- und Kate-gorienfehler sehen darf. Durchaus handelt es sich in beiden Fällen um Geltungszusammen-hänge, aber doch um sehr verschiedene. Die öffentliche Rezeption folgt eben nicht wissen-schaftstheoretischen Erwägungen. Das Argument einer ‚Wirkungslosigkeit’ der deutschenSoziologie ist überdies längst zum Stereotyp geworden. Kein Soziologiekongress, der nichtin den führenden Zeitungen die Klage darüber auslöste, dass das einstmals so tief in die Ge-sellschaft hineinwirkende Fach heute eher zur langweiligen normal science geworden sei.Der 34. DGS-Kongress 2008 in Jena blieb davon verschont, weil sein Titel „Unsichere Zei-ten“ angesichts des nur drei Wochen zurückliegenden, folgenreichen Zusammenbruchs derInvestmentbank Lehman Brothers Inc. wie gerufen kam. Üblicherweise jedoch wird diesemissmutige Beobachtung vor allem in Blättern geäußert, welche die neomarxistische unddurch die Kritische Theorie inspirierte Gesellschaftstheorie während der Studentenrevoltekeineswegs mit Zuspruch begleitet hatten. Und wenn Norman Braun moniert, die Soziologiehabe „kaum noch gesellschaftliche Auswirkungen“, dürfte er unser Fach wohl kaum in jeneZeiten zurückversetzen wollen.

Übrigens scheint ein melancholisch-gekränkter Blick auf die eigene Disziplin kein deut-sches Spezifikum zu sein; in allen Beschwörungen der chronischen Krisenhaftigkeit der So-ziologie spiegelt sich nicht nur das Land des „tragischen Bewusstseins“. Liest man die wis-senschaftsprogrammatischen Presidential Addresses der American Sociological Association(vgl. Eichler 1998: 5ff), hat sich dort eine große Anzahl der Vorsitzenden skeptisch gegen-über dem Stand der von ihnen repräsentierten Wissenschaft und ihren Möglichkeiten geäu-ßert. Die emphatische Hoffnung Lester Wards im Jahr 1907 – „we have come to know what

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society really is“ – wird überdeckt von Selbstzweifeln. Es wäre wohl kein Vorsitzender derDeutschen Gesellschaft für Soziologie auf den Gedanken gekommen, zu der (gerade in die-sem Jahr stattfindenden) hundertsten Wiederkehr ihres Bestehens das Motto „Accountingfor the Rising and Declining Significance of Sociology“ auszugeben, wie die ASA das zuihrem 100th Annual Meeting 2005 in Philadelphia tat. Und die Resonanzschwäche der ameri-kanischen Soziologie wurde zumindest zweimal offiziell thematisiert, zuletzt 2004, als Mi-chael Burawoy eine „Public Sociology“ forderte.

Ohne Selbstberuhigung sollte man mit Blick auf Experteneinfluss oder Pressepräsenz dieVerwendung soziologischen Wissens differenzierter darstellen als dies oft geschieht. Etwagibt es einen journalistischen Alltagsbedarf nach soziologischen Deutungen jedweden Phä-nomens. Und wenn auch unbestritten sein mag, dass es unterschiedliche Präsentations-Bega-bungen und eine ungleich verteilte Publizität, im besten Fall sogar die Rolle „öffentlicherIntellektueller“ gibt, werden sich das Fach und die DGS immer neu darum bemühen müs-sen, soziologische Forschungsresultate in die Öffentlichkeit zu bringen. Jedoch ist die publi-zistische Wahrnehmung sozialwissenschaftlicher Forschungsleistungen auch dadurch mitge-prägt, dass es eine verlässliche Berichterstattung über sie kaum gibt. Während man als Laievon Mondgestein, Klimafaktoren, Enzymen, Zellmanipulation, von Vulkanen auf dem Mee-resboden oder Gletscherverschiebungen manches zu hören bekommt, hat die gesamte Sach-forschung in unserem Feld kaum eine verlässliche Chance medialer Wahrnehmung, auchwenn einzelne Publizisten sich darum durchaus bemühen mögen. Stattdessen dominiert inden meinungsbildenden Feuilletons eine subtile und intellektuell bereichernde Parallel-Rhe-torik, die mit konkurrierenden Deutungsansprüchen auftritt. Darüber sollten wir glücklichsein, denn in den meisten Ländern existiert derlei nicht. Aber die Hoffnung, die Umstellungauf eine Einheitsmethodik würde über Prominenz oder Vergessen einer Disziplin entschei-den, dürfte wohl eher naiv sein. Und bei aller Bewunderung für die Modellierungsraffinessealler auf Gesetzmäßigkeiten zielenden soziologischen Ansätze wird man wohl doch nichtübersehen können, dass es zu gesellschaftlicher Wirksamkeit viel eher Autoren gebracht ha-ben, denen Braun vorwirft, nur „philosophisch angehauchte“ (man spürt geradezu den‚Odem’, wenn nicht Gottes zumindest der Eingebung) Texte und Kategorienschemata entwi-ckelt zu haben. Die Beispielsnamen sind allen vertraut, etwa – um die Gründungsväter dahin-gestellt sein zu lassen – Theodor W. Adorno, Talcott Parsons, Erving Goffman, C. WrightMills, Niklas Luhmann, Ralf Dahrendorf, Anthony Giddens, Pierre Bourdieu (Foucault willich dem Soziologiekritiker ersparen), später Ulrich Beck, Oskar Negt, Hans Joas, WilhelmHeitmeyer oder Heinz Bude, nicht zu vergessen Jürgen Habermas als weltweit anerkannterPersonifikation ‚großer Theorie’. Aber, wie gesagt, das alles sind keine Geltungskriterien fürWahrheit, den Stand der Forschung oder den Beitrag einer Disziplin zur Wirklichkeitsdurch-dringung.

VIGegen Norman Brauns These meine ich, dass Soziologie als „Wirklichkeitswissenschaft“ ei-ner Vielzahl theoretischer Ansätze bedarf, d.h. als monoparadigmatische Spezialdisziplin, de-ren höchste Belohnung in der Präsenz in reviewed journals besteht, aussichtslos wäre. Letz-tere mag zwar geeignet sein, Berufungsverfahren zu beschleunigen, da Quantität und Publi-kationsorte das Lesen ersetzen können. Aber ein pragmatischer Reduktionismus ist noch kei-ne ‚Einheit’. Wer diese will, sollte übervereinfachte Oppositionen ebenso vermeiden, wie ag-gressive Lagerbildungen. Braun hat recht darin, dass er einen nomologischen Theorietypusdeutlich absetzt von anderen Denkbemühungen des Faches. Diese bestehen jedoch keines-wegs nur aus assoziativen Erzählungen und unüberprüfbaren Behauptungen. Wenn die Mo-derne als Epoche eines legitimen Wertpluralismus angesehen wird, so gilt das auch für diein ihr entwickelten Formen wissenschaftlicher Weltwahrnehmung. Da Braun trotz seiner Ab-

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lehnung jeden philosophischen ‚Ahnenkultes’ selbst auf große Zeugen der Vergangenheitnicht ganz verzichtet, wenn es darum geht, die „allgemeine Akzeptanz“ des individualisti-schen Ansatzes durch schmückende Namen wie David Hume oder Adam Smith zu plausibi-lisieren, sei nochmals erlaubt, auf Max Weber zurückzugreifen. Dieser Kantianer, den dieUnerkennbarkeit des „Wesens“ der Geschichte, der Gesellschaft oder anderer Ausformun-gen des „Dings an sich“ zur asketischen Selbstbeschränkung, also zu Perspektivierungenund einer mühevollen Objektivierung von Wirklichkeitsausschnitten, zwang, hat durchgän-gig gegen die simple Gegenüberstellung von Realitätsleugnung und Einheitsmethodik ge-kämpft und „strenge Wissenschaftlichkeit“ gefordert – selbst wenn man nicht glaubt, Gesetz-mäßigkeiten finden zu können.

Von diesem Autor wäre zudem zu lernen, dass nicht nur die empirische Gegenwartsanaly-se im Dienste des Verstehens der eigenen Zeit steht, sondern ganz ebenso eine historischeEmpirie, welche allerdings nur in engster Zusammenarbeit mit den Geschichtswissenschaf-ten (einschließlich aller Spezialhistoriographien wie der Kunst- oder Wissenschaftsgeschich-te) methodische Sicherheit gewinnen kann. Ebenso ist eine andere Steigerung soziologischerBeobachtungskomplexität unverzichtbar: Auch innerhalb der im engeren Sinne empirischenMethoden sollten ‚quantitative’ und ‚qualitative’ Vorgehensweisen einander ergänzen, wäh-rend durch ein einseitiges Untersuchungs- und Datenprüfungsideal allzu oft ein unüberbrück-barer Gegensatz zwischen diesen geschaffen wird. So erschien es mir keineswegs als Siegder Wissenschaftlichkeit oder der Professionalität, als unter der Dominanz quantitativer So-zialforscher 2003 die qualitativ Arbeitenden sich innerhalb der DGS in eine eigene Sektionflüchten mussten – und dies in einem Augenblick, in dem in der Forschungspraxis Methoden-mix geradezu gefordert ist.

VIIDenkt man an die Leitwissenschaften, die Norman Braun zum Vorbild dienen, so mag eineNebenbeobachtung überraschen: Die sie verbindende Grundstruktur des Denkens mutet denWissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern häufig eine Glaubensintensität zu, derer man inder distanzierten soziologischen Betrachtung eigentlich kaum bedürfte. Es gilt dies vor al-lem für anthropologische Rationalitätsaxiome, die den ökonomischen und verhaltensorien-tierten Theorien zugrunde liegen. So darf es vor allem überraschen, dass Norman Braun sei-ne Empfehlung, „der Ökonomik zu folgen“, gerade in einer Zeit gibt, in der eine globale Fi-nanzkrise die Weltwirtschaft trifft, ohne dass eine Wirtschaftswissenschaft, welche die Mo-netarisierung von immer mehr Lebensbereichen, die Ausschaltung des Staates als Kontrollin-stanz und die umfassende Selbststeuerung von Märkten propagiert hatte, irgendwelche pro-gnostische Leistungen über die Folgen ihrer Empfehlungen beigetragen hätte. Obwohl ersteAnsätze eines ökonomischen Neo-Institutionalismus kulturelle Faktoren und soziale Rahmen-bedingungen des Wirtschaftens stärker wieder ins Bewusstsein hoben, schienen die Hauptre-zepte der von Braun als theoretisch so exakt angesehenen Neoklassik unverändert zu gelten– eine Suggestion, der etwa auch die rot-grüne Bundesregierung weitgehend erlegen war,wenn es auch nicht so schlimm kam, wie in der Verheerung Chiles durch die Chicago Boys.

Abschließend sei auf etwas Stilistisches verwiesen: Das Grauen Norman Brauns vor Weit-schweifigkeit hätte ihn dazu bringen sollen, die vielen Redundanzen in einer relativ knappenArgumentation einzudämmen – aber vielleicht ist das ein ästhetisches Argument und inso-fern jenseits aller Theorie.

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LiteraturBourdieu, Pierre (1993): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft [frz. zuerst 1980], Frankfurt /

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Eichler, Margrit (1998): Making Sociology More Inclusive, in: Current Sociology 46 / 2, S. 5-28.

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Geyer, Christian (Hrsg.) (2004): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experi-mente, Frankfurt / Main.

Gouldner, Alvin W. (1974): Die westliche Soziologie in der Krise, Reinbek.

Greshoff, Rainer / Georg Kneer / Wolfgang Ludwig Schneider (Hrsg.) (2008): Verstehen und Erklären.Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, München.

Halbfass, Wilhelm (1992): Naiver Realismus, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hrsg.), Histori-sches Wörterbuch der Philosophie, Band 8, Darmstadt, Sp. 160-161.

Mayntz, Renate (1996): Gesellschaftliche Umbrüche als Testfall soziologischer Theorie, in: Lars Clau-sen (Hrsg.), Gesellschaften im Umbruch. Verhandlungen des 27. Kongresses der Deutschen Gesell-schaft für Soziologie in Halle an der Saale 1995, Frankfurt / Main – New York, S. 140-153.

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Weber, Max (1976): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie [zuerst 1920].5., rev. Aufl., hrsg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen.

Prof. Dr. Karl-Siegbert RehbergTechnische Universität Dresden

Institut für SoziologieChemnitzer Straße 46 a

01062 [email protected]

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Eine Antwort auf meine Kommentatoren

Von Norman Braun*

Erfreulicherweise haben sich Karl-Siegbert Rehberg (2009) und Michael Schmid (2009) mitmeinem Aufsatz „Theorie in der Soziologie“ (Braun 2008) beschäftigt und unter anderemdessen diskussionswürdige Punkte identifiziert. In Übereinstimmung mit meiner Skizze desaktuellen Zustandes der soziologischen Theorie besteht zwischen ihnen wenig Einigkeit: ImGegensatz zu Schmid, der auch meiner Diagnose der gegenwärtigen Situation im Fach inweiten Teilen zustimmt, scheint Rehberg die von mir vertretene Auffassung abzulehnen, wo-nach eine erfahrungswissenschaftliche Theorie stets aus deduktiv verknüpften Aussagen mitErklärungsanspruch bestehen sollte, die zumindest teilweise mit empirischen Daten konfron-tiert und daher prinzipiell widerlegt werden können. Abgesehen von seiner Opposition ge-genüber meiner Position verzichtet Rehberg allerdings auf klare Antworten auf die Fragennach einem akzeptablen Theoriebegriff und einem angemessenen Vorgehen bei der Theorie-bildung. Seine vergleichsweise vagen Ausführungen verteidigen vielmehr die weithin beob-achtbare Akzeptanz von nahezu allen denkbaren Theorieauffassungen bei überwiegend prak-tizierter Vernachlässigung der Empirie, die ich als eine wesentliche Schwäche des Fachesansehe.

Aufgrund dieser Unterschiede wäre eine gemeinsame Erwiderung auf beide Kommentarezu meinem Aufsatz schwierig. Zunächst gehe ich daher weitgehend sequentiell auf diejeni-gen Behauptungen, Vermutungen und Vorwürfe von Rehberg ein, die unbedingt einer Reak-tion und gegebenenfalls Klarstellung bedürfen. Danach beschäftige ich mich mit einigenscheinbar kontroversen Punkten, die mir bei der Lektüre der Schmidschen Stellungnahmeaufgefallen sind. Generell schätzt Schmid die Wahrscheinlichkeit der von mir gefordertenUmorientierung der Soziologie in Richtung einer erklärenden Theoriebildung als eher geringein, diskutiert aber dennoch Verbesserungsmöglichkeiten der gegenwärtigen Situation. Vieleseiner Punkte sind einleuchtend und hilfreich für das gegenseitige Verständnis. Dennochgibt es Minimalforderungen, an denen sich eine erfahrungswissenschaftliche Disziplin wiedie Soziologie schon aus Konsistenzgründen zu orientieren hat. Weil sie den Spielraum fürKompromisse einengen, werden sie abschließend nochmals genannt.

Rehberg: Kulturorientierte Soziologie als „Quasi-Religion“Karl-Siegbert Rehberg beginnt seinen Kommentar mit sachlich falschen Aussagen. Nach sei-ner Überzeugung ist die Einheit der Realwissenschaften durch ihre Ausdifferenzierung undden damit verknüpften Modellpluralismus unwiderruflich zerbrochen, wobei inzwischenselbst in den Naturwissenschaften eine Multiperspektivität und Theoriekoexistenz vorliege.Fährt man z.B. von Dresden nach Leipzig, so kann man das Max-Planck-Institut für Evolu-tionäre Anthropologie besuchen. Dort sind interdisziplinäre Forschungen zu beobachten, dieunter anderem von Genetikern, Linguisten, Paläontologen, Primatologen und Psychologendurchgeführt werden. Von einer akzeptierten Multiperspektivität und Theoriekoexistenz inden naturwissenschaftlich geprägten Fächern sowie einem unwiderruflichen Bruch der Ein-heit der Erfahrungswissenschaften kann keinesfalls gesprochen werden, wenn man die dabeirelevante Vorgehensweise betrachtet. Gemeinsamer Nenner und Garant der Kooperationsfä-higkeit ist in diesem weithin angesehenen Institut eine geteilte Auffassung über Theoriebil-dung und Methodik – verschiedene erklärende Theorien aus den beteiligten Disziplinen ha-ben unterschiedliche Implikationen, die insbesondere in Experimenten gegeneinander getes-

* Roger Berger, Christian Ganser und Jochen Groß ist für Anregungen und Diskussionen zu danken.

Soziale Welt 60 (2009), S. 223 – 232

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tet werden. Zielsetzungen sind Erkenntnisse über die letztlich relevanten Kausalbeziehun-gen, um dadurch die Vielzahl der Theorien möglichst zu reduzieren. Diese Konzeption vonTheorie und Methode korrespondiert mit der von mir vertretenen Theorieauffassung.

Ebenfalls am Anfang seiner Stellungnahme verweist Rehberg auf die fehlende Originalitätmeiner Beschreibung der Situation der soziologischen Theorie und meines Verbesserungs-vorschlags. In meinem Beitrag werden tatsächlich keine Neuerungen eingeführt – nach derDiagnose der derzeitigen Schwächen der soziologischen Theorie steht insbesondere das In-strumentarium und die Logik der Theoriebildung in anderen Erfahrungswissenschaften imMittelpunkt, um interessierte Fachkollegen zu deren Akzeptanz und Übernahme zu bewe-gen. Weil ich nirgendwo einen Originalitätsanspruch erhoben habe, kann mich Rehbergs Ver-weis nicht treffen.

Meine Bemühungen reflektieren unter anderem die bemerkenswerte Lethargie der Sozio-logen bezüglich ihres Tuns. Offensichtlich ist die Soziologie als sehr pluralistisches Fachmit sich selbst zufrieden, obwohl nach wie vor ein bemerkenswerter Mangel herrscht: Es exis-tiert kein mitteilbarer Bestand von empirisch bestätigten und theoretisch fundierten Aussa-gen über soziales Handeln, soziale Ordnungen und sozialen Wandel in modernen Gesellschaf-ten, der intern weithin akzeptiert wird. Meine Bemühungen mögen zwar nicht kreativ genugsein, um kritisch gestimmte Kommentatoren wie Rehberg zufrieden zu stellen. Sie sind aberallein deshalb gerechtfertigt, weil es gerade in der Soziologie weitaus weniger wichtige An-lässe für einen Aufsatz gibt als den Hinweis auf diesen Missstand und die Diskussion seinerUrsachen und einer möglichen Lösung.

Allerdings gefällt Rehberg schon meine Situationsbeschreibung der Soziologie nicht. Ausseiner Perspektive zeigt die Unterschiedlichkeit von Sichtweisen, Begriffen und Methodenim Fach letztlich die „unaufhebbare Komplexität“ des Gegenstandes der Soziologie. Jedochwaren die Ansätze, Konzepte und Verfahren bei der Untersuchung von Naturphänomenenetwa in der Antike ebenfalls vielfältig und zweifellos erschien die Natur damals komplex.Naturwissenschaftler klassifizieren die meisten physikalischen und chemischen Vorgängeheutzutage jedoch keineswegs mehr als kaum durchschaubar und extrem schwierig. Vor die-sem Hintergrund reflektiert die Zahl der Sichtweisen, Begriffe und Methoden v.a. die Reifeeiner Disziplin, aber nicht die Komplexität ihres Gegenstandes.

Die Reife eines Faches wird durch seine Wissenschaftlichkeit angezeigt. In der Literaturgibt es hierfür Kriterien – der mit der qualitativen Sozialforschung sympathisierende Jon Els-ter (2007: 445) formuliert beispielsweise die folgenden vier Bedingungen der Wissenschaft-lichkeit: (a) Zu praktisch jedem Zeitpunkt gibt es eine allgemeine Übereinstimmung im Fachüber korrekte, falsche und unentschiedene Aussagen; (b) es existiert ein Prozess des kumula-tiven Wissensfortschritts, in dessen Rahmen falsche Theorien für immer entsorgt werden;(c) die hauptsächlichen Konzepte und Theorien können so klar und explizit formuliert wer-den, dass sie von jedem Interessierten bei hinreichendem Aufwand verstanden werden kön-nen; (d) die Klassiker des Faches werden hauptsächlich von Wissenschaftshistorikern gele-sen. Die Soziologie erfüllt bestenfalls (c), sicher aber nicht (a), (b) und (d).

Entsprechend meiner ursprünglichen Argumentation spiegelt die bemerkenswerte Hetero-genität der Soziologie wider, dass wesentliche Entscheidungen (wie z.B. eine konsequenteUmorientierung in Richtung erfolgreicherer Erfahrungswissenschaften) bisher unterbliebensind. Den pluralistischen Status quo der Soziologie findet Rehberg jedoch akzeptabel undsogar verteidigungswürdig. Ist man nicht an Wissenschaftlichkeit interessiert, dann scheintdies stimmig und sinnvoll. Was aber ist die Soziologie, wenn sie Kriterien für Wissenschaft-lichkeit weitgehend verfehlt? Vor dem skizzierten Hintergrund kann man Soziologie im Sin-ne Rehbergs eigentlich nur als recht liberale „Quasi-Religion“ auffassen – ihr Hauptzweck

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besteht ja nicht in der Annäherung an die Wahrheit, sondern in der Bewahrung eines pluralis-tischen Status quo ohne irgendwelche einschränkende Festlegungen (wie z.B. empirischePrüfbarkeit, Erklärungsanspruch) bei hinreichend häufiger ritueller Huldigung irgendwel-cher Klassiker.

Im Übrigen ist die (bereits im Titel seiner Stellungnahme manifestierte) Rehbergsche In-terpretation meiner durch den Beitrag verfolgten Absichten falsch: Weder sehne ich michnach theoretischer Homogenität noch beanspruche ich Dominanz! Die Formulierung ver-schiedener Theorien und ihre Konkurrenz scheinen mir als Anhänger des kritischen Rationa-lismus vielmehr ausgesprochen sinnvoll. Keineswegs spreche ich theoretischen Vororientie-rungen (wie z.B. Konflikttheorie, mikrointeraktionistische Tradition, Systemtheorie) ihre Da-seinsberechtigung ab. Ich bin auch nicht gegen alternative Theorien, weil sie mit meinen Prä-ferenzen (Rational Choice, formale Modellierung) kollidieren. In meinem Originalbeitrag ha-be ich aber nicht ohne Grund betont, dass die Empirie für die Theoriebildung in einer Erfah-rungswissenschaft zentral ist. Jede erfahrungswissenschaftliche Theorie muss danach mitAussagen einhergehen, die an der Realität prinzipiell scheitern können. Der Wettbewerb vonTheorien kann ja nur in der Konfrontation theoretischer Aussagen mit empirischen Datenvollzogen werden – in einer Erfahrungswissenschaft liefern empirische Überprüfungen je-weils die Entscheidungsgrundlagen für die Beibehaltung, Veränderung oder Aufgabe vonTheorien. Andere Kriterien (wie z.B. Eleganz und Sprachstil) sind letztlich irrelevant. So-fern also irgendwelche theoretischen Überlegungen mit empirisch prüfbaren Aussagen ein-hergehen, sind sie aus meiner Sicht völlig akzeptabel. Ablehnenswert sind für mich jedochsolche Versuche der Theoriebildung, die nur unprüfbare und tautologische Aussagen enthalten.

Ein Beispiel für die Bedeutung der Empirie auch für klassische theoretische Hypothesender Soziologie haben kürzlich die Ökonomen Becker / Wößmann (2009) vorgelegt. Anhandbisher kaum beachteter Daten für die 450 preußischen Landkreise um das Jahr 1870 bestäti-gen sie zunächst die Ausgangsbeobachtung in Max Webers Werk über die ProtestantischeEthik und den Geist des Kapitalismus, wonach die protestantischen Regionen wirtschaftlichfortgeschrittener waren. Danach zeigen sie aber, dass der wirtschaftliche Unterschied zwi-schen Protestanten und Katholiken verschwindet, wenn man für die ökonomischen Effekteder Bildung kontrolliert. Nach ihren Ergebnissen kann die höhere Bildung der Protestantenihren wirtschaftlichen Vorsprung erklären, ohne dass eine spezifische protestantische Ethikund ihre weitgehende Befolgung im Sinne von Webers Argumentation postuliert werdenmüsste. Vor dem Hintergrund meiner ursprünglichen Ausführungen über den Zustand der So-ziologie ist bemerkenswert, dass für diese systematische empirische Überprüfung der Weber-These so viel Zeit vergehen musste und die Untersuchung der seit Langem eigentlich verfüg-baren Daten nicht von Soziologen vorgenommen wurde.

In seinem Kommentar wirft Rehberg mir weiter vor, dass ich in der Beschreibung der so-ziologischen Arbeit nur Behauptungen aufstelle, aber alle „prinzipiellen Fragen“ offen lasse.Unter Übernahme seiner Nummerierung gehe ich daher auf die relevanten Deutungen undAnschuldigungen ein:

1. Nach Rehberg kontrastiere ich den Realismus unzulässigerweise mit einem Konglome-rat unterschiedlichster Ansätze (nämlich Dekonstruktivismus, Phänomenologie, Semiotik,Strukturalismus und Poststrukturalismus), weil deren Zusammenhang in fragwürdiger Weisehergestellt wird. Von mir werde nämlich eine idealistische Prägung dieser Denkschulen be-hauptet, wonach sie unterschiedslos annehmen würden, dass Wirklichkeit im Diskurs kon-struiert wird. Diese Zuschreibung und die damit verknüpfte Gegenüberstellung spielen zwarkeine Rolle für die weitere Argumentation in meinem Aufsatz. Es ist aber darauf hinzuwei-sen, dass sich ähnliche Kontrastierungen und Begründungen in der von bekannten Spezialis-

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ten wie z.B. Mario Bunge (1996, 1999) verfassten Literatur zu den Verbindungen zwischenSoziologie und Philosophie finden.

Rehberg erwähnt in diesem Zusammenhang übrigens seine an Max Weber angelehnte undschwerlich widerlegbare Grundthese: Wenn Kultur die der Natur abgerungene Welt des Men-schen ist, dann ist alles Soziale kulturell kodiert. Interessanterweise wirft er mir auf dieserGrundlage vor, dass ich es bei der behaupteten Unüberwindlichkeit eines Dualismus von Rea-lismus und Konstruktivismus belasse und zu einer produktiven Klärung ihrer „anthropolo-gisch notwendigen“ Verbindung nichts beitrage. Hier möchte ich Rehberg daran erinnern,was ich im Rahmen der Darstellung meiner grundlegenden Prämissen betont habe (Braun2008: 377): Zusammenhänge der Wirklichkeit können durch Menschen vor dem Hinter-grund soziokulturell vorgeformter Bezüge erkannt und verstanden werden; Konzepte undTheorien zu beliebigen Sachverhalten und Prozessen sind menschliche Konstruktionen. Fürden Zweck meines Aufsatzes erscheinen mir diese Aussagen zum Verhältnis von Realismusund Konstruktivismus nach wie vor hinreichend. Damit vereinbare detaillierte Ausführun-gen geben wiederum zeitgenössische Philosophen (z.B. Searle 1995).

2. In einer Diskussion von Verstehen und Erklären weist Rehberg auf Max Webers bekann-te Festlegung hin, wonach die Erklärung des Ablaufs und der Folgen des sozialen Handelnserst durch das vorherige deutende Verstehen möglich wird. Schon vor der Abfassung meinesAufsatzes ist mir dies keineswegs entgangen. Zudem habe ich nirgendwo zum Verzicht aufBemühungen um das Verstehen aufgefordert oder gegen das Verstehen angeschrieben. ImGegenteil: In meiner Darstellung der grundlegenden Postulate, die hinter meiner Theorieauf-fassung stehen, habe ich das Verstehen vor dem Erklären behandelt. Etwas später betoneich, dass die Sinnzuschreibungen und Deutungen etwa der interpretativen Soziologie durchErklärungen zu ergänzen sind (Braun 2008: 379). Trotz fehlender Widersprüche zu den An-sichten von Max Weber wirft Rehberg mir vor, ich würde es bezüglich des Verstehens undErklärens bei einem unüberwindlichen Dualismus belassen. Zur Richtigstellung brauche ichnur auf die ausführliche Erörterung einer situationalen Handlungserklärung in meinem Auf-satz zu verweisen (Braun 2008: 381) und meine vorherige Umschreibung des Verstehens zuwiederholen (Braun 2008: 377): Das Verstehen von Handlungen besteht darin, sie als ver-nünftig und daher zweckdienlich im Sinne der Situationserfordernisse zu erkennen.

3. Nach Rehberg bezweifelt niemand in der Soziologie die Notwendigkeit von Erklärun-gen. Wenn dies (im Gegensatz zu dem von mir vermittelten Eindruck) so ist, dann ist zu-nächst einmal unklar, warum sich einige Kollegen mit dem Etikett „Erklärende Soziologie“schmücken. Daneben ist mir der Erklärungsanspruch von z.B. Niklas Luhmann offenbar bis-her verborgen geblieben. Ähnliches gilt für die Ethnomethodologie und die verstehende So-ziologie, denen ich nach Rehbergs Ansicht fälschlicherweise ein Desinteresse an Erklärun-gen unterstellt habe – bisher wurde ihr Interesse jedenfalls nicht in entsprechendes Verhaltenumgesetzt.

Rehberg betont in diesem Zusammenhang, dass jeder gerne kausale Strukturen aufdeckenmöchte. Leider würde aber die Legitimation anderer Erkenntnismethoden dort, wo derartigeStrukturen nicht freizulegen sind, insbesondere von denjenigen hinterfragt, die von ihren Me-thoden überzeugt sind. Bei dieser Vermutung drängt sich zunächst die Frage auf, ob es tat-sächlich Bereiche gibt, in denen keine kausalen Zusammenhänge nachzuweisen sind. Zu ih-rer Beantwortung empfiehlt sich die Anwendung aller einschlägigen Methoden. Es kann jasein, dass nur durch die bis jetzt verwendeten Methoden keine Beziehungen zwischen Ursa-che und Wirkung identifizierbar waren. Wenn dem so ist, wäre es geradezu fahrlässig, dieBeteiligten nicht auf die Mängel ihrer bisherigen Vorgehensweise hinzuweisen und geeigne-tere Verfahren nicht einzusetzen!

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Daneben existiert noch ein Argument für Erklärungen, das Rehberg übersieht: Im Gegen-satz zu einem rein interpretativen Ansatz ergeben sich empirisch prüfbare Aussagen typi-scherweise erst im Rahmen von erklärender deduktiver Modellierung. Nicht selten sind der-artige Hypothesen kontraintuitiv, korrespondieren aber mit der verfügbaren Evidenz. Bei-spielsweise kann man aus einem Rational Choice Modell der Sucht (Becker / Murphy 1988)die Hypothese ableiten, dass der Alkoholkonsum von Alkoholikern stärker auf Preisänderun-gen bei alkoholischen Getränken reagiert als der Alkoholkonsum von Gelegenheitstrinkern.Es handelt sich dabei um eine empirisch prüfbare Aussage, die man schwerlich mit z.B. her-meneutischen Verfahren erhält und die eine Folgenabschätzung von Politikempfehlungen (un-ter anderem höhere Alkoholbesteuerung) erlaubt.

4. Im Zusammenhang mit Prognosen und deren Voraussagesicherheit wirft Rehberg mirvor, dass ich hierzu keine wissenschaftstheoretisch reflektierte Diskussion geführt habe. Statt-dessen lobt er diesbezügliche Einlassungen von Renate Mayntz, die sich auf Prognosen vonMakrophänomenen beziehen und aus verschiedenen Gründen deren Möglichkeit verneinen.Nach Rehberg klingen ihre Einsichten „vielschichtiger“ als meine Formulierung, wonachdas optimale Szenario für eine prognosefähige Theorie darin besteht, dass alle relevanten Vor-aussetzungen bekannt und in Kausalbeziehungen miteinander verbunden sind, wodurch be-stimmt ist, was wann wo passiert. Rehberg ignoriert hier, dass ich die denkbar beste Situati-on für etwaige Prognosen betrachte, während sich Renate Mayntz eben gerade nicht mit dempotenziellen Idealfall beschäftigt. Im Übrigen entspricht die Position von Renate Mayntz be-züglich der unmöglichen Prognose von z.B. historischen Umbrüchen weitgehend der ein-schlägigen Sichtweise von Karl Popper, was Rehberg freilich nicht erwähnt.

Auch aus der Perspektive des kritischen Rationalismus besteht die soziologische Aufgabekeineswegs in der treffgenauen Vorhersage von Makrophänomenen, die sich etwa durch mög-liche Bifurkationen und starke Empfindlichkeiten gegenüber Ausgangskonstellationen aus-zeichnen. Zielsetzung der Theoriebildung ist vielmehr die sukzessive Annäherung an dieWahrheit. Eine bessere Theorie dürfte daher auch genauere Vorhersagen erlauben, wenn diejeweiligen Anfangsbedingungen für die Theorieanwendung gegeben sind. Insbesondere dar-auf haben sich meine Ausführungen zur Prognose in der Einleitung meines Aufsatzes bezo-gen. Was damit gemeint ist, zeigt beispielsweise eine Analyse der Situation von Elfmeter-schütze und Torwart beim Fußball, die Berger / Hammer (2007) vorgelegt haben: Zunächstwerden auf der Grundlage eines spieltheoretischen Modells die optimalen Verhaltensweisenvon Torwart und Elfmeterschütze bestimmt, um danach diese Prognosen systematisch mitrelevanten Beobachtungen aus Bundesliga-Spielen zu vergleichen. Nachgewiesen wird da-bei eine weitgehende Korrespondenz zwischen Theorie und Empirie.

Nach diesen vier Punkten gehe ich im Folgenden noch auf diejenigen unerwähnten Anlie-gen, Behauptungen und Beobachtungen Rehbergs ein, die aus meiner Sicht eine Reaktionverdienen. Zunächst betont Rehberg, dass man die naturwissenschaftliche Methodik bei ei-ner eventuell wieder erfolgenden Annäherung an die Naturwissenschaften nicht einfach über-nehmen soll. Falls Rehberg damit auf eine unkritische Übernahme eines naturwissenschaft-lich geprägten Weltbilds abstellt, sind wir uns einig. Meint er aber, was er schreibt, so be-steht zwischen uns kein Konsens: Mathematische Modellierung, statistische Analyse und ex-perimentelle Forschung gehören zur naturwissenschaftlichen Methodik und haben unter an-derem aufgrund ihrer relativen Genauigkeit wesentlich zum Erfolg aller naturwissenschaft-lich beeinflussten Fächer beigetragen. Aus meiner Sicht würde eine stärkere Orientierungder Soziologie an erfolgreicheren Erfahrungswissenschaften bedeuten, deren Methodik ver-stärkt zu verwenden.

Tatsächlich wäre eine stärkere Mathematisierung soziologischer Theorien schon deshalbwünschenswert, weil dadurch Sparsamkeit und Präzision der Theoriebildung bei gleichzeiti-

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ger Vermeidung unklarer oder versteckter Annahmen erreichbar scheinen. Diese Eigenschaf-ten verbessern die empirische Prüfbarkeit theoretischer Aussagen. Beziehen sich die testba-ren Hypothesen auf kausale Zusammenhänge, so empfehlen sich unter anderem zur Kontrol-le potenzieller Störgrößen bei deren empirischer Prüfung jeweils experimentelle Untersu-chungsanordnungen, wodurch sich die statistischen Analysen vereinfachen. Sind lediglichQuasi-Experimente durchführbar oder können aus irgendwelchen Gründen gar keine Experi-mente stattfinden, dann ist die Kontrolle möglicher Störgrößen unter anderem mit statisti-schen Mitteln zu gewährleisten.

Unabhängig davon, ob sich die testbaren theoretischen Hypothesen auf kausale Zusammen-hänge beziehen oder nicht, erfordert ihre empirische Überprüfung also jeweils Anwendun-gen der Statistik. Konzepte und Verfahren der Statistik sind für Soziologen schon deshalbunverzichtbar, weil sie sich typischerweise ja nicht mit dem Einzelfall befassen, der etwa inder klinischen Psychologie oder der betriebswirtschaftlichen Unternehmensberatung eine gro-ße Rolle spielt. Soziologie beschäftigt sich im Normalfall mit sozialen Phänomenen und Pro-zessen, aber nicht mit irgendeinem Einzelschicksal oder Sonderfall. Im Mittelpunkt des so-ziologischen Interesses stehen Massenerscheinungen und Aggregate (wie z.B. Bildungsko-horten, Organisationen, Wohnbevölkerung). Dabei beziehen sich die jeweiligen testbaren Hy-pothesen nicht selten bereits auf statistische Konzepte (wie z.B. Häufigkeitsverteilungen, Mit-telwerte, Raten). Über die für ihre empirische Prüfung nötigen Daten bestimmen die Hypo-thesen passende statistische Verfahren mit (z.B. Ereignisanalyse, Panelanalyse). In Verbin-dung mit der sonstigen Forschungsplanung (z.B. Auswahlthematik, Erhebungsmethode) de-terminieren sie unter anderem auch die jeweils als ideal anzusehende Untersuchungsanord-nung (Experiment, Quasi-Experiment, Nicht-Experiment) und ob vorläufige induktive Schlüs-se (von z.B. einer Stichprobe auf eine Gesamtheit) im Rahmen der statistischen Analyse(z.B. Signifikanztests) erfolgen sollen.

Berücksichtigt man zudem die zunehmende Bedeutung der Computersimulation in vielenDisziplinen, so sind die naturwissenschaftlich orientierten Methoden auch in den Sozialwis-senschaften auf dem Vormarsch (z.B. Helbing 2008; Russo 2009). Komplexe statistische Ver-fahren setzen sich schon aufgrund des technischen Fortschritts immer weiter durch und expe-rimentelle Forschung findet inzwischen selbst in der Soziologie statt. Mithin hat die Übernah-me des Erfolgsrezeptes der Naturwissenschaften längst begonnen, auch wenn sich die Mehr-heit in der Soziologie noch dagegen wehren möchte. Zudem erfordert Interdisziplinarität,wie eingangs im Zusammenhang mit dem Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropolo-gie bereits verdeutlicht wurde, die Akzeptanz einer gemeinsamen Forschungsstrategie, umdie unterschiedlichen Theorien aus den einzelnen Fächern auf einen gemeinsamen Prüfstandzu stellen. Die naturwissenschaftliche Methodik legt dieses Prüfverfahren fest. Aus sozial-wissenschaftlicher Perspektive wird damit ein allgemein verbindlicher Standard bestimmt,der für alle Beteiligten insbesondere Handlungssicherheit und Anschlussfähigkeit schafft.

Rehberg beobachtet weiter, dass wissenschaftstheoretische Erwägungen für die öffentli-che Rezeption der Soziologie keine Rolle spielen. Damit hat er wohl recht. Allerdings sindderartige Erwägungen wahrscheinlich von Bedeutung, wenn man nach der Reputation derSoziologie in anderen Fächern fragt. In einer kürzlich durchgeführten Befragungsstudie ha-ben Downey et al. (2008) das geringe Ansehen der Soziologie in der US-amerikanischenHochschullandschaft dokumentiert. Dieser schlechte Ruf der Disziplin ist sicher ein Grunddafür, warum man soziologische Theorien in anderen Fächern oftmals übersieht.

Rehberg behauptet in seinem Kommentar mehrfach, dass ich gegen die Lektüre von Klas-sikern sei und den „Ahnenkult“ des Faches ablehne. Gleichzeitig, so Rehberg, schmücke ichmeine Ausführungen aber mit Namen wie David Hume oder Adam Smith. Anscheinend hatRehberg meine Ausführungen über die Klassiker nicht genau gelesen. Sonst würde er wis-

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sen, dass ich nichts gegen sie und die Weitergabe ihrer Lehren habe, sofern letztere auchheute noch Relevanz besitzen (Braun 2008: 375). Belegbar ist dies übrigens anhand vonKarl Popper – ein wesentlicher Teil der in meinem Aufsatz vertretenen Position geht auf dieLektüre seiner Beiträge zurück.

Gegen Ende seiner Stellungnahme zeigt sich Rehberg verwundert, dass ich der Soziologiein einer Zeit der globalen Finanzkrise empfehle, sich bei der Theoriebildung an der Ökono-mik zu orientieren. Nach seiner Beobachtung hat die Ökonomik keine prognostischen Leis-tungen über die Folgen ihrer Empfehlungen (z.B. Monetarisierung vieler Lebensbereiche,Ausschaltung des Staates als Kontrollinstanz, umfassende Selbststeuerung von Märkten) bei-gesteuert. Bei allem soziologischen Ärger über die Wirtschaftswissenschaftler sollte mansich aber um ein faires Urteil bemühen: Zum einen ist, wie uns der von Rehberg zitierteText von Renate Mayntz lehrt, die Prognose eines Makrophänomens wie der Finanzkrise beihinreichend starker Dynamik, Turbulenz und Verflechtung des Ganzen weitgehend unmög-lich; zum anderen gab es z.B. die formalen Analysen der Grundproblematik der Krise undihrer Vermeidung bzw. Überwindung durch den Ökonomen Hyman Minsky, dessen 1986erBuch „Stabilizing an Unstable Economy“ deshalb gerade wieder neu aufgelegt worden ist.Des Weiteren wird doch wohl niemand bezweifeln wollen, dass der erreichte enorme Wohl-stand in den westlichen Gesellschaften auch den Marktkräften des Kapitalismus geschuldetist und die Zahl wirklicher Krisen in den letzten 50 Jahren überschaubar klein war. Insge-samt haben die ökonomischen Empfehlungen doch gar nicht so schlecht funktioniert!

Schmid: Erklärende Soziologie mit unbedingter MikrofundierungMichael Schmid stimmt meiner Skizze des aktuellen Zustandes der Soziologie weitgehendzu. Auch meine Forderung nach einer erklärenden Theorie, die aus logisch verknüpften undzumindest teilweise empirisch testbaren Aussagen besteht, findet seine Unterstützung. Alsausgewiesener Sachkenner identifiziert Schmid dennoch einige vermeintliche Schwachpunk-te meiner Argumentation.

Erstens beobachtet Schmid richtigerweise, dass ich darauf verzichtet habe, eine bestimmteErklärungslogik aus der Menge der möglichen Varianten (z.B. Hempel-Oppenheim Modell,mechanismische Erklärung, Poppersche Situationslogik) als die aus meiner Sicht verbindli-che auszuzeichnen. Obwohl mir die Unterschiede zwischen den Erklärungsansätzen und dieUnentschlossenheit der Wissenschaftstheoretiker über das letztlich angemessene Erklärungs-modell durchaus bekannt waren, erschien es mir nicht sinnvoll, eine allzu enge Theoriebil-dungsstrategie durch die Vorgabe einer ganz bestimmten Erklärungssystematik einzufor-dern. Sollten sich Soziologen zukünftig verstärkt um Erklärungen im Rahmen ihrer theoreti-schen Arbeit bemühen und dabei sinnvollerweise auch auf empirische Befunde beziehen,wird sich vermutlich ein für die soziologische Theoriekonstruktion besonders geeignetes Er-klärungsschema im Wettbewerb durchsetzen. Zunächst aber sind genügend Fachkollegenvon der Notwendigkeit erklärender Theoriebildung zu überzeugen.

Zweitens beklagt Schmid, dass praktisch jedes wissenschaftstheoretische Lehrbuch die in-zwischen vorhandenen Zweifel am „Popper-Hempel-Lakatosschen Konsens“ zeige. In Über-einstimmung mit den Grundprämissen des kritischen Rationalismus sind solche Zweifel legi-tim und erwünscht, was Michael Schmid sicher nicht bestreitet. Betrachtet man mit Mouli-nes (2008) die Entwicklung der modernen Wissenschaftstheorie zwischen 1890 und 2000,so gab es praktisch kaum eine Phase ohne entsprechende Kontroversen – es ist fraglich, objemals ein „Popper-Hempel-Lakatosscher Konsens“ existierte. Aber selbst wenn man mit Mi-chael Schmid das Bestehen dieses Konsenses unterstellt, impliziert die Kritik daran in kürz-lich erschienenen Lehrbüchern zur Wissenschaftstheorie ja nicht, dass insgesamt relativmehr Gegner dieser Übereinkunft existieren. Vielleicht schreiben viele der neuen Lehrbuch-

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autoren (wie z.B. Bishop 2007) ja primär für ein geistes- und sozialwissenschaftliches Publi-kum, weswegen sie kaum auf die in den fraglichen Disziplinen überaus prominenten kon-struktivistischen, postmodernen und hermeneutischen Sichtweisen verzichten können. Nochmehr dürfte Michael Schmid aber beruhigen, dass es nach wie vor von Spezialisten herausge-gebene aktuelle Lehrbücher der Wissenschaftstheorie gibt, die ohne die Einbeziehung derar-tiger Perspektiven über den aktuellen Stand der Forschung kompetent und zuverlässig infor-mieren (z.B. Bartels / Stöckler 2007).

Drittens ist Michael Schmid „verblüfft“ über mein Beispiel für eine Theorie, da es „kausa-lanalytisch“ angelegt ist, aber auf eine Mikrofundierung verzichtet. Nach Schmid sind sozial-wissenschaftliche Erklärungen immer mikrofundierende Erklärungen. Mit dieser Aussagestimme ich prinzipiell überein – allerdings genügt es aus meiner Sicht, wenn die in einerTheorie kombinierten grundlegenden Prämissen deduktiv im Rahmen von Modellierungenmit Mikrofundierungen konsistent begründbar sind. Gibt es also ältere Modelle, welche aufwiderspruchslose Weise (z.B. im Rahmen von miteinander logisch vereinbaren RationalChoice Analysen) Mikrofundierungen für die Annahmen einer neuen Theorie bereitstellen,dann erscheint die Notwendigkeit einer weiteren handlungstheoretischen Begründung dieserTheorievoraussetzungen keineswegs mehr zwingend. Vielmehr kann man vor diesem Hinter-grund sofort fragen, welche neuen Erkenntnisse die Kombination der Hypothesen mit sichbringt. Anders gesagt: Man braucht das Rad nicht ständig neu zu erfinden, sondern kann mitdem Bau eines Leiterwagens, einer Kutsche, eines Schubkarrens oder gar eines Skateboardsbeginnen!

Das von mir gewählte Beispiel für eine Theorie der Gewaltrate kann übrigens dadurch cha-rakterisiert werden, dass seine grundlegenden Prämissen allesamt Folgerungen von mikro-analytisch fundierten und untereinander konsistenten Modellen sind. Aus meiner Perspekti-ve sind daher die Anforderungen für einen Verzicht auf eine explizite Mikrofundierung er-füllt: Die ersten beiden Annahmen sind Folgerungen von Rational Choice Modellen, die Ga-ry S. Becker und sein Koautor H. Gregg Lewis in den 1960er und frühen 1970er Jahren ver-öffentlicht haben; neben diesen von mir in meinem Aufsatz angeführten Arbeiten gibt es Ra-tional Choice Modelle zur Begründung der Homophilie-Tendenz (z.B. Roth / Sotomayor1990 für eine Zusammenstellung), der dritten wesentlichen Annahme meines Theoriebei-spiels. Damit sind sämtliche Annahmen, die auf kausale Mechanismen in der Theorie verwei-sen, ihrerseits als Folgerungen von handlungstheoretischen Überlegungen konsistent rekon-struierbar.

Zudem sind diese Theorieprämissen in vielen empirischen Studien nicht widerlegt wor-den, sodass man von robusten empirischen Aussagen sprechen kann. Es wäre daher aus mei-ner Sicht wenig ertragreich, die von mir zur Illustration formulierte Theorie der Gewaltratenoch durch Überlegungen zur Mikrofundierung künstlich aufzuplustern. Nehmen wir statt-dessen doch einfach an, dass die jeweiligen mikrofundierten Modelle hinreichende Begrün-dungen für die Theorieannahmen liefern und kümmern uns sofort um die Implikationen ih-rer Kombination! Dies erscheint auch deshalb sinnvoll, weil es durch eine derartige Strate-gie selbst in den Sozialwissenschaften zu einem kumulativen Wissensfortschritt kommen kann.

Zu betonen ist freilich, dass ich in meinem Aufsatz praktisch nicht auf die Möglichkeiteiner widerspruchslosen Mikrofundierung der zentralen Annahmen meiner Makrotheorie ein-gegangen bin. Aufgrund dieser Unterlassungssünde kann Michael Schmids Vorwurf einer„kausalanalytischen“ Erklärung auf der Makroebene (im Sinne von z.B. Durkheim) erhobenwerden. Dies gilt, obwohl er sich aufgrund der mit Bedacht gewählten Annahmen als nichtwirklich stichhaltig erweist.

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Michael Schmids Kommentar enthält auch eine Diskussion darüber, ob und wie denn eineVerständigung zwischen den soziologischen Theorielagern möglich wäre. Selbst wenn manzu einem entsprechenden Dialog bereit ist, gibt es allerdings Grenzen der Verhandelbarkeit.Letztere reflektieren Minimalforderungen an eine Erfahrungswissenschaft. Die Formulie-rung des Theoriebegriffs in meinem Originalaufsatz informiert über diese Bedingungen: Ei-ne Theorie besteht aus deduktiv verknüpften Behauptungen, die zumindest teilweise an derRealität scheitern können. Unverzichtbare Anforderungen an eine wie auch immer gearteteTheorie in den Natur- und Sozialwissenschaften sind damit logische Vereinbarkeit und empi-rische Prüfbarkeit von Hypothesen.

Konzentriert man sich auf die spezielle Erfahrungswissenschaft der Soziologie, so kom-men in Abhängigkeit von bestimmten Vororientierungen weitere grundlegende Anforderun-gen hinzu. Definiert man Soziologie z.B. im Gefolge Max Webers, so sind damit einige fun-damentale Entscheidungen getroffen, die insbesondere von Wolfgang Schluchter(2009: 263ff) ausführlich dargelegt und begründet werden: Weil sich Soziologie mit dem deu-tenden Verstehen und (dadurch) kausalen Erklären des sozialen Handelns und seiner Folgenbeschäftigt, ist sie einem moderaten methodologischen Individualismus und einer Mehr-Ebe-nen-Konzeption verpflichtet; sie ist insbesondere deshalb eine verstehende Wissenschaftvom Handeln, weil sie Gründe als Ursachen behandelt und auf einer Mikrofundierung be-steht; sie kann auf die Erfahrungsprobe (z.B. Experiment, statistische Analyse) nicht verzich-ten, weil selbst ein plausibles deutendes Verstehen keine gültige kausale Zuschreibung erlaubt.

Wohl gemerkt hängt die Unverzichtbarkeit empirischer Überprüfungen nicht an den We-berschen Vorstellungen und ihren Konsequenzen. Sie ist vollständig der Tatsache geschul-det, dass die Soziologie eine Erfahrungswissenschaft ist. Ohne irgendwelche Kompromissezu erlauben, gibt die Empirie daher die Grundlinie für die Beurteilung und Weiterentwick-lung von Theorien vor. Vor diesem Hintergrund sind alle theoretischen Entwürfe akzepta-bel, die nicht nur tautologische Aussagen enthalten und deren Vermutungen zumindest teil-weise präzise genug sind, um an der Wirklichkeit überhaupt scheitern zu können. Werdensie dann immer wieder durch die Daten widerlegt, so sind die Theorien anzupassen oder auf-zugeben, aber nicht beizubehalten. Ziel ist nicht die Schaffung von immer neuen Ansamm-lungen unprüfbarer Aussagen oder die Bewahrung von Theorien mit empirisch falschen Im-plikationen, sondern Erkenntnisfortschritt.

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Schmid, Michael (2009): Theoriebildung und Theoriepolitik in der Soziologie – Ein Kommentar zu Nor-man Braun: „Theorie in der Soziologie“, in: Soziale Welt 60, S. 199-213.

Prof. Norman Braun Ph.D.Ludwig-Maximilians-Universität München

Institut für SoziologieKonradstr. 6

80801 Mü[email protected]

232 Norman Braun

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Abstracts

Matthias Pollmann-Schult

Actual and Preferred Working Hours in Family Households. An Analysis ofWork Hour Mismatches in GermanyThis paper analyses how the presence of children and the spouse’s employment status rela-tes to the desire for more and fewer hours of work. Using data from the German Socio-Eco-nomic Panel (GSOEP), it is argued that a majority of employees do not work the workinghours they would prefer. Most employees who are facing a mismatch of working hours wantto spend less time at work. The desire to increase or decrease working hours varies greatlywith the family structure. Mothers are more likely to have an unmet desire for fewer hoursthan women without children, whereas fathers less often express the desire for fewer hoursthan childless men. Those groups of workers who are most liable to work-life conflicts, suchas single mothers and fathers in dual-earner households, relatively unlikely show a desire forfewer hours of work. The analysis suggests that work-life conflict is only weakly related towork hour mismatches. In addition, it became visible that the association between work-lifeconflict and the desire to reduce working hours is mediated by the family income and socialnorms.

Alexander Bogner

Ethicization and the Marginalisation of Ethics. Micropolitics of Knowledge inEthics CouncilsIn this paper I apply the concept of micropolitics, as derived from organizational sociology,on the sociology of expertise. From such a perspective, manufacturing expertise within aninterdisciplinary team always entails bargaining over the relevance and robustness of particu-lar disciplinary knowledge. Taking the example of national ethics councils, I demonstratethat the micropolitics of knowledge determines the success of claiming an expert status. Iargue that the ethical framing of this expertise does not privilege the specialised knowledgeof professional ethicists. Rather, it leads to a marginalization of ethical expertise. Paradoxi-cally, the trend towards ethicizing scientific-technical phenomena on the macro level goesalong with a marginalization of ethics on the micro level.

Heiner Meulemann

Equalizing and Providing Opportunities. The Acceptance of Comprehensiveand All-Day Schools in GermanyComprehensive schools and all-day schools aim for different aspects of equality of opportu-nity, namely equalizing or providing opportunities. Using population surveys, I show howrespective knowledge and evaluation of comprehensive schools and of all-day schools havedeveloped in Germany. Unlike all-day schools, the knowledge of comprehensive schools ap-pears to be politically selective. Only those who know the repective school form have beenevaluated. Three hypotheses are tested in relation to control for attitudes to equality of oppor-tunity, political self-identification, social status, and parenthood. According to the competiti-on hypothesis, the evaluation of comprehensive schools should have declined in West Ger-many between 1979 and 2005; it is verified. According to the egalitarianism hypothesis, com-

Soziale Welt 60 (2009), S. 233 – 234

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prehensive schools should receive less support in West than in East Germany in 2005; it isverified for comprehensive schools only. According the difference hypothesis could be veri-fied that comprehensive schools are getting less support than all-day schools in both parts ofGermany in 2005. While competing with the traditional three-partite secondary school sys-tem, comprehensive schools lose support, because they postpone the distribution of opportu-nities, which the higher forms of the traditional school system provide immediately after.

Hans J. Pongratz

Competition and Integration in Organizational Change. On the Problemof “Creative Destruction” Within OrganizationsMeasures of reorganisation create in-company competition: strategies, structures, and proces-ses are constantly put to test whether they are successful or are forced to change. This com-petitive principle can be interpreted with reference to Schumpeter's theorem of “inward crea-tive destruction”. Organizational change renders the organization itself an object of creativedestruction and opens it for permanent adjustment to changing environments without simplygiving up proven patterns of action. Empirical findings on organizational change (includingthe results from a comprehensive empirical study on the success conditions of profound or-ganizational change in large German companies) provide the diagnostic bedrock for succes-sive theoretical interpretations of the competitive relationship and related problems of inte-gration. These findings visualize a manifestation of integral competition, which can be obser-ved not just in case of organizational change but in project work in general. The competitiveworking conditions of projects generate entrepreneurial energy in managers and employeesand, at the same time, promote alignment towards shared objectives.

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