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Sozialpädiatrie/Jugendmedizin, H. Philippi Seite 1 Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt. 13 SOZIALPÄDIATRIE/JUGENDMEDIZIN 13.1 Pädiatrische Rehabilitation und Frühintervention 13.1.1 Allgemein 13.1.2 Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit für Kinder und Jugendliche (ICF-CY 2007) 13.1.3 Ziel- und Risikogruppen 13.2 Motorisch Entwicklungsstörung / Bewegungs- und Haltungsstörung 13.2.1 Cerebralparese und ICF 13.2.2 Behandlungstechniken 13.3 Sprachentwicklungsstörung/Kommunikationsstörung 13.3.1 Sprachentwicklungsstörung 13.3.2 Sprachförderung/Sprachtherapie 13.3.3 Kommunikation 13.4 Eltern-Kind-Interaktionsstörung 13.4.1 Bindung und Mutter (Eltern)-Kind -Interaktion 13.4.2 Familienorientierte Frühintervention 13.5 Kombinierte Entwicklungsstörungen 13.5.1 Ergotherapie und ICF 13.5.2 Behandlungstechniken 13.6 Literatur

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13 SOZIALPÄDIATRIE/JUGENDMEDIZIN

13.1 Pädiatrische Rehabilitation und Frühintervention 13.1.1 Allgemein 13.1.2 Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und

Gesundheit für Kinder und Jugendliche (ICF-CY 2007) 13.1.3 Ziel- und Risikogruppen 13.2 Motorisch Entwicklungsstörung / Bewegungs- und

Haltungsstörung 13.2.1 Cerebralparese und ICF 13.2.2 Behandlungstechniken 13.3 Sprachentwicklungsstörung/Kommunikationsstörung 13.3.1 Sprachentwicklungsstörung 13.3.2 Sprachförderung/Sprachtherapie 13.3.3 Kommunikation 13.4 Eltern-Kind-Interaktionsstörung 13.4.1 Bindung und Mutter (Eltern)-Kind -Interaktion 13.4.2 Familienorientierte Frühintervention 13.5 Kombinierte Entwicklungsstörungen 13.5.1 Ergotherapie und ICF 13.5.2 Behandlungstechniken 13.6 Literatur

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13.1 Pädiatrische Rehabilitation und Frühintervention

13.1.1 Allgemein (1, 2, 3)

Die Rehabilitation und Frühintervention von Kindern mit chronischen Krankheiten, Behinderung oder drohender Behinderung hat das Ziel, Folgeerscheinungen von Gesundheitsstörungen abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen oder eine Verschlechterung zu verzögern. Die Frühintervention beginnt bereits bei der Beseitigung der Ursachen (primäre Prävention) oder dann, wenn erste Vorboten einer Erkrankung auftreten (sekundäre Prävention); wo hingegen die Rehabilitation dann einsetzt, wenn Störungen manifest sind (tertiäre Prävention).

Ein wesentlicher Pfeiler der Rehabilitation und Frühintervention ist der Einsatz von speziellen Behandlungen und Verfahren, den sog. Heilmitteln, die von qualifizierten Therapeuten ausgeführt werden. Im Jahr 2006 nahm durchschnittlich jeder gesetzlich Versicherte 3,5 Heilmittelbehandlungen in Anspruch. Davon entfielen 91% auf Physiotherapie, 6% auf Ergotherapie und 3% auf Logopädie (1-3). Nur 5,4% der gesamten Heilmittelleistungen wurden von Kinder- und Jugendärzten rezeptiert. 45% aller Logopädieverordnungen und 39% aller Ergotherapieverordnungen gingen an Kinder.

Das Ziel von Rehabilitation und Frühintervention wird durch das englische „to habilitate = to make fit for society“ sehr gut ausgedrückt. In der Forschung bezüglich der Effektivität therapeutischer Maßnahmen vollzieht sich augenblicklich ein Paradigmenwechsel. Hatte man bisher versucht, ausschließlich die Überlegenheit einer Technik gegenüber einer anderen zu beweisen, so rückt jetzt die Überprüfung von Sinn und Zweck des funktionellen Therapieerfolges für die Alltagsrelevanz in den Vordergrund. Die Partizipation (Teilhabe) der Kinder am gesellschaftlichen Kinderalltag ist das übergeordnete Ziel, das es gilt über eine Verbesserung von Funktion und Aktivität im Kontext von persönlichen und umgebenden Besonderheiten zu erreichen (siehe auch Kapitel 13.1.2) Dabei wird deutlich, dass neben der Behandlungstechnik weitere Wirkfaktoren wie Patientenmerkmale, Beziehungsfaktoren und positive Erwartungshaltung (Placeboeffekt) eine Rolle spielen, die es zu nutzen gilt.

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13.1.2 Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit für Kinder und Jugendliche (ICF-CY 2007) (4, 5, 6)

Im Jahr 2001 präsentierte die WHO die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF), einen Kriterienkatalog in universeller Sprache, der die Steuerung wirksame Wege für behinderte Menschen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Alltag ermöglicht. Dabei wird Behinderung nicht als persönliches Attribut sondern eine Situation verstanden, die durch die Wechselwirkung von Person und Umwelt entsteht. Jede Person kann zu jedem Zeitpunkt ihres Lebens ein Gesundheitsproblem haben, das in einer negativ wirkenden Umwelt zur Behinderung wird. Die meisten Menschen erfahren in ihrem Leben Behinderungen. Die Funktionsfähigkeit kann auf der Ebene des Körpers, der Person oder der Gesellschaft verändert sein und Lösungen können auf diesen Ebenen gefunden werden. Keine Profession kann alle Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen abdecken; es besteht die Gefahr der Vereinnahmung. Ein komplexes Verständnis, in dem die Person und nicht die Behinderung im Zentrum steht, kann nur durch eine gemeinsame, interdisziplinäre Zusammenarbeit mit gemeinsamer Sprache (ICF) erreicht werden. Die ICF klassifiziert die entscheidenden Faktoren auf drei Ebenen: 1) Körperfunktion- und Struktur 2) Persönliche Aktivität und Fähigkeit und 3) Partizipation. Diese müssen mit den Kontextfaktoren Umwelt und Persönlichkeit sowie dem Gesundheitszustand/ Erkrankung in Beziehung gesetzt werden. Die ICF beinhaltet nicht einzelne Messverfahren zur Evaluation der einzelnen Faktoren und deren Wechselwirkung. Diese müssen individuell aus den bereits etablierten Messmethoden zusammengestellt werden, je nach dem, welches Profil aus der Kind-Umwelt-Analyse mittels der ICF-Checkliste zusammengetragen wurde. Das ICF-Modell ist also „nur“ ein validierbares Kind-Umwelt-Analyse-Instrument auf deren Basis die einzelnen Fachdisziplinen sich verständigen und zusammenarbeiten können, um das Ziel Partizipation zu erreichen. Im Jahr 2007 wurde die ICF für Kinder adaptiert (ICF-CY (4). Dabei wurden die Besonderheiten der Entwicklungsvarianz, der

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unterschiedlichen Lebenswelten (Familie, Kindergarten, Schule) und der hohen Bedeutung von Eltern-Kind-Interaktion Rechnung getragen. In Zukunft sind einzelne Institutionen in Kooperation mit Dachorganisationen aufgefordert, praktikable Wege zu erarbeiten, wie der Umgang mit der ICF in die jeweiligen Fachdisziplinen und deren Organisationen sinnvoll und möglich wird. Die ICF sieht auch die Extraktion von Teilbereichen vor. Im Kinderbereich sind dafür alterspezifische Checklisten und systematische Verlinkung von Evaluations-instrumenten mit Kategorien der ICF zu erstellen.

Bedeutung von Kindes- und Umweltfaktoren behinderter Kinder für die Teilhabe an der Gesellschaft (5)

Gerade bei schwer behinderten Kindern besteht im klinischen Alltag der Eindruck, dass die Möglichkeiten zur Teilhabe am normalen Kinderalltag vor allem durch die Schwere der Funktionsbeeinträchtigung und der ihr zugrunde liegenden Schädigung limitiert wird. Behinderung erscheint als ein persönliches Attribut und Schicksal. In einer Querschnittsstudie (Großbritannien) wurden 600 Familien mit schwer behinderten Kindern (durchschnittliches Alter 2 Jahre 8 Monate (1-12 Jahre)) im Rahmen eines Sozialhilfeprogramms mittels 3 verschiedener Fragebögen evaluiert. Ziel war es das Ausmaß für die Teilhabe/Partizipation von intrinsischer Funktionsbeeinträchtigung (erkennbar an dem Fokus medizinisch-therapeutischer Interventionen) und sozio-edukativer Kontextfaktoren zu ermitteln. Die intrinsischen Faktoren wurden mit dem Health Utility Index 3 (HUI), die Kontextfaktoren mit dem European Child Environment Questionaire (ECEQ) und die Patizipation mit dem Life Assessment Questionaire (LAQ) ermittelt. Der HUI erfasst Beeinträchtigungen in den Kategorien: Sehen, Hören, Sprache, Laufen, Geschicklichkeit, Emotion und Kognition. Der ECEQ erfasst den Barrierefreiheitsgrad zu Hause, Schule und öffentlichen Plätzen, die Unterstützung durch Hilfeangebote/-programme und die Einstellung gegenüber dem Kind von Familie, Freunden und Fachpersonal. Der LAQ ermittelt die Partizipation im Bereich von Kommunikation, Mobilität, Selbstversorgung, häusliches Leben, interpersonelle

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Interaktion und Gesellschaft. Die multivariate Regressionsanalyse ergab für diese schwerbehinderten Kinder (u.a. 6,8% Cerebralparese, 7% Rollstuhl abhängig, 45% verhaltensgestört, autistisch, 10% Organerkrankung außer ZNS), dass die intrinsisch-medizinische Funktionsbeeinträchtigung in gleich hohem Maß wie die Unterstützung durch Hilfeangebote/programme die Partizipation bestimmen. Nachgeordnete Einflussfaktoren sind Barrierefreiheit und pädagogische Fähigkeiten von Fachpersonal (u.a. auch Lehrer). Je nach Art der intrinsisch-medizinischen Funktionsbeeinträchtigung zeigten sich unterschiedliche Profile in dem was als nützlich für die Teilhabe eingeschätzt wurde. Ein Rollstuhl abhängiges Kind profitiert von anderen Faktoren als ein lernbehindertes Kind.

Kommentar: Diese Evaluationsstudie von schwer behinderten Kindern aller Art zeigt, dass ungeachtet der Grunderkrankung und Art der Behinderung, die Teilhabe am Kinderalltag in gleichem Maße von der medizinisch-funktionellen Beeinträchtigung als auch von nicht ausreichend vorhandenen konkreten Hilfe- und Unterstützungsmaßnahmen mitbestimmt wird. Wir sind als Kinderärzte folglich mehr denn je aufgefordert, neben der qualifizierten medizinischen Betreuung, für diese Kinder spezifischen Unterstützungsmaßnahmen zu veranlassen und zu koordinieren, auch wenn die Behinderung des Kindes so schwer ist, dass größere Entwicklungsfortschritte nicht mehr zu erwarten sind. Dass die Transportmöglichkeiten in der aktuellen Studie eine untergeordnete Rolle spielten, könnte sich über einen Bias des sehr jungen Alters der Kinder erklären.

Bedarf externer Unterstützung behinderter Kinder (6)

Eine wesentliche Vorraussetzung für die Teilhabe an der Gesellschaft ist die Graduierung und Beschreibung der notwendigen externen Unterstützung. Dies erfolgte bisher im klinischen Alltag rein deskriptiv. Mittels einer retrospektiven Analyse dieses Bedarfs von 715 behinderten Kindern eines niederländischen Rehabilitationszentrums wurde ein alltagstauglicher Evaluationsbogen (Capacity Profile CAP) orientiert an der ICF erarbeitet. Die Interrater Reliabilität zeigte gute Ergebnisse (gewichtetes kappa im Alter von 3 und 18 Jahren). Der Bogen erfasst 5 Bereiche mit jeweils 6 Gradunterteilungen und kann innerhalb von 10 min ausgefüllt werden:

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Bereiche:

1) Unterstützung zur Kompensation von Einschränkungen im Bereich physikalische Funktionen (= cardiovaskulär, hämatologisch, immunologisch, respiratorisch, gastroenterologisch, endokrinologisch, urologisch, Schmerz; z.B. Medikamentengabe, Sondenernährung, Heimbeatmung, Katheterisierung)

2) Unterstützung zur Kompensation von Einschränkungen im Bereich motorische Funktionen (z.B. Orthesengebrauch, persönliche Hilfestellung, Umgebungsanpassung)

3) Unterstützung zur Kompensation von Einschränkungen im Bereich sensorische Funktionen (z.B. Brillen-, Hörgerätegebrauch, persönliche Hilfestellung, Umgebungsanpassung)

4) Unterstützung zur Kompensation von Einschränkungen im Bereich mentale Funktionen (z.B. Hilfsmittelgebrauch, persönliche Hilfestellung, Umgebungsanpassung)

5) Unterstützung zur Kompensation von Einschränkungen im Bereich Sprach-, Stimm- und Sprech- Funktionen (z.B. unterstützte Kommunikation)

Gradunterteilung

0. keine Unterstützung notwendig

1. geringe Unterstützung (z.B. Assistenz bei Medikamenteneinnahme), kein Zusatzpersonal und Umgebungsveränderung notwendig)

2. mittelgradige Unterstützung (z.B. Umgebungsveränderung z.B. Ablauf oder besondere Qualifikation des Fachpersonals, das punktuell eingesetzt wird)

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3. Unterstützung durch persönliche Betreuung täglich zu bestimmten Zeiten

4. Unterstützung durch persönliche Betreuung täglich aber nicht zu allen Tätigkeiten

5. Unterstützung durch persönliche Betreuung kontinuierlich und vollständig

Kommentar: Das Kapazitätsprofil CAP ist ein alltagstauglicher standardisierter Evaluationsbogen für den Unterstützungsbedarf von behinderten Kindern und kann die Kommunikation zwischen Ärzten, Familien und betreuenden Einrichtungen sowie Kostenträgern erleichtern und die Qualität der Partizipation des Kindes sichern.

13.1.3 Ziel- und Risikogruppen (7, 8, 9)

Auch wenn Kontextfaktoren den Grad der Behinderung mitbestimmen, gibt es bestimmte gesundheitliche Risikofaktoren oder Erkrankungen, die zu einer Behinderung in unserer Gesellschaft prädisponieren. Dabei handelt es sich nicht primär immer um Erkrankungen des Nervensystems.

Hochrisiko-Frühgeborene (FG) und entwicklungsneurologisches Outcome (7)

In Deutschland werden ca. 10.000 Säuglinge vor Vollendung der 33. Schwangerschaftswoche geboren. Die Überlebensrate ist durch die verbesserte medizinische Versorgung deutlich gestiegen und damit überleben immer mehr Kinder mit medizinisch-funktionellen Beeinträchtigungen, die einen Einfluss auf die Partizipation im Kindes- und Erwachsenalter haben. Aktuell liegen mit der (EPIPAGE-Studie, Frankreich, Multicenter) erstmals seit 1980 wieder Population basierte Entwicklungsprofile von Hochrisiko-FG (n=1817) im Vergleich zu Reifgeborenen (RG) (Referenzgruppe; n=396, die bis zu einem

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Alter von 5 Jahren klinisch-neurologisch und psychologisch nachuntersucht wurden. Ergebnisse mit 5 Jahren (FG/RG): Cerebralparese 9%/0%, Visusminderung mind. 3/10 ein Auge 3%/0,002%, Lernbehinderung (IQ 70-84, K-ABC) 21%/8%, Leichte Geistige Behinderung (IQ 55-69, K-ABC) 9%/3%; Förderung/Therapie und/oder Betreuung im spezialisierten Zentrum 33%/16%. Entwicklungsbeeinträchtigungen sind mit dem Gestationsalter invers hoch korreliert und haben die höchste Prävalenz <28 SSW, dennoch entfallen 50% der schweren und mittelgradigen Behinderungen auf die Altersgruppe 29-32 SSW. Der Anteil kognitiv beeinträchtigter FG wurde eher unterschätzt, weil viele behinderte Kinder die K-ABC nicht durchführen konnten.

Kommentar: Ein Drittel aller Frühgeborene < 33 SSW zeigen alltagsrelevante Beeinträchtigungen ihrer kognitiven Funktion/Fähigkeiten und benötigen eine kontinuierliche qualifizierte multimodale Nachsorge und spezifische Förderung bis ins Schulalter, um eine gute Partizipation zu ermöglichen. Die Rate der Cerebralparese bei FG liegt bei 9%.

Kindliche Krebserkrankung und späterer Bedarf an Unterstützung durch Behinderung (8)

In einer Population (1.91 Mio) basierten schwedischen Studie wurden über das Krebsregister und ein nationales Register (National Board of Health and Welfare and Statistics Schweden) Daten bzgl. Behinderung und Unterstützungsbedarf von 2.503 Erwachsene, die bis zu ihrem 15. Lebensjahr wegen einer Krebserkrankung behandelt wurden, im Alter von durchschnittlich 30 Jahren erhoben. Ergebnisse (ehem. onkol. Pat/Normalpopulation): 100% schwerbehindert 7,6%/0,6%, Unterstützung durch ein 4h/Tag personelle Assistenz 1,3%/0,1%, Berufsunfähigkeitsrente 11%/2,5%. Das Risiko ist am höchsten für Kinder mit ZNS-Tumoren (Relatives Risiko 10.4) und frühkindlich erworbene (<6 Jahre) solide Tumoren bzw. Leukämie (Relatives Risiko 3.8, 3.0)

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Kommentar: Schwere Organerkrankungen im frühen Kindesalter führen bei einer Reihe von Kindern trotz erfolgreicher medizinischer Behandlung zur Behinderung bzw. Beeinträchtigung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben im Erwachsenenalter, wie hier exemplarisch an onkologischen Erkrankungen gezeigt wurde. Nach erfolgreicher medizinischer Behandlung der Organerkrankung sollten Kinder mit möglichen Funktionsbeeinträchtigungen frühzeitig einer spezifischen Förderung und Unterstützung zugeführt werden.

Kinder mit Entwicklungsstörung: Elternstress und kindliches Wohlbefinden (9)

Gute intrafamiliäre Bindungs- und Beziehungsstrukturen wirken sich positiv auf die Kindesentwicklung aus. Die Diagnose einer nicht altersgemäßen Kindesentwicklung in der frühen Kindheit stellt eine Belastung für die Familie dar und kann erheblichen Stress bei den Eltern bewirken, der sich wiederum negativ auf die Kindesentwicklung auswirkt. Der Zusammenhang zwischen Entwicklungsstörung, kindlichen Wohlbefinden und Elternstress wurde bei 65 Kindern im Alter von 7,3 Jahren untersucht, nachdem den Eltern bereits im Alter von 2 Jahren eine verzögerte Entwicklung auf gefallen war. Diese wurde im Alter von 3,4 Jahren durch eine medizinische Diagnostik bestätigt. 34 Kinder hatten ein Globale Entwicklungsstörung (< 3. Perzentile der verwendeten Tests) und 31 eine Sprachentwicklungsstörung, bei denen sich überwiegend im Schulalter weitere Entwicklungsstörungen zeigten. Das kindliche und elterliche Wohlbefinden wurde mittels eines Fragebogens (Child Health Questionaire Parent Form 50 (CHQ)), der Elternstress mittels der Kurzversion des Parental Stress Index (Elterndistress, dysfunktionelle Eltern-Kind-Interaktion, schwieriges Kind) und die Entwicklung mittels des Battalle Developmental Inventory (Motorik, Kognition, Sozial, Adaption, Sprache) und den Vineland Adaptive Scale ermittelt. Bei 98% Der Kinder persistierte die Entwicklungsstörung (mindestens Entwicklungsbereich < 3 Perzentile, bei 83% lagen mind. 2 Bereiche darunter). Das elterlich-kindliche Wohlbefinden war signifikant im sozio-emotionalen Bereich beeinträchtigt. 40% der Eltern zeigten

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einen erhöhten Stressindex. Dieser korrelierte mit den CHQ-Variabeln erhöhte Elternbetreuungszeit und –intensität. Eltern mit höherer Schulbildung konnten den Stress besser kompensieren.

Kommentar: Die Tatsache, dass Kinder Meilensteine der Entwicklung nicht zeitgerecht passieren und deshalb Therapie benötigen, reicht auch in der Abwesenheit von physisch-neurologischen Erkrankung aus, um zu erheblichen Beeinträchtigung der intra-familiären Beziehungsstruktur und elterlichem Stress zu führen. Dem daraus zu erwartenden negativen Effekt auf die weitere Kindesentwicklung sollte dadurch entgegengewirkt werden, dass die rein medizinisch-therapeutischen Maßnahmen durch Familien stärkende und entlastende Programme (psychologisch-pädagogische Maßnahme) und ein soziales Kompetenztraining der Kinder frühzeitig ergänzt werden. Bei allen Organerkrankungen, die zu einer Entwicklungsverzörgerung/störung führen, erscheint ein ähnliches Vorgehen sinnvoll.

13.2 Motorisch Entwicklungsstörung / Bewegungs- und Haltungsstörung

Die motorische Entwicklungsstörung ist die bisher am besten untersuchte Entwicklungsstörung, weil sie bereits im frühen Kindesalter der Diagnostik am leichtesten zugänglich ist. Die Prävalenz liegt bei 5-10% im Kindesalter. So ist meistens die Physiotherapie auch das erste Heilmittel, das nach Geburt verordnet wird, auch dann, wenn der motorischen Entwicklungsverzögerung eine geistige Behinderung zugrunde liegt. Der Anteil verordneter Physiotherapie durch Kinderärzte beträgt dennoch nur 5% (3). Im aktuell berechtigten Trend der zunehmenden Bedeutung von Kognition, Sprache und Verhalten zeigt sich eine Tendenz, motorische Störungen zu bagatellisieren. Der hohe Anteil (89%) von Physiotherapie an den Heilmittelverordnungen im Erwachsenenalter spricht dafür, die motorischen Störungen vom Kindesalter an weiterhin im Blick zu haben. Die Indikationen erstrecken sich vor allem auf Wirbelsäulenerkrankungen (51,7%), gefolgt von Extremitäten und Beckenerkrankungen (26,4%) und ZNS-PNS-Erkankungen (9,2%) sowie Lymphabflussstörungen (9,7%). Gerade Haltungsstörungen werden von den Kinderärzten eher wenig Beachtung geschenkt und erst im Fall einer Deformität dem Orthopäden zugewiesen. Die Cerebralparese ist die am besten untersuchte Bewegungsstörung. Die meisten Studien werden deshalb hierfür zitiert.

13.2.1 Cerebralparese und ICF (10, 11, 12)

Auch die Physiotherapie wird ihre Effekte zunehmend mehr im Sinne der Partizipation zu evaluieren haben. Dennoch bleibt ihre Aufgabe auf dem Gebiet der reinen Funktionspflege im Sinne einer medizinischen Sekundärprävention zunächst unangefochten. Als Beispiel sei hier die Kontrakturenprophylaxe großer Gelenke im ersten Lebensjahr zur Ermöglichung späterer Aufrichtung und Fortbewegung oder die Hüftluxationsprophylaxe genannt. Insofern spielt die Evidenz einzelner Techniken für spezielle Befundkonstellationen weiterhin eine wichtige Rolle. Das jetzt gerade entstehende Deutschlandweite CP-Netz ist ein Schritt in die Richtung standardisierte Funktionspflege und Sekundärprävention. Immerhin können 54% der CP-Kinder mit 5 Jahren frei laufen, 16% mit Hilfsmitteln und 30% nicht (10).

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Cerebralparese (CP), Funktionalität und Lebensqualität (11)

Der Zusammenhang zwischen Funktionalität und Lebensqualität (Quality of Life -QOL) bei Kindern mit Cerebralparese ist komplex und u.a, abhängig, wer gefragt wird: Eltern oder Kinder. Die bisherige Datenlage lässt bereits Zweifel aufkommen, dass Kinder mit schwerer Funktionsbeeinträchtigung auch zwangsläufig eine geringere Lebensqualität haben als Kinder mit besserer Funktion. Dieser Zusammenhang wurde in Australien bei 205 Kindern mit CP im Alter von 4-12 Jahren und deren Eltern untersucht. Die Schwere der CP war ausgewogen (Gross Motor Function Classification System (GMFCS) levels: I 18%, II 28%, III 14%, IV 11%, V 27%). Der GMFCS-Level war das Maß für die Funktionalität. Zur Erfassung der kindlichen Lebensqualität im Sinne von Wohlbefinden wurde ein CP spezifischer QOL Fragebogen mit 5 im Kinder und Erwachsenenbogen übereinstimmenden Kategorien eingesetzt (Soziales Wohlbefinden und Akzeptanz, Einschätzung der Funktionsfähigkeit, Partizipation, emotionales Wohlbefinden, Schmerz und Einschätzung der Behinderung). 205 Eltern und 53 Kinder im Alter zwischen 9-12 Jahren wurden befragt. Bei den Elternfragebögen (Elterneinschätzung der QOF ihres Kindes) waren alle Kategorien mit der Funktionalität im GMFCS assoziiert. Bei den Kinderfragebögen (Selbsteinschätzung der QOF) zeigte sich, dass Soziales Wohlbefinden/Akzeptanz und emotionales Wohlbefinden nicht mit der CP-Funktion assoziiert waren. Einschätzung der eigenen Funktionsfähigkeit, Partizipation und Schmerz/Einschätzung der Behinderung hingegen waren sehr wohl mit der Funktion nach Angaben der Kinder assoziiert.

Kommentar: Die Ergebnisse dieser Studie sind ein weiteres Indiz dafür, dass zum einen Kinder ab 9 Jahre, so es ihre kognitiven Fähigkeiten zu lassen, bei der Planung von Fördermaßnahmen bzgl. zu erwartender Funktions-verbesserung, Trainingsaufwand (z.B. stationäre Rehamaßnahme) und Einfluss auf soziales und emotionales Wohlbefinden mit einzubeziehen sind. Zum anderen schlägt sich eine Funktionsverbesserung durch Förderung / Behandlung von Kindern mit CP nicht zwangsläufig in einer verbesserten

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Lebensqualität nieder. Kinder erleben sich nicht durch ihre persönlichen Funktionseinschränkungen als behindert, sondern dadurch, dass Sie von der Umwelt behindert werden. Diese Sichtweise ist offensichtlich den Eltern – wahrscheinlich auch dem medizinisch-therapeutischen Fachpersonal – noch nicht ausreichend bewusst.

Botulinumtoxin, ICF und Cerebralparese (12)

Bei gehfähigen Kindern mit CP reduzieren Botulinumtoxin-Injektionen signifikant und in klinisch relevantem Umfang die Spastik und verbessern die Gehfähigkeit. Die Auswirkung dieser Funktionseffekte auf die Partizipation ist noch nicht gut untersucht. 35 gehfähige Kinder mit CP im Alter von 3-12 Jahre (Mittel 5,5) wurden vor Behandlung, 2 Monate (maximaler Effekt) und 6 Monate nach Injektion (beendeter Effekt) bezüglich Funktion, Aktivität und Partizipation evaluiert. Als Maß für die Funktion und Struktur wurde der Bewegungsradius bei rascher Bewegung der großen Gelenke (Tardieu Skala), für die Funktion zusätzlich die Laufzeit über 20 Meter ermittelt. Die Aktivität wurde mittels der Gross Motor Function Measure (GMFM) und dem Pediatric Evaluation of Disability Inventory (PEDI) Fragebogen bestimmt. Das Pediatric Outcomes Data Collection Instrument (PODCI) diente zur Erfassung der Partizipation. Obwohl die Scores in allen genannten Messinstrumenten vor Behandlung sehr stark korreliert waren, ging diese Korrelation über die Behandlungszeit von 6 Monaten verloren und dass obwohl viele Variabeln sich gleichsinnig entwickelten. In den ersten 2 Monaten nahmen Aktivität und Partizipation zu, die Funktion (Schwäche wird durch reduzierte Spastik wirksamer) und Spastik nahmen ab. In den folgenden 4 Monaten nahm die Spastik wieder zu und trotzdem verbesserte sich die Funktion (zu vermutende Lerneffekt). Die Partizipation verbesserte sich nicht signifikant. Zur Veranschaulichung ein Fallbeispiel: 4 Jahre altes Mädchen kann 4 Treppen steigen mit Festhalten am Geländer in der Klinik. Zuhause krabbelt das Mädchen die Treppe herauf, weil ein Geländer nicht existiert. Nach Botulinuminjektion kann das Mädchen jetzt in der Klinik die ganze Treppe mit Festhalten am Geländer hochsteigen. Zuhause

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weiterhin Krabbeln. Zur Verbesserung der Partizipation wäre zusätzlich zur Botoxbehandlung die Anbringung eines Geländers zu Hause nötig gewesen.

Kommentar: Durch eine nachweisliche Funktionsverbesserung nach einer Rehabilitationsmaßnahme muss sich die Partizipation nicht zwangsläufig verbessern. Die Berücksichtigung von Kontextfaktoren ist dafür unerlässlich. Dies bedeutet eine große Herausforderung an das medizinisch-therapeutische Personal und assoziierte Fachgruppen.

13.2.2 Behandlungstechniken (13, 14)

Kontinuierliche versus Intervalltherapie (13)

Aktuell ist es üblich, Physiotherapie in einer Intensität von 1-2 / Woche über einen längeren Zeitraum zu verschreiben. Im Falle von unvermeidbaren Therapiepausen (Erkrankung des Therapeuten, Wohnortwechsel etc.) geraten sowohl Eltern als auch Therapeuten unter Druck, Entscheidendes für das Kind zu verpassen. Die kontinuierliche Langzeittherapie ist auf der anderen Seite eine hohe Alltagsbelastung die zur übermäßigen Erschöpfung der Familie führen kann. In einer randomisierten Studie in Dänemark erhielten 10 Kinder mit CP eine physiotherapeutische Behandlung bei „ihrem Physiotherapeuten“ (Bobath-Konzept, Sensorische Intergrationstherapie) 4 x 45 min / Woche über 4 Wochen mit anschließender 6-wöchiger Pause. Dieser Zyklus wurde dreimal wiederholt. In der Kontrollgruppe erhielten 14 Kinder mit CP 1-2 x 45 min /Woche kontinuierlich eine vergleichbare physiotherapeutische Behandlung über 30 Wochen. Die Aktivität/Funktion wurde vor und nach den 30 Wochen mit dem GMFM-66 ermittelt. Es zeigte sich eine Zunahme von Aktivität/Funktion von im Mittel 3,3 Punkten in der Intervalltherapiegruppe und 4,6 Punkte in der Kontinuierliche-Therapiegruppe. Der Unterschied war nicht signifikant. Dafür war die Compliance in der Intervalltherapiegruppe signifikant besser (93% gegenüber 83%).

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Kommentar: Diese randomisierte Studie mit gutem Design (Fallzahlkalkulation, verblindete standardisierte Bewertung, Therapiebedingungen alltagsnah) zeigt, das ungeachtet der zeitlichen Verteilung von Therapiestunden, bei gleicher Gesamtfrequenz ein positiver Effekt auf die die motorische Aktivität/Funktion von Kindern mit CP bewirkt werden kann. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit, ohne schlechtes Gewissen, die Therapiegestaltung mehr auf die familiären Bedürfnisse und andere Kontextfaktoren anzupassen. Im Einzelfall müssen allerdings medizinische Besonderheiten zusätzlich berücksichtigt werden. Der Einfluss auf CP assoziierte Symptome (Hüftschmerzen, Skoliose, etc.) wurde nicht untersucht.

Haltungsstörung und Behandlung (14)

Im Rahmen der empfohlenen Rückenlage zur Prävention des Plötzlichen Säuglingstodes ist eine Zunahme asymmetrischer Haltungsstörungen im Säuglingsalter zu verzeichnen. Eine frühe Therapie durch Physiotherapie, Manualtherapie und Osteopathie kommt deshalb zunehmend zum Einsatz, ohne dass die Wirksamkeit eine dieser Behandlungsformen bisher evaluiert wäre. In einer randomisierten Studie wurde der Effekt von Osteopathie versus unspezifischem Handauflegen an 16 Säuglingen mit Haltungsasymmetrie pro Behandlungsgruppe überprüft. Das Ausmaß der infantilen Haltungsasymmetrie (IHA) wurde mittels einer vorher validierten videobasierten Asymmetrieskala mit verblindeter Auswertung vor und nach einer 4-wöchigen Intervention quantifiziert. Es zeigte sich ein klinisch relevanter und signifikanter Behandlungsunterschied von im Mittel 4,6 Punkten auf einer 20 Punkte-Skala zugunsten der Osteopathie. Die Asymmetrieskala ist einfach und verlässlich durchzuführen und kann deshalb zur Befundung von IHA im Alter von 6 Wochen bis 4 Monate im klinischen Alltag auch ohne Video gut verwendet werden.

Kommentar: Die methodisch ebenfalls gute randomisierte Interventionsstudie (Fallzahlkalkulation, verblindete standardisierte Auswertung,) zeigt einen ersten positiven Effekt von Osteopathie, einer alternativen

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Behandlungsmethode, auf die infantile Haltungsasymmetrie. Wenngleich nur ein Kurzzeiteffekt untersucht wurde, so erscheint die Indikation zur osteopathischen Behandlung nach Ausschöpfung von Handlings- und Lagerungsmaßnahmen vor allem deshalb gegeben, weil es sich um eine sehr sanfte Therapieform handelt, die keiner häuslichen Beübung bedarf. In ausgeprägten Fällen erscheint die Ergänzung um physiotherapeutische und oder manualtherapeutische Behandlung sinnvoll, weil hier zumindest empirisch eine Wirkung anzunehmen ist.

13.3 Sprachentwicklungsstörung/Kommunikations- störung

13.3.1 Sprachentwicklungsstörung (15, 16)

Die Sprachentwicklungsstörung (SES), d.h. die Sprachstörung vor Abschluss der Sprachentwicklung ist die häufigste Störung der Sprache und des Sprechens (3). Im Jahr 2006 erfolgten 55,6% der Logopädieverordnungen aus diesem Grund. Es wird zwischen einer spezifischen Sprach-entwicklungsstörung (SSES) ohne weiteren Entwicklungsbeeinträchtigungen und einer unspezifischen SES auf dem Boden von kognitiven und/oder anderen neurologischen Störungen unterschieden. Dies SSES tritt im Vorschulalter in einer Prävalenz von mindestens 7% mit einer Jungenwendigkeit auf. Sie kündigt sich mit einem verspäteten Sprechbeginn („Late talker“) an, bei dem die Kinder mit 2 Jahren noch keine 50 Wörter beherrschen. Bisher ist ein abwartendes Verhalten bei verspätetem Sprechbeginn üblich.

Entwicklungsprofil spät sprechende Kinder (15)

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Spätsprechende Kinder (SSK) sind über einen Wortschatz kleiner 50 Worte im Alter von 24-29 Monaten definiert. Mit einer Prävalenz von 10-20% ist SSK ein häufiges Problem. Die aktuell weit verbreitete Vorgehensweise bei diesen Kindern ist Zuwarten und begründet sich auf die Einschätzung, dass 50% der Kinder spontan aufholen. In der Tat ist die Prognose für expressive Sprachentwicklungsverzögerung (SEV) gut. Verbirgt sich dahinter jedoch eine rezeptive SES, eine mentale Störung, eine Hörminderung oder ein Autismus wäre eine Früherkennung und Intervention sinnvoll. Auf dem Boden der Ergebnisse einer umfassenden diagnostischen Aufarbeitung von 100 spät sprechenden Kindern und einer vergleichbaren Kontrollgruppe mit 53 Kindern im Alter von durchschnittlich 25 Monaten mittels eines Sprachtests und Fragebogens (SETK-2, ELFRA 2), einer nonverbalen Entwicklungsdiagnostik (Bayley-Scales of Infant Development II-NL) sowie einer pädaudiologischen Untersuchung wurde ein pragmatisches Diagnostikschema erarbeitet. Nur 50% der SSK hatten eine expressive SEV mit günstiger Entwicklungsprognose. 35% der SSK hatten eine rezeptive SEV mit hohem Risiko für spätere Sprachprobleme, Lese-Rechtschreibestörung und Verhaltensprobleme. Die Hälfte der Kinder mit rezeptiver SEV hatten eine subnormale kognitive Entwicklung (nonverbaler MDI<85) und/oder einen frühkindlichen Autismus.

Kommentar: Die Ergebnisse der Entwicklungsprofile von 2 Jahre alten spät sprechenden Kindern, zeigt dass sich bei 50% dieser Kinder eine prognostisch ungünstigere rezeptive SEV und/oder kognitive sowie autistische Störungen dahinter verbergen. Eine rationelle Stufendiagnostik einschließlich eines Fragebogenscreenings (ELFRA 2) bei der U7 ist einer abwartenden Vorgehensweise vorzuziehen.

Otitis media und Sprachentwicklung (16)

Der Spracherwerb und die daran gebundene kognitive Entwicklung wurden bisher bei Kindern mit prolongiertem Mittelohrerguss (per Definition „Otitis media“) und dadurch eingeschränkter Hörfähigkeit als gefährdet eingestuft. Die Indikation zur Parazentese/Paukendrainage wurde großzügig gestellt, dass ein

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Nachweis der Effektivität bzgl. der Sprachentwicklung geführt wurde. In der o.g. Studie wurden während der ersten 3 Lebensjahre 429 Kinder mit einem unilateralem Erguss von mindestens 4,5 Monate Dauer und mit bilateralem Erguss von mindestens 3 Monate aus der Region um Pittsburg (USA) randomisiert entweder einer sofortigen oder um 6 Monate verzögerten Paukendrainageanlage (PD-Anlage) zugeführt wurden. Im Alter von 6 Jahren wurde bei 201 nach früher und 194 Kinder nach später PD-Anlage einer umfangreichen Entwicklungsdiagnostik durchgeführt. Die Hälfte aller Kinder mit unilateralem Erguss und 66% aller Kinder mit bilateralem Erguss hatten ein eingeschränktes Hörvermögen im Audiogramm. Trotzdem unterschieden sich die früh von den spät behandelten Kindern weder in den Ergebnissen des Wechsler Intelligenztest für Kinder, in diversen Sprachtests (Tests für Wortschatz, Sprachverständnis, auditive Verarbeitung, phonologische Bewusstheit, Grammatik und Aussprache), im Verhalten (Child Behavior Checklist) noch im Eltern Stressfragebogen. 233 Kinder, deren Eltern nicht an der randomisierten Studie teilnehmen wollten, wurden ebenfalls mit 6 Jahren untersucht. Es zeigte sich keine Korrelation zwischen Ergussdauer und Ergebnissen der o.g. Tests.

Kommentar: Die Ergebnisse der randomisierten Studie mit guter Power unterstützen ein eher zuwartendes Vorgehen bei Kindern mit chronischem Paukenerguss/Otitis media. Die bisher befürchtete Gefahr für die Entwicklung des Kindes wurde entkräftet. Da ausschließlich normal entwickelte Kinder untersucht wurden, lässt sich die Empfehlung nicht ohne weiteres auf behinderte oder sprachentwicklungsverzögerte Kinder übertragen.

13.3.2 Sprachförderung/Sprachtherapie (17, 18)

Es ist derzeit die übliche Praxis, Kinder mit SES einer direkten Einzelbehandlung durch einen Logopäden zuzuweisen, sofern sie das 4. Lebensjahr vollendet haben. In einzelnen Zentren werden auch direkte Gruppentherapien von Logopäden angeboten. Indirekte Einzel- oder Gruppenbehandlung durch geschulte Personen anderer Fachbereiche oder der Bezugspersonen (meist Eltern) sind in Deutschland wenig verbreitet. Die Effekte der verschiedenen Behandlungsformen sind wenig erforscht. Bisher konnte die Überlegenheit einer Methode gegenüber der anderen nicht nachgewiesen werden (17). Eine frühe Logopädie oder Sprachförderung vor dem 4. Lebensjahr ist in Deutschland unüblich.

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Elterntraining für sprachentwicklungsverzögerte Kleinkinder (18)

Aufgrund der zunehmenden Evidenz, dass nur 30% spät sprechende Kinder wenn sie rezeptiven Sprachprobleme haben, sich spontan normal entwickeln hat dazu geführt, dass Frühe-Interventions-Programme für bereits 2-3 Jährige entwickelt wurden. In einer randomisierten Studie im Raum Heidelberg wurde ein kurzes, sehr gut strukturiertes Elterntraining (7 x 2h über 3 Monate plus 1 x 3h nach weiteren 6 Monaten) basierend auf lerntheoretischen Erkenntnissen für deutschsprachige Kindes bezüglich Ihres Effektes auf sprachliche Fähigkeiten von sonst unauffälligen spät sprechenden Kindern (SSK) im durchschnittlichen Alter von 25 Monaten untersucht (Kollektiv siehe auch Kapitel 13.3.1, 1. Studie). Das Heidelberger Elterntraining HET trainiert Eltern im sprachförderlichen Verhalten. 24 Kinder erhielten HET, 23 wurden der Wartegruppe zugeteilt. Die Daten wurden der Sprachentwicklung eines vergleichbaren Normkollektivs von 36 Kindern gegenüber gestellt. Die Sprachfähigkeiten wurden vor Intervention und 6 Monate später mittels des SETK-2 und dem ELFRA-2 evaluiert. 1 Jahr später erfolgte eine Nachuntersuchung mit dem SETK3-5, ELFRA 2. Nach 6 Monaten lag das Ausmaß der Zunahme von Wortschatzes, Grammatikfähigkeiten und Mehrwortsätzen bei Kindern mit HET deutlich über den Fähigkeiten der Wartegruppe. Nach 12 Monaten war die Zunahme in allen expressiven Sprachbereichen signifikant gegenüber der Wartegruppe. 75% der Kinder mit HET gegenüber 44% der Kinder der Wartegruppe holten ihren sprachlichen Entwicklungsstand im Alter von 3 Jahren auf. Die Kinder der HET-Gruppe benötigten daraufhin weniger Logopädie als die Kinder Wartegruppe

Kommentar: Das Heidelberger Elterntraining ist eine effektive, preiswerte und die Kinder schonende Methode zur Sprachförderung spät sprechender Kinder und spart eine logopädische Behandlung im weiteren Verlauf ein. Die Ergebnisse lassen sich nicht ohne weiteres auf Kinder mit Entwicklungsstörungen übertragen.

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13.3.3 Kommunikation (19, 20, 21)

Für Kinder denen ein Spracherwerb aufgrund ihrer zusätzlichen neurologischen Schädigungen verwehrt bleibt, ist nonverbale Kommunikation ein elementares Grundbedürfnis und wesentliches Mittel des sozialen Austauschs. Der fehlende Spracherwerb verleitet dazu die kommunikativen Fähigkeiten dieser Kinder zu unterschätzen. Bei hörgeschädigten Kindern wurde das Erlernen von Gesten und Gebärden deshalb nicht uneingeschränkt gefördert, weil zum einen die nicht sprachliche Kommunikation strukturell als nicht gleichwertig zur Verbalsprache eingeschätzt wurde, zum anderen befürchtet wurde, dass das Erlernen von Gesten den Spracherwerb behindere. Inzwischen ist bekannt, dass die Gesten/Gebärdensprache gleichwertige Strukturen aufweist und den Spracherwerb begünstigt (19, 20).

Gestik und Sprache (21)

Das Verständnis welche Bedeutung vorsprachliche Fähigkeiten für den Spracherwerb haben, wächst stetig. Eine umfassende prospektive diagnostische Verlaufsstudie an einem größeren Kollektiv bestätigt jetzt, was empirisch vermutet wurde. Mit einem neuen gut validierten Test zur Erfassung vorsprachlicher Fähigkeiten (Communication and Symbolic Behavior Scales Developmental Profile, CSBS-DP) wurden prospektiv 160 gesunde Kinder im Alter von 14 (frühes vorsprachliches Alter) und 20 Monaten (spätes vorsprachliches Alter) beurteilt und mit expressiven und rezeptiven Sprachfähigkeiten im Alter von 3 Jahren in Zusammenhang gebracht (Sprachskalen der Mullen Skala of Early Learning). Die CSBS-DP umfasst 1) Blick einer Person folgen und auf den gemeinsamen Blickpunkt zeigen 2) Gemeinsame Aufmerksamkeit herstellen 3) durch Vokalisieren und Gestikulieren das Verhalten einer anderen Person steuern 4) durch Vokalisieren und Gestikulieren die Aufmerksamkeit auf sich ziehen 5) Repertoire der Gesten 6) Konsonantenrepertoire 7) Wortschatz 8) Repertoire von Wortkombinationen 9) Sprachverständnis 10) Symbolisches Spielen. Für die rezeptiven Sprachfähigkeiten mit 3 Jahren sind die frühen vorsprachlichen

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Fähigkeiten: Repertoire an Gesten (stärkster Faktor) und gemeinsame Aufmerksamkeit herstellen prädiktiv. Für die expressiven Sprachfähigkeiten mit 3 Jahren ist gemeinsame Aufmerksamkeit herstellen prädiktiv. Beide genannten frühen vorsprachlichen Fähigkeiten bedingen 2 wichtige spät vorsprachliche Fähigkeiten, nämlich Sprachverständnis und Konsonantenerwerb.

Kommentar: Die Ergebnisse der Studie bestätigen die sozial-pragmatische Spracherwerbstheorie nach Tomasello, wonach der Spracherwerb sich auf das nonverbale Verständnis der Welt begründet, das das Kind im sozialen Kontakt mit anderen Menschen durch gemeinsame Aufmerksamkeit für Objekte erwirbt. Damit sind sowohl erste Weichen für eine noch frühere Erkennung von SES gestellt, als auch wichtige inhaltliche Hinweise für den Ansatz von früher vorsprachlicher Logopädie gegeben. Kinder mit (fast) ausbleibender Sprachentwicklung in den ersten Lebensjahren sollte die Möglichkeit gegeben werden, sich durch Gesten unterstützen Kommunikations-programme (z.B. GUK nach Wilken) auszudrücken und ihre soziale Interaktion zu gestalten.

13.4 Eltern-Kind-Interaktionstörung

13.4.1 Bindung und Mutter (Eltern)-Kind-Interaktion (22, 23, 24, 25, 26)

Es gibt ein fundiertes empirisches Wissen (u.a. Minnesota Beobachtungsstudie von Geburt bis 30 Jahre) und sehr gute Tierexperimentelle Daten von Nagern und Säugetieren die nahe legen, dass eine frühe sichere Bindung an eine spezifische Bezugsperson ein wichtiges Fundament für eine gesunde motorische, kognitive und emotionale Entwicklung von Kindern ist (20, 21). Im Tierexperiment konnte gezeigt werden, dass in Abhängigkeit der Frequenz von mütterlichem Lecken und Pflegen die Rattenbabys sich emotional und kognitiv unterschiedlich bis ins Erwachsenenalter entwickelten. Als neurobiologisches Korrelat wurden Veränderungen in der DNA-Methylierung der Promotorregion von Genen, die das Verhalten steuern, nachgewiesen. Aus Untersuchungen an deprivierten Kindern ist bekannt, dass Vernachlässigung zu einer reduzierten frontalen metabolischen Aktivität und einer verminderte cortico-corticaler Vernetzung dieser Region führt. Kinder mit Bindungsstörungen haben Schwierigkeiten sich in emotionale Bedürfnisse, Gedanken und Handlungsabsichten ihres Gegenübers einzufühlen. Diese Schwierigkeiten persistieren meist bis ins Erwachsenenalter, wenn sie nicht durch neue positive Bindungserfahrungen und/oder therapeutische Interventionen aufgelöst werden. Bei Persistenz werden sie an die nächste Generation weitergegeben, indem ein feinfühliges, die Signale des Kindes richtig interpretierendes und intuitiv richtig reagierendes Verhalten beeinträchtigt ist. In Abhängigkeit des elterlichen Verhaltensrepertoires und deren ehemaligen Bindungserfahrungen stellt die Geburt eines Kindes also eine große Herausforderung dar. Die Geburt eines Kindes mit drohender Behinderung oder auch nur drohender Beeinträchtigung seiner körperlichen Integrität durch eine Organerkrankung (siehe Kap. 13.1.3) birgt das hohe Risiko, dass eine sichere Bindung nicht ohne weiters gelingt. Insofern sind wir Kinderärzte aufgefordert nicht erst mit der Diagnostik und Intervention von Verhaltensauffälligkeiten im (Vor)-Schul oder Adoleszentenalter zu beginnen. Zugegebner Maßen ist die Diagnose einer frühen Mutter (Eltern)-Kind-Interaktionsstörung im kinderärztlichen Alltag

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schwierig und derzeit einigen wenigen Spezialisten (z.B. Ambulanzen für frühe Regulationsstörung) vorbehalten, die u.a. mittels aufwendiger Videobeobachtung von Spiel- und Versorgungssituationen Diagnostik und Therapie durchführen. Mit dem Wissen und der Aufmerksamkeit um diese wichtigen Zusammenhänge und einiger Erfahrung können Risikokinder von Kinderärzten erkannt werden. Ein Wahrnehmungstraining für Ärzte zu diesem Thema und Screeningfragebögen dürften in naher Zukunft zugänglich werden.

Mutter-Kind-Interaktion und Körperkontakt bei Frühgeborenen (24)

Durch die zu frühe und meist auch plötzliche Beendigung einer sehr körperlichen und innigen Bindung zwischen Mutter und Kind im Rahmen einer Frühgeburt führt zu einer Entbehrung, die sich nicht förderlich auf die weitere Entwicklung der Kinder auswirken kann. Über die sog. Kängurumethode gelingt es den Mangel an Körperkontakt zu kompensieren, was sich nachweislich förderlich auf die sozio-emotionale und kognitive Entwicklung auswirkt. Viele Frühgeborene sind auch noch während der ersten Monate zu Haue sehr aufgeregt und haben häufigere und längere Schreiphasen als Reifgeborene. Die Eltern erleben sich zu Hause in einem inneren Konflikt, ob sie ihr Kind eher schreien lassen (Motto: Jedes Kind kann schlafen lernen) oder doch eher viel Halten und Tragen sollen. 28 Frühgeborene <32 SSW und 34 Reifgeborene und deren Eltern wurden im Alter von 5 Monaten mittels eines validierten sog. Baby Day Diary bezüglich des Halte- und Trageverhaltens evaluiert. Im Alter von 6 und 12 Monaten wurde die Mutter-Kind-Interaktion in einer freien Spielsituation per Video-Interaktionsanalyse unter Verwendung des Parent-Child Early Relational Assessment (PC-ERA) beurteilt. Das PC-ERA erfasst 1) postives emotionales Engagement der Mutter 2) negatives emotionales Engagment der Mutter 3) positive Kommunikation der Mutter 4) positive Emotionen des Säuglings 5) Rückzugsstimmung des Säuglings 6) Spiel und Aufmerksamkeitsfähigkeiten des Kindes 7) dyadische Gegenseitigkeit 8) dydische Organisation und Spannung 9) dyadische Spannungsmangel. Die Dauer von Gehalten werden mit 5 Monaten war positiv assoziiert mit einer bessern Mutter-Kind-Interaktion im Alter von 12 Monaten. Die Häufigkeit von Schreien mit 5 Monaten war positiv korreliert mit häufigerem Tragen und Halten und war signifikant höher als bei Reifgeborenen. Die Mutter-Kind-Interaktion war im Alter von 6 und 12 Monaten bei Früh- und Reifgeborenen gleich. Die positiven Auswirkungen des Tragens und Haltens ließen sich nur bei Frühgeborenen und nicht bei Reifgeborenen nachweisen.

Kommentar: Tragen und Halten von irritablen und aufgeregten Frühgeborenen in den ersten Lebensmonaten scheint ein protektiver Faktor für die Mutter-Kind-Interaktion zu sein. Inwieweit Das Tragen und Halten per se oder eher assoziierte sekundäre Faktoren diesen positiven Effekt vermitteln, wurde in der Studie nicht untersucht. In jedem Fall erscheint es sinnvoll, Eltern von Frühgebornen zum Tragen und Halten Ihrer Kinder in den ersten Lebensmonaten zu raten. Die ohnehin schon häufig von der Phase der stationären Behandlung sehr erschöpften Eltern benötigen evt. vorübergehend für diese Zeit externe Unterstützung durch z.B. eine Haushaltshilfe um ihre natürlichen Resourcen nicht zu erschöpfen.

13.4.2 Familienorientierte Frühintervention (25, 26)

Das Erkennen von Eltern-Kind-Interaktions-Störungen ist schon eine große Herausforderung, die Wahl und Umsetzung einer geeigneten Intervention eine noch viel größere. Grundsätzlich erscheint eine frühe Intervention wirkungsvoll

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(22, 25). Der Nachweis einer nachhaltigen Wirkung steht noch aus. Der Paradigmenwechsel von Kind- und Defizit-orientierten hin zur Familien- und Fähigkeits-orientierten Intervention vollzieht sich langsam. Die hohe Zahl der Deutschland weiten initiierten Evaluation- und Implementierungsstudien zur frühkindlichen Familienorientierten Intervention ist ein erstes Zeichen für den Veränderungsprozess. Der Beginn dieser Studien mit Schwangerschaft bzw. Geburt erscheint nicht nur vor dem Hintergrund der Bindungserfahrungen sondern auch deshalb günstig, weil diese besondere Zeit bei den Eltern ein sich Beschäftigen mit der eigenen Kindheit wachruft. Dies hat meist den Zauber der guten Vorsätze inne, der genutzt werden kann. Zum anderen besteht durch die Vorsorgeuntersuchungen ein enger Kontakt zu uns Ärzten. Neben den o.g. Programmen gibt es inzwischen viele weitere Institutionen (Ambulanzen, Frühförderstellen, SPZs, Beratungsstellung etc.) denen gefährdete Kinder und deren Eltern zugewiesen werden können.

Intervention und deprivierte Kinder (26)

Im Bucharest Early Intervention Projekt (BEIP) wird in einer randomisierten Studie an deprivierten 136 Heimkindern der Effekt einer Frühintervention überprüft. In einer Nebenfragestellung wird untersucht, ob es kritische Zeitfenster gibt, in denen eine Erholung der Kinder nur möglich ist. Die dreiarmige Studie umfasst zwei Gruppen frühpostpartal im Heim untergebrachte Kinder von denen die Hälfte (n=68) in einem durchschnittlichen Altern von 21 Monaten in eine Pflegefamilie übergeleitet wurden und die andere Hälfte im Heim verblieb. Die dritte Gruppe bestand aus 72 (vergleichbar in Alter und Geschlecht) Kindern die von Beginn an in ihren Familien aufwuchsen. Die Entwicklung wurde mit 30 und 42 Monaten mit dem Bayley Test of Infant Development II (BSID II) und mit 54 Monaten mit der dem Wechsler Intelligenztest für Vorschulkinder (WPPSI-R) untersucht. Im Altern von 42 Monaten lag der Entwicklungsquotienten (MDI, skaliert wie IQ)) bei den institutionalisierten Kinder im Mittel 9 Punkte (Effektgröße 0,62) und im Alter von 54 Monaten der Intelligenzquotient 7 Punkte (Effektgröße 0,47) unter

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denen der Kinder in den Pflegefamilien. Die Überprüfung der Abhängigkeit des Intelligenzquotienten vom Beginn der Intervention (Unterbringung in Pflegefamilie) ergab einen signifikant besseren Effekt für Kinder, die vor dem 2. Lebensjahr in die Pflegefamilie untergebracht wurden. Jeder Monat, die das Kind länger im Heim blieb kosteten 0.59 IQ-Punkte.

Kommentar: Diese ethisch nicht ganz unumstrittene Studie weist erstmals mit hoher Evidenz nach, das die mentale Entwicklung im Alter von 3,5 Jahren nachhaltig beeinträchtigt wird, wenn Kinder in einer sozial und Bindungs-deprivierten Umgebung aufwachsen. Der Nachweis dass die ersten 2 Jahre ein kritisches Fenster für die weitere Gesamtentwicklung sind, wurde aus neurobiologischer Sicht schon länger vermutet und nun klinisch bestätigt. Die Ergebnisse sind ein weiteres Indiz dafür, dass die Primär- und Sekundärprävention von Entwicklungsstörungen durch Familien zentrierte Programme in den ersten 2 Lebensjahren beginnen muss.

13.5 Kombinierte Entwicklungsstörungen

Die o.g. Entwicklungsstörungen treten häufig kombiniert oder mit Verhaltens-, und Aufmerksamkeitsstörungen auf. Nicht selten münden Sie später eine Lernbehinderung bzw. geistige Behinderung. Für diese bunten Störungsbilder wird häufig eine Ergotherapie verschrieben. 5,2 % aller Ergotherapierezepte werden von Kinderärzten verordnet (3). Die Indikationen Ergotherapie sind in 48,7% der Fälle eine ZNS-Erkrankung vor Vollendung des 18. Lebensjahres, in 31% ZNS-Erkrankungen nach Vollendung des 18. Lebensjahres und nur in 5,4% Kindliche Entwicklungsstörungen. Die Ergotherapie versteht sich als eine Disziplin, die Handlungsfähigkeit zu erhalten oder zu erweitern. Dazu bedient sie sich verschiedener Behandlungstechniken und versucht diese auf die individuellen Bedürfnisse des Kindes und seiner Umwelt anzupassen. Damit ist Ergotherapie die zentrale Disziplin zur Umsetzung der ICF. Sie ist gerade dabei die traditionell körper- und defizitorientierten Ansätze zugunsten von Resourcen und Partizipation orientierten Behandlungsformen zu verlassen. Da sie Techniken aus angrenzenden Bereichen, vor allem den motorisch-funktionellen Behandlungsverfahren, anwendet, die Physiotherapie andererseits sich den ICF-Kriterien stellt, sind Überlappungen in Zukunft zwischen Physiotherapie und Ergotherapie unvermeidbar. Für einen spezifischen Effekt einzelner therapeutischer Techniken im Kindesalter wie z.B. Bobath, Sensorische Intergrationstherapie, Affolter, neuropsychologische computerbasierte Trainings, Kunst-Gestaltungstherapie, Lerntherapie gibt es bisher eher empirische, nicht aber gute wissenschaftliche Evidenz. Zwei aktuelle Studien, einmal zum Thema „Constraint induced movement therapie (CIMT)“ bei Kindern mit spastischer Hemiparese und „Neuromotor task training“ bei Kindern mit motorischer Entwicklungsstörung (engl. developmental coordination disorder) können als Beginn einer neuen Forschungsära gesehen werden. Auch mit fortschreitender wissenschaftlicher Evidenz werden in der mittelfristigen Zukunft viele klinische Entscheidungen auf dem Gebiet der Förderung und Rehabilitation von anderen Evidenzlevel mitbestimmt. Neben Konsensuspapieren von Experten, wird die Expertenmeinung und die persönlichen Erfahrungen zu Recht weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Um zwischen Ärzten und Familien eine transparente Übereinkunft über realistische Zieldefinition und den Weg dahin zu erreichen, ist notwendig sich über die Güte der Evidenz bewusst zu werden. Evidenz-basierte Entscheidungen bedeutet, sich der höchst möglichen Evidenz zu bedienen und nicht nur noch

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das tun, was durch doppel-blind-randomisierte Studien oder Meta-Analysen bewiesen ist.

13.5.1 Ergotherapie und ICF (27, 28, 29, 30, 31)

Nachdem unter Kapitel 13.1.2. zunächst die Bedeutung der ICF allgemein dargestellt wurde, soll hier nun der Umgang mit der ICF unter Einbeziehung verschiedener Evidenzebenen im klinischen Entscheidungsweg veranschau-licht werden.

Praxismodell zur Erstellung eines Evidenz-basierten, ICF-orientierten Behandlungsplans (27, 28)

Bedenkt man, dass ein Kleinkind (< 3 Jahre) pro Woche ca. 5000 Minuten Wachzeit /Woche in der Anwesenheit seiner Eltern verbringt, wird deutlich, dass ein 2 x 45 min beüben in der Therapeutenpraxis wenig effektiv sein wird, wenn die Eltern nicht auch während der verbleibenden 5000 Minuten die Umgebung ihres Kindes lernfördernd gestalten. Das Erfassen der familiären Vorstellungen und Präferenzen bezüglich des Szenarios indem das Kind lebt, lernt und spielt, steht folglich immer am Beginn des medizinisch-therapeutischen Entscheidungswegs. Zur Erfassung der familiären Anliegen und Präferenzen steht ein gut evaluiertes praxis-taugliches semistrukturelles Interview für Kinder ab 4 Jahren zur Verfügung (Canadian Occupational Performance Measure (COPM) (28).

Der COPM erfasst Selbstständigkeit, Produktivität und Freizeitaktivität, die das Kind möchte oder benötigt, aber aktuell nicht durchführen kann. Die Erfassung der familiären Bedürfnisse ist deshalb so entscheidend, weil Eltern nur das zu Hause umsetzen werden, was in ihr familiäres Konzept passen wird. Die nächsten Schritte sind Planung und Koordination der Maßnahmen per reziproker Kommunikation zwischen Eltern/Kind und Therapeut, um einen möglichst großen gemeinsamen Pool an Information zu bilden. Dabei ist als

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dritter Faktor ist die Gestaltung der natürliche Lernumgebung zu besprechen, die eine hohe Frequenz und variantenreiche Durchführung der Übung mit Freude im Alltag erlauben sollte. Ein gelungener Behandlungsplan entspricht den familiären Bedürfnissen, ermöglicht dem Kind individuelle Ziele zu erreichen und erhöht damit die Partizipation.

Wenn das individuelle Ziel des Kindes und die Bedürfnisse sowie die Kontextfaktoren klar sind, ist es jetzt am Therapeuten/Arzt sich die ICF vor Augen zu führen und zu überlegen, welches gesundheitliche Problem vorliegt, welche Körperfunktion und Struktur dadurch bedingt wird, wie diese mit der

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Aktivität zusammenhängen, welche Umwelt- und persönlichen Faktoren mitberücksichtigt werden müssen und auf welcher Ebene welche Maßnahme zu veranlassen ist, damit die Partizipation des Kindes ermöglicht oder verbessert wird. In diesen Prozess fließen wissenschaftliche, empirische und theoretische Evidenz im Sinne eines „Clinical Reasoning“ ein.

Fallbeispiel: Teresa 17 Monate, Klinischer Befund: Steifheit der Beine, kein freies Stehen oder Laufen. Szenario: Zwillings-FG 31. SSW, neben Zwillingsschwester, noch 4 Geschwister, Vater vollberufstätig täglich bis 19 Uhr, Mutter versorgt Kinder, Kind orientierter Haushalt mit Spielen und Büchern, positive intrafamiliäre Beziehungen. Elternbedürfnis: Wann wird sie laufen, welche Therapie benötigt sie? Diagnose (Struktur + Funktion): bilaterale spastische Cerebralparese GMFCS Level II Diagnostik (standardisierte Aktivitätsmessung): GMFM-66 Score 48 Prognose: Laufen mit 3 Jahren Planung (einschließlich clinical reasoning) und Kommunikation der Maßnahme: Einschränkung im Bereich von Muskelkraft (zu wenig) und Gelenkführung (zu schlaff) ist Hauptursache für reduzierte motorische Aktivität. Mitteilung der Diagnosen und o.g. Zusammenhängen an die Eltern. Elternbefragung und Infoaustausch nach konkreten Umsetzungsmöglichkeiten therapeutischer Maßnahmen zu Hause. Wer? Wann? Wie lange? Was? Genaue sich wiederholende Anleitung einzelner Übungen. Um die höchste Evidenz der Behandlungstechnik der Familie zur Verfügung zustellen, führt der Arzt/Therapeut eine Literatursuche durch und kommt zu 3 Aussagen: Spitzfußreduktion kann 1) über Lagerungsschienen oder 2) durch eine kombinierte Botulinum/Gipsbehandlung erfolgen 3) es gibt keine Evidenz, dass die eine Methode der anderen überlegen ist. Die Familie entscheidet sich für Botulinum/Gipsbehandlung.

13.5.2 Behandlungstechniken

Constraint Induced Movement Therapie (CIMT) und spastische Hemiparese (29, 30)

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Bei erwachsenen Schlaganfallspatienten wurde nachgewiesen, dass mit der Methode der sog. Constraint Induced Movement Therapie eine bessere Rehabilitation der Hanfunktion/-fähigkeit erreicht werden kann als mit der herkömmlichen Therapie. Einem Cochrane Systematischen Review (30) zu Folge gibt es eine methodisch gute Arbeit, die den Effekt von CIMT im Kindesalter überprüft hat. Das theoretische Konzept von CIMT begründet sich darauf, dass nach einem cerebralen Insult die paretische Hand durch den Neglegt ihre Funktion verlerne. Durch das wegbinden (Handschuh, Gipsschiene, Elastische Binden) der nicht paretischen Hand werde das Kind veranlasst seine paretische Hand wieder zu benutzen. Durch intensives Training der paretischen Hand komme es über die Ausnutzung von kortikaler Plaszidität zu einer nachhaltigen Funktionsverbesserung der Hand. In der schwedischen kontrollierten, nicht randomisierten Multizenterstudie wurden 21 Kinder (im Mittel 29 Monate alt) in die Behandlungsgruppe und 20 Kinder (im Mittel 31 Monate alt) in die Kontrollgruppe eingeschlossen. In der Behandlungsgruppe trugen die Kinder einen Handschuh an der nicht-paretischen Hand mindestens 2h pro Tag über 2 Monate. Während dieser Zeit führten die Eltern unter professioneller Supervision Übungen durch. Dabei stand die Motivation, ein angemessene Leistungsanforderung und genügende Repetition im Vordergrund. In der Behandlungs- und Kontrollgruppe wurde das übliche physiotherapeutisch/ergotherapeutische Programm ca. 3 x /Monat weitergeführt. Die bimanuelle Handfunktion und –fähigkeit wurde mit dem Assisting Hand Assessment (AHA) vor Therapiebeginn, 2 und 6 Monate später evaluiert. Sowohl nach 2 als auch nach 6 Monaten zeigte der AHA eine Verbesserung in beiden Gruppen. Die Verbesserung war in der Behandlungsgruppe deutlicher und nach 6 Monaten auch siginifikant deutlicher. CIMT wurde von den Kindern und deren Familien sehr gut toleriert.

Kommentar: Die Studie gibt einen ersten Hinweis, dass CIMT eine wirksame und verträgliche Behandlungsmethode zur Verbesserung der Handfunktion und –fähigkeit bei Kindern mit spastischer Hemiparese sein könnte. Dadurch, dass in der Kontrollgruppe keine Therapie gleicher Intensität durchgeführt wurde, kann die Studie die Frage, inwieweit ein gleicher Effekt auch durch ein bilaterales Handtraining ohne Wegbinden der paretischen Hand hätte bewirkt werden können, nicht beantworten. CIMT ist damit vorerst eine interessante neue Behandlungsform die an speziellen Zentren - vorzugsweise mit Studienteilnahme - gebunden bleibt.

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Aufgabentraining und Motorische Entwicklungsstörung (31)

Eine alltagsrelevante motorische Entwicklungsstörung im Kindesalter verliert sich spontan nur selten. In einer prospektiven, kontrollierten (Warteliste), nicht randomisierten Kontrollstudie wurde der Effekt eines spezifischen neuromotorischen Aufgaben orientierten Trainings (NAOT) über 9 Wochen 1 x 30 Minuten pro Woche an Kindern im durchschnittlichen Alter von 7 Jahren 2 Monaten mit motorischer Entwicklungsstörung überprüft. Nach einer Fallzahlkalkulation mit einer Power von 0.80 hätten mindestens 16 Kinder pro Behandlungsarm eingeschlossen werden müssen. Letztlich wurden 26 Kinder in die Behandlungsgruppe und 13 Kinder in die Kontrollgruppe bei einem eingeschlossen. Das NAOT beinhaltet eine, an die individuelle Alltagsperformanz* von Handschrift und Ballspielfertigkeiten des Kindes angepasstes Trainingsprogramm. Zur individuellen Trainingsplanung wird angestrebt, durch Anamnese und Beobachtung, den Prozess hinter der reduzierten Motorperfomanz zu verstehen. Unterliegende Prozesse können sein: reduzierte Aufmerksamkeitsspanne, Versagensangst, geringe Motivation, fehlende Vorstellung des Handlungsablaufs, mangelnde Handlungsplanung oder zeitliche Koordination, reduzierte Kraft, reduzierte Wahrnehmung und/oder Verarbeitung sensorischer Information. Die Veränderung der motorischen Fähigkeiten wurde durch die Movement Assesment Battery for Children (MABC, Feinmotorik, Ballspiel, Gleichgewicht) und die motorische Funktion durch den Test of Goss Motor Development (TGMD-2, Lokomotion und Ballkontrolle) evaluiert. Die Behandlungsgruppe verbesserte sich im Mittel um 6 Punkte in ihren motorischen Fähigkeiten (MABC), während die Kontrollgruppe gleich blieb. Die motorische Funktion verbesserte sich in der Behandlungsgruppe (im Mittel + 7,4 Punkte) und verschlechterte sich in der Kontrollgruppe (im Mittel -10,7 Punkte). Die Gruppenunterschiede waren siginfikant.

*Performanz=Fähigkeiten, die spontan im Alltag gezeigt wird.

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Kommentar: Wenngleich der Studie der Nachweis eines spezifischen Behandlungseffektes durch das Prinzip der Warteliste nicht gelingt und die kalkulierte Fallzahl nicht erreicht wurde, so lässt sich aus den Daten ableiten, dass eine motorische Entwicklungsstörung therapeutisch beeinflussbar ist. Die gewählte individuelle und an den Alltagsaufgaben orientierte Trainingsform erscheint vom Konzept her schlüssig.

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Seite 30 Sozialpädiatrie/Jugendmedizin, H. Philippi

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