Sprache – Denken – Wirklichkeitsprawi.at/files/hajnal/Hajnal_Alpbach_VORTRAG.pdf · 2019. 3....

19
1 Sprache – Denken – Wirklichkeit Sehr geehrte Damen und Herren Der amerikanische Sprachwissenschaftler Benjamin Whorf war in den 1920er Jahren als Brandverhütungsexperte bei einer Versicherungsgesellschaft tätig. Hierbei beo- bachtete er folgenden Fall (ich zitiere in deutscher Übersetzung): „ln einer Brennerei für Methylalkohol bestand die Isolierung der Destillierkolben aus einer Masse, die aus Kalkstein hergestellt war und in der Brennerei ‚gerührter Kalkstein’ genannt wur- de. Es wurde keinerlei Vorsorge getragen, um diese Isoliermasse vor grosser Hitze oder Flamme zu schützen. Nach einiger Zeit griff das Feuer unter einem der Destil- liergefässe auf den ‚Kalkstein’ über, der zum allgemeinen Erstaunen heftig brannte. Die essigsauren Dämpfe aus den Destillen hatten den Kalkstein (Kalziumkarbonat) in Kalziumazetat verwandelt. Wird dieses im Feuer erhitzt, so löst es sich unter Bildung des brennbaren Azetons auf. Das unvorsichtige Verhalten, die Isoliermasse nicht ge- gen das Feuer zu schützen, war … durch den Gebrauch der Bezeichnung ‚Kalkstein’ herbeigeführt worden, weil dieser Name mit der Silbe ‚-stein’ endet und daher Un- brennbarkeit suggeriert.“ (FOLIE 1 ) Die Moral dieser Geschichte: Die simple Bezeichnung „Stein“ hatte die Mitarbeiter der Brennerei zu ihrem fatalen Irrtum verleitet. – Diese und viele andere anekdoti- sche Beobachtungen liessen für Benjamin Whorf folgenden Schluss zu: Sprache be- einflusst unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit und unser Denken. Benjamin Whorf war dabei nicht der erste Sprachwissenschaftler, der ein enges Verhältnis von Spra- che, Denken und Wirklichkeit postulierte. Bereits sein akademischer Lehrer Edward Sapir hatte ähnliche Gedanken geäussert. Daher ging die Hypothese, Sprache be- einflusse oder bestimme unser Denken, als „Sapir-Whorf-Hypothese“ in die Sprach- wissenschaft ein. Wie glaubhaft aber ist diese „Sapir-Whorf-Hypothese“? Ist unser Denken tatsächlich von der Struktur unserer Muttersprache geprägt? Denken Menschen unterschiedli- cher Muttersprache also unterschiedlich? – Diese und andere Fragen will ich in drei Teilen meines Referats beantworten (FOLIE 2 ): Im ersten Teil befasse ich mich mit der Frage, weshalb die „Sapir-Whorf- Hypothese“ in ihrer absoluten Formulierung nicht zutreffen kann. Im zweiten Teil will ich begründen, warum die „Sapir-Whorf-Hypothese“ in den 1990er Jahren ein beachtliches Comeback erfahren hat. Im dritten Teil schliesslich erläutere ich, welche Erkenntnisse jüngste Studien über das Verhältnis von Sprache, Denken und Wirklichkeit liefern. Beginnen wir mit dem ersten Teil: Um zu erläutern, warum die „Sapir-Whorf- Hypothese“ in ihrer absoluten Formulierung aus heutiger Sicht nicht zutreffen kann, blende ich nochmals zurück (FOLIE 3 ). Bereits in den späten 1950er Jahren, knapp

Transcript of Sprache – Denken – Wirklichkeitsprawi.at/files/hajnal/Hajnal_Alpbach_VORTRAG.pdf · 2019. 3....

Page 1: Sprache – Denken – Wirklichkeitsprawi.at/files/hajnal/Hajnal_Alpbach_VORTRAG.pdf · 2019. 3. 27. · Der amerikanische Sprachwissenschaftler Benjamin Whorf war in den ... le Satzlehre

1

Sprache–Denken–Wirkl ichkeitSehrgeehrteDamenundHerren

DeramerikanischeSprachwissenschaftlerBenjaminWhorfwarinden1920erJahrenalsBrandverhütungsexperte bei einerVersicherungsgesellschaft tätig.Hierbei beo-bachteteerfolgendenFall(ichzitiereindeutscherÜbersetzung):„lneinerBrennereifür Methylalkohol bestand die Isolierung der Destillierkolben aus einer Masse, dieausKalksteinhergestelltwarundinderBrennerei‚gerührterKalkstein’genanntwur-de.EswurdekeinerleiVorsorgegetragen,umdieseIsoliermassevorgrosserHitzeoderFlammezuschützen.NacheinigerZeitgriffdasFeueruntereinemderDestil-liergefässeaufden‚Kalkstein’über,derzumallgemeinenErstaunenheftigbrannte.DieessigsaurenDämpfeausdenDestillenhattendenKalkstein(Kalziumkarbonat)inKalziumazetatverwandelt.WirddiesesimFeuererhitzt,solöstessichunterBildungdesbrennbarenAzetonsauf.DasunvorsichtigeVerhalten,dieIsoliermassenichtge-gendasFeuerzuschützen,war…durchdenGebrauchderBezeichnung‚Kalkstein’herbeigeführtworden,weil dieserNamemit derSilbe ‚-stein’ endet unddaherUn-brennbarkeitsuggeriert.“(FOLIE1)

DieMoral dieserGeschichte: Die simple Bezeichnung „Stein“ hatte dieMitarbeiterderBrennerei zu ihrem fatalen Irrtumverleitet. –Dieseund viele andereanekdoti-scheBeobachtungenliessenfürBenjaminWhorffolgendenSchlusszu:Sprachebe-einflusstunsereWahrnehmungvonWirklichkeitundunserDenken.BenjaminWhorfwardabeinichtderersteSprachwissenschaftler,dereinengesVerhältnisvonSpra-che,DenkenundWirklichkeitpostulierte.BereitsseinakademischerLehrerEdwardSapirhatteähnlicheGedankengeäussert.DahergingdieHypothese,Sprachebe-einflusseoderbestimmeunserDenken,als„Sapir-Whorf-Hypothese“indieSprach-wissenschaftein.

Wieglaubhaftaberistdiese„Sapir-Whorf-Hypothese“?IstunserDenkentatsächlichvon der Struktur unsererMuttersprache geprägt?DenkenMenschen unterschiedli-cherMuttersprachealsounterschiedlich?–DieseundandereFragenwill ichindreiTeilenmeinesReferatsbeantworten(FOLIE2):

• Im ersten Teil befasse ich mich mit der Frage, weshalb die „Sapir-Whorf-Hypothese“inihrerabsolutenFormulierungnichtzutreffenkann.

• Im zweiten Teil will ich begründen, warum die „Sapir-Whorf-Hypothese“ in den1990erJahreneinbeachtlichesComebackerfahrenhat.

• Im dritten Teil schliesslich erläutere ich, welche Erkenntnisse jüngste StudienüberdasVerhältnisvonSprache,DenkenundWirklichkeitliefern.

Beginnen wir mit dem ersten Teil: Um zu erläutern, warum die „Sapir-Whorf-Hypothese“ in ihrerabsolutenFormulierungausheutigerSichtnichtzutreffenkann,blendeichnochmalszurück(FOLIE3).Bereitsindenspäten1950erJahren,knapp

Page 2: Sprache – Denken – Wirklichkeitsprawi.at/files/hajnal/Hajnal_Alpbach_VORTRAG.pdf · 2019. 3. 27. · Der amerikanische Sprachwissenschaftler Benjamin Whorf war in den ... le Satzlehre

2

zwei Jahrzehnte nach derVeröffentlichung derwichtigstenSchriften vonBenjaminWhorf,nahmdaswissenschaftlicheInteresseander„Sapir-Whorf-Hypothese“merk-lich ab.Grund hierfürwar dasAufkommeneiner neuenForschungsrichtung in derSprachwissenschaft,deslinguistischenNativismus.SeineVertreter–derprominen-testedavonderamerikanischeSprachwissenschaftlerNoamChomsky–gehenvonfolgender These aus: Sprache ist eine evolutionär herausgebildete Fähigkeit desMenschen.SiebestehtauseinerangeborenenUniversalgrammatik.AllenatürlichenSprachen der Erde haben folglich ein- und dieselbe Grundlage und sind in ihrerStrukturidentisch.Darausfolgt:DifferenzenindenkognitivenStrukturen(imDenken)unterschiedlicherSprachgemeinschaftenkönnennichtsprachbedingtsein.

DieVertreterdeslinguistischenNativismusnehmendamiteineradikaleGegenpositi-onzur„Sapir-Whorf-Hypothese“ein.InzwischenlässtsichihreAuffassungzumindestteilweiseempirischbelegen(FOLIE 4).UmeinBeispielzunennen: IneinemVer-such lerntenProbandeneine ihnenzuvor völligunbekannteFremdsprache.Die ih-nenbeigebrachtenRegelnzurBildungvonSätzenwarenteilsgrammatisch(„richtig),teils ungrammatisch („falsch“) und entsprachen nicht derStruktur natürlicherSpra-chen(vgl.Abbildung).InderFolgewurdendieProbandenmitgrammatischen(richti-gen)wieungrammatischen(falschen)SätzenindererlerntenFremdsprachekonfron-tiert.DasErstaunliche:ObschonalleSätze fürdieProbandengleich „richtig“ tönenmussten,dasiejademGelerntenentsprachen,reagierteihrGehirnunterschiedlich:ImFallevongrammatischrichtiggebautenSätzenergabsichbeidenProbandenei-ne messbar erhöhte Aktivität im sogenannten Broca-Areal des Gehirns, wo dasmenschlicheSprachzentrumliegt. ImFallevonungrammatischenSätzenunterbliebdieseReaktion.OffenkundigsindwiralsoinderLage,unbewusstrichtiggebautevonfalschgebautenSätzenzuunterscheiden.Dahermussunszumindesteineuniversa-leSatzlehre(eineuniversaleSyntax)angeborensein.

Daraus ergibt sich folgendes Zwischenfazit (FOLIE 5): Sofern wir an der „Sapir-Whorf-Hypothese“festhaltenwollen,müssenwirdieSyntax(Satzlehre)vonunserenÜberlegungenausklammern.DennSyntaxerweistsichalsallenSprachengemein-sam und kann folglich nicht für Unterschiede imDenken einzelner Sprachgemein-schaftenverantwortlichsein. IneinerabgespecktenVersionkanndie „Sapir-Whorf-Hypothese“fortannurlauten:TeileeinerEinzelsprache–genauer:dieStrukturihresWortschatzes(desLexikons)undihrergrammatischenKategorien(z.B.dergramma-tischenFälle)–beeinflussendasDenkenihrerSprecherinnenundSprecher.

DamitbinichbeimzweitenTeilmeinesReferatsangelangt.Wiebereitsangedeutet,erfuhr die „Sapir-Whorf-Hypothese“ in den 1990er Jahren ein beachtliches Come-back.GrundhierfürwarenausgiebigeVersuchsreihen,welchedieMethodenderKo-gnitionsforschung beachteten und sich auf Lexikon und grammatische KategorienderuntersuchtenSprachenbeschränkten–alsoimSinnederabgespecktenVarianteder„Sapir-Whorf-Hypothese“verfuhren.

Page 3: Sprache – Denken – Wirklichkeitsprawi.at/files/hajnal/Hajnal_Alpbach_VORTRAG.pdf · 2019. 3. 27. · Der amerikanische Sprachwissenschaftler Benjamin Whorf war in den ... le Satzlehre

3

ZurIllustrationmöchteichSieimFolgendenmiteinerdieserVersuchsreihenvertrautmachen. Die Ausgangslage ist die Folgende (FOLIE 6): Die Sprachen der WeltkennenunterschiedlicheWege,diegrammatischeZahlunddieMengezubezeich-nen:• „Pluralsprachen“wiedasDeutscheoderEnglischebezeichnendenPlural(dieMehrzahl)obligatorischdurcheinAffix(eineEndung):z.B.dt.Sg.dieFrau→Pl.dieFrau-en;engl.thestone→Pl.thestone-s.

• „Klassifikatorsprachen“besitzenhingegenkeineobligatorischePluralbezeich-nung.Stattdessenverwendensiesogenannte„Klassifikatoren“,diegewöhnlichandasZahlworttreten.UmeinBeispielzunennen:ImYukatekischen–eineraufderHalbinselYucatangesprochenenMayasprache–bedeutetka’-túulxib„zweiMänner“.xibstehtdabeinumerusindifferentfür„Mann“oder„Männer“,ka’-fürdasZahlwort„zwei“.Bei-túulschliesslichhandeltessichumdenKlassifikator.Erstehtfür„eigenständigeGestalt“.DasSyntagmaka’-túulxibliessesichalsoimDeutschendurch„zweieigenständigeGestaltMann“(ganzwie„zweiStückHolz“)nachbilden.

DiesebeidenMöglichkeiten,eineMehrzahlzubezeichnen,habenAuswirkungenaufdieStrukturdesWortschatzes(FOLIE7):• „Pluralsprachen“wiedasEnglischeoderDeutscheunterscheidenzwischenEin-undMehrzahlunddamitzwischenBegriffenfürfeste,zählbareObjekte(z.B.dt.Reiskorn)undverformbare,nicht-zählbareMengen(z.B.dt.Reis).Nurfeste,zählbareObjektekönneneineMehrzahlbilden.DerWortschatzvonPluralspra-chenklassifiziertdaherBegriffe/WörternachFormbzw.GestaltdesBezeichne-ten.

• „Klassifikatorsprachen“wiedasYukatekischeunterscheidennichtzwischenEin-undMehrzahlunddamitauchnichtzwischenBegriffenfürzählbareObjekteundnicht-zählbareMengen.IhrWortschatzklassifiziertimGegenzugBegriffe/WörternachMaterialbzw.BeschaffenheitdesBezeichneten.Form/Gestaltwerdenhin-gegen,wieebengezeigt,durchKlassifikatorenfestgelegt.

BeidiesemstrukturellemUnterschiedsetztezuBeginnder1990erJahrederameri-kanischeSprachwissenschafterJohnLucyan.SeineHypothese:SolltedieStrukturdesWortschatzesaufdasDenkenderSprechendeneinwirken,dannmüsstenSpre-cherinnen undSprecher desEnglischen ihr Augenmerk auf Form undGestalt vonGegenständenlegen,SprecherinnenundSprecherdesYukatekischenhingegenaufMaterialundBeschaffenheit(FOLIE8).UmdieseHypothesezuprüfen,gingLucywiefolgtvor:ErlegteseinenProbandenDreiergruppenähnlicherGegenständevor.EinGegenstanddientehierbeialsRefe-renz,diebeidenanderenwarendiesemReferenzgegenstandentwederinForm/GestaltoderMaterial/Beschaffenheitähnlich.DieProbandenmusstennunan-geben,welcherderbeidenGegenständedemReferenzgegenstandstärkerentspre-che.DasResultatwarüberraschendeindeutig:DieSprecherinnenundSprecherdesEnglischenwähltenmehrheitlichdenjenigenGegenstand,welcherderReferenzin

Page 4: Sprache – Denken – Wirklichkeitsprawi.at/files/hajnal/Hajnal_Alpbach_VORTRAG.pdf · 2019. 3. 27. · Der amerikanische Sprachwissenschaftler Benjamin Whorf war in den ... le Satzlehre

4

Form/Gestaltentsprach–dieSprecherinnenundSprecherdesYukatekischenum-gekehrtdenjenigenGegenstand,welcherderReferenzinMaterial/Beschaffenheitentsprach.DamitschienLucysHypothesebelegt:DieStrukturdesWortschatzeshat-tedieAuswahlderGegenständeundsomitdasDenkenderProbandenbeeinflusst(FOLIE9).

LucysResultatundvieleweitereStudienausdenletzten15Jahrensindaufdener-stenBlickeinstarkesArgumentzugunstender„Sapir-Whorf-Hypothese“.AberistdieInterpretation,wonach dieStruktur unsererSprache dieStruktur unseresDenkensbeeinflusse,wirklichunumgänglich?–DieseFrageführtmichzumdrittenTeilmeinesReferats.TatsächlichlassenderbeschriebeneVersuchJohnLucysundvieleseinerNachfolgeraucheinesimpleAlternativerklärungzu:DieProbandenlassensichvonRoutinenleiten,diesichdurchdiestatistischenHäufigkeitenimWortschatzergeben.In„Pluralsprachen“wiedemEnglischenbezeichnetdieMehrzahlderSubstantivefe-ste oder zählbare Objekte, die wie gezeigt hinsichtlich Form und Gestalt definiertsind.WerdenSprecherinnenundSprecherdesEnglischenmiteinemihnennichtver-trauten Referenzgegenstand konfrontiert und gefragt, wem „dieses Ding“ gleiche,dannwerdendarinmitgrosserWahrscheinlichkeiteinenGegenstanderkennen,derwiedieMehrzahlderWörterinihremWortschatzhinsichtlichFormundGestaltdefi-niertist–undihmdenpassenden,hinsichtlichFormundGestaltdefiniertenGegen-standzuordnen.UmgekehrtverhaltensichSprecherinnenundSprecherdesYukate-kischen.

Diese lexikostatistischeAlternativerklärungstelltdieVerhältnissezwischenSpracheundDenkenaufdenKopf(FOLIE 10):NichtdieSprachebestimmtunserDenken.Vielmehr nutzt unser Denken die Sprache, um gedankliche Konzepte festzuhaltenundkomplexekognitiveAufgabenzu lösen.Tatsächlich findensichArgumentezu-gunstendieserUmkehrungder„Sapir-Whorf-Hypothese“.Umnureineszunennen:Nehmenwiran,dassfürdieLösungderkomplexenkognitivenAufgabe„Gegenstän-dezählenunddiegenaueMengeimKopfbehalten“imLexikoneinerSpracheZahl-wörtervon1bisUnendlichvorhandenseinmüssen.IstunsereHypothese„Denkennutzt Sprache“ nun korrekt, dannmüssen sich Sprecherinnen und Sprecher einerSprache ohne Zahlwörter erheblich schwerer beim Zählen und Behalten tun alsSprecherinnenundSprecher,derenSpracheüberZahlwörterverfügt.DieseVorher-sagelässtsichtatsächlichüberprüfen(FOLIE11).DennausdemAmazonasgebietBrasiliens ist die Indianersprache Pirahã bekannt, die keinerlei Zahlwörter besitzt.Stattdessen verwenden die Pirahã-Indianer relative Begriffe: hói „weniger/kleiner“,hoí„rechtwenig/rechtklein“undbáagiso„genug“.Versuchebelegen,dassdiePira-hã-IndianerdurchauseinkognitivesKonzeptvonZahlundMengebesitzen:Sozeig-tendieVersuchsleiterdenPirahã-ProbandeneinebestimmteAnzahlvonLöffelnaufeinemTischundbatensie,dieselbeAnzahlanBallonenaufdenTischzulegen.DieProbanden lösten diese Aufgabe beinahe fehlerfrei. Doch sobald die Aufgabe er-schwertwurdeundeinezusätzlicheZähl-undGedächtnisleistungerfordere–etwa

Page 5: Sprache – Denken – Wirklichkeitsprawi.at/files/hajnal/Hajnal_Alpbach_VORTRAG.pdf · 2019. 3. 27. · Der amerikanische Sprachwissenschaftler Benjamin Whorf war in den ... le Satzlehre

5

mehralszehnLöffelvorlagenunddiesegleichnachdemZeigenverdecktwurden–dannwarendieProbandennichtmehrinderLage,dieentsprechendeAnzahlande-rer Gegenstände aufzulegen. Das Beispiel der Pirahã belegt, dass das kognitiveKonzept vonZahl undMenge zwar unabhängig vonSpracheexistiert,Sprache je-dochdasSpeichernunddieVerarbeitungvonZahlenwesentlichunterstützt,wennnichtgarermöglicht.

Um schliesslich noch einen Schritt weiterzugehen (FOLIE 12): Die lexikalischenund morphologischen Strukturen von Sprache sind ein effizientes Mittel, eine derkomplexesten kognitiven Aufgaben zu lösen: dieWahrnehmung bzw. KonstruktionvonWirklichkeit.NeueempirischeStudienzurWahrnehmungvonFarbezeigeneinerstaunlichesBild:SindinunsererSprachezweiFarbensprachlichdifferenziert(alsoetwadt.grünversusblau),dannnehmenwirdenKontrastzwischenbeidenFarbenbesonders raschüber das rechteGesichtshalbfeldwahr.Das rechteGesichtshalb-feld aber projiziert in die linke Hemisphäre des Gehirns und damit in die für dieSprachverarbeitungzuständigenZentren.SinddieFarbenhingegensprachlichnichtdifferenziert, reagiert das linke Gesichtshalbfeld schneller. Dies bedeutet: UnserDenkennutztvorhandenesprachlicheStrukturen,umunsereWahrnehmungenmög-lichsteffizienteinzuordnen.AllerdingsdurchläuftimIdealfallmaximaldieHälfteunse-rerWahrnehmungden„sprachlichenFilter“.

Damit bin ich amEndemeinesReferats angelangt.DasFazit lautet: Aus heutigerSicht dürfenwir erleichtert feststellen, dassBenjaminWhorf undEdgarSapir nichtrechthatten.UnserDenkenistfreiundwirdnichtvonSprachebeeinflusst.Vielmehrverhältessichgenauumgekehrt:SpracheisteinnützlichesInstrumentfürunserGe-hirn,wennesgilt,komplexeAufgabenzulösen.AllerdingsverlässtsichunserGehirnnurzurHälfteaufdieordnendeKraftvonSprache.DieFrage,woraufsichunserGe-hirnzuranderenHälfteverlässt,mussheuteleideroffenbleiben.

BestenDankfürIhreAufmerksamkeit!

Page 6: Sprache – Denken – Wirklichkeitsprawi.at/files/hajnal/Hajnal_Alpbach_VORTRAG.pdf · 2019. 3. 27. · Der amerikanische Sprachwissenschaftler Benjamin Whorf war in den ... le Satzlehre

Sprache,Denken,Wirklichkeit

IvoHajnal

Page 7: Sprache – Denken – Wirklichkeitsprawi.at/files/hajnal/Hajnal_Alpbach_VORTRAG.pdf · 2019. 3. 27. · Der amerikanische Sprachwissenschaftler Benjamin Whorf war in den ... le Satzlehre

Die„Sapir‐Whorf‐Hypothese“

22.8.2010 Alpbach, Tiroltag 1

•  BenjaminLeeWhorf:„DasunvorsichCgeVerhalten,dieIsoliermassenichtgegendasFeuerzuschützen,war…durchdenGebrauchderBezeichnung‚Kalkstein’herbeigeführtworden,weildieserNamemitderSilbe‚‑stein’endetunddaherUnbrennbarkeitsuggeriert.“(1941)

•  →„Sapir‐Whorf‐Hypothese“:Sprachebeeinflusst–bzw.besCmmt–unsereWahrnehmungderWirklichkeitundunserDenken.

Page 8: Sprache – Denken – Wirklichkeitsprawi.at/files/hajnal/Hajnal_Alpbach_VORTRAG.pdf · 2019. 3. 27. · Der amerikanische Sprachwissenschaftler Benjamin Whorf war in den ... le Satzlehre

DreiFragen

22.8.2010 Alpbach, Tiroltag 2

1.  Weshalbkanndie„Sapir‐Whorf‐Hypothese“inihrerabsolutenFormulierungausheuCgerSichtnichtzutreffen?

2.  Warumhatdie„Sapir‐Whorf‐Hypothese“inden1990erJahreneinComebackerfahren?

3.  WasbesagenjüngsteStudienüberdasVerhältnisvonSprache,DenkenundWirklichkeit?

Page 9: Sprache – Denken – Wirklichkeitsprawi.at/files/hajnal/Hajnal_Alpbach_VORTRAG.pdf · 2019. 3. 27. · Der amerikanische Sprachwissenschaftler Benjamin Whorf war in den ... le Satzlehre

Na8vismusgegen„Sapir‐Whorf‐Hypothese“

22.8.2010 Alpbach, Tiroltag 3

VertreterdeslinguisCschenNaCvismus(v.a.NoamChomsky)nehmenseitden1950erJahreneineradikaleGegenposiConzur„Sapir‐Whorf‐Hypothese“ein:

•  SpracheberuhtaufeinerangeborenenUniversalgrammaCk.

•  AllenatürlichenSprachenderErdehabensomitein‑unddieselbeGrundlageundsindinihrerStrukturidenCsch.

•  Differenzenindenkogni8venStrukturen(im„Denken“)unterschiedlicherSprechergemeinschafenkönnendeshalbnichtsprachbedingtsein.

Page 10: Sprache – Denken – Wirklichkeitsprawi.at/files/hajnal/Hajnal_Alpbach_VORTRAG.pdf · 2019. 3. 27. · Der amerikanische Sprachwissenschaftler Benjamin Whorf war in den ... le Satzlehre

RegelnfürdieSatzbildungsindangeboren

22.8.2010 Alpbach, Tiroltag 4

DasBroca‐ArealdesGehirnswird,selbstwennwir„falsche“Regelnlernen,nurbeigrammaCschkorrektenSätzenakCviert.→ UnsisteineuniversaleSyntax(Satzlehre)angeboren.

Quelle:Mussoetal.2003

Page 11: Sprache – Denken – Wirklichkeitsprawi.at/files/hajnal/Hajnal_Alpbach_VORTRAG.pdf · 2019. 3. 27. · Der amerikanische Sprachwissenschaftler Benjamin Whorf war in den ... le Satzlehre

Einschränkungder„Sapir‐Whorf‐Hypothese“

22.8.2010 Alpbach, Tiroltag 5

•  WirmüssendieSyntax(Satzlehre)vondenÜberlegungenzur„Sapir‐Whorf‐Hypothese“ausklammern.

•  DennSyntaxerweistsichalsallenSprachengemeinsamundistfolglichnichtfürUnterschiedeimDenkeneinzelnerSprach‐gemeinschafenverantwortlich.

•  IneinereingeschränktenVersionkanndie„Sapir‐Whorf‐Hypothese“fortannurlauten:„TeileeinerEinzelsprache–genauer:dieStrukturihresLexikons(desWortschatzes)undihrergramma8schenKategorien–beeinflussendasDenkenihrerSprecherinnenundSprecher.“

Page 12: Sprache – Denken – Wirklichkeitsprawi.at/files/hajnal/Hajnal_Alpbach_VORTRAG.pdf · 2019. 3. 27. · Der amerikanische Sprachwissenschaftler Benjamin Whorf war in den ... le Satzlehre

UnterschiedlicheWegezurBezeichnungvonZahl/Menge

22.8.2010 Alpbach, Tiroltag 6

•  „Pluralsprachen“(z.B.Deutsch,Englisch)DerPlural(dieMehrzahl)wirdobligatorischdurcheinAffix(eineEndung)bezeichnet:z.B.dt.Sg.derStein→Pl.dieStein‐e;engl.thestone→Pl.thestone‐s.

•  „Klassifikatorsprachen“(z.B.Yukatekisch)DerPluralwirdnichtbezeichnet,stasdessendasZahlwortdurcheinen„Klassifikator“ergänzt:z.B.yukatek.ka’‐túulxib„zweiMänner“<xib„Mann/Männer“+ka’‑„2“+‑túul(Klassifikator„eigenständigeGestalt“)=dt.„zweieigenständigeGestaltMann“.

Page 13: Sprache – Denken – Wirklichkeitsprawi.at/files/hajnal/Hajnal_Alpbach_VORTRAG.pdf · 2019. 3. 27. · Der amerikanische Sprachwissenschaftler Benjamin Whorf war in den ... le Satzlehre

StrukturdesLexikons

22.8.2010 Alpbach, Tiroltag 7

Hypothese:WirktdieStrukturdesWortschatzesaufdasDenkenein,dannlegen…•  Sprecher/innendesEnglischenmehrGewichtaufFormundGestaltbeobachteter

Objekte.•  Sprecher/innendesYukatekischenhingegenmehrGewichtaufMaterialund

BeschaffenheitbeobachteterObjekte.

„Pluralsprache“(Englisch)

„Klassifikatorsprache“(Yukatekisch)

Numerus:Einzahl↔Mehrzahl

ja nein

Unterscheidung:fest/zählbar↔verformbar/nicht‐zählbar

ja nein

KlassifizierungvonBegriffennach…

Form/Gestalt Material/Beschaffenheit

Page 14: Sprache – Denken – Wirklichkeitsprawi.at/files/hajnal/Hajnal_Alpbach_VORTRAG.pdf · 2019. 3. 27. · Der amerikanische Sprachwissenschaftler Benjamin Whorf war in den ... le Satzlehre

WahrnehmungvonZahlundMengenachJohnA.Lucy(1992)

22.8.2010 Alpbach, Tiroltag 8

Sprecher/innendesEnglischenwählenden

hinsichtlichFormundGestaltentsprechenden

Gegenstand.

Sprecher/innendesYukatekischenwählenden

hinsichtlichMaterialundBeschaffenheit

entsprechendenGegenstand.

Referenzgegenstand

Page 15: Sprache – Denken – Wirklichkeitsprawi.at/files/hajnal/Hajnal_Alpbach_VORTRAG.pdf · 2019. 3. 27. · Der amerikanische Sprachwissenschaftler Benjamin Whorf war in den ... le Satzlehre

Alterna8verklärungfürLucysPhänomen

22.8.2010 Alpbach, Tiroltag 9

•  DerVersuchvonJohnA.LucyscheintaufdenerstenBlickdie„Sapir‐Whorf‐Hypothese“zubestäCgen.

•  AllerdingsexisCerteineAlterna8verklärung:DieProbandenlassensichvonRouCnenleiten,diesichdurchdielexikosta8s8schenHäufigkeitenergeben:

-  In„Pluralsprachen“wiedemEnglischenbezeichnetdieMehr‐zahlderSubstanCvefeste,zählbareObjekte,diehinsichtlichFormundGestaltbesCmmtsind.

-  Sprecher/innendesEnglischenordnendahereinemwenigvertrautenReferenzgegenstandtendenzielldenhinsichtlichFormundGestaltbesCmmtenGegenstandzu.

-  UmgekehrtverhaltensichSprecher/innendesYukatekischen.

Page 16: Sprache – Denken – Wirklichkeitsprawi.at/files/hajnal/Hajnal_Alpbach_VORTRAG.pdf · 2019. 3. 27. · Der amerikanische Sprachwissenschaftler Benjamin Whorf war in den ... le Satzlehre

SprachealsWerkzeugdesDenkens

22.8.2010 Alpbach, Tiroltag 10

DieselexikostaCsCscheInterpretaConstelltdie„Sapir‐Whorf‐Hypothese“aufdenKopf:

•  NichtdieSprachebesCmmtunserDenken.

•  VielmehrnutztunserDenkendieSprache,umgedanklicheKonzeptefestzuhaltenundkomplexekogniCveAufgabenzulösen.

Page 17: Sprache – Denken – Wirklichkeitsprawi.at/files/hajnal/Hajnal_Alpbach_VORTRAG.pdf · 2019. 3. 27. · Der amerikanische Sprachwissenschaftler Benjamin Whorf war in den ... le Satzlehre

BeispielderPirahã‐Indianer

22.8.2010 Alpbach, Tiroltag 11

•  DiePirahã‐IndianerverwendenkeineZahlwörter,sondernnurrelaCveBegriffewiehói„weniger/kleiner“,hoí„rechtwenig/rechtklein“undbáagiso„genug“.

•  DennochbesitzensieeinkogniCvesKonzeptvonZahlundMenge.DennsiesindinderLage,einfacheZählaufgaben(z.B.1‐zu‐1‐Entsprechungbeiwenigerals10Gegenständen)zulösen.

•  JedochscheiternseibeikomplexerenAufgaben(z.B.mehrals10verdeckteGegenstände).

Page 18: Sprache – Denken – Wirklichkeitsprawi.at/files/hajnal/Hajnal_Alpbach_VORTRAG.pdf · 2019. 3. 27. · Der amerikanische Sprachwissenschaftler Benjamin Whorf war in den ... le Satzlehre

WahrnehmungvonFarben

22.8.2010 Alpbach, Tiroltag 12

•  SindineinerSprachezweiFarbensprachlichdifferenziert(vgl.dt.grünversusblau),nehmendieSprecher/innendenKontrastzwischenbeidenFarbenraschüberdasrechteGesichtshalbfeldwahr.DiesesprojiziertindielinkeHemisphäredesGehirns(indieZentrenderSprachverarbeitung).

•  SinddieFarbensprachlichhingegennichtdifferenziert,reagiertdaslinkeGesichtshalbfeldrascher.

•  UnserDenkennutztvorhandenesprachlicheStrukturen,umunsereWahrnehmungenmöglichsteffizienteinzuordnen.AllerdingsdurchläufnurmaximaldieHälfeunsererWahrnehmungenden„sprachlichenFilter“.

Page 19: Sprache – Denken – Wirklichkeitsprawi.at/files/hajnal/Hajnal_Alpbach_VORTRAG.pdf · 2019. 3. 27. · Der amerikanische Sprachwissenschaftler Benjamin Whorf war in den ... le Satzlehre

BestenDankfürIhreAufmerksamkeit!