SR Brosch Tod - Stiftung Rosenkreuz

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Eine Anthologie

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Eine Anthologie

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Inhalt

Zum Geleit ................................................................................................................ 5

Theologisches A. H. de Hartog ......................................................................................................... 11

PhilosophischesFranz Kafka ........................................................................................................ 25, 61Christian Morgenstern ............................................................................................ 75Friedrich Nietzsche ......................................................................................... 62, 149Max Scheler .............................................................................................................. 64Max Picard ................................................................................................................ 86Ernst Jünger ................................................................................................... 122, 147

SpirituellesCorpus Hermeticum ................................................................................................... 8Bibel ........................................................................................................................... 61Karl von Eckartshausen .......................................................................................... 21Meister Eckart .......................................................................................................... 43Dschuang-dse ........................................................................................................... 96Laotse ........................................................................................................................ 55Eine rosenkreuzerische Sicht ................................................................................. 67Rudolf Steiner ................................................................................................... 91,133 Jan van Rijckenborgh ............................................................................................ 117Jiddu Krishnamurti ................................................................................................ 125Konrad Dietzfelbinger ............................................................................................ 141

Poetisches Johann Wolfgang von Goethe ................................................................................. 17Hermann Hesse ....................................................................................................... 32Friedrich Hölderlin ................................................................................................... 55Rainer Maria Rilke ................................................................................... 82,113, 139Gertrud Kolmar ......................................................................................................... 85Rose Ausländer ...................................................................................................... 104

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Copyright © 2012

ISBN 978-3-943452-05-1

Das Bildmotiv auf dem Umschlag (Tagpfauenauge) ist ein Foto

von Reinhard Knapp

Die Auszüge aus dem Buch De zin van den dood, Amsterdam 1930,

von Prof. Dr. A. H. de Hartog wurden von Ursula Klee übersetzt

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Zum Geleit

Wir existieren. Aber können wir es erfassen? Das lateinische Wort exsistere bedeutet heraustreten. So könnte mansagen: Wir sind herausgetreten. Aber aus welchem Hintergrund?

Ängste verdecken den Hintergrund unseres Daseins. „Er ist ein Ab-grund“, suggerieren sie uns. Wenn Krankheiten kommen und schließ-lich der Tod, erhebt sich indes die Frage: Bleibt etwas übrig von mir?

Das Bewusstsein verhält sich so, als würde es immer existieren. Totsein, nicht mehr da sein, das kann das Bewusstsein nicht erfassen. DerKörper zerfällt. Das können wir begreifen. Aber tot sein, nicht mehrvorhanden sein – das vermögen wir uns nicht vorzustellen.

Die Naturwissenschaft geht davon aus, dass das Leben körperlicheFormen benötigt, wie wir sie kennen. Wenn die Formen zerfallen, löstsich das Leben auf, schlussfolgert man. Doch schon die Nahtoderleb-nisse sprechen eine andere Sprache. Die Berichte darüber weisen aufeine Existenzform außerhalb des Körpers hin. Komapatienten schil-derten Beobachtungen, die sie während der Bewusstlosigkeit ihresKörpers gemacht haben. Und es stellte sich heraus, dass die Beobach-tungen stimmen. Das deutet darauf hin, dass Leben nicht an unseren derzeitigen Körpergebunden ist. Die heiligen Schriften der Völker bestätigen das.

Wir sind unvollkommen, unvollendet. Das erleben wir täglich.Die heiligen Schriften sprechen von der Vollkommenheit. DasEvangelium der Wahrheit, eine gnostische Schrift aus den erstenJahrhunderten unserer Zeitrechnung, erklärt, dass Gott die Vollkom-menheit in sich beschlossen hält, um sie den Seelen zu verleihen, die

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lische Dimension in uns erweist sich als unsterblich. Sie bildet denHintergrund unseres Daseins. Wir können – bereits im täglichen Leben – das Sterben in unserBewusstsein aufnehmen: als ein Loslassen von Moment zu Moment.Bewusst erleben wir dann, wie Neues hervortritt. Und die Gewissheitentsteht, dass es auch der Fall ist, wenn der Körper eines Tages seineFunktionen nicht mehr erfüllen kann. Der „Andere“ in uns, der langeZeit stiller Beobachter war, zeigt sich in anderer Umhüllung.

Schon das tägliche, fortwährende Sterben (und das sich selbst neuGewinnen) führt zu einer Einweihung in das Leben. Das griechischeWort τελευταν (teleutan) bedeutet sterben; das Wort τελεισϑαι(teleisthai), das den gleichen Wortstamm besitzt, heißt: in die Myste-rien eingeweiht werden.Dieser Zusammenhang macht deutlich, dass das Leben uns mit Hilfedes Sterbens in seine Geheimnisse einweihen will. Grenzenloses er-öffnet sich, wenn Begrenztes wegfällt. Wir erhalten einen Eindruckvon seelischen Wirklichkeiten, die unabhängig von unseren Körpernbestehen.

Die Welt der Seele folgt ihren eigenen Gesetzen. Das Werden, derEntwicklungsweg geht in ihr weiter.Staunen, Verwunderung, Vertrauen können unsere Begleiter werden.Staunen über nicht endenden Reichtum. Staunen über das Leben, dassich selbst nur als Leben kennt und nichts weiß von einem „Tod“.

Wir haben in dieser Broschüre Einsichten von Dichtern und Denkernzusammengestellt, um einen Anstoß zu geben, den Sinn des Todes zuergründen.

Gunter Friedrich

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zu ihm zurückkehren. Im Matthäusevangelium heißt es: „Ihr solltvollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“

Die Natur hat uns in langer Evolution hervorgebracht. Und dieEntwicklung ist noch nicht zu Ende. Vieles spricht dafür, dass ihrgöttlich-geistige Impulse zugrunde liegen. Auf dem langen Weg haben wir ein Selbstbewusstsein errungen.Damit können wir Entscheidungen treffen. Wir haben die Chance,einen Weg einzuschlagen, auf dem sich Geistig-Seelisches entfaltet.

„Stirb und Werde“ wurde einmal als Leitmotiv für einen solchen Weg formuliert. Begleitet uns das Sterben nicht fortwährend? JederMoment nimmt den vorherigen hinweg. Niemand kann in einemMoment verweilen. Stets verschwindet, was in die Existenz kam –und Neues tritt hervor.

Unser Bewusstsein kann sich dem öffnen, wie nie zuvor. Es kann dasWerden erleben. Das wird möglich, wenn wir den inneren Beobachterentdecken, der unverändert bleibt. Ihm können wir Raum geben.Dazu müssen wir einen Weg beschreiten, der eine Revolution inunserem Leben bedeutet. Wenn uns das gelingt, werden wir offen fürdie Macht des Moments und dessen Reichtum. Wir lassen los. Deraktuelle Moment bedeutet Umbruch und Erneuerung. Warum solltenwir am vergangenen festhalten?

Auf diese Weise vereinen wir den Tod mit dem Leben. Das Lebenbenötigt das Vergehen. Durch Vergehen wird Wandlung möglich, derEntwicklungsweg des Menschen. Die Blüte zerfällt, damit die Fruchtentstehen kann.

Es mag bitter sein, den Zerfall des Körpers zu erleben. Schmerz undTrennung gehen damit einher. Doch schauen wir tiefer. Die geistig-see-

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CIm ersten Buch des Corpus Hermeticum (Pymander),

das vermutlich um die Jahrhundertwende vom ersten zum zweitenJahrhundert n.Chr. in Alexandria niedergeschrieben wurde und indem sich ägyptische, jüdische und griechische Überlieferungen mitein-ander verbanden, wird das Herabsteigen des Menschen in das Reichder Materie folgendermaßen dargestellt:

32. Der Geist, der Vater aller Wesen, der Leben und Licht ist, brachteeinen Menschen hervor Ihm selber gleich, zu welchem Er, als zuSeinem eigenen Kinde, in Liebe entbrannte. Denn der Mensch, als dasEbenbild seines Vaters, war sehr schön; Gott liebte so in Wahrheitseine eigene Gestalt und übergab ihm all Seine Werke.

33. Als jedoch der Mensch die Schöpfung wahrnahm, die derDemiurg1 im Feuer erschaffen hatte, wollte auch er ein Werkstückhervorbringen, und der Vater gewährte es ihm. Als er darauf in dasdemiurgische Schöpfungsfeld einging, wo er freie Hand haben sollte,nahm er die Werke seines Bruders wahr, und die Rektoren1 entbrann-ten in Liebe zu ihm, und jeder von ihnen ließ ihn an seinem eigenenRang in der Hierarchie der Sphären teilhaben.

34. Als er danach ihr Wesen kennen gelernt und an ihrer Art teilhatte,wollte er die Begrenzung der Kreise durchbrechen und die Machtdessen kennen lernen, der über das Feuer herrscht.

35. Dann bog sich der Mensch, der Vollmacht hatte über die Welt dersterblichen Wesen und der vernunftlosen Tiere, vornüber durch diezusammenbindende Kraft der Sphären, deren Umhüllung er durch-brochen hatte, und zeigte sich der unteren Natur in der schönenGestalt von Gott.

36. Als sie ihn erblickte, der die unerschöpfliche Schönheit und alleEnergien der sieben Rektoren in sich hatte, vereinigt in der Gestaltvon Gott, lächelte die Natur aus Liebe; denn sie hatte die Züge dieserwunderbar schönen Form des Menschen sich im Wasser widerspie-geln gesehen und seinen Schatten auf der Erde wahrgenommen.

37. Und was ihn selbst betrifft: Als er diese Form, die ihm so sehrglich, durch die Widerspiegelung im Wasser in der Natur bemerkte,verliebte er sich in sie und wollte dort wohnen. Und was er wollte, tater sogleich, und so begann er, die vernunftlose Form zu bewohnen.Und als die Natur ihren Geliebten in sich empfangen hatte, umfing sieihn ganz, und sie wurden eins; denn ihr Begierdenbrand war groß.

38. Und darum ist von allen Geschöpfen in der Natur allein derMensch zweifach, nämlich sterblich nach dem Körper und unsterblichnach dem wirklichen Menschen.

(Am Ende einer Entwicklungsperiode kam es „durch Gottes Willen“zur Geschlechtertrennung. Der Schöpfer sprach sodann:)

47. (...) Und lasset diejenigen, die das Gemüt2 besitzen, sich alsunsterblich erkennen und wissen, dass die Ursache des Todes dieLiebe zum Körper ist und zu allem, was von der Erde ist.

zitiert aus: Die Ägyptische Urgnosis, Erster Teil, von Jan van Rijckenborgh, 4. Auflage, Haarlem 2005

1 Über den Demiurgen und die sieben Rektoren heißt es in Abschnitt 26:

Gott, der Geist, der in sich selbst Mann und Weib ist und der Quell von Leben und Licht,

brachte durch ein Wort ein zweites Geistwesen, den Demiurg hervor, welcher als Gott des

Feuers und des Atems sieben Rektoren erschaffen hatte, die die sinnliche Welt mit ihren

Kreisen umgeben und sie lenken durch das, was Fatum oder Schicksal genannt wird.2 die Geistseele

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Vom Sinn des TodesA. H. de Hartog

Vorbemerkung

Der niederländische Theologe Prof. Dr. A. H. de Hartog (1869-1938)besaß eine außergewöhnliche Rednergabe und sorgte in den Zwanzi-ger Jahren des letzten Jahrhunderts mit seiner realistischen Theologie,die den Rahmen der gängigen Orthodoxie sprengte, für volle Kirchen.In der Groote Kerk in Haarlem war auch Jan Leene (späterer geistigerName: Jan van Rijckenborgh) mit seinem Bruder Wim oft zu finden.Beide waren beharrliche Sucher, getauft und aufgewachsen in derHervormde Kerk. Auf der Grundlage ihrer gemeinsamen Arbeit wurdespäter das Lectorium Rosicrucianum, die Internationale Schule desGoldenen Rosenkreuzes, ins Leben gerufen.J. W. Jongedijk schrieb über de Hartog in seinem Buch GeestlijkeLeiders van ons volk (Geistige Führer unseres Volkes): „Es ging ihmum die Wiedergeburt durch den Geist, um so ein Gottesfreund zuwerden und ewig zu bleiben.“Gott im Menschen, das war für de Hartog Erfahrung und Realität. Injeder seiner Publikationen wies er auf das höhere Prinzip hin, das imMenschen geboren werden kann, und zwar aus dem Göttlichen. Wir veröffentlichen – erstmals in deutscher Sprache – Auszüge ausseiner Schrift De Zin van den Dood, die 1930 in Amsterdam erschien.

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I.

Denn welchen Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben

Der Geist, nicht die Natur, entsetzt sich über den Tod.

Denn für die Natur ist der Tod selbstverständlich. Oder, wie Schopen-hauer sagt: Das Tier ist noch am Stamme der Natur befestigt, es istder großen Allmutter noch nicht entfremdet, aber wenn der Willezum Bestehen durch das Mineral-, Pflanzen- und Tierreich bis zumReich des Menschen emporgestiegen ist, dann steht er, der Mensch,mit Bestürzung der Vergänglichkeit und Eitelkeit allen Bestehensgegenüber. Aus dem Erstaunen und der Fassungslosigkeit werden dashöhere, metaphysische Bewusstsein und die Weisheit geboren. BereitsPlaton und Aristoteles führten dies aus.

Pflanze und Tier träumen weiter, sie entstehen und vergehen, erblühenund verwelken. Gewiss kreuzt auch bei ihnen die Angst vor dem Todfür einen Augenblick den Lebenstrieb, aber erst der Mensch, derNachsinnende, der mit seinem Bewusstsein der Wirklichkeit und demeigenen Selbst gegenübersteht und sie zu durchgründen trachtet, erstder Mensch entdeckt den Stachel des Todes. Ängstlich starrt er in dengähnenden Schlund seines verschlingenden Wesens.

Seit uralten Zeiten ist diese tiefe Erfahrung des menschlichen Geistes,des menschlichen Herzens, niedergelegt in der Geschichte vomSündenfall. Sie ist nicht eine bloße Fabel, sondern steckt voller Sinnüber das Leben und den Tod.

Der Mensch, aus der Materie geformt und vom Geist angehaucht,

erforschte und verdarb seine hohe Veranlagung und Abkunft durchden Wahn, aus eigener Kraft „wie Gott“ sein zu können. Verleitetdurch die Schöpfung, das Pflanzen-, Tier- und Menschenreich, erhober sich – angeheizt durch eine Höllenglut der Begierde – über dasSternenheer. Als „Sohn der Morgenröte“ errichtete er seinen Thronzwischen den Planeten Gottes – und stürzte herab infolge der Über-spanntheit seines Machtbewusstseins. Er fiel in den Mahlstrom derVergänglichkeit, der ihn nun in seinen Wirbeln mitschleppt; er ver-spielte seinen festen Mittelpunkt, von dem aus er das All hätte ausden Fugen heben und beherrschen können.

So wurde aus dem Tod ein Schreckbild.

An der Pforte zum Paradies der Gottesgemeinschaft steht der Cherubmit dem Flammenschwert und gebietet dem Menschen, dem derBaum des Lebens von ferne entgegenschimmert, Einhalt. Und zugleichsteht da der Tod und droht mit der glitzernden Sense.

Die Tiefsinnigkeit der Geschichte vom Fall des Menschen zeigt sichauch darin, dass von „Essen“ gesprochen wird, vom Essen desVerderbs, vom Verzehr der Sündenfrucht, der Gottesentfremdung.Essen bedeutet Aufnehmen in den Körper, Umsetzen in Fleisch undBlut, in eigenes Leben, eigenes Inneres.

Die alte Erzählung hat dies verstanden. Sie macht deutlich: Sünde undTod sind zwei Seiten des Eintretens in die Entartung, sie bedeutenLoslösung der Bande, die Geist und Leben miteinander vereint haben.

Das hält der Mensch nicht aus: Er selbst und alles um ihn herum wirdentbunden, zersplittert, vernichtet. Die glänzende Erscheinung, die alsfrohe Lebensform und starke Geisteskraft aufgetreten war, erlischt.

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Einheit gehört zum Wesen des Lebens und zum Wesen des Geistes.Beide beinhalten natürlich viel mehr als nur die Tatsache ihrer Zu-sammenfügung. Aber sie äußern sich in ihrer Zusammenfügung; inder Einheit der beiden feiert das lebende Wesen seinen Aufgang, seineBlüte, sein Wachstum und seine Frucht.

Die Angst vor dem Schnitter Tod rührt vor allem daher, dass er dieBande der Zusammenfügung zerbricht, wegnimmt. Sünde, Tod undElend haben als übereinstimmenden Grundzug, dass sie loslösen, ent-fremden, entfernen, verbannen, im Exil des Verderbs umherirren las-sen – und das nicht nur dem natürlichen, sondern auch dem geistigenLeben nach.

Gott wird „Geist“ genannt. Von alters her hat die Menschheit denTod verbunden gesehen mit dem Niedergang des Erlebens der Gottes-gemeinschaft, der Geistesgemeinschaft. „O Tod, wie bitter bist du!“Du bedrückst und verbitterst das Herz und den Mund! Du treibst miteiserner Rute den Menschen hinaus aus der Lebensruhe, dem Gottes-haus, weg vom Herzen Gottes in das eitle Nichts der Ablösung, desGrabes, der Verwesung.

In der hebräischen Originalversion der Geschichte vom Sündenfallheißt es nicht: „ … wirst du des Todes sterben“, sondern intensiver,nachdrücklicher wird gesagt: „ … du wirst sterben, sterben“. Dasbedeutet: Der Tod wird dich in Beschlag nehmen, übermannen, über-wältigen. Gemeint ist nicht nur, dass die Sünde den natürlichen Todals Konsequenz mit sich bringt oder als Strafe nach sich zieht, son-dern dass der Abfall von der geistigen Gemeinschaft mit Gott denMenschen in den natürlichen Mahlstrom des Verderbs geraten lässt.Dieser reißt ihn mit sich und schleppt ihn fort in die Verzweiflung derEntfremdung von Gott, dem Geist, der Ruhe, dem Frieden.

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Es gehört zur Erfahrung aller Jahrhunderte und aller Geschlechter,dass Tod und Grab wie ein tiefer, gähnender Wirbel den Menschenverschlingen, der in Verzweiflung keinen geistigen Halt und keininnerliches Zuhause im verborgenen Reich des ewigen Seins besitzt.

Der Tod ist also nicht nur in äußerlichem Sinne durch die Sünde indie Welt gekommen, sondern auch in innerlichem, indem er den mitBeschlag belegt, der sich abkehrt vom Geist des Lebens und der Kraft,die aus Gott ist.

Das Wort „Gott“ ist Andeutung für das Wirkliche, ist Klang, der denMenschen erweckt, trägt und erfüllt. Zahlreich und gegensätzlich sinddie Vorstellungen, die sich der Mensch von Gott macht. Aber alleVorstellungen und Begriffe zeugen von der Gewissheit, dass in GottRuhe, Fülle, erhabenstes Ideal und höchstes Gut sind.

Dem Menschen ist das Ewige ins Herz gelegt. Unsicher tastet, seufztund klagt er, herausgefallen aus der Beständigkeit des geistigen Wesensin die Unbeständigkeit der natürlichen Wirbel. Alles entgleitet undentfällt ihm in fortwährendem Auf- und Untergang. Der Boden unterseinen Füßen bekommt Risse, über ihm wölbt sich schwer und kupfernder Himmel, und die Nebel der Ferne behindern seinen forschendenBlick. Alles vergeht, nichts ist beständig, das sich außerhalb des ewi-gen Firmamentes und sicheren Sternenganges des geistigen Pfadesbefindet.

Der Tod umflicht unseren Weg mit Dornen, treibt uns in die Wildnis,wo der Ewige zum Herzen spricht. „Was klagt denn der Mensch überLeben und Tod?“, so rufen die Klagelieder der Jahrhunderte. Da istfortwährende Abgrenzung und Einschränkung – und das Geleit durchden unerbittlichen Knochenmann, der allein unsterblich scheint. Er

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verfolgt den eitlen Fantasten, den Jäger nach Schemen, nach Illusio-nen (wie Peer Gynt in Ibsens gleichnamigem Drama) mit dem Ziel,das Gerippe des Stoffmenschen und seinen Geisteswahn umzukerben,umzugießen in „beinerne Knöpfe“.

Doch derselbe Tod treibt den Gejagten auch in den Schoß derBesänftigung und des Schlummers, in dem der geplagte Abtrünnigewie ein Kind am Liebesherzen entschläft, das auf ihn wartet. IbsensDrama vom Phantomsucher zeigt die Tragödie des Menschen, dersich einschifft auf der Unbeständigkeit, der durch den Zaubertanz derWildnis taumelt, um schließlich zu seinem Ausgangspunkt zurückzu-kehren: zu der irdischen Fürsorge der Mutter, der himmlischen Treuedes Vaters, der Festigkeit des Geistes, dem beständigen Wesen.

Der Tod, das Schreckbild, „die Macht des Grauens“ (Verdi, DonCarlos), erweist sich als Menschenhüter, als Torwächter bei derEinkehr in das Seelenreich. Er wandelt sich vom Feind zum Freund,vom Herrn zum Diener. Der Überwältiger wird zum Tröster.

Deshalb singen Schubert und Mahler von dem Führer und Einweiherin „die Ruhe, die da übrig bleibt“. Das gilt für den Menschen, dersich auf sich selbst besinnt, sich abkehrt vom unbeständigen Treibenund sich „dem ewig fernen Paradies, das dennoch so nahe ist“(Schopenhauer), zuwendet. Er steigt auf zum Palast des Friedens desenthobenen Seins. Er versteht nun den Sinn von Not und Tod undspricht mit Hölderlin (im Gedicht Das Schicksal): „Mit ihrem heilgenWetterschlage, / mit Unerbittlichkeit vollbringt / die Not an Einemgroßen Tage, / was kaum Jahrhunderten gelingt.“

SSelige Sehnsucht

Sagt es niemand, nur den Weisen,Weil die Menge gleich verhöhnet,Das Lebend’ge will ich preisen

Das nach Flammentod sich sehnet.

In der Liebesnächte Kühlung,Die dich zeugte, wo du zeugtest,Überfällt dich fremde Fühlung,Wenn die stille Kerze leuchtet.

Nicht mehr bleibest du umfangenIn der Finsternis Beschattung,Und dich reißet neu Verlangen

Auf zu höherer Begattung.

Keine Ferne macht dich schwierig,Kommst geflogen und gebannt,Und zuletzt, des Lichts begierig,

Bist du, Schmetterling, verbrannt.

Und so lang du das nicht hast,Dieses: Stirb und werde!

Bist du nur ein trüber GastAuf der dunklen Erde.

Johann Wolfgang v. Goethe

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II.

… der auch den Tod zu seinen Knechten zählt …

(…)Vergänglichkeit, Böses, Verderben, Tod und Sünde haben das mensch-liche Suchen dahin gebracht, eine dunkle Macht oder einen Gott zuvermuten, der dem Gott des Lichtes und des Heils gegenübersteht und ein Reich des Verderbens regiert. Zwei Götter, zwei Prinzipienkämpfen dann im Weltenreich, das auf der Frontlinie dieses Kampfesgelegen ist.

Bei dieser dualistischen Anschauung bleibt der menschliche Geist, derkraft seiner Veranlagung monistisch nach Einheit im All sucht, jedochnicht stehen. Der Drang nach Einheit, der alles menschliche Wollen,Denken und Erkennen leitet, führt zum Glauben und zur Einsicht,dass ein Geist, eine Führung, ein Gott das All regiert und es – mit denzwei Seiten von Gut und Böse – voran- und aufwärtstreibt, durch„Seinen wunderbaren Rat und Seine große Tat“.

Dadurch wird auch der Sinn des Todes als dienstbares Moment imAllgeschehen verständlich. Alles Bestehende hat seinen Sinn, mögeauch das Bestehen selbst als unsinnig erscheinen. Aber sobald eineWirklichkeit, eine Welt entstanden ist, stellt sich heraus, dass sich dasPhänomen von „Gut und Böse“ in dieser Wirklichkeit auf dem richti-gen Platz befindet. Diese Sicht brachte im Besonderen die Prophetendes Alten Testamentes zu der Einsicht, dass dasjenige, was endlich,zeitlich, vergänglich und verderblich scheint, trotzdem höherem Gutdienstbar sein kann. Was im Alten Testament als Morgenrot begann,ging im Neuen Testament zu voller Tagesklarheit auf.(…)

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Wie das Allgeschehen ein besonderes Zusammenspiel des Mechani-schen und des Organischen zeigt, so dass das Erstere das Letztere auf-nehmen kann und andererseits den Untergrund darstellt, auf dem dasLeben seinen Thron errichtet, so müssen auch Schmerz und Tod imMysterienspiel der Kräfte und Mächte Helferdienste leisten.(…)Der ewige Menschenhüter hat den Tod zu seinen Knechten gesellt, umihn als zeitlichen Hüter und Wegweiser auf dem Pfad des Menschenzum verborgenen, innerlichen, ewigen Leben zu gebrauchen – Feindfür den Unwilligen, Freund für den Willigen. So beweist sich der Todals Diener des Geheimnisses.

Er ist der große Helfer, um uns vom Anhangen am sinnlichen, ver-gänglichen Sein zu befreien, damit wir eingehen können in das nicht-sinnliche, unvergängliche Sein der geistigen, bleibenden Werte vonLiebe, Treue, Fügsamkeit. (…)Der Mensch, aus der irdischen Natur, aus den Sinnen geboren, er-achtet die erste Welt des Greifbaren und Sinnlichen als die einzigwirkliche. Wenn sie vergeht, vergeht sein Alles. Doch siehe, da stehtder Tod als Wächter an der reinen Pforte zur ewigen Güte und Wahr-heit, und er zeigt – wo das All vergeht, zerfließt und zerstäubt wieSternenregen –, dass die Sonne des ewigen Währens aus der Nachtder Trauer aufgeht. Er zwingt uns, dort einzutreten.

Mag auch die Natur zusammenbrechen – der Geist wird aus ihr inGeburtswehen geboren. Mag auch die Erde vergehen – der Himmelöffnet sich hierdurch. Mag auch der Mensch untergehen – Gott gehtdabei auf. Denn in ihm ist die Fülle.

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AAlles in der Sinnenwelt ist Erscheinung;das Wirkliche und Bleibende ist in der Geisteswelt,

und geht aus dem Mittler zwischen Gott und dem Menschen aus –aus dem Wort.

Karl von EckartshausenEinige Worte aus dem Innersten (Nr.8)

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III.

Der Stachel des Todes ist die Sünde

Was ist Sünde?(…)Sünde ist Verkehrtheit.…Da, wo der Mensch – ein All in sich selbst – mit seinen vernünftigenDenkformen und sittlichen Willensnormen unter dem Maß des Idealsbleibt, wo er sich gegen das Rufen aus der Höhe kehrt, da finden wirdie Absonderung, die Sünde. Sünde macht unruhig, widerspenstig.Der Mensch kehrt sich ab vom höchsten Gut.(…)Die Loslösung von den Banden der Harmonie hat stattgefunden; allesist gelöst: das Band mit dem Höheren, das Band, das das Innerezusammenhält, das Band, das den Menschen zu seinem Heil mit demNächsten und mit Gott, dem Allgeist, verbindet.(…)Darum haben wir dreierlei Sünde zu unterscheiden: die dem Körper,die der Seele und die dem Geist nach. Die Sünde der Sinne bringtkörperlichen Makel, die Sünde der Seele lässt an Trübsinn erkranken,der gehegt und gepflegt wird, und die Sünde des Geistes führt zurinneren Entfremdung des endlichen vom unendlichen Wesen.(…)In Hesses Peter Camenzind heißt es: „Alles Schlechte, Kranke,Verdorbene aber, das wir in uns tragen, widerspricht und glaubt anden Tod.“ (…)

Dem Unwilligen scheint der Tod „der Sold der Sünde“ zu sein, demWilligen zeigt er sich als hinführend zum Willen des Ewigen. (…)„Ich wollte daran erinnern, dass gleich den Liedern der Dichter undgleich den Träumen unserer Nächte auch Ströme, Meere, ziehendeWolken und Stürme Symbole und Träger der Sehnsucht sind, welchezwischen Himmel und Erde ihre Flügel ausspannt und deren Ziel diezweifellose Gewissheit vom Bürgerrecht und von der Unsterblichkeitalles Lebens ist. Der innerste Kern jedes Wesens ist dieser Rechtesicher, ist Gottes Kind und ruht ohne Angst im Schoß der Ewigkeit.“(Hesse) Die Ruhe dieses unseres Wesenskerns wird jedoch gestört undin Unruhe verkehrt, wenn wir von unserer ewigen Einkehr in dasHeiligtum der intelligiblen Welt, der ewigen Idealität, ablassen.(…)

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W

T

Wir sind nicht nur deshalb sündig, weil wir vom Baum der Erkenntnis gegessen haben,

sondern auch deshalb, weil wir vom Baum des Lebens noch nicht gegessen haben.

Sündig ist der Stand, in dem wir uns befinden, unabhängig von Schuld.

Franz Kafka, Aphorismen (Nr. 83)

Tu deine Augen auf und gehe zu einem Baumund siehe den an und besinne dich ...

Jakob Böhme, Aurora oder Morgenröte im Aufgang (Kap. 9, Abschnitt 32)

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IV.

Mit Gott versöhnt durch den Tod seines Sohnes

Gottes Sohn ist für die Menschheit aller Jahrhunderte die sich selbstverschenkende und sich opfernde Gottheit.

Ob man den Gottessohn als aufgehende Sonne ansieht, als herniedersteigenden Geistmenschen, als auf Erden geborenen Erlöser, stets wirdin ihm Gott begrüßt, der kommt, den Menschen zu retten – er magals ein Baldur das Licht erneuern, als ein Vishnu oder Krishna in derBhagavad-Gita zum Wagenlenker werden, um im Kampf zu helfen,oder als der Christus im Fleisch erscheinen, um ein neues Geschlechtvon Gotteskindern aus den Menschenkindern zu erwecken.(…)So gibt es also keine Antwort auf das Suchen und Rufen der Mensch-heit – es sei denn, das Wunderkind, Geisteskind, Gotteskind erstehtals unsereiner, um alles auf sich zu nehmen. Und dass hier von wun-derbarer Geburt und Sohn Gottes gesprochen wird, beinhaltet un-widerlegbaren, ewigen Sinn. Denn nicht aus dem natürlichen Gewühl,sondern aus übernatürlichem Antrieb und der Einsenkung göttlicherUnwiderstehlichkeit, die Leben aus Leben gibt, um Mensch und Allzu versöhnen, zu erlösen und zu verherrlichen, kommt die Welt über-windende Heilung, das Heil des Menschen.(…)Denn wo Gott in den Tod geht, ist der Tod getötet. Es ist die Größedes Christentums, dass die göttliche Opferbereitschaft – als Antwortauf das Suchen der Menschheit – nicht nur den Tod, sondern sogarden Tod der Schande mit uns teilt (Hegel). Die Worte „ohne Bluts-opfer keine Vergebung“ bedeuten denn auch nicht nur, dass man „bis

aufs Blut“ dem Verderben widerstehen soll; das All wird nicht da ver-söhnt, erlöst und verherrlicht, wo der Einzelne sein Herzblut für denEinzelnen hingibt, sondern dort, wo das unendliche, göttliche Lebender Liebe sich ausgießt in den Tod, in die Krypten der Verwesung, umsie zu durchziehen und zu reinigen mit Leben und Unverweslichkeit;sie werden ans Licht gebracht, wo die Einsenkung des unumkehr-baren Gottesbemühens gefeiert wird.

Die erwartete Erfüllung, die die Menschheit in dem Gottessohn sucht,ist daher im Wesentlichen der Ruf nach der Gottheit, die nicht außer-halb des Alls bleibt, sondern durch ihren Lebens- und Liebesgang dasAll in seinem Ringen trägt und weiterbringt. Der Ruf nach dem „wer-denden Gott“ ist der Ruf nach dem Leben Gottes, dem Gotteskind,dem Gottessohn, der das All erfüllen wird.(…)Die Menschen glauben, dass sie an Hunger, Durst, körperlichenSchmerzen und Armut leiden, in Wirklichkeit aber leiden sie nurunter dem Gedanken, dass es Ihn vielleicht nicht gibt. Und betreffsder trauernden Natur können wir feststellen: „Sie möchte gern sagen,warum sie trauert – und sie kann es nicht. Sie ist stumm. Sie schafftund bemüht sich, Gott im Traume zu sehen, doch kann sie es nicht,denn das Irdische bedrückt sie zu stark. Sie ahnt ihn dunkel und wieim Traume. Alle Welten, auch alle Menschen, sind nur Träume derNatur von Gott. Alles, was sie sieht, wird geboren und stirbt. – DieNatur sucht nach Worten und findet sie nicht. Die Natur ist die schla-fende Mutter Kybele mit den ewig geschlossenen Lidern, erst derMensch hat das Wort gefunden, das sie vergeblich gesucht hat: dieSeele des Menschen ist die Natur, die ihre traumschweren Augenlideröffnet, erwacht und bereit ist, Gott zu sehen, ihn nicht mehr imTraume, sondern von Angesicht zu Angesicht zu schauen …“(Jamblichus bei D. P. Mereschkowsky: Julian Apostata).

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Und: „Niemand hat Gott je gesehen, doch der eingeborene Sohn, derin dem Schoß des Vaters ist, hat ihn uns verkündet“ und uns einge-führt in das ewig offene Geheimnis, dass man sich der Gottheit, dieihrem Wesen nach unnahbar ist, doch nahen kann, ähnlich wie derSonne, die aufgrund ihrer Strahlen ihre Höhe aus den Tiefen herausoffenbart.(…)Wo sich so die ewige Liebe offenbart bis in und durch den Tod, dawerden nicht nur die Schmerzen gelindert, die Wunden geheilt unddas Verlangen gestillt, sondern auch die Sünden vergeben und zunich-te gemacht, indem die Einheit mit dem Allgeist wiederhergestellt undgefunden wird aus seiner Gnade.

V.

Der Geist tötet und macht lebendig

Nur die Natur, die durch den Tod hindurchgegangen ist, kann alsBaustoff für den Geist dienen.(…)Ist (…) die Natur geisttötend, muss umgekehrt der Geist die Naturtöten; das Erste wird hinweggenommen, damit das Zweite Platz hat.Adam fiel gleichsam in einen Todesschlaf, damit Eva aus ihm genom-men werden konnte, das Paradies ging verloren, damit die Gottesstadteinmal erbaut werden kann.(…)Und so wird der Mensch den Sinn des Lebens und des Todes erstdann entdecken, wenn er den Kreuzweg von Weltengang und Welt-gesetz, den schmalen Pfad, gehen und die enge Pforte des Todesdurchschreiten will, damit die neue Möglichkeit erscheinen und auf-leuchten kann.

Versteinert, erstarrt, niedergeschmettert stöhnen wir vor dem rauenWeltenrätsel; es sei denn, wir finden seine Auflösung in der wunder-baren Tatsache, dass die erste Welt der Natur vorbeigehen, verschwin-den, unterworfen werden muss der zweiten Welt des höheren, geisti-gen, innerlichen, ewigen Lebens.

Denn die Natur blüht und wächst, der Geist jedoch meißelt und baut.(…)Wir starren in den dunklen Abgrund des unbegreiflichen Warum, bisdas leuchtende Firmament des erlösenden Wozu aufgeht.(…)

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Nebel vereinsamt, aber verinnigt auch. „Wahrlich, keiner ist weise, /der nicht das Dunkel kennt, / das unentrinnbar und leise / von allenihn trennt. / Seltsam, im Nebel zu wandern! / Leben ist Einsamsein. /Kein Mensch kennt den andern, / jeder ist allein.“ (Hesse).(…)Diamanten werden gefördert, gespalten und geschliffen, um wunder-bar strahlen zu können.(…)Darum auch nennt man die Gottheit „offenbart im Fleische undgerechtfertigt im Geist“, weil ihre Wege durch Abgründe hindurch zuden Höhen gehen. Oder, wie Multatuli sagt: „Der Weg zum Himmelgeht über Golgatha.“

Wer den Sinn des Todes versteht, empfängt Lebenskraft undSterbensmut.(…)Das Lebendigmachen des Geistes ist nicht nur, wie viele meinen, einZukunftslied. Auch im Heute ist das Sterben eine Lebenspforte, auchim Heute macht der Geist, der tötet, lebendig.(…)Meist sieht man die Auferstehung der Toten nur als eine zukünftige,körperliche Möglichkeit, aber die Auferstehung ist auch ein Aufgangzu einem neuen, höheren Lebens- und Geisteszustand.

Die Auferstehung der Toten beweist sich ganz aktuell für jeden, derdas Erste lässt, um das Zweite zu begrüßen. Auferstehung bedeutetEingehen in die neue Wirklichkeit und Wahrheit des höheren undhöchsten Gutes.

Darum warten Welt und Menschheit auf das Offenbarwerden derKinder des Geistes. Das sind diejenigen, die dort sind, wo der ewige

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Friede leuchtet, der das All übersteigt und dennoch das All durch-zieht. Hierhin gelangt der Mensch, der durch den Untergang des eige-nen Selbst zum Aufgang in Gott, dem Geist, kommt.

Der Schmerzensschrei, der von der geplagten Erde und der gejagtenMenschheit aufsteigt, ist ein Rufen nach dem Tod zum Leben. DasUnglück, das uns schlägt, die Not, die uns bedrückt, Trennung, Ärger,Vereinsamung – sie stellen Mahnungen dar, das große Wagnis einzu-gehen, durch die Verzweiflung hindurchzubrechen zum Ewigkeits-augenblick, in dem sich alles verwandelt. Wie die keimende Saatwerden wir, gleichsam sterbend, umgewendet aus dem Nach-Innen-gewandt-Sein ins eigene Selbst in das Hinausgewandt-Sein in dasewige, göttliche Selbst, das das All und den Menschen übersteigt undzugleich mit dem unauslöschlichen Licht und Leben der geistigenTeilhabe durchdringt.

„Wir tragen den Tod im Körper, damit auch das Leben in unseremKörper offenbart werden kann.“ Dieses mystische Wort bezieht sichauf die Christusgemeinschaft. Es bedeutet, dass sich der große Wende-punkt einstellt, wenn durch das Sterben das Leben körperlich offen-bar wird, wenn die alte Natur also getötet wird, damit wir in einemneuen, gottseligen Leben wandeln können.

Das ist das Weltgesetz, bei dem der heikelste Augenblick, das äußersteZeitmoment der Schritt von der Verweslichkeit zur Unverweslichkeitist, von der Natur zum Geist, von der Verkehrtheit zur Umkehr undEinkehr in das unumkehrbare Sein.

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NIm Nebel

Seltsam, im Nebel zu wandern!Einsam ist jeder Busch und Stein,

Kein Baum sieht den andern,Jeder ist allein.

Voll von Freunden war mir die Welt,Als noch mein Leben licht war;

Nun, da der Nebel fällt,Ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,Der nicht das Dunkel kennt,Das unentrinnbar und leise

Von allen ihn trennt.

Seltsam, im Nebel zu wandern!Leben ist Einsamsein.

Kein Mensch kennt den andern,Jeder ist allein.

Hermann Hesse(Quelle siehe S. 153)

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VI.

Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe

(…)Glauben ist nicht nur Annehmen, sondern vor allem offen sein.So wie die weiten Felder für das segnende Sonnenherz offen liegen,um aus ihm Leben, Wachstum, grünende, blühende, Frucht tragendeKraft zu empfangen, so steht das Menschenherz offen für das Urlicht.Und hier wird der wahre Glaube geboren, der darin besteht, dasSichtbare fahren zu lassen und das Unsichtbare zu umfangen undfestzuhalten.

„Denn er hielt sich fest, als einer, der den Unsichtbaren sah.“ Dieseswichtige Wort aus dem Glaubenskapitel des Hebräerbriefes – demKapitel der Kreuzfahrer zum unsichtbaren Vaterland – ist ein Echodes Glaubenswortes der Erweckung: „Ihr, die schlaft, steht auf vonden Toten und lasst das Sonnenherz Gottes über euch leuchten!“

Wir leben wie zwischen zwei Abgründen: der sichtbaren Welt derirdischen, natürlichen Wirklichkeit und der unsichtbaren Welt derhimmlischen, geistigen Wirklichkeit. Die erste Welt geht unter, diezweite öffnet sich in der Sterbestunde. Und diese Sterbestunde istheute, wenn der Mensch die Unverweslichkeit Gottes umfängt.

Die Erscheinung Jesu Christi in dieser Welt ist das Durchbrechen, dasEinbrechen des Lebens und des Lichtes der Gottheit in die Menschheit,„des fließenden Lichtes der Gottheit“ (Mechthild von Magdeburg).Davon zeugt der Prolog des Johannesevangeliums und darauf beruhtauch das oben als Einleitung niedergeschriebene Wort, das in demsel-ben Evangelium bei der Erweckung der Toten ausgerufen wird. Und

ferner heißt es mit Nachdruck: Ob wir auch sterben, wir sterbennicht.

Das sind Worte, die erlebt werden müssen, durch den Tod hindurch.(…)In einem Buch über Julianus den Abtrünnigen wird dieser mit folgen-dem Ausspruch zitiert: „Ja, das Neue redet bange. Es erscheint mirkalt und grausam wie der Tod. Ich sage dir ja, dass mein Herz nur fürdas Alte schlägt. Die Galiläer streben nach Neuem, während sie diealten Heiligtümer niedertreten. Glaube mir, das Neue besteht nur imAlten, in dem nie Veraltenden, in dem Unsterblichen, in dem Ent-weihten, dem Schönen.“

Diese Aussage öffnet uns den Blick auf das Wesen des Christentums.Man kann sich fragen, wie das sich ausbreitende Christentum dazukam, die Schönheit und Herrlichkeit der alten Götterwelt zu zerstö-ren, das Widerwillen Erweckende zu kultivieren – auch im Namendes dreieinigen Gottes –, wie es dazu kam, dass Schlechtigkeit undHeuchelei sich mit dem Schein der Frömmigkeit bedecken konntenund das Machtprinzip sich unter der Fahne des Kreuzes auslebenkonnte. Man kann sich fragen, wie es möglich ist, dass echtesChristentum den Weltuntergang erträgt!

Der Grund hierfür liegt darin, dass es durch den Tod hindurch brichtzu einer neuen, höheren, geistigen Wirklichkeit, die übernatürlich undgegennatürlich das Erste vorbeigehen sieht, um das Zweite zu er-obern: die unsichtbare Welt, „wo Hören und Sehen vergeht“ (Hegel),wo die Schönheit als letzter Glanz der ersten Wirklichkeit erlischt, wodas All zerstäubt, auf dass der Allgrund, der Geist, offenbar werde.Denn wo Sonnen zu Grunde gehen und Sterne zerstieben, da geht dieewige Wirklichkeit auf. Das große Wort: „in dem Maße, in dem der

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äußerliche Mensch verschwindet, erscheint der innerliche Mensch“ istnicht ein Wort ängstlicher Weltflucht oder groben Bildersturms, son-dern ein Wort, das das Wesen öffnet.(…)Wenn all das Gebrochene, Halbe der zeiträumlichen Unbeständigkeitruhiggestellt wird, auch da, wo es auf der Palette des Malers schim-mert, auf dem Instrument des Musikers vibriert oder aus der beweg-ten Menschenstimme strömt, erhebt sich die „Stimme der Stille“, zeigtsich das unbewegte Sein, der ewige Friede der Enthobenheit, der dasAll vergehen sieht und dennoch im festen Geist des ursprünglichenSeins steht.

Der Tod ist Torwächter und Schlüsselträger, damit die erste Welt derNatur mit ihrem Wunderglanz, ihren Klängen, Düften, Farben undFormen untergehen und zugleich aufgehen kann ins ewig dauerndeGeistesreich, das den blinden Teiresias zu einem Propheten macht undden gekreuzigten König zu einem Sieger, der alle zu sich zieht, weil ererhöht und enthoben ist dem endlichen und verderblichen Kreislaufund Gewühl.

Ein objektiv ausgerichtetes Herz ist ruhig, weil es die Entledigungvom eigenen, unruhigen Subjekt im Herzen der Ewigkeit feiert.„Denn unser Herz ist unruhig in uns, bis dass es ruhe in Dir, o Gott,o Geist.“ (vgl. Augustinus)

„Denn Gott ist Geist und wer ihn anbetet, muss ihn im Geist und inder Wahrheit anbeten.“ Dieses Christuswort ist Welt überwindend,Tod verschlingend, Sünde vernichtend (Da Costa), weil es uns denewigen Ausblick eröffnet auf das Gelobte Land, das Seelenzuhause,das die Türen entriegelt und die „kupfernen Ketten“ in Stücke bricht,

damit wir, wenn wir in Verzweiflung die Höllenfahrt des Weltunter-gangs erleben, die Himmelfahrt des Weltaufgangs feiern können.

Dies alles sind schwache Klänge für diejenigen, die sie als Gerüchtvernehmen, aber die „Wissenden“, als „Strahlende aus dem Urlicht“(vgl. Bô Yin Râ), sind hindurchgebrochen in des Unwiderstehlichen„Kraft, die in Schwachheit vollbracht wird“, wie es auch derWeltüberwinder Paulus und mit ihm die Erkannten aller Zeiten undGeschlechter erfahren haben. (…)

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VII.

Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben, …denn sie ruhen aus von ihrer Arbeit und ihre Werke folgen ihnen nach

Untergehende Sonnen leuchten nach.So auch unsere Toten: Ihr unsichtbares, geistiges Licht segnet unsauch weiterhin.Das ist das Große an einem Menschenleben, dass es eine Welt in sichist, die, auch wenn sie verschwunden ist, ihren Reichtum als Erbe fürdiejenigen hinterlässt, die tastend nach dem Gleichen suchen, vollerSehnsucht, ob sie denn auch die, die vergingen und dennoch bleiben,finden möchten. Der Schatz des Herzens ist unser Nachlass, sowohlfür den Einzelnen als auch für die Menschheit. Auch wenn die Hinter-bliebenen es nicht wissen, es möglicherweise vergessen: Das, was wiran ewigem Inhalt unserem irdischen Bestehen hinzugefügt haben, waswir taten, waren, sprachen, ist ein verborgener Quell, eine geheimeSchatzkammer von nie gesehenem, oft unbemerktem Einfluss. Dennauch Gedanken und Worte sind Taten.

Wer kann sagen, wie viel davon – durch den Tod verherrlicht – nach-leuchtet? Auch daraus wird Wertschätzung geboren, dass jemand ver-misst wird; dann sind diejenigen, die uns verlassen haben, uns doppeltlieb und wirken umso mehr auf uns.

So wie ein Stein, der ins Wasser fällt, seine Ringe zieht, und wie eineSonne ihre Strahlen sendet, so ist unser Leben hier auf Erden einSpringbrunnen, ein Lichtbrunnen, der durch das, was er versprüht,den Boden bereitet und fruchtbar macht für mehr Gutes. KeinMenschenleben geht vorbei, ohne etwas zu hinterlassen. Bedeutet es

nicht Seligkeit – entsprechend unserem Eingangsmotto – zu wissen,dass wir, obwohl wir Vergehende sind, nicht vergehen? „Es kann dieSpur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergeh’n“ (Goethe,Faust). Seligkeit ist bewusstes Genießen des Wesentlichen.

Aber da steht: Selig sind die Toten, die „in dem Herrn sterben“. DerHerr ist der Überwinder. Des Geistes Herrschaft und Herrlichkeitwird bewiesen, wo sie sich unumkehrbar im düsteren Weltgewühldurchsetzt, wo sie sich offenbart inmitten des Widerstandes des dunk-len Rätsels. Das ganze All wird so zum Beweis für die Macht desHerrn. Denn am Chaos beweist sich der Kosmos, am Dunkel dasLicht, am Tod das Leben, an der Zeit die Ewigkeit, an der Natur derGeist, und am Menschen beweist sich Gott.

Wer so das Welträtsel sieht, bricht durch zu seiner Lösung: Das All inseiner Kompliziertheit existiert, um den Aufschwung der Herrlichkeitzu offenbaren, so wie der harte Erdboden Voraussetzung für denAbflug des Piloten ist.(…)Somit bedeutet „Sterben im Herrn“ Eingehen in das siegreiche Wesen.Unsere Not besteht darin, dass der Hagel der harten Wirklichkeit unsblind macht und wir die Geistkraft nicht sehen, die die Naturmachtüberwindet.

Der Tod ist da, um alles aus der dunklen Tiefe der Sterblichkeit anden Tag, an das Licht zu bringen! Ohne Tod kann sich das, wasLeben ist, nicht in Herrlichkeit zeigen. O felix culpa Adamae, rühmtAugustinus sogar dort, wo das Verderben mit der Sünde gepaart geht,denn nun kann das Licht des Ewigen leuchten, versöhnend und ver-herrlichend zugleich.

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So wie Böhme in der dunklen Tiefe den Schoß sieht, durch den dasLicht seine Kraft verdoppelt, so erschauen die Sehenden im unsichtba-ren Reich die Welternte vermehrt, weil sie aus dem gepflügten, gebro-chenen und verbrauchten Erdreich hervorkommt. Denn „wenn dasWeizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, so bleibt es allein; aberindem es stirbt, bringt es viel Frucht“. „Wer sein Leben liebt, wird esverlieren, und wer sein Leben lässt um meinetwillen, der wird es be-wahren zum ewigen Leben“, so lautet das geheimnisvolle Christuswort.

Dieses Wort wird im Heute offenbar, denn es bedeutet, dass, wer sichvom Sichtbaren verabschiedet, das Unsichtbare findet, wer das Zeit-liche lässt, das Ewige entdeckt, wer sich von seinem alten Wesenbefreit, das wahre Wesen erkennt – und das nicht erst in künftigenTagen, sondern im Heute. Denn die Ewigkeit und das ewige Lebensind das beständige Jetzt. „Dies ist das ewige Leben, dass sie dicherkennen“, ewiger Geist, deine ewig währenden Herzensstrahlen undden Glanz deines Angesichts aus hoher Klarheit in der dunklen Tiefe!Ach, dass wir alle das ewige Heute finden mögen!Das „Sterben im Herrn“ ist somit das „Heute mit ihm im Paradiesesein“ – auch hier auf Erden.(…)Wie müssen wir uns das ewige Licht der Unverweslichkeit vorstellen?Wer kann es messen, wer es durchgründen? Denken wir an die Worte,mit denen Schopenhauer etwas deutlich macht, was die ganze Mensch-heit betrifft; er spricht von der Gottheit als von ewigem Frieden, ewi-ger Klarheit, wo der irdische Wille zerstiebt und der himmlische Willeseinen Einzug hält: „Was nach gänzlicher Aufhebung des Willensübrigbleibt, ist für die, welche noch des Willens voll sind, allerdingsnichts. Aber auch umgekehrt ist denen, in welchen der Wille sichgewendet und verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit allenihren Sonnen und Milchstraßen – nichts.“

Man möge sich einen christlichen oder einen mohammedanischenHimmel denken, ein Nirwana, das nicht Auslöschung bedeutet, son-dern Erhebung des Bewusstseins oder Stillwerden im Geist: Bewusstoder unbewusst spricht in all dem das menschliche Verlangen, das inseiner Ruhelosigkeit nach der Ruhe Gottes und dem Frieden, der allenVerstand und alles endliche Gewühl und alle falsche Lust übersteigt,Ausschau hält.(…)Ist somit der Tag, an dem der Mensch stirbt, nicht besser als der Tag,an dem er geboren wird? So erhebt der geplagte und gebrochene Hiobgleich dem Prediger in der Wüste sein Klagelied. Denn das Lobliedpreist denjenigen, der hindurch bricht!

Zweimal wird der Mensch geboren. So beginnt Fechner sein Büchleinüber das Leben nach dem Tode: einmal bei der Geburt in dieser Welt,zum zweiten Mal beim Sterben – und dann in der anderen Wirklich-keit. Und das Christuswort: „Es sei denn, dass der Mensch von obenwiederum geboren werde“, aus dem ewigen Licht, dem ewigen Geist,„so kann er das Königreich der Seelen nicht sehen“ – weist dies nichtauf das Geheimnis hin, dass Geburt ein Todesdurchgang und Sterbenein Geburtsschmerz ist?So sind die Toten selig, die im Herrn, dem Sieger, sterben. Sie sind dieSiegenden im Licht. Sie ruhen von all ihrer Arbeit aus.Ruhe ist das große Wort der Heimkehr.(…)Diese Ruhe ist nicht ein Leer-Sein, ein Untätig-bleiben. (…)Im Himmel, dem unsichtbaren, geistigen Seelenreich, ist Enthoben-sein, auch wenn diejenigen, die dort als Feuerflammen eingingen undsich wie seine Engel in der Glut befinden, das Weltenrund durch-messen.

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(…)Der Mond entlehnt sein Licht dem Sonnenherzen. So ist auch dasSchattenreich des Todes nicht bleiches, ungreifbares Nachtgewimmel,sondern Widerspiegelung des Lebensechos, der Stimme der Liebe, dieauch dann noch erklingt, wenn sie bereits in dem unseren Ohrenzugänglichen Bereich des schweren Erdenäthers verklungen ist.(…)Wie leuchtet doch das Sternenlicht aus bereits erloschenen Sonnen!Doch unauslöschlich, ewig leuchten sie, die im Reich des Geistesstehen.

VVom Tod

(…) Hier sollen wir drei Dinge merken: Das erste Ding ist, dass alle[diese] Märtyrer tot sind. Was man leidet an dieser Welt, das endet.Zum anderen sollen wir bedenken: dass all dies Leben tödlich ist.Darum sollen wir alle Pein und alle Mühsalen, die uns zuteil werden,nicht fürchten, denn es nimmt ein Ende. Das dritte ist: dass wir unsverhalten sollen, als ob wir tot seien, so dass uns nichts mehr trübenkönne, weder Lieb’ noch Leid.Ein Meister sagt: „Den Himmel vermag nichts zu berühren.“ Das will sagen, dass derjenige Mensch ein himmlischer Mensch ist, demalle Dinge nicht so viel sind, dass sie ihn berühren mögen. Ein ande-rer Meister spricht: „Da doch alle Kreaturen so erbärmlich sind,woher kommt es denn, dass sie den Menschen so leicht von Gottabwenden? Die Seele ist doch in ihrem Erbärmlichsten besser als derHimmel und alle Kreaturen.“ Darauf antwortet ein Meister: „Daskommt daher, dass der Mensch Gott nicht so achtet, wie er sollte.Achtete er Gott so, wie er sollte, es wäre unmöglich, dass er immerwieder von ihm abfiele.“ Also ist es uns eine gute Lehre, dass derMensch sich in dieser Welt so verhalten solle, als ob er tot wäre.

Meister Eckhart

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VIII.

Und hat uns auch erweckt und gesetzt in den Himmel in Christus Jesus

Sünde ist Entfremdung, Verirrung, Entartung, Verfehlung.

Wir verlieren in ihr die geistige Ruhe, die geistige Einigkeit undInnigkeit. So kann vom Tod durch die Missetaten gesprochen werden.Es ist der Zustand der Erstarrung, in dem die Beziehung zum Lebenabgeschnitten ist, das Grab der Selbstvernichtung.

Nicht aus Engstirnigkeit oder Rückständigkeit sprechen wir von Sündeund Schuld, sondern aus der geistigen Erfahrung, dass dort, wo derBruch mit der Allharmonie geschieht und die Allwunde geschlagenwird, der Einzelne und die Gemeinschaft vergehen; es geschieht das-selbe, wie wenn ein Zweig von einem lebenden Baum abgebrochenwird. Und so schlägt uns der Tod mit seiner Geißel, um uns aus dem jetzigenZustand hinaus und in das Seelenreich hinein zu treiben. Der wahreMensch kann es nicht aushalten im Schattenreich der Verwesung, indem die Seele gestört, erniedrigt und vernichtet wird.

Auferstehung der Toten bedeutet deshalb Rückkehr zur Heilsordnungder Allharmonie, Aufgehen im Geist, wo das Himmelreich die Pfortenöffnet. Das Himmelreich ist nicht ein ferner Ort, ein abgelegenerPlatz, eine etwaige zukünftige Möglichkeit, sondern es steht so offen,wie die Kuppel des Sternenzeltes sich über den Nachtmahren der irdi-schen Nöte und dem höllischen Gewühl der Ruhelosigkeit wölbt.(…)

Für alle Zeiten und Geschlechter bedeutet deshalb der Himmelsbogenein offenes Tor, aus welchem die Treue und das beständige Wesenscheinen. Der Regenbogen ist ein Zeichen des Einen, eine Brücke derGötter, ein Pfad der Seligen. Vernehmt die Stimmen der Völker, um zuverstehen, dass es hier nicht um hübsche Geschichten oder Fabelngeht, sondern dass die Menschheit seit uralter Zeit bekundet und wasjeder Einzelne erleben kann: den Übergang, den Eingang zur Entho-benheit, der sich dort zeigt, wo Abtrünnigkeit sich in Zuwendungzum Geist wandelt. Was ist Geist? Wer kann es sagen? Wie soll manWorte finden, um dieses Funkeln, diese Glut und diesen Glanz derHerrlichkeit zu benennen? Geist ist da, wo Überwindung ist, wo ausdem Höllengang die Himmelfahrt gefeiert wird, wo alle Abkehrgeheilt ist.

Das Erscheinen Jesu Christi bedeutet, dass Leben und Unverweslich-keit ans Licht gebracht werden. In diesem Erscheinen – im Herzen derMenschheit, in der Fülle der Zeit gefeiert – ist die Ewigkeit als eineWesenheit durchgebrochen, die unauslöschlich strahlt. Da kommenSünde, Schuld, Tod und Schmerz zur Ruhe. Sie werden zu Peitschen-schwingern, die uns zwingen, hineinzugehen ins universelle Reich derKlarheit und Stärke, das nicht von dieser Welt ist und das dennochdas All durchzieht und alle aufnimmt, die sich von den Flügeln derErneuerung tragen lassen. (…)Bei der Himmelfahrt handelt es sich nicht um ein sagenhaftes Gedan-kengebilde, sondern um eine Wirklichkeit, die sich quer durch denTodesfluss hindurch beweist: Der Mensch wird in das zweite Reichaufgenommen, das des Geistes, das emporsteigt, wenn das erste Reich,das der Natur, zu Grunde geht, um Boden, Basis, Fußschemel für dashöchste Gut zu werden und zu sein.

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Eine „Wolke nahm den Auffahrenden hinweg und verbarg ihn vorihren Blicken“, so lautet der Bericht aus der Vergangenheit. Aberauch heute ist es Weltenweg und Weltengesetz, dass sich allen, die imTiefland der Zeit bleiben, auf dem weiten Feld der sicht- und greifba-ren Erscheinungen, die Augen verdunkeln und sie denen nicht folgenkönnen, die in das Reich des Geistes aufsteigen.

Das Land, wo „Hören und Sehen vergeht“ (Hegel), ist das unsicht-bare, ewige Sein, das nicht durch Zeitlichkeit verdunkelt wird, wennes auch alle Zeitlichkeit trägt. Und die dort eingehen, sind mehr alsÜberwinder. Zu ihren Füßen breitet sich der Serpentinenweg aus, derein Irrweg für diejenigen ist, die weiterhin durch den Stoff gehen.(…)

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Das erste, die Erstarrung, wird dort gefunden, wo der Mensch sichselbst und Gott und dem Nächsten reflektierend gegenübersteht unddabei das abgetrennte Gegenüber als das Fremde, das Unnahbare, dasganz Andere, das ihm nicht Zugeeignete erscheint. Man sieht sichselbst, auch Gott und den Nächsten, aber sie bleiben wie kalt außer-halb des Sehenden. Auch das eigene Selbst wird wohl gesehen, abernicht erlebt. Das ist der Tod. Hieran wird, wie die Zeitalter undGeschlechter bezeugen, deutlich, warum die Menschheit seit uraltenZeiten Sünde und Tod miteinander in Verbindung gebracht hat. Denndie Entfremdung der Sünde, das Verbleiben außerhalb seiner selbstund Gott und dem Nächsten, hat als Kehrseite die Erstarrung dessen,dem man gegenübersteht und auch des eigenen, schauenden oderreflektierenden Bewusstseins. Hier gilt das Wort: „Der Buchstabetötet“. Hier bedeutet der Tod Erstarrung, auch auf geistigem Gebiet.

Dieses Stillwerden ist ein Erfrieren.

Jedoch das andere, das wahre Stillwerden ist, wenn wir das Wort ver-wenden dürfen, ein Schmelzen. So wie der Frühling das durch Kälteversteinerte Erdreich auftaut, das, dem Himmelslicht entfremdet,gefroren war, so gibt es ein Auftreten von Himmelstau auf den Seelen-feldern, ein Niederströmen befreienden und befruchtenden Regens aufdas durstige Land, ein Einfließen von Sonnenwärme und -glanz in dievereiste Seele.(…)Dies ist das Stillwerden, wenn man sich selbst und den anderen findet.Die große Ruhe wird offenbar, die das Vorbeigehen und das Hinein-gehen erleben lässt.

„Sei still, es wird vorübergehn,“ sagt Bethge in Die Chinesische Flöte.(…)

IX.

Und der Tod wird nicht mehr sein, noch Trauer, noch Geschrei; und es wird keine Mühsal mehr sein; denn die ersten Dinge sind vergangen

Es gibt ein Verstummen der Traurigkeit.„Aux coeurs blessés l’ombre et le silence.“ (Balzac)Die irrige Annahme, dass solches Ruhigsein nur im zukünftigenReich, am jenseitigen Ufer des körperlichen Totenflusses auftretenkann, beweist, dass es nicht viele sind, die bereits gestorben und ein-gegangen, aufgegangen sind in das Reich der Stille.

„Denn wer stirbt, bevor er stirbt, der vergeht nicht, wenn er stirbt.“(Jakob Böhme)

Gewöhnlich wird angenommen, mit Sterben sei nur gemeint, dass derKörper abgelegt wird. Aber ein Sterben eröffnet sich erst recht da, wodie Seele sich hingibt, der Wille sich umkehrt und das Zentrum desLebens aus dem egozentrischen in den theozentrischen Mittelpunktverlegt wird.

Im Heute begegnen sich Vergangenheit und Zukunft. Somit findetdas, was „nach diesem geschieht“, im Heute sein Jetzt, wie auch inder Apokalypse geschaut und bezeugt wird, „was ist und werdensoll“.

Es gibt im Heute zweierlei Verstummen: ein Verstummen, das wirErstarrung, und ein weiteres, das wir Erhebung nennen könnten.

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Wie eine Landschaft ruhig daliegt, wenn ein Berg bestiegen und dieAussicht frei ist, so gehen alle Mühe, aller Verdruss, alle Not und allerTod vorbei und kommen zur Ruhe, wenn die Enthobenheit desGeistes uns ergreift. Es ist der Zustand der Seligkeit, der Erhebung ineine stille Klarheit.

„Was uns Zweifel und Angst erweckt, aller Kummer, alle Sorge, alleInteressen der Endlichkeit lassen wir zurück auf der Sandbank derZeitlichkeit, und wie wir auf der höchsten Spitze eines Gebirges, vonallem bestimmten Anblick des Irdischen entfernt, mit Ruhe alle Be-schränkungen der Landschaft und der Welt übersehen, so ist es mitdem geistigen Auge, dass der Mensch, enthoben der Härte dieserWirklichkeit, sie nur als einen Schein betrachtet, der in dieser reinenRegion nur im Strahl der geistigen Sonne seine Schattierungen, Unter-schiede und Lichter, zur ewigen Ruhe gemildert, abspiegelt. In dieserRegion des Geistes strömen die Fluten der Vergessenheit, aus welcherPsyche trinkt, worin sie allen Schmerz versenkt, und die Dunkelheitendieses Lebens werden hier zu einem Traumbild gemildert und zumbloßen Umriss für den Lichtglanz des Ewigen verklärt.“ (Hegel)

Dies ist nicht nur ein intellektueller Zustand des Nachsinnens, son-dern zugleich ein religiöser und ethischer Zustand der Gesinnung, eine Geistesgestimmtheit aus dem Umgang mit Gott. In höheremSinne begegnen wir hier der östlichen Lehre, dass die Welt Maja,Schein, Illusion ist, jedoch nicht eine Illusion menschlichen Wahns,sondern eine Erscheinung göttlicher Zuständigkeit für all das, was unserschreckt, beschwert und hinunterzieht.(…)„Denn die ersten Dinge sind vorbeigegangen.“Die ersten Dinge, das sind die fühlbaren, sichtbaren, aus denen wirstammen, an denen wir hängen als an dem Land unserer ersten,

irdischen, natürlichen Geburt. Der Mensch lebt – wie bereits gesagt –zwischen zwei Abgründen: dem Abgrund des sichtbaren Erdenreichesund dem Abgrund des unsichtbaren Himmelreiches. Die erste Weltder sichtbaren Art vergeht, der Boden unter unseren Füßen bekommtimmer mehr Risse und wir versinken in der Verlassenheit, wenn dasAllerliebste uns genommen wird. So ist das Leben in der ersten Welt,der des Sichtbaren, eine fortwährende Vereinsamung, damit wir in derzweiten Welt, der des Unsichtbaren, eingehen in die Gemeinsamkeit.So öffnet sich der Abgrund des Himmels, des Geistes, durch denUntergang des Abgrunds der Erde, der Natur. Das ist der Sinn desLebens und der Sinn des Todes. Aus der Nacht des Weltenendeserhebt sich der Sonnenaufgang des ewigen Tages. Durch den Toderringen wir die Frucht des Geistes.

Wie beschwerlich wandeln wir in der gegenwärtigen Welt, der gegen-wärtigen Zeit! Doch darüber leuchtet das ewige Heute.(…)Dieses beständige Sein ist unsere Ruhe und unser Friede, wenn derfreundliche Tod in Ehrerbietung als Diener des Ewigen zurücktritt,um uns den Vorhang zu öffnen.

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X.

Die Lehrer aber, die viele leiten gleich den Sternen, sollen leuchten wie der Glanz des Sternenhimmels, immer und ewiglich

Wer ist ein Weltlehrer?Einer, der durch den Tod gegangen ist. Die so Erleuchteten strahlenund weisen die Richtung, wie es die Sterne für den Seefahrer auf demweiten Ozean tun.Und der Tod, durch den sie gegangen sind, trägt das Banner. Ihnenschlägt keine Stunde mehr.

Auch wenn die Welt aufgerollt wird wie ein Tuch: Das Herz der ewi-gen Verborgenheit besteht fort als das Wesen aller Erscheinungen. DerGeist kehrt zu Gott zurück, wie auch der Stoff an seinen Ort zurück-kehrt. So haben wir Sicherheit, dass das höhere Wesen in den Schoßdes Lichtes aufgenommen wird und das niedere Wesen in den Schoßder Dunkelheit. Mit dem sterblichen stofflichen Körper werden wir inder Tiefe der Erde begraben, mit dem unsterblichen Selbst des Geistesindes in der Tiefe des Himmels.

Sterne sind Lichtquellen – und das gilt auch für die Erleuchteten imGeist, in Gott. Aus ihrer Tiefe quillt Himmelswasser herauf, Licht-wasser aus dem beständigen Wesen, dem Vater der Lichter, demSpringbrunnen alles Guten.

Das ist das Große der Getrösteten im Geiste, dass ihr Reichtum voninnen heraus aufwallt, wie es das Christuswort sagt: „Ströme leben-den Wassers werden aus eurem Innersten fließen.“ Wessen Auge ein-

fältig ist wie das ewige, mannigfaltige Wesen, das wir Gott nennen,dessen Körper wird ganz und gar mit Geisteslicht durchstrahlt.

Wenn solche Worte für das irdische Ohr, den sinnenhaften Menschen,wunderlich klingen, ist dies der Beweis dafür, dass er noch nicht dortist, wo die ewigen Springbrunnen singen. „Nacht ist es, nun redenlauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein sprin-gender Brunnen.“ (Nietzsche)

Das Bewegtwerden durch die ewige Bewegtheit drängt den Licht-träger dazu, in die Zeit hineinzuscheinen, in Welt und Menschheit.

Das Feststehen im Herzen der Ewigkeit, der feste Geist des Strahlensist das unverderbliche Gute, das denen zuteil wird, die durch den Todgegangen sind, den Tod, der das irdische Licht ausgelöscht hat, damitdas Himmelslicht leuchten kann. Die Sonnenfinsternis zieht vorbei,wenn der verdunkelnde Körper hinweggenommen wird.

Dies gilt jedoch nur für die, die aus Gott sind. Es ist nichts Selbstver-ständliches; es muss sowohl als Geschenk empfangen als auch erobertwerden von denen, die aus dem neuen und erneuernden Geist geborensind.

Fest stehen wie das Herz eines Sterns und bewegt sein wie seineStrahlung, aus der Ruhe heraus Bewegung und Erleuchtung gebären,das ist das Geheimnis der von Gott Gekannten.

Sie leuchten nicht nur, sondern lenken auch. Sie locken diejenigen an,die auf dem Lebenspfad gehen und weisen ihnen den Weg durch dieWildnis des Lebens zum Gelobten Land, der neuen Welt des Umgangsmit Gott.

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Der irdische Adam verließ Gott in Eigensinn. Er gewann die Welt,aber sie bringt ihm Disteln und Dornen. Der große Hüter Tod treibtihn von dort hinaus, wo sein Weg mit Dornen besät ist, damit er ein-kehrt in die Wüste, in der Gott zu seinem Herzen spricht. Das locken-de Rufen der Enthobenen gleicht dem strahlenden Sternenreich überder Wüste des schweren Lebensgangs. Der Mensch soll durch denTod zum Licht der Berge Gottes gelangen, die den dunklen Pfad deszeitlichen Irrens überragen.

„Ich will nicht in die Ferne ziehn, ich will in die Berge gehn,“ soschallt es in Mahlers Lied von der Erde zur chinesischen Flöte. Dasdeutet auf das Mysterium hin, dass wir nicht durch ein Weglaufen zueinem unbestimmten Horizont der Zeitlichkeit in das Gottesgeheimniseinkehren können, sondern dass wir nur auf der Höhe, auf der Ein-samkeit herrscht (Schopenhauer), in das Heute, die Ewigkeit gelangen.(…)„Ewig“ ist der Augenblick der Verinnerlichung, „immer“ ist dieRichtschnur der Äußerlichkeit. Das Ewige ist jetzt; das Immer kommtund geht.

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Darum braucht der Berufene nicht zu gehenund weiß doch alles.Er braucht nicht zu sehenund ist doch klar.Er braucht nichts zu machenund vollendet doch.

Laotse, Tao te king, aus Vers 47 (übersetzt von Richard Wilhelm)

Die Linien des Lebens sind verschieden,Wie Wege sind und wie der Berge Grenzen.Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzenMit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.

Friedrich Hölderlin

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Die „gegenwärtige“ und die „zukünftige“ Welt, wie man sie nach derhorizontalen Linie der Zeit nennen kann, sind nach der vertikalenLinie der Ewigkeit die sichtbare und die unsichtbare, die natürlicheund die geistige Welt, die Welt der Schöpfung, die vom Reich desTodes umringt wird, und die Welt des Umgangs mit Gott, in welcherdie Quellen des Lebens entspringen.

Allein was erlebt wird, wird verstanden. So kann auch nur der, der indie geistige Welt gelangt ist, verstehen, was hier ausgeführt wird. Wiekommt aber der Mensch dorthin, wo Gott spricht?Durch Weltuntergang und Untergang des eigenen Selbst! Es gibt kei-nen anderen Weg, um in das zweite Reich, das der Unverweslichkeit,eingehen zu können und aus Verderben und endlichem Gewühl ent-hoben zu sein.

Der Tod ist in die Wirbel der Welt als Übergang gesetzt, als Durch-gang zum nicht anders erreichbaren Land der Überwinder. Hierinliegt sein Sinn. „Und wandeln sie auch im Tränental, sie machen es zueinem Ort der Quellen,“ sagt der Psalmist über das kalte Gesicht derNacht und die Hitze des Tages.

Wie viel wurde doch durch die Jahrhunderte hin und von Geschlechtzu Geschlecht über Wesen und Sinn des Sterbens gegrübelt! Der einesieht darin eine Naturerscheinung, der andere erachtet das Sterben alsStrafe, ein Dritter wieder als Notwendigkeit, um in den Himmel ein-gehen zu können.

Wir fragen hier nicht nach dem Warum und Wie, sondern nach demWozu und Was. Und dann zeigt sich (wie immer man auch denkenmöge in Bezug die Frage, warum „alles fließt“), dass alles, was imErdenreich geschieht, sein Endziel hat im Aufgang zum Himmelreich

XI.

An alle, die da sind

Dieses Motto las ich einmal vor Jahren.Zuerst stand ich ihm befremdet, nicht begreifend und kritisch gegen-über. Es gefiel mir nicht, stieß mich sogar ab.Auch klang es gekünstelt.Aber nach und nach ging mir die Bedeutung der Worte auf.Ich verstand die Doppeldeutigkeit von „Dasein und Da-Sein“.

Das Dasein ist unser Bestehen, das Da-Sein unser Aufgang zu einerhöheren Ordnung, unsere Einkehr in die neue Welt, die höhereWirklichkeit des unsichtbaren Seins.

Diejenigen, die in der sichtbaren und ertastbaren, der stofflichen undverkehrten Welt des endlichen und verdorbenen Seins verbleiben,können ein derartiges Sprechen nur als anmaßend erachten. Sie sindnicht unter-, auf- und eingegangen in die unsichtbare, wesentlicheWelt, das Reich des Geistes, von dem das Kapitel über den Glaubenaus dem Hebräerbrief zeugt. Sie kennen nicht das Vaterland desGeistes, sondern nur das Mutterland der Natur, in dem der Tod Erntehält und in dem das flammende Schwert an der Pforte zum verlorenenParadies der Gottesgemeinschaft wacht.

Sie erachten die gegenwärtige Welt – von welcher Paulus zeugt alseiner Welt des vergänglichen Wesens, in der Essen, Trinken undSchlafen Ruhe bedeuten – in einem zeitlichen Sinn als Welt von heute,die der zukünftigen gegenübersteht. Aber ein tieferer Sinn lehrt uns,dass zeitliche Unterscheidung und Bestimmung hier nicht genügen.

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des Urlichtes, des Ursprungs. Hier ist das Sein, das wirkt und spricht– und das sich offenbart, wenn die schwersten Zeiten anbrechen. Eswird zur Zeit des Findens.

Aus dunklem Grund und durch das Absterben von Knospe und Blüteentsteht die Frucht. Wer dabei verharrt, in den dunklen Grund zustarren, wer darüber trauert, dass die Blüte verdorrt ist, der verstehtnicht, dass all das nur Vorbedingung ist, um ungekannten Reichtuman den Tag zu bringen.

Wir sind geboren, um an das Licht zu kommen. Und wir sterben, umin das einzugehen, was wir auf keine andere Weise in seinem ewigenGlanz erkennen können.

Der Fluss des Todes ist das Grenzgebiet zum stillen Friedensreich,zum Umgang mit Gott.

So lasst uns denn weder klagen noch murren, sondern den Seelenweggehen, durch die Wildnis zum Gelobten Land, über Meere hinweg zurneuen Welt.

Wer nicht an Bord gehen will, bleibe am Ufer, am öden Strand. „O wüsst’ ich doch den Weg zurück, / den lieben Weg zum Kinder-land. / O warum sucht’ ich nach dem Glück / und ließ der MutterHand? / Ringsum ist öder Strand“ (Klaus Groth, Brahms), so lautetdie zu Herzen gehende Klage, das Heimwehlied eines Menschen aufseinem Leidensweg, der den Ruf abgewiesen hat.Wer jedoch versteht, dass „Vorwärts!“ und „Hinauf!“ die rechtenWorte sind, um sich vom Mutterland der Natur zu verabschieden undin das Vaterland des Geistes einzugehen, der findet sein ewiges „Kin-derland“, wo das vertrauende Auge das leuchtende Angesicht dergöttlichen Opferbereitschaft in Liebe schauen darf.

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Der ganze Weltengang ist ein Kreuz, damit der Thron sich erhebt. Vordem Thron der göttlichen Erhabenheit und dem Kreuz der göttlichenDienstbarkeit steigt das Weltenlied der Erde auf, das Preislied derMenschheit, der Engelsgesang der Himmelsharmonie: „Ihm, der aufdem Thron sitzt, und dem Lamm, das gekreuzigt ist, sei Dank undEhre und Lob und Herrlichkeit und Kraft in aller Ewigkeit!“(Apokalypse)

So wird das Wort der ewig offenbaren Geheimnisse erfüllt:„Ihr tut gut daran, dass ihr auf den festen, unwandelbaren Geist achtetwie auf ein Licht, das an einem dunklen Ort scheint, bis dass der Taganbreche und der Morgenstern in euren Herzen aufgehe.“

Prof. Dr. A. H. de Hartog (1869-1938), De zin van den dood, Amsterdam 1930

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Das Wort „sein“ bedeutet im Deutschen beides: „Dasein“ und „ihm gehören“.

Franz Kafka, Aphorismen (Nr. 46)

Es gibt himmlische Körper und irdische Körper; aber eineandere Herrlichkeit haben die himmlischen und eine anderedie irdischen.

Paulus, 1. Kor. 15, 40

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„Gott ist tot“Friedrich Nietzsche

Der tolle Mensch. – Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen ge-hört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Marktlief und unaufhörlich schrie: „Ich suche Gott! Ich suche Gott!“ – Dadort gerade viele von denen zusammen standen, welche nicht an Gottglaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verlorenge-gangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte derandere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zuSchiff gegangen? ausgewandert? – so schrieen und lachten sie durch-einander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrtesie mit seinen Blicken. „Wohin ist Gott?“ rief er, „ich will es euchsagen! Wir haben ihn getötet, – ihr und ich! Wir alle sind seineMörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir dasMeer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzenHorizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrerSonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wiruns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Undrückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch einOben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendlichesNichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kältergeworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hörenwir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begra-ben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? – auchGötter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihngetötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligsteund Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unserenMessern verblutet, – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem

Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligenSpiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zugroß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nurihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat, – und wernur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in einehöhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!“ – Hier schwiegder tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwie-gen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne aufden Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. „Ich komme zufrüh“, sagte er dann, „ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheureEreignis ist noch unterwegs und wandert, – es ist noch nicht bis zuden Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchenZeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auchnachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese Tatist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne, – und dochhaben sie dieselbe getan!“ – Man erzählt noch, dass der tolle Menschdes selbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darinsein Requiem aeternam deo angestimmt habe.Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies entgeg-net: „Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfteund Grabmäler Gottes sind?“ –

Friedrich Nietzsche (1844-1900), Aus: Die fröhliche Wissenschaft, Nietzsche, Werke in sechs Bänden,3. Band, München, Wien 1980, S. 126 ff.

62 63Friedrich Nietzsche

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D(…) Diese neuen triebhaft gewordenen Impulse des grenzenlosenArbeitens und Erwerbens sind es vor allem, die eine neue innereGesamtstellung zum Tode begründen; und hieraus erst als einebeiläufige Folge auch die Idee, die sich die Wissenschaft diesesTypus vom Tode macht. Dieser neue Menschentyp fürchtet nichtmehr den Tod, wie der antike Mensch; sondern so, wie seingrenzenloser Arbeits- und Erwerbstrieb ihn hinausdrängt überalle Kontemplation und allen Genuss Gottes und der Welt, sonarkotisiert er ihn auch gegen den Todesgedanken in einer ganzbesonderen Weise. Der Sturz in den Strudel der Geschäfte umder Geschäftigkeit selbst willen, das ist, wie schon Blaise Pascalsagt, die neue fragwürdige Medizin, die dem modernen Menschen-typus die klare und leuchtende Idee des Todes verdrängt und dieIllusion eines endlosen Fortganges des Lebens zur unmittelbarenGrundhaltung seiner Existenz werden lässt. (...) Der Tod ist demneuen Typus weder der fackelsenkende Jüngling, noch Parze,noch Gerippe. Er allein fand kein Symbol für ihn: denn er ist fürdas Erleben nicht da. (…)

So sehr dieser moderne Mensch „rechnet“ mit dem Tode und sichtausendfach gegen ihn „versichert“, so ist der Tod doch nicht eigent-lich anschaulich für ihn da: Er lebt nicht „angesichts“ des Todes.

Kein Wunder, dass der Eintritt des Todes nicht mehr als notwendigeErfüllung eines Lebenssinnes erscheint, sondern alle Augen derBeteiligten weit aufgerissen macht – so wie wenn man mit dem Kopfan die Wand stößt. Der verdrängte Tod, der unsichtbar gewordene„Anwesende“, bis zur „Nichtexistenz“ zerfürchtet – jetzt erst wird erdie sinnlose Gewalt und Brutalität, als die er dem neuen Menschentyperscheint, wenn er mit ihm konfrontiert wird. Er überkommt nur alsKatastrophe. Es wird nicht mehr ehrlich und bewusst gestorben. Undniemand fühlt mehr und weiß, dass er zu sterben habe: seinen Tod.

Max Scheler(Quelle siehe S. 153)

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Tod und Goldener TodEine rosenkreuzerische Sicht

Was ereignet sich beim Sterben?

Wenn der Tod naht, werden die Glieder des Sterbenden schwer, kaltund starr. Atmung, Kreislauf und Sinnestätigkeit reduzieren sich. DasHerz fühlt sich wie eingeschnürt. In der Endphase des Sterbens ver-schwindet die Empfindung des Menschen, mit seinem Körper eins zusein. Er empfindet dieses Einssein nur noch mit dem Herzen.

Der Mensch fühlt sich nun äußerst hilflos. Er wird wie durch einenlangen finsteren Tunnel gezogen, weg von allem Vertrauten. Er möch-te sich mitteilen, aber die Sprache versagt sich ihm. Schreckliche Ein-samkeit beschleicht ihn.Seine von Wünschen erfüllte Natur ist im Kern angegriffen.Jetzt zeigt sich, ob er die Kunst des Loslassens und des sich Gott An-vertrauens zu Lebzeiten erlernt hat. Ist die Frucht genügend gereift,um sich leicht vom Baum zu trennen?

In dieser und den folgenden Phasen ist spiritueller Beistand äußersthilfreich. Diesen haben die Weisheitslehrer und Mysterienschulen allerZeiten ihren Schülern in der Weise gewährt, dass sie dem bereitsentwickelten Seelenpotenzial des Schülers mit Kraft und klarerOrientierung beistanden.

Während sich die Seele vom Körper trennt – man könnte auch sagen:wenn sich der Zusammenhang zwischen Ätherkörper und Stoffkörperimmer mehr lockert, ereignet sich das, was als Lebensrückschaubekannt ist.

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Diese Rückschau beginnt jedoch nicht bei der Geburt, sondern beiden Ereignissen, die dem Tod kurz vorangingen und verläuft rück-wärts bis zu den Kindheitsjahren. Der Ereignisstrom kehrt sich um.Außerdem erscheinen die Ereignisse dem Dahingeschiedenen wieaußerhalb seiner selbst. Sie werden in einem neuen Licht gesehen.Denn etwas wesenhaft Lebendiges, etwas Lichthaftes berührt seinBewusstsein.Dieses Etwas ist nichts anderes als sein wahres göttliches Selbst. Erkann es nur nicht als sein eigenes Wesen erkennen. Dieses wahreSelbst ist frei von jeglicher Ichzentralität.Durch die Berührung erhält der Verstorbene die Möglichkeit, seinvergangenes Leben zu überschauen.

Und so sieht dieser Mensch sein Leben in diesem Licht zum erstenMal frei von seiner durch Ichzentralität verzerrten Optik. Er sieht dieMenschen, mit denen er in engere Beziehung kam, zum ersten Mal so,wie sie wirklich sind.Er erkennt, welche Folgen sein Handeln für andere hatte, und er siehtauch die Folgen seines Nicht-Handelns, seiner Unterlassungen undVersäumnisse. Er sieht, dass das, was ihm widerfahren war, von ihmselbst hervorgerufen und damit selbstverdient war. Er versteht jetztsein Schicksal.

Es überkommt ihn eine große Reue. Er entdeckt, wie er in einer ihmeigenen Scheinwelt gelebt hat, aufgebaut vielleicht aus Selbstsucht undunbewusster Selbsttäuschung.Das Licht seines wahren Selbst veranlasst ihn nun auch, sich Rechen-schaft darüber zu geben, was er mit der ihm anvertrauten Gabe desLebens angefangen hat.

In der dann einsetzenden Phase des Abebbens des Bewusstseinserscheinen ihm die Geschehnisse und Personen seines vergangenenErdenlebens eigenartig entfernt und unwirklich. Sie erscheinen ihmwie ein Traum.

Daraufhin fällt der Mensch in Bewusstlosigkeit. Denn sein Bewusst-sein war während des Lebens allein auf die grobstofflichen Dingegerichtet und mit entsprechenden Inhalten erfüllt gewesen. Wenn jetztdie Beziehung zur Stoffwelt unterbrochen wird, ist das Bewusstseinplötzlich wie leer und scheint tot zu sein.

Die Trennung von Seele und Körper ist nun endgültig vollzogen. Derstoffliche Körper hat seine Aufgabe erfüllt. Er hat über seine Sinne derSeele die Gelegenheit verschafft, an der Welt von Raum und ZeitAnteil zu nehmen und Erfahrungen darin zu sammeln.Der Körper bleibt nun auf der Erde zurück und löst sich in die Ele-mente auf, aus denen er einst aufgebaut worden war.

Das Bewusstsein aber tritt, nachdem es aus seiner Ohnmacht wiedererwacht ist, in einen anderen Zustand ein. Seine Inhalte sind jetztnicht mehr die Sinneswahrnehmungen, sondern die Empfindungenund Gedanken. Diese erscheinen ihm nun als äußere Realität, so wiedem Lebenden die Sinnendinge als Realität erscheinen.Diese neue Realität des Bewusstseins ist das sogenannte Jenseits.

Das Bewusstsein hat sich insofern verändert, als es jetzt nur noch fein-stoffliche Inhalte wahrnehmen kann. Und diese Inhalte sind sowohldie eigenen Erzeugnisse dieses Menschen: Wünsche, Gedanken undPhantasien, als auch die Erzeugnisse anderer Menschen: deren Wün-sche, Gedanken und Phantasien, die sich Jahrhunderte lang angehäufthaben können.

Eine rosenkreuzerische Sicht

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Die Gesamtheit dieser feinstofflichen Gegebenheiten ist das Jenseits.Es ist also kein Ort jenseits dieser Erde, sondern ein Schwingungs-zustand des Toten und der ihn umgebenden Gebiete. Dieser Schwin-gungszustand durchdringt und umgibt die grobstoffliche Erde.

Die Erlebnisse des Toten sind also einem langgezogenen Traum ver-gleichbar, der allerdings nicht die Zusammenhanglosigkeit und Un-ordnung des gewöhnlichen Traums aufweist, sondern geordnet undplausibel verläuft.Das Bewusstsein sieht seine eigenen Visionen und die Empfindungenund Gedanken anderer, als ob sie äußerlich wären.

Der Zustand nach dem Tode wird dadurch bestimmt, was derMensch während seines irdischen Lebens glaubte, dachte, wünschteoder auch fürchtete.Die asiatischen Philosophen haben lapidar gesagt, dass, wenn Küheeinen Himmel hätten, er voll mit grünem Gras wäre, und wennHunde in den Himmel fahren könnten, er voller weißer Knochenwäre.So ist nach dem Tod dasselbe persönliche Bewusstsein, es sind diesel-ben Gedanken, Empfindungen und Wünsche vorhanden wie vorher.Nur die Sinneswahrnehmungen in der grobstofflichen Welt sind weg-gefallen. Die Erinnerung an das Vergangene lebt auf.Was das Erdenleben ausfüllte – Arbeit, Familie, Freunde, Freizeit –erfüllt die Vorstellung jetzt auch. Ein Staunen erregender Wechsel istausgeblieben.

Der Verstorbene kann kaum glauben, dass er wirklich tot ist. Sojedenfalls wird es für die meisten der Menschen sein, die weder be-sonders gut noch besonders böse waren.Für die anderen aber, die besonders tugendhaft oder besonders

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schlecht waren, gibt es abgestufte Erfahrungszustände, in die sie auf-grund der natürlichen Anziehung und der mentalen Verwandtschaftin den feinstofflichen Gebieten geraten: böse, finstere, unglücklicheund gute, lichte, angenehme.

Der niedrigste Zustand ist eine Sphäre des Hasses und der Verrucht-heit – die sogenannte Hölle –, und der höchste Zustand ist einer derGüte, Freude und Wonne – der sogenannte Himmel.

Jeder Eigenschaft, die der irdische Mensch annimmt, ist eine bestimm-te Vibration eigen – den üblen, das heißt selbstsüchtigen und laster-haften Eigenschaften, eine langsame, dunkle Vibration und den guten,das heißt den selbstlos dem Ganzen dienenden Eigenschaften, einehohe, lichte Vibration. Es sind die beiden Seiten der dialektischenWelt.Diese Schwingungen bilden den Schlüssel für den Zustand nach demTod.

Mit dem Durchgang durch die dunkleren Gebiete des Jenseits ist eine„Läuterung“ des Toten verbunden. Sie besteht darin, dass die heftig-sten Leidenschaften und Triebe als feinstoffliche Gegebenheiten janoch da sind, aber, da ihnen die grobstofflichen Objekte fehlen, nichtmehr befriedigt werden können.Dieser ungestillte Hunger kann große Qualen verursachen. Aber ausMangel an Befriedigungsmöglichkeit werden diese Wünsche allmäh-lich „ausgehungert“.Die Hölle ist einfach der nie zu stillende Hunger der unbefriedigtenLeidenschaften des Menschen.

Mit dem Durchgang durch die helleren Gebiete sind Freuden ver-bunden.

Eine rosenkreuzerische Sicht

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Denn die höheren Hoffnungen des Menschen, die sich während seinerErdentage auf ethische oder kulturelle Ziele oder zum Beispiel auchauf eine wirklich geglückte Partnerschaft richteten und denen die Ver-wirklichung versagt blieb, können jetzt schnell und leicht Erfüllungfinden.Der Grund liegt darin, dass die Hemmnisse der physischen Welt nun-mehr entfallen sind und die Schöpfungskraft des Denkens weitgehendungehindert wirken kann. Sie richtet sich auf die schon bisher geheg-ten Ideale – feinstoffliche Gegebenheiten – und verbindet sich mitihnen.

Diese Nachtod-Zustände – der wonnevolle der besonders gutenMenschen, der grauenvolle der besonders schlechten Menschen undder mehr profane der Durchschnittsmenschen – haben aber einesgemeinsam: Sie sind vergänglich. Es gibt keinen ewigen Himmel undauch keine ewige Hölle im Jenseits.Das liegt daran, dass alle diese Zustände von der Schöpfungskraft derlebenden Menschen aufgebaut worden sind und weiter aufgebautwerden. Und was vom vergänglichen Menschen an Gedanken,Visionen und Wünschen aufgebaut wird, ist ebenfalls vergänglich.Es kommt hinzu, dass sich die Schöpfungskraft des Toten, die dieeigenen mentalen Bilder und die Empfindungen dieses Menschenermöglicht hatte, nun langsam zurückzieht. Sie zieht sich aus demDenk- und Empfindungsvermögen genauso zurück, wie sie sich zuvoraus dem stofflichen Körper zurückgezogen hatte.Die mentalen Bilder beginnen, schemenhaft zu werden und die damitverbundenen Empfindungen kühlen gleichsam ab.

Das Geschehen wird dem Bewusstsein entrückt.Das ist der Vorgang, der von einigen Autoren als der „zweite Tod"bezeichnet wird. Der erste Tod ist die Trennung der Seele, des

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Mikrokosmos, vom grobstofflichen Körper. Der zweite Tod ist dieTrennung der Seele von den feinstofflichen Körpern, die sich dannebenfalls auflösen.

Der Verstorbene bemerkt nun, dass die Stunde des endgültigenAbschieds gekommen ist.Derjenige, der in seiner Nachtod-Erfahrung seine Lieben wiederge-troffen hat, wird nun feststellen müssen, dass sie ihm wie in einemverwehenden Traum entgleiten.Der Naturliebhaber, der in seiner Nachtod-Erfahrung beglückendeNaturerlebnisse hatte, wird bemerken, dass die Intensität der Bildernachlässt und die damit einhergehenden Empfindungen abklingen.Wenn sich die Lebenskraft aus dem Empfindungs- und Denkver-mögen so weit zurückgezogen hat, dass diese dem Bewusstsein nichtmehr als Träger dienen können, verebbt das Bewusstsein wie dieWellen des Meeres am Strand.

Der Verstorbene fällt in einen Zustand, der dem tiefen, traumlosenSchlaf vergleichbar ist.Der Dichter spricht die Wahrheit aus, wenn er sagt:„Der Schlaf ist der kleine Bruder des Todes.“ Denn ebenso, wie wir,wenn wir uns abends zur Ruhe begeben, in unseren Träumen den ausden tieferen Schichten unseres Wesens aufsteigenden Bildern begegnenals einer Welt, die wir als äußerlich und wirklich erleben, und ebenso,wie die Traumphasen durch Phasen tiefen traumlosen Schlafs unter-brochen sind, so ist es auch in der Nachtod-Erfahrung, nur dass dietraumähnlichen Zustände länger und klarer sind und der tiefschlaf-ähnliche Zustand, der das Bewusstsein zuletzt befällt, länger währt.

Jetzt stellt sich die Frage: Was war nun mit dem vergangenen Erden-leben und mit seinen Erfahrungen, die in der Nachtodphase in gewis-

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WWohin können wir denn sterben, wenn nicht in immerhöheres, größeres, schwerer sterblicheres Leben hinein!

Das Sein, das ist das Unvergängliche in uns, das Werdendas, als was wir dahingehen. Wie können Sein und WerdenGegensätze sein, wenn sie doch an uns in jeder Sekundeeins sind, wenn das Ewig-Seiende im Ewig-Werdendenunaufhörlich „ist“!

Christian Morgenstern Aphorismen

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ser Weise nochmals aufgearbeitet worden sind? War das alles um-sonst, vergeblich, das grausame Spiel eines launischen Gottes?

Nein, die Essenz der Erfahrungen dieses Lebens wird zusammen mitder Essenz der Erfahrungen aller vorangegangen Leben im mikrokos-mischen System aufbewahrt. Ebenso bleibt das wahre Selbst desMenschen im Geistfunken konzentriert erhalten. Verloren geht ledig-lich die Ausdrucksform, die das wahre Selbst in der irdischen Persön-lichkeit aufgrund von deren Karma und Blutserbe angenommen hatte.Das Persönliche vergeht mit dem Vergehen des Körpers und der Ver-mögen, die das Persönliche ausmachten.Das wahre Selbst und der Mikrokosmos mit der Erfahrungsernte desvergangenen Lebens bleiben jedoch erhalten.

Der Erfahrungsschatz ist aber keine tote Ansammlung lebloser Dinge,sondern ein energiegeladenes Potenzial, das zu gegebener Zeit nacheiner neuen Äußerungsmöglichkeit, das heißt Lebensmöglichkeit ver-langt.

Ebenso drängt das wahre Selbst weiter danach, sich auszudrücken,Und da es sich nicht – noch nicht – in einer transfigurierten himmli-schen Persönlichkeit ausdrücken kann, ist es gezwungen, eine irdischePersönlichkeit als Ausdrucksmittel zu wählen.Der Zeitpunkt zur neuen Inkarnation ist dann gekommen, wenn dieErfahrungsmöglichkeiten auf Erden so beschaffen sind, dass derMikrokosmos mit dem in ihm aufbewahrten und reaktivierten Erfah-rungspotenzial darauf aufbauen kann. Dann ertönt der Ruf nacheiner neuen Menschwerdung.

Nach einem – man könnte sagen „magnetischen“ – Prinzip wird diepassende Umgebung und ein geeignetes Elternpaar ausgesucht. Das

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wahre geistige Selbst des Menschen, im Geistfunken konzentriert, unddas angesammelte Erfahrungspotenzial verbinden sich dann miteinem werdenden neuen Erdenmenschen.

Und so hat sich der Kreis geschlossen. Einer Geburt folgte der Tod,dem Tod folgte die Verarbeitung des eben beendeten Erdenlebens, undnach der tiefschlafartigen Regenerationsphase kommt es wieder zueiner Geburt. Das Rad von Geburt und Tod beginnt eine neueUmdrehung.

Warum muss immer wieder eine neue Geburt erfolgen?

Weil die Seele im Verlauf ihrer Entwicklung – man möchte eher sagenVerwicklung, Verwicklung in den Stoff – zahllose Erdbindungen ein-gegangen ist, die in ihr das Verlangen nach einem weiteren Erden-leben – den Lebensdurst, wie Buddha es ausdrückt – aufrechterhaltenund sie so immer wieder zur Erde zurückziehen.

Warum ging die Seele diese Erdbindungen ein?

Weil sie in der Erdennatur das suchte und immer noch sucht, was siein der Übernatur verloren hat.

Als die Seele in der Urvergangenheit dem göttlichen Geist entströmte,war sie ein mit großen Möglichkeiten ausgestattetes, lebendiges,bewusstes und mit Freiheit begabtes Wesen.Sie hatte diese Eigenschaften, weil der Geist, dem sie entstammt, derInbegriff all dieser Eigenschaften ist. Ihr fiel und fällt die Aufgabe zu,das, was keimhaft im Geist angelegt ist, vermöge dieser Kräfte zurEntfaltung und in eine Formgebung zu bringen.

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Dieses Programm der wahren Menschwerdung – denn darum alleingeht es – wird aus dem Geistkern fortwährend in sie eingestrahlt.Man kann sagen, dass in der Erfüllung dieses Auftrags das höchsteGlück der Seele, ihre Glück-Seligkeit liegt.Wenn sie sich jedoch von diesem Auftrag, vermöge des ihr verliehenenfreien Willens, abwendet und ihre eigenen Schöpfungen und ihr eige-nes Glück sucht, sagt sie sich gleichzeitig von ihrem Lebensquell los.Dann muss sie die Früchte ihres Tuns ernten und immer wiederernten:Früchte, die ihr nicht zur lebendigen Nahrung werden, Früchte, dieihr nicht die Erfüllung bringen, nach der sie verlangt.

Ist ihre Lage hoffnungslos? Wird sie ewig im Kreislauf von Geburtund Tod gefangen sein, im Kreislauf ihrer selbstgeschaffenen Bindun-gen und Zwänge?Nein, das ist Gott sei Dank nicht so, denn nach wie vor wirkt in ihrdas ursprüngliche Programm.

Die Aufgabe, die der Seele nun zufällt, ist, einzusehen und zu erfah-ren, dass das, was sie immer suchte, dort nicht zu finden ist, wo sie essuchte: auf der Erde, wie wir sie kennen.

Ihr Glück ist der Quell, dem sie entspringt, und ihre Seligkeit ist dasAufgehen in der Aufgabe, für die sie geschaffen worden ist.Wenn sie das erkennt, wird sie eine große Reue über ihren Fehler –die Verfehlung ihres Ziels – zeigen. Dann wird sie sich nach ihremUrsprung umwenden und den Faden ihrer Bestimmung neu auf-nehmen.So, wie sie sich einst von den Impulsen des Geistes lossagte, um ihreeigenen Wege zu gehen, wird sie sich jetzt von den Impulsen ihresNaturwesens lossagen. Sie folgt den Suggestionen, die sie weiter an

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die Erde fesseln wollen, einfach nicht mehr. Sie erfüllt ihre Aufgabe,indem sie den Weg der Befreiung geht.

Und es ist merkwürdig: Dieser Weg der Befreiung ähnelt in allen sei-nen Phasen dem Vorgang des Todes, den nachtodlichen Erfahrungen,wie wir sie oben geschildert haben. Was aber im Tod und nach demTod automatisch und ohne bewusste Mitarbeit der Seele geschieht,das geschieht auf dem befreienden Weg bei vollem Bewusstsein desMenschen und in voller Verantwortung.

Auch auf dem befreienden Weg zieht der Schüler seine Energien ausder Vielheit der stofflichen Erscheinungen zurück und konzentriert sieim Herzen – aber er tut es freiwillig.

Auch auf dem Weg lässt der Schüler zunächst die Bindungen an dengroben Stoff und dann an seine ichzentralen, feinstofflichen Wünsche,Gedanken und Illusionen los, und diese lösen sich dadurch auf. Aberer tut es freiwillig.

Auch auf dem Weg kann er das nur in der Kraft des Lichtes tun, dasihm die Maßstäbe zur Beurteilung seiner Taten gibt.Aber er übergibt sich freiwillig dem Licht und zieht bewusst Konse-quenzen aus den ihm vom Licht geschenkten Einsichten. Er wird, aufder Grundlage des Lichtes, eine neue, transfigurierte Persönlichkeitaufbauen.

Wenn die Seele diesen Prozess lange genug durchhält, so lange, bisauch der letzte starke Brennpunkt der Erdanhaftung gelöscht ist, undwenn sie gleichzeitig an dem in ihr werdenden neuen, gottgewolltenWesen festhält, dann ereignet sich das, was in der Mysterienspracheder „Goldene Tod“ genannt wird.

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Im gewöhnlichen Tod wird der Seele das von ihr Ergriffene immerwieder entwunden und sie versinkt in Hilflosigkeit. Doch im Prozessdes „Goldenen Todes“ gibt sie das von ihr Ergriffene freiwillig preis.Indem sie so das bindende Erbe der Vergangenheit ablegt, erwachtparallel dazu das wahre Selbst, das Ebenbild Gottes im Geistfunken.Dorthin verlagert sie jetzt ihren Schwerpunkt. Darin ist kein Todmehr, sondern nur immerwährende Verwandlung in ungebrochenemLeben.

Ist es nicht eigentlich höchst unintelligent, dass der Mensch im Todimmer wieder automatisch das Alte abreißen lässt, bis wieder eineneue Verkörperung erfolgt, die der gleichen Automatik unterliegt?Wäre es nicht ein Gebot der Vernunft, diesen Abbau in der Kraft desLichtes bewusst und freiwillig zu vollziehen und gleichzeitig etwasNeues aufzubauen, das nicht mehr sterben kann? Eine neue, transfi-gurierte Persönlichkeit, die dem wahren Selbst bewusst Ausdruck ver-leiht? Durch eine solche Persönlichkeit könnte sich das wahre Selbstwieder frei entfalten.

Doch nicht aus eigener Kraft kann die Seele, die sterblich wurde, alssie sich mit dem Vergänglichen verband und so dessen Schicksal teilte,den Kreislauf von Geburt und Tod durchbrechen und in das Reichder Unvergänglichkeit eintreten.Es muss ihr dieselbe Kraft, die ihrem eigenen Geistkern entströmt, diedas Programm wahrer Menschwerdung austrägt und immer in derAtmosphäre anwesend ist, zu Hilfe kommen.

Diese atmosphärische Kraft – es ist die Christuskraft – kann, wie dasLicht durch ein Brennglas, verstärkt wirken, wenn sie konzentriertwird.

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Ein solcher Konzentrationspunkt ist eine Geistesschule. In ihr versam-meln sich Menschen, in denen sich diese fundamentale Kraft – teilsmehr, teils weniger – schon freigemacht hat.Das Kraftfeld der Geistesschule, das von dem Kraftfeld der Bruder-schaft des Lebens – das ist die Gemeinschaft der befreiten Seelen –unterstützt wird, stellt sich den dafür offenen Menschen zur Ver-fügung.Es steht jenen Seelen bei, die danach verlangen, im „Goldenen Tod“das behindernde Alte voll bewusst und freiwillig abzubrechen undgleichzeitig das Neue, das Wesen, das nicht von dieser Welt ist, aufzu-bauen, damit schließlich, wie Paulus sagt, der „Tod verschlungenwerde in den Sieg“.

Eine rosenkreuzerische Sicht

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Duineser ElegienDie erste Elegie (Auszug)Rainer Maria Rilke

(…) Ist es nicht Zeit, dass wir liebend uns vom Geliebten befrein und es bebend bestehn:wie der Pfeil die Sehne besteht, um gesammelt im Absprung mehr zu sein als er selbst. Denn Bleiben ist nirgends.

Stimmen, Stimmen. Höre, mein Herz, wie sonst nur Heilige hörten: dass sie der riesige Ruf aufhob vom Boden; sie aber knieten, Unmögliche, weiter und achtetens nicht:So waren sie hörend. Nicht, dass du Gottes ertrügest die Stimme, bei weitem. Aber das Wehende höre, die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet.Es rauscht jetzt von jenen jungen Toten zu dir.Wo immer du eintratest, redete nicht in Kirchen zu Rom und Neapel ruhig ihr Schicksal dich an?Oder es trug eine Inschrift sich erhaben dir auf, wie neulich die Tafel in Santa Maria Formosa.Was sie mir wollen? leise soll ich des Unrechts Anschein abtun, der ihrer Geister reine Bewegung manchmal ein wenig behindert.

Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen, kaum erlernte Gebräuche nicht mehr zu üben, Rosen, und andern eigens versprechenden Dingen nicht die Bedeutung menschlicher Zukunft zu geben;das, was man war in unendlich ängstlichen Händen,

nicht mehr zu sein, und selbst den eigenen Namen wegzulassen wie ein zerbrochenes Spielzeug.Seltsam, die Wünsche nicht weiterzuwünschen. Seltsam, alles, was sich bezog, so lose im Raume flattern zu sehen. Und das Totsein ist mühsam und voller Nachholn, dass man allmählich ein wenig Ewigkeit spürt. – Aber Lebendige machen alle den Fehler, dass sie zu stark unterscheiden.Engel (sagt man) wüssten oft nicht, ob sie unter Lebenden gehn oder Toten. Die ewige Strömung reißt durch beide Bereiche alle Alter immer mit sich und übertönt sie in beiden.

Schließlich brauchen sie uns nicht mehr, die Früheentrückten, man entwöhnt sich des Irdischen sanft, wie man den Brüsten milde der Mutter entwächst. Aber wir, die so große Geheimnisse brauchen, denen aus Trauer so oft seliger Fortschritt entspringt –: könnten wir sein ohne sie?Ist die Sage umsonst, dass einst in der Klage um Linoswagende erste Musik dürre Erstarrung durchdrang; dass erst im erschrockenen Raum, dem ein beinah göttlicher Jüngling plötzlich für immer enttrat, das Leere in jene Schwingung geriet, die uns jetzt hinreißt und tröstet und hilft.

82 83Rainer Maria Rilke

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EEinmal

Einmal wandelt Läuten durch mich hin, Seelensingen – eine Glocke tönt, Glocke, der ich reines Echo bin, Nicht mehr Fleisch, das sündig jauchzt und stöhnt.

Bin ein Sprößling dann des grünen Baums, Sinnbild ew’gen Werdens, ew’ger Rast, Und mein Leib, der Rest des Menschentraums, Steht und wartet, daß er Wurzel faßt.

Einmal bist du Trug, mein Leib, mein Stamm, Der du heute noch mir Wahrheit heißt, Einmal bist du tot, bist Erde, Schlamm, Doch ich leb, ein Nichts, ein Alles: Geist.

Bald!

Denn schon hör ich, wenn den bittren Tag versüßt Irgendwo mir eine Vogelkehle, Liebe, ferne Stimme, die mich lautlos grüßt:„Schwesterseele!“

Gertrud Kolmar (1894-1943), Frühe Gedichte. Wort der Stummen, München 1980, S. 73

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Das MehrMax Picard

Das Gesicht des Toten hat nichts von der Leere, dem Ausgeleerten desGesichts des Sterbenden. Es ist ausgefüllt, ganz. Ein Neues ist durchden Tod hinzugekommen, das Mehr. „Wie bei allen Toten war dasGesicht von Peter Ivanovitsch schöner und vor allem bedeutendergeworden. Das Gesicht hatte den Ausdruck, als ob es sagen wollte:Alles was geschehen musste, ist geschehen, und es war recht so. Undaußerdem lag in den Zügen noch etwas wie ein Vorwurf und eineMahnung an alle, welche noch am Leben waren“ (Tolstoi, Der Toddes Iwan lljitsch).

Was ist das Mehr? Dies: In jedem Ding der Schöpfung ist mehr, als esbrauchte, um so zu sein, wie es ist. Über alles Notwendige hinaus istein Mehr in einem Ding der Schöpfung, die Welt ist nicht nach demAbgemessenen, gerade Ausreichenden, eingerichtet, sondern aus derFülle. Das Mehr ist der Grund der Welt, nicht das Rationierte. EineBlume, zum Beispiel, leitet ihren Samen nicht auf dem schnellstenWege, wie in einer Röhre, zum nächsten Jahre hin, sondern sie blühtwährend vieler Tage im Übermaß aller Farben. Dieses Übermaß derFarben gilt, und nur nebenbei fallen die Samen herunter. Um derFülle, um des Daseins in der Fülle willen, ist die Blume da, nichtwegen des schmalen, raschen Weges zum Ziel.

Durch das Mehr braucht ein Ding der Schöpfung sich nicht auf, eserholt sich in seinem Mehr. Eine Maschine hat das Mehr nicht, sie isteben dadurch Maschine, sie kann nur funktionieren nach dem, wasihr zugemessen ist, und sie funktioniert umso besser, je exakter ihrzugeteilt worden ist. Sie kann sich nicht verwandeln. Ein Ding der

Schöpfung aber verwandelt sich vom Mehr her. Es reicht durch dasMehr über sich selbst hinaus.

Am meisten von allem in der Schöpfung ist das Mehr im Menschen.Denn der Mensch ist Gott, dem größten, dem absoluten Mehr, amnächsten. Nirgends als beim Menschen bewegt sich das Transzen-dente, das Mehr, so weit in die Welt hinein, es ist Vertrauen zumMenschen in diesem Wagnis. Das Mehr ist beim Menschen das, ausdem all sein Sagen und Tun kommt und das zugleich über allemSagen und Tun steht. Es ist das Behütende, das Schutzengelhafte überdem Menschen. Es ist Grund der Menschenerde in ihm und zugleichSternbild über ihm.

Im Gesicht des Kindes, das unmittelbar vom Ursprung des Mehrherkommt, ist das Mehr sehr deutlich. Es macht das Paradiesische ineinem Kindergesicht aus. Im Tod, wenn das Gesicht des Erwachsenennicht mehr überlagert ist von den tausend Funktionen zur Welt hin,erscheint das Mehr wieder unverdeckt, mächtiger sogar als im Gesichtdes Kindes. Wenn Heidegger darin recht hat, dass die Wahrheit dasAufgedeckte sei, so ist im Gesicht des Toten die Wahrheit, das Mehr,aufgedeckt. So sehr ist nun das Mehr da, dass es scheint, der Tod sei nur gekommen, um das Mehr sichtbar zu machen. Das toteMenschengesicht steht durch die Fülle des Mehr als eine neueSchöpfung vor einem: noch der Tod offenbart die Kontinuität derSchöpfung.

Mit dem Mehr wächst der Mensch wieder zu seinem Ursprung hin,zum absoluten Mehr. Das Mehr leuchtet dem Kind in die Welt voran,dem Toten leuchtet es aus der Welt zum Ursprung zurück: das Mehrist der Psychopompos, der Totengeleiter.

86 87Max Picard

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Der Grundstock des Mehr am Anfang und Ende des Lebens: dasLeben des Menschen spielt sich unter dem Bogen ab, der zwischenbeiden gespannt ist.

Das Gesicht des Tieres ist im Tode zu sich eingezogen, es zieht sich insich selbst ein, als wolle es sich wegtun – es nimmt ab im Tode, es istreduziert, im Gegensatz zum Menschengesicht.

Goethe vor Wielands Totenmaske: „Der Tod ist ein schlechterPorträtmaler“, – ja, eben darum, weil ein Neues im Gesicht erscheint:das unverdeckte Mehr. Es ist darum falsch, zu sagen: ut vita ita mors(wie das Leben, so der Tod). Das Totengesicht zeigt auch nicht an,was aus dem Menschen eigentlich hätte werden können, alle Mög-lichkeiten sind aufgegangen im Mehr, nichts ist in ihm vom Gedankendes letzten Augenblicks: alles Subjektive und alles Augenblickshafte ist aufgelöst im Mehr.

Wohl sind die Linien, die das Leben dem Gesicht eingeprägt hat, imGesicht des Toten da, aber sie sind jetzt nur noch Modulationen desMehr, Chiffren innerhalb des Mehr. Es ist wie bei Rembrandt, wo imLicht der Gegenstand aufgeht: Christus wird in der Auferstehungemporgehoben aus dem Grab durch das Licht, nicht nur ins Licht.Die einzelnen Teile des Gesichtes werden nicht undeutlich im Mehr,im Gegenteil, sie sind intensiver da als vorher, sie bekommen Inten-sität von seiner Intensität; das Gesicht wird gegenwärtiger, als es imLeben war.

Das Spezifisch-Persönliche ist immer noch da, aber es hat aufgehört,durch sich selbst bedeutend zu sein, es wird jetzt durch das Mehr, in

dem es ist, bedeutend. „Wie die Harmonie auf der Flöte flötet“(Nikolaus von Kues), so spielt das Mehr als Instrument auf demPersönlichen, es wird Ton im Mehr.

Vom Persönlichen im Leben nimmt das Gesicht etwas mit in den Tod,aber dieses wird Teil jetzt dieses Mehr. Wie die toten ägyptischenKönige in den Grabkammern Dinge aus dem Leben bei sich hatten,verkleinert: Essgefäße, kleine Schiffe, Wagen, Stühle, so hat das toteMenschengesicht vom Gewesenen bei sich: zeichenhaft. Das Gewe-sene reicht nun über die Faktizität, die es im Leben hatte, hinaus. DerErnst, zum Beispiel, ist jetzt da als der Ernst, er wird zum Phänomendes Ernstes überhaupt. Die Ruhe in diesen Gesichtern wird zumUrphänomen, es ist nicht die persönlich errungene, sondern die amAnfang der Schöpfung dem Menschen verliehene und nun wieder-gekehrte Ruhe.

Max Picard (1888-1965), Die Gegenwärtigkeit des toten Menschengesichts – Das Mehr, in: Das tote Antlitz, München und Ahrbeck-Hannover 1959, S. 5 – 10

88 89Max Picard

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Über das Ereignis des Todes und Tatsachen der nachtodlichen ZeitRudolf Steiner

(...) Immer wieder und wiederum sind in unseren geisteswissenschaftlichenBetrachtungen Auseinandersetzungen aufgetaucht über das Lebenzwischen dem Tode und einer neuen Geburt, und wir haben geradeüber diesen Gegenstand schon viele Anhaltspunkte gewonnen. Allein,Sie wissen ja wohl aus dem bisherigen Verlauf der Geisteswissen-schaft, dass immer alles nur gegeben werden kann von einem gewis-sen Gesichtspunkt aus, und dass wir im Grunde die Dinge nur immergenauer und genauer dadurch kennen lernen können, dass sie uns vonverschiedenen Gesichtspunkten aus beleuchtet sind. So werde ichdenn zu demjenigen, was wir schon wissen, heute über das angeregteThema einiges hinzufügen, das uns für unsere Gesamtweltauffassungnützlich sein kann.

Wir betrachten – und das ist zunächst gut – den Menschen geisteswis-senschaftlich so, wie er als Ausdruck seiner Gesamtwesenheit hier inder physischen Welt vor uns steht. Wir müssen zunächst von demausgehen, was uns der Mensch in der physischen Welt darbietet, unddaher habe ich auch immer wieder und wiederum darauf aufmerksamgemacht, wie wir gewissermaßen etwas wie eine leitende Übersichtbekommen über den Gesamtmenschen, wenn wir ihn so betrachten,dass wir zugrunde legen zunächst den physischen Leib, den wir vonaußen durch Sinnesbetrachtung, durch die wissenschaftliche Zerglie-derung des sinnlich Betrachteten hier in der physischen Welt kennen-lernen. Wir legen dann denjenigen Leib oder diejenige Organisations-form zugrunde, welche wir als den ätherischen Leib bezeichnen, der

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ja schon einen übersinnlichen Charakter hat, der also mit den gewöhn-lichen Sinnesorganen nicht betrachtet werden kann – auch mit demVerstand nicht, der an das Gehirn gebunden ist – und der daher dergewöhnlichen Wissenschaft bereits unzugänglich ist. Dieser ätherischeLeib ist aber immerhin ein Gebilde, von dem man sagen kann, dassauch Geister wie Immanuel Hermann Fichte, der Sohn des großenJohann Gottlieb Fichte, dann Troxier und andere davon gewussthaben.

Dieser ätherische Leib ist etwas im Menschen, welches zwar nur inimaginativer Erkenntnis aufgefasst werden kann, weil es übersinnlichist, was aber doch für die übersinnliche Erkenntnis eben äußerlichangeschaut werden kann, so wie für die sinnliche Erkenntnis der sinn-liche physische Leib äußerlich angeschaut werden kann.

Wir steigen dann in der Betrachtung auf zu dem astralischen Leib.Der astralische Leib ist nun nicht etwas, was so äußerlich sinnlichangeschaut werden kann wie der physische Leib durch die äußerenSinne, wie der ätherische Leib durch den inneren Sinn, sondern derastralische Leib ist so etwas, was nur innerlich erlebt werden kann,worinnen man selber sein muss, um es zu erleben, und ebenso dasvierte Glied, das wir zunächst hier in der physischen Welt zu erfassenhaben, das Ich.

Aus diesen vier Gliedern der menschlichen Natur bauen wir uns denGesamtmenschen auf. Wir wissen aber auch aus den bisherigenBetrachtungen, dass dasjenige, was wir eigentlich den physischen Leibdes Menschen nennen, etwas sehr Kompliziertes ist, dass sich dieserphysische Leib des Menschen aufbaut in einem langen Werdegangdurch Saturn-, Sonnen-, Mondenzeit hindurch, dass auch schon mit-gewirkt hat das Erdenwerden von dem Urbeginne des Erdendaseins

bis in unsere Zeit. Ein komplizierter Entwickelungsgang hat unserenphysischen Leib aufgebaut. Von dem, was da eigentlich in dem physi-schen Leibe lebt, bietet sich der Betrachtung, die dem Menschen inder physischen Welt zunächst zugänglich ist, auch für die gewöhnlicheWissenschaft eigentlich nur die Außenseite dar. Man könnte sagen,das gewöhnliche physische Anschauen und die physische Wissen-schaft, wie sie hier in der Welt leben, die kennen von dem physischenLeibe nur so viel, als ein Mensch von einem Hause kennt, der außenum das Haus herumgeht und niemals in das Innere gekommen ist,niemals kennengelernt hat, was im Inneren des Hauses ist und welcheMenschen im Hause leben. Nur wird selbstverständlich derjenige, derim materialistischen Sinne auf dem Boden der äußeren Wissenschaftsteht, sagen: Oh, wir kennen sehr gut dieses Innere des physischenLeibes! Wir kennen, weil wir oftmals das Gehirn geschaut habeninnerhalb der Gehirnwände, weil wir den Magen, das Herz geschauthaben bei der Leichensezierung, wir kennen ja dieses Innere! –

Aber dieses Innere, das so von außen gesehen werden kann, dasRäumlich-Innere, das ist nicht dasjenige, was hier gemeint ist, wennvon dem Inneren gesprochen wird. Dieses Räumlich-Innere ist auchnur ein Äußeres; dieses Räumlich-Innere ist sogar beim physischenMenschenleib viel äußerlicher als das wirkliche Räumlich-Äußerliche.Das ist allerdings sonderbar, wenn ich das sage. Aber Sie wissen jaaus den bisherigen Beschreibungen unserer Geisteswissenschaft, dassunsere Sinnesorgane schon während der Saturnzeit aufgebaut wordensind, und die tragen wir an der Außenseite unseres Leibes, an derräumlichen Außenseite. Die sind aus viel geistigeren Kräften aufge-baut als zum Beispiel unser Magen oder dasjenige, was innerlich imräumlichen Sinne ist. Dasjenige, was innerlich ist, ist aus den un-geistigsten Kräften aufgebaut. Und so sonderbar es klingt, so mussdoch einmal darauf aufmerksam gemacht werden, dass der Mensch

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sich eigentlich verkehrt ausspricht über sich. Es ist das ja natürlich,weil wir hier auf dem physischen Plan leben – aber verkehrt spricht ersich aus. Er müsste eigentlich dasjenige, was die Haut im Gesichte ist,das Innere nennen und seinen Magen das Äußere. Da würde man derWirklichkeit viel näherkommen! Man würde der Wirklichkeit näher-kommen, wenn man sagen würde, wir essen von innen nach außen,wir schicken die Speisen von innen nach außen, indem wir sie in denMagen schicken, als jetzt, wo wir sagen: von außen nach innen; dennje weiter unsere Organe an der Oberfläche liegen, von desto geistige-ren Kräften rühren sie her, und von um so ungeistigeren Kräften rüh-ren sie her, je mehr sie in unserem räumlichen Inneren liegen.

Sie können das sogar aus den bisherigen Schilderungen der Geistes-wissenschaft leicht einsehen. Wenn Sie sich genau erinnern an das-jenige, was in der bisherigen Schilderung der Geisteswissenschaftvorgebracht worden ist, so werden Sie wissen, dass während derMondenentwickelung sich etwas abspaltet und bei der Erdenent-wickelung wieder abspaltet und hinausgeht aus der Saturn-, Sonnen-und Mondenentwickelung in den Weltenraum. Bei dieser Abspaltungist nämlich etwas Merkwürdiges geschehen: Wir sind gewendet wor-den, richtig so gewendet worden, wie ein Handschuh umgedreht,umgewendet wird, das Innere nach außen und das Äußere nachinnen. Dasjenige, was sich heute als Gesicht nach außen wendet, warwirklich während der Saturn- und Sonnenzeit – in der ersten Anlagenatürlich – nach innen gewendet, und auch noch während eines Teilesder Mondenzeit; und die Anlagen zu unseren heutigen inneren Orga-nen wurden während des Mondendaseins noch so gebildet, dass sievon außen gebildet wurden. Wir sind seit jener Zeit wirklich umge-wendet wie ein Rock.

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Heute tut man das nicht mehr so viel, Röcke wenden, aber man hates in früheren Zeiten getan, als man die Röcke noch länger tragenkonnte. Heute ist das ja nicht mehr üblich. Wenn wir von unseremphysischen Leib sprechen, müssen wir uns also bewusst werden, dassan ihm vieles Übersinnliche ist, dass seine ganze Bauart übersinnlichist, dass er aus dem Übersinnlichen heraus gebaut ist und uns nurseine Außenseite zuwendet, wenn wir das betrachten als Ganzes.

Wenn wir nun an den Ätherleib kommen, so ist dieser überhauptnicht mehr für die physisch-sinnliche Betrachtung sichtbar; aber umsowichtiger wird dieser Ätherleib dann, wenn der Mensch durch diePforte des Todes gegangen ist. Da ist zunächst in der Zeit, in die wireintreten in den ersten Tagen, dieser Ätherleib von einer ganz beson-deren Wichtigkeit. Aber auch in Bezug auf den physischen Leib müs-sen wir noch lernen umzudenken, richtig lernen umzudenken, wennwir in dem rechten Maße das ins Auge fassen wollen, was uns nachdem Durchgang durch die Todespforte erwartet. Sie wissen ja, denndas kann noch von der physischen Welt aus beobachtet werden, beimDurchgang durch die Todespforte legt der Mensch seinen physischenLeib, wie man sagt, ab. Er wird übergeben durch Verwesung oderVerbrennung – die beiden Prozesse unterscheiden sich nur durchZeitlänge – dem Element der Erde. Nun könnte es scheinen, als ob für den, der nun durch die Todespforte gegangen ist, dieser physischeLeib als solcher einfach abgetan wäre. Das ist aber nicht der Fall. DerErde können wir von unserem physischen Leib nämlich nur dasjenigeübergeben, was von der Erde selber stammt. Nicht können wir derErde übergeben von unserem physischen Leib dasjenige, was von demalten Mondendasein herrührt, was von dem alten Sonnendasein her-rührt, von dem alten Saturndasein herrührt. Dasjenige, was von demalten Saturndasein herrührt, von dem Sonnendasein und vomMondendasein, ja sogar von einem großen Teil des Erdendaseins

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DDer Heilige Mensch:

Nicht durch den Himmel in Not;Nicht von den Dingen geknechtet;Nicht von den Menschen geächtet;Nicht von den Geistern bedroht:Gleichsam ein Schwimmen ist sein Leben,Sein Tod ein Sich-zur-Ruh-Begeben.Ist ohne Klügelsinn,Ist ohne Plan und Streben;Ist voller Glanz, doch ohne grellen Lichts.Du kannst ihm glauben, doch verspricht er nichts.Im Schlafe bleibt er ohne Traum;Im Wachen hat er Sorgen nicht.Sein Geist ist unverfälscht und klar;Die Seele bleibend immerdar.Von allem leer, von nichts bewegt, in Frieden,Trägt er des Himmels Tucht in sich.

Dschuang-dse, übersetzt von Günter Debon

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noch, das sind übersinnliche Kräfte. Und diese übersinnlichen Kräfte,die in unserem physischen Leib drinnen stecken, von denen sich unseben nur in der sinnlichen Anschauung, wie ich eben auseinander-gesetzt habe, die Außenseite zeigt, diese übersinnlichen Kräfte, wohinkommen denn die, wenn wir durch die Todespforte hindurchgegan-gen sind? – Von unserem physischen Leib, von diesem wunderbarstenGebilde, das überhaupt in der Welt vorhanden ist zunächst als Ge-bilde, von unserem physischen Leib wird, wie gesagt, nur dasjenige,was ihm die Erde gegeben hat, der Erde zurückgegeben. Das andere,wo ist es denn, wenn wir durch die Todespforte geschritten sind? –Das andere zieht sich zurück von dem, was in die Erde gleichsamhineinsinkt durch Verwesung oder Verbrennung; das andere wird auf-genommen in das ganze Universum.

Und wenn Sie alles, alles, was Sie ahnen können im Umkreis derErde, mit sämtlichen Planeten und Fixsternen denken, und wenn Siedas möglichst geistig denken, so werden Sie in diesem also geistigGedachten den Ort haben, wo das Geistige von uns ist. Denn nur einStück dieses Geistigen wird abgetrennt, das in Wärme lebt, und dasbei der Erde verbleibt. Wärme, unsere innere Wärme, unsere Eigen-wärme wird abgetrennt, bleibt bei der Erde. Aber alles dasjenige, wassonst geistig ist am physischen Leib, das wird hinausgetragen in denganzen Weltenraum, in den ganzen Kosmos.

Wenn wir nun als Mensch unseren physischen Leib verlassen, wohin-ein gehen wir denn, in was tauchen wir denn eigentlich unter? Wirtauchen wie in Blitzesschnelligkeit mit unserem Tode in das unter, wasaus all den übersinnlichen Kräften unseren physischen Leib bildet. Siekönnen sich ganz ruhig vorstellen, dass alle die Baukräfte, die seit derSaturnzeit an Ihrem physischen Leib gewirkt haben, sich ins Unendli-che ausdehnen und Ihnen den Ort bereiten, in dem Sie leben zwischen

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dem Tod und einer neuen Geburt. Alles das ist, möchte ich sagen, nurzusammengezogen in dem Raum, der von unserer Haut eingeschlos-sen ist zwischen der Geburt und dem Tode.

Wenn wir nun außerhalb des physischen Leibes sind, dann machenwir vor allen Dingen eine Erfahrung, die für das ganze nachfolgendeLeben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt wichtig ist. Ichhabe sie schon öfters angedeutet. Diese Erfahrung ist von entgegen-gesetzter Natur wie die entsprechende Erfahrung hier im Leben desphysischen Planes. Hier im Leben des physischen Planes, da könnenwir mit dem gewöhnlichen sinnlichen Erkennen, das wir haben, nichtzurückblicken bis zu der Stunde unserer Geburt. Kein Mensch kannseine eigene Geburt erinnern, kann zurückschauen. Er weiß nur, dasser geboren ist, erstens deshalb, weil man es ihm vielleicht gesagt hat,und zweitens, weil er es daraus schließt, dass alle Menschen, die nochspäter die Erde betreten haben als er, auch geboren sind; aber einewirkliche Erfahrung von seiner eigenen Geburt kann der Menschnicht haben.

Gerade umgekehrt ist es mit der entsprechenden Erfahrung nach demTode. Während niemals die unmittelbare Anschauung unserer Geburtvor unserer Seele stehen kann in dem physischen Leben, steht im gan-zen Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt der Momentdes Todes, wenn der Mensch nur hinschaut auf ihn geistig, vor derSeele. Nur müssen wir uns allerdings klar sein, dass dieser Momentdes Todes dann von der anderen Seite gesehen wird. Wenn der Todetwas Schreckhaftes haben kann, so ist es nur deshalb, weil er hiergesehen wird als eine Auflösung gewissermaßen, als ein Ende. Von deranderen Seite, von der geistigen Seite her, wenn zurückgeschaut wirdzum Moment des Todes, erscheint der Tod immerfort als der Sieg desGeistes, als das Heraus-sich-Winden des Geistes aus dem Physischen.

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Da erscheint er als das größte, herrlichste, als das bedeutsamsteEreignis.

Und außerdem entzündet sich an diesem Ereignisse dasjenige, wasunser Ich-Bewusstsein nach dem Tode ist. Wir haben in der ganzenZeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt nicht nur in ähnli-chem, sondern sogar in einem viel höheren Sinne ein Ich-Bewusstseinals hier im physischen Leben. Aber dieses Ich-Bewusstsein würden wirnicht haben, wenn wir nicht immerfort zurückblicken könnten, sehenwürden, aber von der anderen Seite, von der geistigen Seite, diesenMoment, in dem wir uns herausgerungen haben mit unseremGeistigen aus dem Physischen. Dass wir ein Ich sind, wissen wir nurdadurch, dass wir wissen: Wir sind gestorben, wir haben unserGeistiges aus unserem Physischen herausgelöst. In dem Augenblicke,wo wir jenseits der Pforte des Todes nicht hinschauen auf den Momentdes Todes, da ist es für dieses Ich-Bewusstsein nach dem Tode so, wiees für das physische Ich-Bewusstsein hier im Schlafe ist. Wie man imSchlafe nichts weiß von dem physischen Ich-Bewusstsein, so weißman nach dem Tode nichts von sich, wenn man nicht vor Augen hatdiesen Moment des Sterbens. Man hat ihn als einen der herrlichsten,als einen der erhabensten Augenblicke vor sich.

Sie sehen, schon in diesem Falle müssen wir uns damit bekanntma-chen, eine eigentlich geistige Welt ganz anders zu denken als hier diesinnlich-physische Welt. Wenn man in bequemer Weise nur bei denBegriffen bleiben will, die man hier für die physisch-sinnliche Welthat, so kann man gar nicht das Geistige irgendwie genauer erfassen.Denn das Wichtigste nach dem Tode ist, dass der Moment desSterbens von der anderen Seite angesehen wird. Dadurch eben ent-zündet sich unser Ich-Bewusstsein auf der anderen Seite. Wir habengewissermaßen hier in der physischen Welt die eine Seite des Ich-

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Bewusstseins; nach dem Tode haben wir die andere Seite des Ich-Bewusstseins. Ich habe vorhin auseinandergesetzt, wo eigentlich dasÜbersinnliche unseres physischen Leibes ist nach dem Tode, wo wir eszu suchen haben. In der ganzen Welt, so weit wir sie nur ahnen kön-nen, haben wir dieses Physische als Kräfteverhältnis, als Kräfteorga-nismus, als Kräftekosmos zu suchen. Dieses Physische bereitet unsden Ort, durch den wir durchzugehen haben zwischen dem Tod undeiner neuen Geburt.

Es ist also dasjenige, was wir hier in unserem physischen Körper, indiesem verhältnismäßig zur Gesamtwelt kleinen Körper eingeschlos-sen haben in unserer Haut, wirklich ein Mikrokosmos, wirklich eineganze Welt. Sie ist wirklich nur zusammengerollt – möchte ich sagen,wenn ich trivial sprechen darf –, sie rollt sich dann auf und erfüllt dieWelt mit Ausnahme eines kleinen Raumes, der immer leer bleibt.Wenn wir zwischen dem Tode und einer neuen Geburt leben, sind wireigentlich mit dem, was hier unserem physischen Leib als übersinnli-che Kräfte zugrunde liegt, überall in der Welt, nur an einem einzigenOrt nicht, der bleibt leer. Das ist der Raum, den wir hier in der phy-sischen Welt einnehmen innerhalb unserer Haut. Und immer blickenwir auf diese Leere. Wir schauen uns dann von außen an und schauenin eine Hohlheit hinein. Das, in was wir hineinschauen, bleibt leer,aber es bleibt so leer, dass wir davon eine Grundempfindung haben.Dieses Hinschauen ist nicht ein abstraktes Hinschauen, wie man hierauf dem physischen Plan hinstiert auf irgendwelche Dinge, sonderndieses Hinschauen ist verbunden mit einer mächtigen inneren Lebens-erfahrung, mit einem mächtigen Erlebnis. Es ist verbunden damit,dass in uns durch die Anschauung dieser Leere aufsteigt eine Empfin-dung, die uns nun begleitet durch unser ganzes Leben zwischen demTode und einer neuen Geburt, die viel von dem ausmacht, was wirüberhaupt dieses jenseitige Leben nennen. Es ist die Empfindung: Da

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ist etwas in der Welt, das muss immer wieder und wiederum von dirausgefüllt werden. – Und man erlangt dann die Empfindung: Man istin der Welt zu etwas da, wozu man nur selber da sein kann. Manempfindet seinen Platz in der Welt. Man empfindet, dass man einBaustein ist in der Welt, ohne den die Welt nicht sein könnte. Das istdie Anschauung dieser Leere. Das Darinnenstehen als etwas, was zuder Welt gehört, das überkommt einen dadurch, dass man auf eineLeere hinschaut.

Das alles hängt nun zusammen mit dem, was aus unserem physischenLeib dann wird. Nun werden wir aus den elementareren Darstellun-gen gewissermaßen nur immer schematisch darlegen können das-jenige, was wirklich in der geistigen Welt die Bilder braucht für dasWirkliche. Aber wir müssen diese Bilder erst haben, um nach undnach uns zu Vorstellungen aufzuschwingen, die mehr in das Wirklicheder geistigen Welt eindringen.

Wir wissen, dass wir dann durch Tage eine Art Rückerinnerunghaben. Aber diese Rückerinnerung wird doch nur im uneigentlichenSinne – obwohl mit Recht, aber im uneigentlichen Sinne – Rückerin-nerung genannt, denn durch einige Tage haben wir etwas wie einTableau, wie ein Panorama, das gewoben ist aus all dem, was wir imeben verflossenen Leben erlebt haben. Aber wir haben es nicht so wieeine gewöhnliche Erinnerung innerhalb des physischen Leibes. EineErinnerung des physischen Leibes ist so, dass wir sie zeitlich herauf-holen aus dem Gedächtnisse. Ein solches Gedächtnis ist eine Kraft,die an den physischen Leib gebunden ist, ein Gedachtes, wo man sozeitlich heraufholt die Erinnerungen. Diese Rückerinnerung nach demTode, die ist so, dass, wie in einem Panorama, gleichzeitig alles, wassich im Leben abgespielt hat, in Imaginationen um uns herum ist. Wirleben durch Tage innerhalb unseres, man kann nur sagen Erlebens. In

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mächtigen Bildern ist gleichzeitig das Ereignis da, welches wir ebennoch erlebt haben in den letzten Zeiten vor unserem Tode, und gleich-zeitig ist dasjenige da, was wir erlebt haben in der Kindheit. EinLebenspanorama, ein Lebensbild, welches dasjenige, was sonst in derZeit nacheinander gefolgt ist, in einem Gewebe uns darstellt, das ausÄther geflochten ist. Das alles, was wir da sehen, lebt im Äther.

Vor allen Dingen empfinden wir dasjenige, was da um uns herum ist,als lebendig. Es lebt und webt alles darinnen. Dann empfinden wir esals geistig tönend, als geistig leuchtend und auch als geistig wärmend.Dieses Lebenstableau schwindet, wie wir wissen, schon nach Tagen.Aber wodurch endet es denn eigentlich, und was ist dieses Lebens-tableau?

Ja, wenn man dieses Lebenstableau untersucht auf das hin, was eseigentlich ist, so muss man sagen: Es ist hineinverwoben alles das,was wir im Leben erlebt haben. Aber wie erlebt? – Indem wir dabeigedacht haben! Also alles das, was wir denkend, vorstellend erlebten,das steckt da drinnen. Sagen wir, um auf etwas Konkretes einzugehen,wir haben im Leben mit einem anderen Menschen zusammengelebt,wir haben mit dem anderen Menschen gesprochen. Indem wir mitihm gesprochen haben, haben sich seine Gedanken unseren Gedankenmitgeteilt. Wir haben Liebe von ihm empfangen, wir haben seineganze Seele auf uns wirken lassen, all das innerlich durchlebt. Wirleben ja mit, wenn wir mit einem anderen Menschen leben. Er lebtund wir leben, und wir erleben etwas an ihm. Das, was wir an ihmerleben, das erscheint uns jetzt in dieses ätherische Lebenstableauhineinverwoben.

Es ist dasselbe, an das wir uns erinnern. Denken Sie sich einmal denMoment, wo Sie vor zehn, zwanzig Jahren mit irgendjemand anderem

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IIn dir

Über dir Sonne Mond und Sterne

Hinter ihnenunendliche Welten

Hinter dem Himmelunendliche Himmel

Über dir was deine Augen sehen

In diralles Sichtbareunddas unendlich Unsichtbare

Rose Ausländer(Quelle siehe S. 153)

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etwas erlebt haben. Denken Sie sich, Sie erinnern sich daran, und Sieerinnern sich nicht so, wie man sich gewöhnlich im Leben erinnert,dass alles grau in grau verschwimmt, sondern Sie erinnerten sich sodaran, dass die Erinnerung in Ihnen so lebendig wäre, wie das Erleb-nis selber war, dass der Freund so vor Ihnen steht, wie er damalsgestanden hat während des Erlebnisses. Im Leben hier sind wir oft-mals recht traumhaft. Dasjenige, was wir herzhaft erleben auf demphysischen Plan, stumpft sich ab, das lahmt sich herab. Wenn wirdurch die Pforte des Todes gegangen sind und es im Lebenstableauhaben, da ist es nicht so herabgelähmt, da ist es mit all der Frischeund Herzhaftigkeit vorhanden, in denen es vorhanden war währenddes Lebens. So webt es sich hinein in dieses Lebenstableau, so erlebenwir es selber dann durch Tage.

Wie wir den Eindruck haben in Bezug auf die physische Welt, dassunser physischer Leib von uns abfällt, so haben wir dann nach Tagenden Eindruck, dass zwar von uns auch abgefallen ist unser ätherischerLeib, aber dieser unser ätherischer Leib ist eigentlich nicht so abgefal-len wie unser physischer Leib, sondern er ist einverwoben dem ganzenUniversum, der ganzen Welt. Er ist da drinnen, er hat da drinnenseine Eindrücke gemacht während der Tage, während wir das Lebens-tableau erleben. Und dasjenige, was wir so als Lebenstableau haben,das ist übergegangen in die äußere Welt, das lebt um uns herum, istvon der Welt aufgenommen.

Wir machen dabei während dieser Tage wiederum eine wichtige, eineeindringliche Erfahrung. Denn dasjenige, was wir nach dem Todeerleben, sind nicht nur Erlebnisse, die so wie Erinnerungen an dasErdenleben sind, sondern es sind durchaus Stücke für neue Erlebnisse.Das ist ja selbst ein neues Erlebnis, wie wir zu unserem Ich kommen,indem wir zurückschauen zu dem Tode, denn so etwas können wir

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mit den Erdensinnen hier nicht erleben. Das erschließt sich nur deminitiierten Erkennen. Aber auch, was wir während der Tage erleben,indem wir dieses Lebenstableau, dieses von uns sich ablösende unddem Universum sich einwebende Ätherweben um uns herum haben,auch das, was wir da erleben, ist etwas erschütternd Erhabenes, etwasganz Gewaltiges für die Menschenseele.

Hier im physischen Leben, ja, da stehen wir der Welt gegenüber, die-sem mineralischen, diesem pflanzlichen, diesem tierischen, diesemmenschlichen Reich. Wir erleben an diesen das, was unsere Sinne er-leben können, was unser an das Gehirn gebundener Verstand an denSinneserlebnissen haben kann, was unser an unser Gefäßsystemgebundenes Gemüt erleben kann, das alles erleben wir hier. Und wirMenschen sind eigentlich hier zwischen Geburt und Tod, von einemhöheren Gesichtspunkt aufgefasst, außerordentlich große – verzeihenSie den Ausdruck –, außerordentlich große „Tröpfe“, Riesentröpfe.Fürchterlich dumm sind wir vor der Weisheit der großen Welt, wennwir glauben, damit sei es abgetan, dass wir hier etwas erleben in derbeschriebenen Weise und dann dieses, was wir hier erleben, in unse-ren Erinnerungen tragen und als Mensch es uns angeeignet haben.Das glauben wir so. Aber während wir erleben, während wir unsunsere Vorstellungen, unsere Gemütsempfindungen bilden in demErleben, arbeitet in diesem unserem Erlebeprozess, in diesem Vorgangdie ganze Welt der Hierarchien. Die lebt und webt darinnen. WennSie einem Menschen gegenübertreten und ihm in die Augen schauen,in Ihrem Blick und in dem, was sein Blick Ihnen entgegensendet,leben die Geister der Hierarchien darinnen, leben die Hierarchien, lebtdie Arbeit der Hierarchien. Auch das, was wir erleben, bietet uns nurdie Außenseite, denn in diesem Erleben arbeiten die Götter darinnen.Und während wir glauben, wir leben nur für uns, arbeiten sich dieGötter durch unser Erleben etwas aus, wodurch sie etwas haben, was

Rudolf Steiner

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sie jetzt der Welt einweben können. Wir haben Gedanken gefasst, wirhaben Gemütserlebnisse gehabt – die Götter nehmen sie und teilen sieihrer Welt mit. Und nachdem wir gestorben sind, wissen wir, dass wirgelebt haben deshalb, damit die Götter dieses Gewebe spinnen kön-nen, das jetzt in unserem Ätherleib von uns kommt und dem ganzenUniversum mitgeteilt wird. Die Götter haben uns leben lassen, damitsie für sich etwas spinnen können, wodurch sie ihre Welt um einStück bereichern können. Es ist ein erschütternder Gedanke! Wennwir nur einen Schritt durch die Welt machen, so ist dieser Schritt deräußere Ausdruck für ein Göttergeschehen und ein Stück von demGewebe, das die Götter in ihrem Weltenplan verwenden, das sie unsnur lassen, bis wir durch die Pforte des Todes gehen, um es dann vonuns wegzuziehen und dem Universum einzuverleiben. Diese unsereMenschengeschicke sind zugleich Götterhandlungen, und was sie füruns Menschen sind, ist nur eine Außenseite. Das ist das Bedeutsame,das Wichtige, das Wesentliche.

Wem gehört eigentlich jetzt, nachdem wir gestorben sind, dasjenigean, was wir im Leben innerlich dadurch gewonnen haben, dass wirdenken können, dass wir Gemütsempfindungen haben, wem gehört esan? – Nach unserem Tode gehört es der Welt an! So aber, wie wir aufunseren Tod zurückblicken, so blicken wir mit dem, was uns bleibt,mit unserem astralischen Leib und mit unserem Ich zurück auf das-jenige, was sich da einverwoben hat dem Universum, der Welt.Während unseres Lebens tragen wir das, was sich da dem Universumeingewoben hat, als Ätherleib in uns. Jetzt ist es aufgesponnen undeinverwoben der Welt. Wir blicken darauf hin, schauen es an. Wiewir es hier innerlich erleben, so schauen wir es nach dem Tode an, soist es in der Welt draußen. Wie wir hier Sterne anschauen und Bergeund Flüsse, so schauen wir nach dem Tode auch neben dem, wasgeworden ist, mit Blitzesschnelle, sagte ich, aus unserem physischen

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Leib, das an, was sich der Welt einverwoben hat aus unseren eigenenErlebnissen. Und dasjenige, was sich da aus unseren eigenen Erleb-nissen dem ganzen Weltenbau einverleibt, das spiegelt sich jetzt indem, was wir noch haben, in astralischem Leib und Ich, geradeso wiesich spiegelt die äußere Welt in unseren physischen Organen durchunseren physischen Menschen hier.

Und indem sich das spiegelt in uns, bekommen wir etwas, was wirhier während dieser Erdenzeit nicht haben können, was wir in einemäußeren, mehr physischen Abdruck später während der Jupiterzeithaben werden, was wir aber in einer geistigen Art dadurch bekom-men, dass jetzt unser ätherisches Sein außerhalb ist und auf uns einenEindruck macht. Statt dass es vorher von uns erlebt wurde als unserInneres, macht es jetzt auf uns einen Eindruck. Der Eindruck, der aufuns gemacht wird, ist allerdings zunächst ein Geistiges, er ist bildhaft,aber er ist als Bildhaftes schon ein Vorbild für das, was wir erst aufdem Jupiter haben werden: das Geistselbst. Dadurch also, dass sicheinwebt unser Ätherisches dem Universum, wird für uns geboren –aber geistig, nicht so, wie wir es später auf dem Jupiter haben werden– ein Geistselbst, so dass wir jetzt haben, nachdem wir unseren äthe-rischen Leib abgelegt haben: astralischen Leib, Ich, Geistselbst. Das-jenige, was uns von unserem Erdendasein bleibt, das ist also unserAstralleib und unser Ich.

Unser astralischer Leib, der bleibt uns auch so, wie er zunächst unsals irdischer astralischer Leib unterworfen ist, wie Sie wissen, nochlange Zeit hindurch nach dem Tode. Er bleibt uns deshalb, weil dieserAstralleib durchzogen wird von alledem, was nur irdisch-menschlichist und was er nicht gleich aus sich herausbringen kann. Wir machenda eine Zeit durch, in der wir nach und nach erst ablegen könnendasjenige, was das Erdenleben aus unserem Astralleib gemacht hat.

Rudolf Steiner

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Wir erleben von unseren Erlebnissen eigentlich im Grunde hier aufder Erde, auch insofern sie unseren astralischen Leib berühren, immernur höchstens die Hälfte. Von dem, was irgendwie durch uns ge-schieht, erleben wir eigentlich wirklich nur die Hälfte. Nehmen wirein Beispiel: Denken Sie einmal, Sie sagen jemandem, es ist bei gutenGedanken und guten Handlungen ebenso wie bei bösen Handlungenund bösen Gedanken, aber nehmen wir dieses Beispiel einer bösenHandlung: Sie sagen jemandem ein böses Wort, durch das er sichgekränkt fühlt. Wir haben von dem bösen Wort nur dasjenige, wasuns betrifft, wir haben in uns das Gefühl, warum wir dieses böseWort gebraucht haben; das ist der Eindruck auf unsere Seele, wennwir das böse Wort gebrauchen. Aber der andere, dem wir das böseWort zufügen, der hat einen ganz anderen Eindruck, der hat gleichsamdie andere Hälfte des Eindrucks, der hat das Gefühl des Gekränkt-seins. In ihm lebt wirklich diese andere Hälfte des Eindrucks. Das,was wir für uns durchlebt haben hier während des physischen Lebens,das ist das eine; das, was der andere durchlebt hat, das ist das andere.

Nun denken Sie sich, alles dasjenige, was erlebt worden ist durch uns,aber außer uns, das müssen wir nach dem Tode, indem wir unserLeben nun rückwärts durchlaufen, wieder durchleben. Die Wirkungenunserer Gedanken, unserer Taten durchleben wir im Rücklauf. Also,wir durchleben unser Leben zwischen dem Tode und einer neuenGeburt rückwärts laufend. Im Ablegen des Ätherleibes ist ein Lebens-tableau, bei dem wir das ganze Leben gleichzeitig haben. Das Zurück-leben, das ist ein wirkliches Durchleben desjenigen, was wir angerich-tet haben, im Rückwärtsgehen. Und wenn wir also rückwärtsgegangensind bis zu unserer Geburt, dann sind wir reif geworden, auch vonunserem astralischen Leib dasjenige abzulegen, was von ihm vomIrdischen durchtränkt ist. Dann geht das von uns weg, und mit diesemAblegen des astralischen Leibes tritt für uns ein neuer Zustand ein.

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Der Astralleib hielt uns immer, möchte ich sagen, in unseren Erleb-nissen mit der Erde zusammen. Dadurch, dass wir so durch unserenastralischen Leib durchgehen müssen, nicht träumend, aber indem wirirdische Erlebnisse zurückerleben, sind wir im Erdenleben noch drin-nen; wir stehen noch drinnen. Jetzt erst, wenn wir den Astralleib –uneigentlich, aber man kann nicht anders sagen, da die Sprache keinWort dafür hat – abgelegt haben, sind wir von dem Irdischen ganzfrei geworden, jetzt leben wir drinnen in der eigentlich geistigen Welt. (...)

Rudolf Steiner (1861-1925), Vortrag vom 22. 02. 1916, in: Die Verbindung zwischen Lebendenund Toten, Dornach 1984, S. 66 ff.

Rudolf Steiner

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Duineser ElegienDie neunte ElegieRainer Maria Rilke

Warum, wenn es angeht, also die Frist des Daseins hinzubringen, als Lorbeer, ein wenig dunkler als alles andere Grün, mit kleinen Wellen an jedem Blattrand (wie eines Windes Lächeln) –: warum dann Menschliches müssen – und, Schicksal vermeidend, sich sehnen nach Schicksal? ...

Oh, nicht, weil Glück ist, dieser voreilige Vorteil eines nahen Verlusts.Nicht aus Neugier, oder zur Übung des Herzens, das auch im Lorbeer wäre …

Aber weil Hiersein viel ist, und weil uns scheinbar alles das Hiesige braucht, dieses Schwindende, das seltsam uns angeht. Uns, die Schwindendsten. Ein Mal jedes, nur ein Mal. Ein Mal und nichtmehr. Und wir auch ein Mal. Nie wieder. Aber dieses ein Mal gewesen zu sein, wenn auch nur ein Mal:irdisch gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar.

Und so drängen wir uns und wollen es leisten, wollens enthalten in unsern einfachen Händen, im überfüllteren Blick und im sprachlosen Herzen.Wollen es werden. – Wem es geben? Am liebsten alles behalten für immer … Ach, in den andern Bezug, wehe, was nimmt man hinüber? Nicht das Anschaun, das hier langsam erlernte, und kein hier Ereignetes. Keins.

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Preise dem Engel die Welt, nicht die unsägliche, ihmkannst du nicht großtun mit herrlich Erfühltem; im Weltall, wo er fühlender fühlt, bist du ein Neuling. Drum zeig ihm das Einfache, das, von Geschlecht zu Geschlechtern gestaltet, als ein Unsriges lebt, neben der Hand und im Blick.Sag ihm die Dinge. Er wird staunender stehn; wie du standestbei dem Seiler in Rom, oder beim Töpfer am Nil.Zeig ihm, wie glücklich ein Ding sein kann, wie schuldlos und unser, wie selbst das klagende Leid rein zur Gestalt sich entschließt, dient als ein Ding, oder stirbt in ein Ding –, und jenseits selig der Geige entgeht. – Und diese, von Hingang lebenden Dinge verstehn, dass du sie rühmst; vergänglich, traun sie ein Rettendes uns, den Vergänglichsten, zu.Wollen, wir sollen sie ganz im unsichtbarn Herzen verwandeln in – o unendlich – in uns! wer wir am Ende auch seien.

Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbarin uns erstehn? – Ist es dein Traum nicht, einmal unsichtbar zu sein? – Erde! unsichtbar!Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag?Erde, du liebe, ich will. Oh glaub, es bedürfte nicht deiner Frühlinge mehr, mich dir zu gewinnen –, einer, ach, ein einziger ist schon dem Blute zu viel.Namenlos bin ich zu dir entschlossen, von weit her.Immer warst du im Recht, und dein heiliger Einfall ist der vertrauliche Tod.

Siehe, ich lebe. Woraus? Weder Kindheit noch Zukunft werden weniger … Überzähliges Dasein entspringt mir im Herzen.

Also die Schmerzen. Also vor allem das Schwersein, also der Liebe lange Erfahrung, – also lauter Unsägliches. Aber später, unter den Sternen, was solls: die sind besser unsäglich.Bringt doch der Wanderer auch vom Hange des Bergrands nicht eine Hand voll Erde ins Tal, die Allen unsägliche, sondern ein erworbenes Wort, reines, den gelben und blaun Enzian. Sind wir vielleicht hier, um zu sagen: Haus, Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster, – höchstens: Säule, Turm … aber zu sagen, verstehs, oh zu sagen so, wie selber die Dinge niemals innig meinten zu sein. Ist nicht die heimliche List dieser verschwiegenen Erde, wenn sie die Liebenden drängt, dass sich in ihrem Gefühl jedes und jedes entzückt?Schwelle: was ists für zwei Liebende, dass sie die eigne ältere Schwelle der Tür ein wenig verbrauchen, auch sie, nach den vielen vorher und vor den Künftigen …, leicht.

Hier ist des Säglichen Zeit, hier seine Heimat.Sprich und bekenn. Mehr als je fallen die Dinge dahin, die erlebbaren, denn, was sie verdrängend ersetzt, ist ein Tun ohne Bild.Tun unter Krusten, die willig zerspringen, sobald innen das Handeln entwächst und sich anders begrenzt.Zwischen den Hämmern besteht unser Herz, wie die Zunge zwischen den Zähnen, die doch, dennoch, die preisende bleibt.

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Der Tod dient der VervollkommnungJan van Rijckenborgh

Das Wesen des Todes ist das Gespenst einer hohen Wirklichkeit, dasviele zu der immer wiederkehrenden Frage veranlasst: Wie kann derursprüngliche Mensch, der doch in einer so großen Herrlichkeit lebte,sterben? Verursacht das nicht Zweifel an der göttlichen Vollkommen-heit? Die Antwort auf diese Frage ist, dass der Tod gerade der Beweisder Vollkommenheit ist und dass es im tiefsten Wesen so etwas wieden Tod überhaupt nicht gibt. Wenn Sie diese Antwort an der Wirk-lichkeit und Wahrheit prüfen, dann werden Sie das unabänderlichbestätigt finden.

Wir wissen, dass der Geist oder Gott sich durch seine Strahlungs-kräfte in der Materie, im Ozean der Ursubstanz offenbart. Dadurchentsteht in der Ursubstanz ein strahlendes Prinzip, ein Mikrokosmos,eine Monade. Ursubstanz ist der grenzenlose, allgegenwärtige Ozeander Atome. Daher bezeugten schon die alten Rosenkreuzer: Es gibtkeinen leeren Raum. Atome sind lebendige, sich bewegende, unend-lich kleine Teilchen, Universa und Sternensysteme im Kleinen. So gibtes also einen unendlichen Raum, ein pulsierendes mächtiges Leben.Wo Sie auch nachspüren werden, es gibt nichts im ganzen All, dasleblos ist.

Das Wesentliche des ganzen Alls ist unausrottbar, fundamental leben-dig. (…) Es gibt keinen Tod. Denken Sie wieder an die Monade. Wasist die Monade anderes als eine Zusammenfügung lebendiger Atomedurch den Geist, durch Gott selbst. Das Atom ist Leben; die Monadeist eine Konzentration des Lebens, durch den Geist Gottes entflammt.

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dass die beiden Naturgesetze, das der Zusammenfügung und das derAuflösung, jeden Körper kontrollieren. Dadurch entsteht ein Stoff-wechsel, daher gilt überall das Gesetz der Ausdehnung und desZusammenziehens.

Die Menschheit entwickelt sich in einem Zyklus, der Milliarden Jahreumfasst und sieben Perioden durchläuft. (...)Das Universum ist (...) nicht statisch. Es verändert sich unaufhörlich.Ohne darauf näher einzugehen, wollen wir nun feststellen, dass dasvorher angedeutete Gesetz der Zusammenfügung in diesen verschie-denen astronomischen Zyklen immer auf andere Weise auftritt. Inbestimmten makrokosmischen Perioden lässt es eine intensivereZusammenfügung von Atomen, ein größeres Maß an Kristallisationzu als in vorangegangenen oder folgenden Perioden. Unsere Mensch-heit befindet sich augenblicklich in einer Periode – die beinahe zuEnde ist –, in der die größtmögliche Verdichtung der Körper auftritt.Aber selbstverständlich tritt in einer derartigen Periode auch dasGesetz der Auflösung außergewöhnlich stark auf. In dem Maß, wiedas Gesetz der Zusammenfügung dynamisch wirksam ist, wirkt über-einstimmend damit auch das Gesetz der Auflösung der Körper.

Man ist es gewohnt, diesen ausgeprägten Eingriff der Auflösung alsTod zu bezeichnen. Aber in Wirklichkeit ist dieser Tod nichts anderesals die Anregung des lebendigen Stoffwechsels. Ein Körper zerfällt inlebendige Atome. Das Atom selbst, die Einheit im Universum, gehtjedoch niemals verloren: Atome fügen sich zu einem Körper zusam-men und lösen sich wieder voneinander. Das Leben bleibt das voll-kommene Leben. Tod ist ein Hirngespinst!(...)

Das auf diese Weise entflammte, zusammengefügte, zusammenwirken-de Leben hat ein Ziel, geht von einer Idee, einem Plan aus, der durchStrahlung verwirklicht wird, durch vielfältige Lichtkraft. Die Strah-lung, die von der Monade ausgeht, die Strahlung, die wir als dasGemüt angedeutet haben, erschafft in dem magnetischen Feld derMonade, in dem dafür vorgesehenen kritischen Punkt, ein Bild derIdee. Dieses Bild kann wieder nichts anderes sein als eine Zusammen-fügung, eine Verbindung lebendiger Atome, die in ihrer Einswerdungdas Bild, das Ziel der Idee, austragen müssen. So bilden sie eineVerkörperung der Idee.

Die Ideation, die in die Verkörperung einströmt, ist die Beseelung. Die Beseelung wird zwischen der Ideation und der Verkörperung wiedurch Licht erhalten. Hieraus ergibt sich, dass die Verkörperung oderdas Bild der lebendigen Idee das große Werkzeug sein muss, das dieIdee austrägt und bestätigt. Der Körper der Natur ist daher, wie auchimmer, Gott offenbart im Fleisch. Denn auf dem Hintergrund diesermaßlosen Wirksamkeit im Mikrokosmos steht der Geist, Gott.

(...) So gibt es ein Naturgesetz der Zusammenfügung. Nach diesemGesetz fügen sich durch monadische Strahlung lebendige Atomezusammen zu einem Bild der Idee, zu einem Körper. Das Gesetz derZusammenfügung der Atome regelt den Prozess. Diesem Gesetz sindjedoch Grenzen gesetzt. Wenn die Zusammenfügung lebendigerAtome zu einem Körper nämlich unbegrenzt stattfände, dann würdedieser Körper kristallisieren, völlig versteinern, völlig bewegungsloswerden und also nicht mehr seinem Zweck entsprechen. Darum wirdjeder Körper, der unter dem Gesetz der Zusammenfügung gebildetwird, kontrolliert und mit dem göttlichen All in Harmonie gehaltendurch ein zweites Gesetz, das Gesetz der Auflösung. So erkennen wir,

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So etwas wie toten Stoff gibt es im Universum nicht. Hermes sagt inden Versen 31, 32 und 33 (Anm.: des 13. Buches des CorpusHermeticum):

Niemals gab, niemals gibt und niemals wird es in der Welt etwasgeben, das tot ist. Der Vater wollte, dass die Welt lebendig ist, solangesie ihren Zusammenhang bewahrt; daher ist die Welt notwendiger-weise Gott. Wie sollte es auch möglich sein, mein Sohn, dass es inGott, in Ihm, der das Bild des Alls ist, in Ihm, der die Fülle desLebens ist, den Tod geben könnte? Denn Tod ist Verderb undVerderb ist Vernichtung. Wie kann man denn glauben, dass ein Teildessen, was unverderblich ist, verderben oder etwas von Gott ver-nichtet werden könnte?

(…)Die Monade ist von Gott erschaffen; das Gemüt oder die Kernstrah-lung wird entwickelt; die vierfache Persönlichkeit wird als Bild derIdee verwirklicht und dann durch die Monade beseelt.

Das ist der siebenfache totale Mensch, durch den Geist Gottes ent-flammt. Das ist der Beginn der mächtigen Offenbarung Gottes inseinem und durch sein Geschöpf. Und wenn das Geschöpf dann voll-kommen geworden ist, muss das Relief Werte bekommen, Erfahrun-gen sammeln, vollständig selbstverwirklichend werden, aus derErfahrungsfülle in Gottes großer Übungsschule. Dazu dient ein Ent-wicklungsgang durch astronomische Zeitabschnitte in sieben Kreis-läufen, über die sieben Weltkörper, durch die sieben Weltperioden.(…)Daraus erfolgt dann die Auferstehung, die große Wiederherstellung,beladen mit dem Schatz der Vollwertigkeit, die ewige Wiedergeburt

aus dem Heiligen Geist. In dieser ganzen Entwicklungsreise ist derTod eine Fiktion, ist das Böse ein Zwischenfall. Übrig bleibt nur daseine absolute Leben.

Jan van Rijckenborgh (1896-1968), Die Ägyptische Urgnosis und ihr Ruf im ewigen Jetzt, Vierter Teil, 3. Auflage 2005, aus Kap. XIV und XV

120 121Jan van Rijckenborgh

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Das UnzerstörbareErnst Jünger

Ob denn das Sein im Menschen überhaupt vernichtet werden kann?An dieser Frage scheiden sich nicht nur Konfessionen, sondern auchReligionen – sie lässt sich nur aus dem Glauben beantworten. Manmag dieses Sein als das Heil, die Seele, die ewige und kosmischeHeimat des Menschen erkennen – immer wird einleuchten, dass derAngriff auf diese Schicht dem finstersten Abgrund entstammen muss.Auch heute, wo die herrschenden Begriffe nur die Oberfläche desVorgangs fassen, wird geahnt, dass Anschläge im Gange sind, die aufanderes als auf bloße Enteignungen oder Liquidierungen abzielen. Auf einer solchen Ahnung beruht der Vorwurf des „Seelenmords“.

Ein solches Wort kann nur durch einen bereits geschwächten Geistgeprägt werden. Es wird jeden unangenehm berühren, der eine Vor-stellung von der Unsterblichkeit und den auf ihr sich gründendenOrdnungen besitzt. Wo es Unsterblichkeit gibt, ja, wo nur der Glaubean sie vorhanden ist, da sind auch Punkte anzunehmen, an denen derMensch durch keine Macht und Übermacht der Erde erreicht oderbeeinträchtigt, geschweige denn vernichtet werden kann. (...) DiePanik, die man heute weithin beobachtet, ist bereits der Ausdruckeines angezehrten Geistes, eines passiven Nihilismus. (...)Demgegenüber ist es wichtig zu wissen, dass jeder Mensch unsterblichist, und dass ein ewiges Leben in ihm seine Stätte aufgeschlagen hat,die unerforschtes und doch bewohntes Land für ihn bleiben, ja, die erleugnen mag, doch welche keine zeitliche Macht zu brechen imstandeist. Der Zugang bei vielen, ja, bei den Meisten mag einem Brunnengleichen, in welchen seit Jahrhunderten Trümmer und Schutt gewor-fen sind. Räumt man das fort, so findet man am Grunde nicht nur die Quelle, sondern auch die alten Bilder vor. Der Reichtum des

Menschen ist unendlich größer, als er ahnt. Es ist ein Reichtum, denniemand rauben kann, und der im Lauf der Zeiten auch immerwieder sichtbar anflutet, vor allem, wenn der Schmerz die Tiefen auf-gegraben hat.

Das ist es, was der Mensch wissen will. Hier liegt das Zentrum seinerzeitlichen Unruhe. Das ist die Ursache seines Durstes, der in derWüste wächst – und diese Wüste ist die Zeit. Je mehr die Zeit sichausdehnt, je bewusster und zwingender, aber auch je leerer sie in ihrenkleinsten Teilen wird, desto brennender wird der Durst nach den ihrüberlegenen Ordnungen.

Ernst Jünger (1895-1998), Der Waldgang (1950/51), in: Sämtliche Werke Bd. 7, Stuttgart 1979, S. 369 ff.

122 123Ernst Jünger

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Den Tod integrierenJiddu Krishnamurti

Sie wissen, dass der Tod immer eines der Probleme, vielleicht dasgrößte Problem im menschlichen Leben gewesen ist. Nicht die Liebe,nicht die Angst, nicht Beziehungen, sondern diese Frage, diesesGeheimnis, dieses Gefühl des zu Ende Gehens hat die Menschheit seituralten Zeiten beunruhigt. Hier versuchen wir nun zu ergründen, wases damit auf sich hat. Können wir ergründen, was der Tod ist, wennwir ihn vom Leben getrennt haben? Verstehen Sie meine Frage? Ichhabe den Tod als etwas abgetrennt, das am Ende meines Lebens ge-schieht – richtig? –, etwas, das ich aufgeschoben, beiseite getan habe,um einen großen Abstand zwischen dem Leben und dem Sterben zuschaffen. Sterben ist etwas in der Zukunft, etwas, wovor man sichfürchtet, etwas, das man nicht will, das man unbedingt vermeidet.

Doch es ist immer da. Ob durch einen Unfall, durch Krankheit oderhohes Alter, es ist immer da. Ob wir jung sind oder alt, gebrechlichoder voller Lebensfreude, es ist immer da. Man hat gesagt: „DasLeben ist nur ein Weg zum Sterben; der Tod ist viel wichtiger als dasLeben, richte den Blick auf den Tod, anstatt auf das Leben.“ In demWissen, dass es den Tod gibt, haben die Menschen jede erdenklicheForm des Trostes erfunden – Trost im Glauben, in Idealen, in derHoffnung, „zur Rechten Gottes“ zu sitzen, wenn man sich anständigbenimmt, und so weiter und weiter und weiter. Ganz Asien glaubt anReinkarnation. Hier im Westen haben Sie keine so rational erklärbareHoffnung, sondern eine sentimentale.

Wenn Sie sich das alles betrachten – die Glaubensvorstellungen, dieArten des Trostes, den Wunsch nach Trost in dem Wissen, dass es

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Nun existiert diese Trennung, und sie existiert, weil das Denken dasLeben in Leben, Sterben, Liebe und alles Übrige aufgeteilt hat. DasDenken hat den Künstler, den Geschäftsmann, den Sozialisten, denPolitiker voneinander getrennt. Das Denken hat das Leben als dasBekannte von dem Tod als etwas Unbekanntem getrennt. Das sindalles Tatsachen.

Kann nun der Geist, der sich an das Bekannte klammert, ergründen,was unvergänglich ist? Denn das ist es, woran wir uns zu klammernglauben: die bleibende Beziehung zwischen Ihnen und einem anderen,der dauernde Besitz von Land, Eigentum, Geld, Namen, Gestalt, Idee.Ist denn irgendetwas von Dauer – nicht als eine Idee, sondern als eineWirklichkeit? Bitte, arbeiten Sie daran! Gibt es irgendetwas Unver-gängliches – „mein Name, mein guter Ruf, mein Haus, meine Frau,meine Kinder, meine Ideale, meine Erfahrung“? Doch der Geist willUnvergänglichkeit, weil er darin Sicherheit findet. Und wenn ihm klarwird, dass hier nichts unvergänglich ist, nichts, dann erfindet er etwasUnvergängliches in Gott, in einer Idee; und Sie werden feststellen, wieaußerordentlich schwierig es für Menschen ist, ihre Ideen zu ändern.Das ist jetzt unser Kampf, zwischen Ihnen und dem Sprecher, denn Siehaben Ideale oder Ideen oder Bilder, Vorstellungen, die Sie für unver-gänglich halten. Sie haben die Unvergänglichkeit als wirklich akzep-tiert. Dann kommt jemand daher und sagt: „Sehen Sie, nichts istunvergänglich. Ihre Ideen, Ihre Götter, Ihre Erlöser und auch Sie selbstsind vergänglich.“ Und Sie weigern sich, das einzusehen. Wenn Sieerkennen, dass es Vergänglichkeit, Unsicherheit gibt, bringt das IhrLeben durcheinander. Je unsicherer Sie sind, umso neurotischerwerden Sie, um so unausgeglichener; je verrückter die Welt ist, um soverrückter wird alles, was Sie tun. Deshalb brauchen Sie etwas Unver-gängliches, und so erfinden Sie einen Glauben, einen Gott, ein Ideal,eine Überzeugung, ein Symbol. Das alles sind Illusionen, denn es gibt

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einmal zu Ende geht, die Hoffnung, dass Sie im nächsten Leben wei-terexistieren, und die ganze intellektuelle Rationalisierung des Todes –,dann sehen Sie, dass Sie das Sterben vom Leben getrennt haben.Sterben ist vom Leben getrennt, vom täglichen Leben mit allen Kon-flikten, dem Elend, den Bindungen, der Verzweiflung, den Sorgen, derGewalttätigkeit, dem Schmerz, den Tränen und dem Lachen.

Warum hat der Verstand das Leben vom Sterben getrennt? DasLeben, das wir führen, das tägliche Leben, seine Schäbigkeit, seineBitterkeit, seine Leere, die Mühsal, die Routine, das Büro jahrein,jahraus, fünfzig Jahre und mehr, in die Fabrik gehen, das alles nennenwir Leben. Die Zwietracht, den Kampf, den Ehrgeiz, die Korruption,die flüchtigen Zuneigungen und Freuden und Vergnügungen: das istes, was wir Leben nennen. Und wir sagen, der Tod darf nicht in die-sen Bereich eindringen, denn das ist alles, was wir kennen, und denTod kennen wir nicht, deshalb halten wir ihn fern. Und wir klam-mern uns an das Bekannte – bitte beobachten Sie das in sich selbst –,an die Erinnerung an Vergangenes, an den Kummer, die Sorgen, andie Erinnerungen, die Erfahrungen, die alle das Bekannte sind, undsomit die Vergangenheit. Wir klammem uns an die Vergangenheit,denn sie ist das Bekannte. Und das Unbekannte ist der Tod, vor demSie sich fürchten. So existiert eine breite Kluft zwischen dem Bekann-ten und dem Unbekannten. Wir möchten uns lieber an das Bekannteklammem, als den Bereich des Unbekannten zu betreten, denn unserGeist funktioniert immer innerhalb des Bekannten, weil wir daSicherheit haben. Wir denken, da ist Sicherheit, wir denken, da istBeständigkeit; und wenn Sie es betrachten, dann ist es unbeständig, es ist total unsicher. Und doch klammern wir uns daran, denn es istalles, was wir kennen. Das heißt, wir kennen nur die Vergangenheit.Und der Tod ist etwas, das wir nicht kennen.

Jiddu Krishnamurti

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Aufhören dieser Bindung: die Bindung an meinen Namen, dieBindung an meine Familie, an meine Arbeit, an das Buch, das ichgeschrieben habe, an das Buch, das ich hoffe, einmal zu schreiben,oder an das Bild von weiß Gott was sonst, die verschiedenen Formender Bindung. Der Tod ist das Ende dieser Bindung. Nicht wahr?Können Sie nun im Leben, täglich, frei von Bindung sein und daherden Tod willkommen heißen? Verstehen Sie, was ich da sage? HabenSie das verstanden? Mache ich mich verständlich? Das heißt, ich bingebunden an mein Buch, an meinen guten Ruf, an meine Familie,meine Arbeit, an meinen Stolz, meine Eitelkeit, an meine Ehrlichkeit,meine Ruhmsucht, oder was immer es ist, woran ich gebunden bin.Der Tod bedeutet das Ende dieser Bindung. Kann ich nun dieseBindung unverzüglich beenden – und das ist Tod? Damit habe ich denTod in ebendiesen Moment des Lebens eingebracht. Ich habe keineAngst. Wenn der Geist diese Wahrheit erkennt – dass der Tod einEnde der Dinge ist, an die Sie gebunden sind, seien es nun Ihre Möbeloder Ihr Gesicht, Ihre Ideale und so weiter –, dann haben Sie dieseferne Sache, den Tod, in das unmittelbare Handeln des Lebens einge-bracht, und damit endet Ihre Bindung. Der Tod bedeutet also einetotale Erneuerung – verstehen Sie? –, eine totale Erneuerung einesGeistes, der an die Vergangenheit gefesselt war. Und der Geist wirderstaunlich lebendig, er lebt nicht mehr in der Vergangenheit.

Wenn der Geist dieses Handelns fähig ist, und es ist ein außerordent-lich deutliches Handeln, täglich alle Dinge, an die er gebunden ist,ganz und gar zu beenden, jeden Tag und jede Minute, dann leben Siemit dem Leben und dem Tod zugleich. Daraus ergibt sich folgendesProblem: Wenn Sie es nicht tun können, was geschieht dann?Verstehen Sie? Mein Sohn kann es nicht tun, oder mein Freund, meinBruder kann es nicht tun; Sie haben es getan, und ich kann es nicht.Sie haben sich bemüht, Sie sind eifrig, Sie sind achtsam, Sie haben

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nichts Unvergängliches, und doch, wenn der Geist nicht etwas grund-sätzlich Unvergängliches hat, sind all seine Aktivitäten verschroben,neurotisch, unvollständig. Gibt es etwas ganz und gar Unvergängli-ches? Verstehen Sie das alles? Um Gottes willen, begreifen Sie es; es istIhr Leben!

Wenn es nichts Unvergängliches gibt, dann wird das Leben vollkom-men sinnlos. Gibt es also etwas Unvergängliches – nicht ein Hausoder eine Idee, sondern etwas, das weit über diese Vergänglichkeithinausgeht? Wir wollen das herausfinden. Sie müssen aber gut auf-passen, sonst wird Ihnen etwas entgehen.

Wir leben in der Vergangenheit, und die Vergangenheit ist zu unsererUnvergänglichkeit geworden, unserem Zustand der Unvergänglich-keit. Wenn Sie die Illusion der Vergangenheit beobachten und verste-hen, was ergibt sich aus dieser Wahrnehmung? Ich sehe, dass dasLeben in der Vergangenheit gewisse Werte hat: Ich kann nicht Radfahren, ich kann nicht Englisch sprechen oder Auto fahren odergewisse technische Dinge tun, und ich kann nicht Sie, meinen Freundoder meine Frau und meine Kinder, wiedererkennen, ohne das Wissenaus der Vergangenheit. Doch gibt es eine Eigenschaft des Geistes, dienicht von dem Denken entwickelt wurde, das seiner Natur nach ver-gänglich ist? Entsteht aus dieser Wahrnehmung eine Fähigkeit? DieseFähigkeit ist Intelligenz, die weder Ihre noch meine Intelligenz ist. Esist diese Intelligenz, die fähig ist, das Vergängliche zu sehen, ohne inneurotische Gewohnheiten oder Aktivitäten abzuirren. Weil sieIntelligenz ist, verhält sie sich immer richtig. Verstehen Sie?

Mit dieser Intelligenz werden wir jetzt den Tod betrachten. Wir sagen,der Tod ist etwas Unbekanntes. Da wir an alle Dinge, die wir kennen,gebunden sind, ist das, wovor wir uns fürchten, das vollkommene

Jiddu Krishnamurti

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Wenn Sie ein Vorbild sind, dann werden Sie eine tote Persönlichkeitsein; dann haben Sie eine Anhängerschaft; dann werden Sie die Auto-rität; dann sind Sie selbst der Inbegriff der Zerstörung; dann sind Siedie eigentliche Ursache dieses Stroms. Was werden Sie dann tun? Siehaben eine Verantwortung, intelligent zu handeln. Weil Sie das ganzeProblem erkannt haben, bringt die Einsicht in das Muster der ganzenSache, über die wir gesprochen haben, diese Intelligenz hervor, undentsprechend dieser Intelligenz werden Sie handeln, ohne „ich mag“oder „ich mag nicht“. Das ist die Verantwortung.

Jiddu Krishnamurti (1895-1986), Vortrag in Brockwood Park vom 07.08.1974, in: Über das Leben und Sterben. Reflexionen über die letzten Dinge,Frankfurt 2010, S. 66-71

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diese Sache grundsätzlich, radikal verstanden, so dass Sie nicht mehrvon etwas abhängig sind. Diese ganze Abhängigkeit, diese Bindung zubeenden, augenblicklich, das ist Tod. Was aber geschieht mit denen,die nicht diese Intelligenz, diese höchste Vollendung des Handelnserreichen?

Sie wissen, dass die meisten Menschen in der Vergangenheit leben,gedankenlos leben, ohne Vernunft leben. Was geschieht mit all diesenMenschen? Sie selbst sind aus diesem Strom des Lebens herausgetre-ten, was bedeutet, dass Sie mitfühlend sind. Sie wissen, was Sie tun,sind sich der vollen Bedeutung der Vergangenheit, der Gegenwart undder Zukunft bewusst, all dessen, was damit zusammenhängt. Und ichbin es nicht. Ich höre Ihnen nicht einmal zu, es ist mir egal, ich willnur meinen Spaß haben, ich will mich amüsieren, das ist alles, wasmich interessiert. Vielleicht habe ich Angst vor dem Tod, und ich habeden tröstlichen Glauben, dass ich in einem nächsten Leben wiederge-boren werde oder dass ich in den Himmel komme. Was also geschiehtmit mir? Welche Beziehung haben Sie zu mir? Sie, die Sie das allesverstanden haben, Sie sind daher mitfühlend, und Ihr Handeln isthochintelligent und somit vortrefflich, und es interessiert mich nicht,was Sie sagen, tun, schreiben, denken: Ich bin in diesem Strom gefan-gen, so wie die meisten Menschen. Sehr wenige steigen aus diesemStrom aus. Wie ist Ihre Beziehung zu der Person in dem Strom?Haben Sie eine Beziehung zu ihr, oder überhaupt keine? Wie könnenSie irgendeine Beziehung mit dem Geisteskranken haben, wenn Siegeistig gesund sind? Sie können mitfühlend sein. Sie können freund-lich, großzügig und alles andere sein, aber Sie haben keine Beziehung.Was können Sie in diesem Falle tun?

Ihre Verantwortung ist in diesem Falle, wenn Sie außerhalb diesesStromes sind, dieses Leben zu leben. Nicht etwa ein Vorbild zu sein!

Jiddu Krishnamurti

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Die Tilgung „objektiver Schuld“ durch ChristusRudolf Steiner

Es bleibt bestehen die karmische Gerechtigkeit, aber in bezug auf dieWirkungen einer Schuld in der geistigen Welt tritt der Christus ein,der diese Schuld in sein Reich hinübernimmt und weiterträgt.

Der Christus ist derjenige, der in der Lage ist, weil er einem anderenReiche angehört, unsere Schulden und unsere Sünden in der Welt zutilgen, sie auf sich zu nehmen. (...)

Karma ist eine Angelegenheit der aufeinanderfolgenden Inkarnationendes Menschen. Dasjenige, was die karmische Gerechtigkeit bedeutet,muss mit dem Urteil gesehen werden, das unser irdisches Urteil ist.Dasjenige, was der Christus tut für die Menschheit, das muss miteinem Urteil gemessen werden, das anderen Welten als der Erdenweltangehört. (…) Dass die ganze Erde sich mitentwickelt mit den Men-schen, das ist die Folge der Tat des Christus. Alles dasjenige, was fürdie Erde sich anhäufen würde als Schuld, das würde die Erde in dieFinsternis stoßen, und wir würden keinen Planeten haben zur Weiter-entwicklung. Für uns selbst können wir im Karma sorgen, nicht aberfür die ganze Menschheit und nicht für dasjenige, was in der Erden-evolution mit der ganzen Menschheitsevolution zusammenhängt.

So seien wir uns denn klar darüber, dass das Karma zwar nicht vonuns genommen wird, wohl aber, dass getilgt werden unsere Schuldenund Sünden für die Erdenentwicklung durch dasjenige, was eingetre-ten ist durch das Mysterium von Golgatha. Nun müssen wir uns janatürlich klar sein, dass das alles selbstverständlich nicht dem Men-schen zufließen kann ohne sein Zutun, dass es ihm nicht zufließenkann ohne seine Mitwirkung. (...)

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134 135Rudolf Steiner

Der Mensch muss sich erfüllen in seiner Seele mit dem Substanzgehaltder Christus-Wesenheit; er muss gleichsam von dem Christus in seineSeele etwas aufgenommen haben, so dass der Christus in ihm wirk-sam ist und ihn hinaufträgt in ein Reich, in dem der Mensch zwarnicht die Macht hat, sein Karma unwirksam zu machen, aber in demdurch den Christus das geschieht, dass unsere Schuld und unsereSünden getilgt werden für die Außenwelt. (...) Denn dadurch, dass derChristus auf Golgatha gestorben ist, wird der Mensch nicht sehenseine Schuldentafeln, sondern er wird den sehen, der sie übernommenhat. (…)

Wir sehen da in tiefe Geheimnisse des Erdenwerdens hinein. Aber wasist notwendig, um den wahren Tatbestand zu durchschauen auf die-sem Gebiet? Das ist notwendig, dass die Menschen die Möglichkeithaben, gleichgültig ob sie Sünder oder Gerechte sind, auf den Christushinzuschauen, dass sie keine leere Stelle da sehen, wo der Christusstehen soll. Der Zusammenhang mit dem Christus ist notwendig. (...)

Unsägliches Leid müsste man mittragen, wenn nicht ein Wesen mitder Erde sich verbunden hätte, welches das, was von uns nicht mehrabgeändert werden kann, für die Erde ungeschehen machte. DiesesWesen ist der Christus. Nicht subjektives Karma, aber die geistigenobjektiven Wirkungen der Taten, der Schuld, die nimmt er uns ab.Das ist dasjenige, was wir, wie gesagt, in unserem Gemüt weiterver-folgen müssen. Dann werden wir es erst verstehen, dass der Christusim Grunde genommen diejenige Wesenheit ist, die mit der ganzenMenschheit im Zusammenhang steht, mit der ganzen Erdenmensch-heit; denn die Erde ist um der Menschheit willen da. Also auch mitder ganzen Erde steht der Christus im Zusammenhang. Und das istdes Menschen Schwäche, die eingetreten ist infolge der luziferischenVerführung, dass der Mensch zwar imstande ist, sich subjektiv im

Karma zu erlösen, dass er aber nicht imstande wäre, die Erde mitzu-erlösen. Das vollbringt das kosmische Wesen, der Christus. (...)

Alles das, was uns der Christus ist, ist er uns dadurch, dass er nichtein Wesen ist wie andere Menschen, sondern ein Wesen, das vonoben, das heißt aus dem Kosmos, bei der Johannestaufe im Jordan indie menschliche Erdenentwicklung eingeflossen ist. Alles spricht fürdie kosmische Natur des Christus. Und wer im tiefen Sinne auffasst,wie der Christus sich stellt zu Sünde und Schuld, der möchte so sagen:Es musste, eben weil der Mensch im Laufe des Erdendaseins seineSchuld nicht tilgen konnte für die ganze Erde, ein kosmisches Wesenheruntersteigen, dass es doch möglich gemacht werde, dass dieErdenschuld getilgt werde.

Wahres Christentum kann gar nicht anders, als den Christus als einkosmisches Wesen anzusehen. Dann aber werden wir in unserer Seeletief, tief durchdrungen werden von dem, was eigentlich die Wortebedeuten: „Nicht ich, sondern der Christus in mir.“ Denn dannstrahlt von dieser Erkenntnis in unsere Seele etwas über, was ich nichtanders bezeichnen kann als mit den Worten: Wenn ich mir erlaube zusagen „nicht ich, sondern der Christus in mir“, so gestehe ich mir indiesem Augenblick, dass ich der Erdensphäre enthoben werde, dass inmir etwas lebt, was für den Kosmos Bedeutung hat, dass ich gewür-digt werde als Mensch, in meiner Seele etwas zu tragen, was außer-irdisch ist. Und eine ungeheure Bedeutung wird übergehen in dasBewusstsein des Menschen, durchchristet zu sein. Und er wird ver-binden mit diesem Paulinischen Ausspruch „nicht ich, sondern derChristus in mir“ auch das Gefühl, dass er nun tiefsten, tiefsten Ernstmachen muss gegenüber seiner innerlichen Verantwortlichkeit demChristus gegenüber. (...)

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Das Gefühl wird entstehen in der Menschheit, wenn sie es ernstnimmt mit dem Christus, dass man sich dieses Christus’, der in unslebt, würdig erweisen soll dadurch, dass man es immer gewissenhafterund gewissenhafter nimmt mit diesem Christus, diesem kosmischenPrinzip in uns. (...)

Dasjenige, was man in einem gewissen Sinne christliches Gewissennennen kann, das wird, wenn der Christus immer mehr und mehreinzieht in die Seelen, auch einziehen; das wird einziehen, wenn dieSeelen sich der Anwesenheit des Christus bewusst werden, wenn dasPaulus-Wort wahr wird: „Nicht ich, sondern der Christus in mir.“

Aus: Christus und die menschliche Seele, Fünf Vorträge 1914,Gesamtausgabe 155, S. 184 ff.

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Das GanzeRainer Maria Rilke

(…)Wir, diese Hiesigen und Heutigen, sind nicht einen Augenblick in derZeitwelt befriedigt, noch in sie gebunden; wir gehen immerfort überund über zu den Früheren, zu unserer Herkunft und zu denen, diescheinbar nach uns kommen. In jener größesten „offenen“ Welt sindalle, man kann nicht sagen „gleichzeitig“, denn eben der Fortfall derZeit bedingt, dass sie alle sind. Die Vergänglichkeit stürzt überall inein tiefes Sein. Und so sind alle Gestaltungen des Hiesigen nicht nur zeitbegrenzt zugebrauchen, sondern, soweit wirs vermögen, in jene überlegenenBedeutungen einzustellen, an denen wir Teil haben. Aber nicht imchristlichen Sinne (von dem ich mich immer leidenschaftlicher entfer-ne), sondern in einem rein irdischen, tief irdischen, selig irdischenBewusstsein gilt es, das hier Geschaute und Berührte in den weiteren,den weitesten Umkreis einzuführen. Nicht in ein Jenseits, dessenSchatten die Erde verfinstert, sondern in ein Ganzes, in das Ganze.(…)

Aus einem Brief zu den Elegien an Witold Hulewicz, 1925, in: Briefe, Band 2, Wiesbaden 1950, S. 481 f.

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Mysterientod und AuferstehungKonrad Dietzfelbinger

Was bedeutet es, dass Jesus „auferweckt werden“ müsse? Wie ist esmöglich, dass er die Macht des Todes bricht und unsterblich aufer-steht? Ist die Auferweckung – oder Auferstehung – ein magischerEingriff Gottes in die Naturgesetze? Setzt Gott die Naturgesetze außerKraft, und ist die „Auferstehung“ das größte Wunder des Evangeliums,an das man nur glauben kann – oder eben nicht?

Das Evangelium spricht eine andere Sprache. Die „Auferweckung“oder „Auferstehung“ von den Toten ist ein naturgesetzmäßiger Vor-gang, kein Wunder im Sinn einer Durchbrechung der Naturgesetze. In der „Auferstehung“ von den Toten kommt der spirituelle Weg,welcher im Evangelium in allen Aspekten geschildert wird, zu seinemZiel. Sie ist der zentrale Inhalt des Christentums, und kein Inhalt, anden man blind glauben müsste, sondern ein Vorgang, der wie einorganischer Prozess verläuft und von jedem Menschen, falls dieBedingungen des spirituellen Weges erfüllt werden, nachvollzogenwerden kann. In ihm liegt der Sinn des Christentums als Religion derFreiheit, der Befreiung des Menschen von der irdischen Dimensionund des Aufgehens in einer göttlichen Dimension.

Was ist die Ursache des Todes? So paradox es klingt: Die Ursache desTodes ist der Trieb zum Leben – zum vergänglichen Leben. Der irdi-sche Mensch schneidet sich in seiner Liebe zu sich selbst und zur ver-gänglichen Welt von der unvergänglichen göttlichen Welt und derenunerschöpflichen Kräften ab und geht so aus Mangel an Kräften un-weigerlich zu Grunde. Wenn daher ein Mensch die Macht des Todesbrechen will, muss er die Ursache des Todes beseitigen. Er muss seine

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Jesus vollzog diesen Mysterientod des alten irdischen Menschen zeitseines Lebens. Er bestand die drei Versuchungen. Das bedeutet, er ließdie Eigenliebe und die Liebe zum irdischen Leben, personifiziert durchden „Teufel“, „ersterben“. In seinen göttlichen Kräften und durch sielöste er bewusst den Trieb nach Besitz, Anerkennung und Macht auf.Durch seine öffentliche Tätigkeit des Lehrens und Predigens, Heilensund Befreiens ließ er andererseits diese göttlichen Kräfte in sich inUmlauf kommen und baute mit ihrer Hilfe, stets aus ihnen lebend,eine neue Persönlichkeit nach Denken, Fühlen und Wollen auf. Durchsein Handeln im Sinne dieser Kräfte befestigte er sie im eigenenWesen.

Dies muss sich vergegenwärtigen, wer verstehen will, warum Jesus amdritten Tag „auferweckt werden“ konnte. Er hatte die Voraussetzungdafür zeit seines Lebens geschaffen. Er war bewusst den Mysterientodals Voraussetzung für die Auferstehung gestorben. Nur wer sichdiesen Zusammenhang deutlich macht, wird die „Auferstehung“ ver-stehen.

Es ist nicht so, dass nach dem gewaltsamen Tod am Kreuz Jesus wiedurch göttliche Magie wieder zum Leben erweckt worden wäre. Daswäre ein fatales Missverständnis. Wäre er nicht vorher schon, wäh-rend seines Lebens, den Mysterientod gestorben, so hätte er nicht„auferweckt werden“ können. Wäre nicht schon im Leben das göttli-che Wesen Jesu, das unsterbliche wahre Selbst, erwacht, so wärenichts dagewesen, was nach dem physischen Tod hätte auferwecktwerden können. Kein Leichnam kann wieder zum Leben erwecktwerden. Es besteht kein Zusammenhang zwischen dem physischenLeichnam Jesu und der Auferstehung, sondern nur ein Zusammen-hang zwischen dem Mysterientod und der Auferstehung. Bei derLektüre des Evangeliums kann nur deshalb ein anderer Eindruck ent-

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Liebe zum irdischen Leben, seinen Lebenshunger „verlieren“, wenn erdas wahre, ewige Leben „finden“ will (Matth. 16, 25). Anders gesagt:Der irdische Mensch in seiner Liebe zum Leben muss „sterben“,damit der spirituelle Mensch, das „Ebenbild Gottes“, „auferstehen“kann. Dieser spirituelle Mensch wird, mit der unvergänglichen göttli-chen Welt vereint, aus unerschöpflichen göttlichen Kräften leben undsomit unsterblich sein.

Das bewusste „Sterben“ des Lebenshungers des irdischen Menschenin den göttlichen Kräften ist seit alters her als „Mysterientod“bezeichnet worden. Es ist ein bewusstes, freiwilliges Absterben-Lassenaller Aspekte der Liebe zum irdischen Leben, wodurch das wahreLeben gefunden wird. Der „Mysterientod“ ist somit die Voraus-setzung für die „Auferstehung“. Der Schüler auf dem spirituellen Wegerkennt seine Liebe zum Leben, seinen „Lebenshunger“, und lässt ihnin den göttlichen Kräften, die aus dem „Ebenbild Gottes“ in ihm er-wachsen, „ersterben“. Er verliert das alte Leben um des „EbenbildesGottes“ willen, wodurch er dieses Ebenbild, das wahre Leben, findet.Seine wahre Identität, das „Ebenbild Gottes“, erwacht, wächst, wirdbewusst und ersteht auf in dem Maß, wie seine unwahre Identität,das sich selbst und die Welt liebende Ich-Wesen, bewusst denMysterientod stirbt.

Diesen doppelten Prozess vollzieht der Schüler schon während seinesLebens. Der spirituelle Weg ist dieser Prozess. Der Meister lebt ihnvor. Er hat ja freiwillig einen irdischen Körper mit einem von Eigen-und Weltliebe erfüllten Ich angenommen, um dieses Ich im Mysterien-tod bewusst ersterben und sein wahres Selbst auferstehen zu lassen.So schafft er Bahn für seine Schüler, ihm in demselben Prozess nach-zufolgen.

Konrad Dietzfelbinger

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stehen, weil im Text die Tatsache des physischen Todes Jesu unmittel-bar vor der Tatsache der Auferstehung steht. Der Evangelist musste soverfahren, um klarzustellen, dass wirklich der physische Tod durchJesus überwunden war. Aber wenn sich nach dem physischen TodJesu seine Auferstehung ereignet, so nur, weil schon vor dem physi-schen Tod der Mysterientod erfolgt und ein neues unsterbliches Lebenangelegt worden war. Allein durch den Mysterientod wird der physi-sche Tod überwunden und das unsterbliche Leben, die Auferstehung,gewonnen.

Auf diese Weise brach Jesus die Macht des Todes. Er inkarnierte ineinen dem Tod unterworfenen irdischen Körper, um dessen Tod durchden Mysterientod zu überwinden. Er überwand die Eigen- undWeltliebe des irdischen Menschen, die Ursache der Trennung vonGott – und damit die Ursache des Todes.

Danach ermöglichte er seinen Schülern, dasselbe zu tun. Er hob denTod, den jeder für sich sterben muss, nicht für sie auf. Er wird auchniemandes Leichnam am Jüngsten Tag zum ewigen Leben erwecken.Zum ewigen Leben erweckt wird nur, wer selbst, in den göttlichenKräften, durch den Mysterientod den physischen Tod überwindet.Wer als Schüler Jesu den Mysterientod stirbt, wird vom physischenTod, der naturgesetzmäßigen Folge der Trennung von Gott, erlöst.Dazu muss er den spirituellen Weg gehen, zwar mit Hilfe einesErlösers, aber in eigener Seelenarbeit.

Zum Leben „erweckt“ wird nicht der irdische Mensch: Dieser gehörtseiner Natur nach der Sphäre des vergänglichen Lebens an und kannihr niemals entrinnen. Er wird unweigerlich und für ewig sterben. Das„Ebenbild Gottes“ hingegen ist von vornherein unsterblich undgehört zur Sphäre der unvergänglichen göttlichen Welt.

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Wenn das irdische Wesen durch den freiwilligen Mysterientod„stirbt“, ersteht der spirituelle Mensch, das „Ebenbild Gottes“, auf.

Konrad Dietzfelbinger (geb. 1940), Werdet vollkommen: Die Bestimmung des Menschen im Evangeliumnach Matthäus, Petersberg 2011, S. 234 ff.

Konrad Dietzfelbinger

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AuferstehungErnst Jünger

Dann über „Auferstehung“. Daran hatte ich kaum je einen Zweifel,im Gegenteil: diese unsere innerzeitliche Existenz kam mir mit derZeit immer unwirklicher, dünner, schattenhafter vor.Die Auferstehung wirkt glaubwürdiger als die Wiederkehr, an der ichebensowenig zweifle – etwa an der Wiederkehr mythischer Figuren inden historischen –, denn schon die Tatsache der Vererbung vonPhysiognomien und Charakteren bezeugt sie deutlich genug. Dochbleibt sie auf den natürlichen, mythischen und historischen Zusam-menhang beschränkt. Die Auferstehung dagegen ist außerzeitlich, istreine Aufzeigung unzerstörbarer Substanz. (…) Wandlung undWiederkehr: oft und in Stufen; Auferstehung nur ein Mal. Wandlungim Zwischenreich, Verwandlung in einer völlig neuen Dimension.

Ernst Jünger (1895-1998), aus Siebzig Verweht II (27.04.71), in: Sämtliche Werke Bd. 5, Stuttgart 1979, S. 18 f.

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Von der großen Sehnsucht Friedrich Nietzsche

(...)„Ist alles Weinen nicht ein Klagen? Und alles Klagen nicht einAnklagen?“ Also redest du zu dir selber, und darum willst du, ohmeine Seele, lieber lächeln, als dein Leid ausschütten.– in stürzende Tränen ausschütten all dein Leid über deine Fülle undüber all die Drängnis des Weinstocks nach Winzer und Winzermesser!Aber willst du nicht weinen, nicht ausweinen deine purpurneSchwermut, so wirst du singen müssen, o meine Seele! – Siehe, ichlächle selber, der ich dir solches vorhersage: – singen, mit brausendem Gesange, bis alle Meere still werden, dasssie deiner Sehnsucht zuhorchen, – – bis über stille sehnsüchtige Meere der Nachen schwebt, das güldeneWunder, um dessen Gold alle guten, schlimmen, wunderlichen Dingehüpfen: – – auch vieles große und kleine Getier und alles, was leichte, wunder-liche Füße hat, dass es auf veilchenblauen Pfaden laufen kann, – – hin zu dem güldenen Wunder, dem freiwilligen Nachen und zuseinem Herrn: das aber ist der Winzer, der mit diamantenem Winzer-messer wartet, – – dein großer Löser, oh meine Seele, der Namenlose – – dem zukünfti-ge Gesänge erst Namen finden! Und wahrlich, schon duftet dein Atemnach zukünftigen Gesängen, – – schon glühst du und träumst, schon trinkst du durstig an allen tie-fen, klingenden Trost-Brunnen, schon ruht deine Schwermut in derSeligkeit zukünftiger Gesänge! – –

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– O meine Seele, nun gab ich dir alles und auch mein Letztes und allemeine Hände sind an dich leer geworden: – dass ich dich singen hieß, siehe, das war mein Letztes!Dass ich dich singen hieß, sprich nun, sprich: wer von uns hat jetzt –zu danken? – Besser aber noch: singe mir, singe, o meine Seele! Undmich lass danken! –

Also sprach Zarathustra

Aus: Also sprach Zarathustra, Dritter Teil, Baden-Baden 1976, S. 226-227

150 151Friedrich Nietzsche

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Weitere Quellenangaben

Seite 32 Hermenn Hesse (1877-1962),Im Nebel, aus: Hermann Hesse, Vom Baum des Lebens,Insel-Bücherei Nr. 454, S. 21

Seite 64/65 Max Scheler (1874-1928),Auszug aus: Der Tod, in: Tod und Fortleben,Ges. Werke, Bd. 10, Bern 1957, S. 1 ff.

Seite 104 Rose Ausländer (1901-1988),In dir, aus: Mutterland. Einverständnis,Fischer Taschenbuch, Frankfurt 1982, S. 117

Bild Seite 20 Anita Vieten, Kontemplation,Acryl, Keilrahmen 40 x 50

Bild Seite 138 Anita Vieten, Aufbruch mit blauem Einhorn,Acryl, Keilrahmen 50 x 70

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Weitere Broschüren

Alle Broschüren sind über www.stiftung-rosenkreuz.de und über den DRP Rosenkreuz Verlag (www.drp-rosenkreuz-verlag.de),Tel. 02681 987641, zu beziehen.

Das Gehirn und die Anatomie der Befreiung Dr. Roger Kalbermatten, Kesswil Dr. Stephan Sigrist, Bern

Wissenschaft und Religion Dr. Dagmar Uecker, Bad Soden

Nachtmeerfahrten – Eine Reise in diePsychologie und Spiritualität von C.G. Jung Gary Lachman, London Hanni Studer, Bern Rüdiger Sünner, Berlin

Paracelsus – Vom Sichtbaren zum Verborgenen Dr. Klaus Bielau, Graz Hanni Studer, Bern Dr. Stephan Sigrist, Bern Dr. Roger Kalbermatten, Kesswil

Alchemie einst und heuteDr. Dierk Suhr, Waiblingen Dr. Dagmar Uecker, Bad Soden

Die Heilkraft der Seele Dr. Dagmar Uecker, Bad SodenDr. Steffen Lenhard, Idstein

Vom Weltenherzen gerufen Symposium in den NiederlandenWies Kuiper (Theosophie)

Henk Masselink (Freimaurerei)

W.E. Scherphuizen Rom (Anthroposophie)

H.J. Witteveen (Int. Sufi-Orden)

Klaas-Jan Bakker (AMORC)

Ger Westenberg (Rosenkreuzer-Gemeinschaft)

Joost Ritman (Lectorium Rosicrucianum)

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Heilige Geometrie und das Geheimnis der Zahlen Andreas Beutel, DresdenUrsula Korb, München

Mann-Frau – Eine neue Vision der Einheit Karin Metzenthin, CalwMarianne Sigrist, BernDr. Roger Kalbermatten, KesswilDr. Stephan Sigrist, Bern

Einweihung, Erleuchtung,Befreiung Francisco Casanueva, Saragossa

Grenzüberschreitungen:Das Thomasevangelium Dr. Martin Zichner, RoßtalBettina Löber, ZiegenhagenErich Franke, Kassel

Der Weg ins Licht – Das gnostische Evangelium nach Philippus Dr. Konrad Dietzfelbinger, München Angela Paap, NürnbergHanni Studer, BernDr. Gunter Friedrich, Troisdorf

Maria Magdalena – Das Universum der Seele Sarah Mink, Norbert Mink, SchenkelbergChrista M. Siegert, ZavelsteinAnita Wolff-Manko, SchlangenbadHildegard Müller, Bad Soden

Die Kraft der Stille 1 Hamdi Alkonavi, BerlinAndreas Packhäuser, Plön

Die Kraft der Stille 2 Herbert Ludwig, PforzheimUlla Schreiber, StürzelbachDr. Paul Köppler, Bonn

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Mozarts Zauberflöte – Weg der EinweihungDas Labyrinth – Der Zauberflöte zweyter Theil Hans-André Stamm, LeverkusenUlla Schreiber, StürzelbachMichael Rüttinger, ParsbergGerd Scherm, ColmbergFranck Holzkamp, Celle

Mensch und Erde 1 – Wege zu einem inneren Klimawandel Wolfgang Scheid-Franke, KasselDieter Pommerening, BramscheWerner Heidenreich, KölnGeorgi Gürov, OsnabrückDr. Gunter Friedrich, Troisdorf

Mensch und Erde 2 – Wege zu einem inneren Klimawandel Firos Holterman ten Hove, WeitnauRoland van Vliet, MaastrichtDr. Paul Köppler, BonnAxel Janßen, Birnbach

Was ist das Positive an unserer Zeit? –Ursprung und Zukunft im Lichte derGegenwartSteffen Hartmann, HamburgFiros Holterman ten Hove, WeitnauAndreas Packhäuser, Plön

Stufen der Seelenentwicklung –Auf dem Weg zum transpersonalen BewusstseinEdeltraud Elsas, HeroldsbachDr. Dagmar Uecker, Bad Soden

Kunst und Spiritualität heute Prof. Dr. Raimer Jochims, MaintalMichael Evers, KasselMartin Weyers, LudwigshafenDr. Peter Guttenhöfer, KasselRüdiger Sünner, BerlinJürgen Binder, Sörth

Kunst und ErkenntnisProf. Dr. Raimer Jochims, MaintalAlfred Bast, Abtsgmünd-Hohenstadt

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