St. Peter-Ording Erinnerungen an Kiel Jochen Steffen · schen Gegner angreifen und verletzen...

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Als ich ihn kennen lernte, betrat er den über- füllten Hörsaal der Freien Universität Berlin vor mehreren tausend Studentinnen und Stu- denten, Assistenten, Professoren und auswärti- gen Gästen sowie weiteren Referenten im Au- ditorium Maximum. Die Studenten saßen auf Fensterbänken und Treppen in dicken Trauben. Die Atmosphäre war geladen, die Lautstärke zum Teil unerträglich, Pfiffe, Gelächter, Zwischenrufe erfüllten den großen Raum. Es war nicht schwer, die Vertreter des Verfassungsschutzes in ihren diskre- ten Anzügen zu erkennen. Auch Polizistengruppen standen in dunk- len Ecken. Die Menge war aufgeregt, da der AStA zu Themen der gesellschaftlichen Revolution und Entwicklung neben Soziologen und linken Gewerkschaftern einen sozialdemokratischen Politiker eingeladen hatte. Den Sozi würde man auslachen und fertig machen. Es war die Zeit der Sit-ins und Teach-ins, die Zeit der „Kriti- schen Universität“, die Zeit der Emanzipation von den altherge- brachten Regeln der Professorenuniversität. Es war die Zeit der weltweiten Kritik am Vietnam-Krieg der Amerikaner, aber auch der Beginn der Aufarbeitung der Naziverbrechen der Elterngeneration. Einige wenige Professoren wurden respektiert als humane und intel- lektuelle Autoritäten - der Theologe Helmut Gollwitzer etwa oder der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Herbert Marcuse –, Politiker wie der Berliner Bürgermeister Klaus Schütz aber wur- den demonstrativ ausgepfiffen. Nur wenige bekannte Sozialdemo- kraten trauten sich zur Diskussion (etwa Schulsenator Carl-Heinz Evers) – obwohl Jungsozialisten und linke Sozialdemokraten in den Studentenvertretungen meist die Organisation der Veranstaltungen wahrnahmen. Jochen Steffen war seit einigen Jahren Landes- und Fraktions- vorsitzender der SPD in Schleswig-Holstein und galt als linker Flü- gelmann der Partei. Im Gegensatz zu Anderen verzichtete er auf tak- tische und opportunistische Einlagen: Seine Gesellschaftsanalyse war fundamental und gespickt mit marxistischen Zitaten. Anfangs wollten seine Gegner ihn deshalb als Heuchler darstellen, aber dann hörten immer mehr zu. Steffen nahm keine Rücksicht auf die kon- servativen Strukturen und programmatischen Leitsätze seiner Partei – er deklamierte aus seiner souveränen Überzeugung heraus und provozierte seinerseits die aufmüpfigen Studenten wegen ihres cha- otischen Handelns. Seine plattdeutschen Kommentare und Döntjes riefen immer mehr Lacher und zustimmenden Beifall hervor. Sein immer wiederholtes Credo war: „ Für diese Arbeiterbewegung er- folgt der Aufbau der Gesellschaft auf den Interessen derjenigen, die in der Gesellschaft ganz unten sind, die Erniedrigten und Beleidig- ten. Dazu verpflichten uns Menschlichkeit und Solidarität gleicher- maßen.“ Wir junge Sozialdemokraten im AStA und den Studentenvertre- tungen waren begeistert und luden den Schleswig-Holsteiner immer wieder ein. Steffen war einer der ganz wenigen Sozialdemokraten, Gert Börnsen: Erinnerungen an Jochen Steffen Gert Börnsen Erinnerungen an Jochen Steffen 309 Kiel St. Peter-Ording

Transcript of St. Peter-Ording Erinnerungen an Kiel Jochen Steffen · schen Gegner angreifen und verletzen...

  • Als ich ihn kennen lernte, betrat er den über-füllten Hörsaal der Freien Universität Berlinvor mehreren tausend Studentinnen und Stu-denten, Assistenten, Professoren und auswärti-gen Gästen sowie weiteren Referenten im Au-ditorium Maximum. Die Studenten saßen aufFensterbänken und Treppen in dicken Trauben.

    Die Atmosphäre war geladen, die Lautstärke zum Teil unerträglich,Pfiffe, Gelächter, Zwischenrufe erfüllten den großen Raum. Es warnicht schwer, die Vertreter des Verfassungsschutzes in ihren diskre-ten Anzügen zu erkennen. Auch Polizistengruppen standen in dunk-len Ecken. Die Menge war aufgeregt, da der AStA zu Themen dergesellschaftlichen Revolution und Entwicklung neben Soziologenund linken Gewerkschaftern einen sozialdemokratischen Politikereingeladen hatte. Den Sozi würde man auslachen und fertig machen.

    Es war die Zeit der Sit-ins und Teach-ins, die Zeit der „Kriti-schen Universität“, die Zeit der Emanzipation von den altherge-brachten Regeln der Professorenuniversität. Es war die Zeit derweltweiten Kritik am Vietnam-Krieg der Amerikaner, aber auch derBeginn der Aufarbeitung der Naziverbrechen der Elterngeneration.Einige wenige Professoren wurden respektiert als humane und intel-lektuelle Autoritäten - der Theologe Helmut Gollwitzer etwa oderder deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Herbert Marcuse–, Politiker wie der Berliner Bürgermeister Klaus Schütz aber wur-den demonstrativ ausgepfiffen. Nur wenige bekannte Sozialdemo-kraten trauten sich zur Diskussion (etwa Schulsenator Carl-HeinzEvers) – obwohl Jungsozialisten und linke Sozialdemokraten in denStudentenvertretungen meist die Organisation der Veranstaltungenwahrnahmen.

    Jochen Steffen war seit einigen Jahren Landes- und Fraktions-vorsitzender der SPD in Schleswig-Holstein und galt als linker Flü-gelmann der Partei. Im Gegensatz zu Anderen verzichtete er auf tak-tische und opportunistische Einlagen: Seine Gesellschaftsanalysewar fundamental und gespickt mit marxistischen Zitaten. Anfangswollten seine Gegner ihn deshalb als Heuchler darstellen, aber dannhörten immer mehr zu. Steffen nahm keine Rücksicht auf die kon-servativen Strukturen und programmatischen Leitsätze seiner Partei– er deklamierte aus seiner souveränen Überzeugung heraus undprovozierte seinerseits die aufmüpfigen Studenten wegen ihres cha-otischen Handelns. Seine plattdeutschen Kommentare und Döntjesriefen immer mehr Lacher und zustimmenden Beifall hervor. Seinimmer wiederholtes Credo war: „ Für diese Arbeiterbewegung er-folgt der Aufbau der Gesellschaft auf den Interessen derjenigen, diein der Gesellschaft ganz unten sind, die Erniedrigten und Beleidig-ten. Dazu verpflichten uns Menschlichkeit und Solidarität gleicher-maßen.“

    Wir junge Sozialdemokraten im AStA und den Studentenvertre-tungen waren begeistert und luden den Schleswig-Holsteiner immerwieder ein. Steffen war einer der ganz wenigen Sozialdemokraten,

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  • Alle im Folgenden abgedruckten Fotografi-en stammen von Arne Börnsen (dem Bru-der von Gert Börnsen). Arne Börnsen ist studierter Schiffstechni-ker, war unter anderem tätig bei der ‚A. G.Weser‘, Schiffbau und Maschinenfabrik inBremen und in der Investitionsplanung derDaimler-Benz AB, Werk Bremen. 1980 bis1983 sowie 1987 bis 1998 vertrat Börn-sen (SPD) den Wahlkreis Verden/Oster-holz (Niedersachsen) im Deutschen Bun-destag und machte sich einen Namen alsFachmann für Post und Telekommunikation.Nach Abschluss seiner Abgeordnetentätig-keit wurde Börnsen zunächst Vizepräsi-dent der Regulierungsbehörde für Telekom-munikation und Post in Bonn, wechselteanschließend in die Unternehmensbera-tung, seit 2003 als Inhaber der ‚AB Con-sulting‘ mit Sitzen in Düsseldorf und Berlin.Arne Börnsen ist ein passionierter Foto-graf. Die hier reproduzierten Aufnahmensind als Schwarz-Weiß-Negative entstan-den. Unsere für die Beiträge von Gert Börnsenund Friederike Steiner vorgenommene Aus-wahl an Fotografien Joachim Steffens ent-stand – mit einer vermerkten Ausnahme –auf dem SPD-Landesparteitag am 7./8.Juni 1975 in Travemünde. Es ist jener Par-teitag, an dem der Landesvorsitz der SPDvon Joachim Steffen auf Günther Jansenüberging. (Uwe Danker)

    Joachim Steffens Abschiedsrede als SPD-Landesvorsitzender auf dem SPD-Landes-parteitag am 7./8. Juni 1975 in Tra-vemünde. Der Bedeutung gemäß filmt derNDR, hier ein (zeitgemäß langhaariger)Kameramann hinter dem Redner erkenn-bar.Foto: Arne Börnsen

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  • die mit lautem Trommeln den Saal verlassen konnten. Die BerlinerSPD – ohnehin überwiegend stockkonservativ bis reaktionär – hätteihn am liebsten geächtet; die jungen Leute aber liefen ihm in Scha-ren zu. Jochen Steffen war 1968/69 nicht nur in seinem Landesver-band, sondern an den Universitäten und in zahlreichen großen Städ-ten ein wirkungsvoller Magnet für das soziale und globale Weltge-wissen der jungen Leute, die nach neuen Perspektiven suchten.

    Jochen Steffen ist seit über zwei Jahrzehnten tot, er starb nachlanger Krankheit am 27. September 1987 mit 65 Jahren in Kiel. Bisheute ist der Redner und Buchautor, von dem zahlreiche Konzeptevorliegen, von seiner Partei oder der politischen Öffentlichkeit nichtgewürdigt worden. Er hat eine ganze Generation von jungen Men-schen beeinflusst und ein demokratisches Leitbild vorgeführt. Unddoch ist nur weniges aus seinem Denken und Handeln geblieben.

    Als Jochen Steffen im Mai 1946 der SPD beitrat, merkte seineMutter an, nun „sei er in Hein Butter sein Verein“. Im agrarischenSchleswig-Holstein waren das die Dorftrottel.

    Karl Joachim Jürgen Steffen wurde am 19. September 1922 inKiel geboren, er machte 1941das Notabitur, war Marine-Soldat; erheiratete drei Tage nach der Kapitulation am 11. Mai 1945 in Schles-wig die Berliner Mode-Designerin und ehemaligen Feldwebel inGotenhafen, Ilse Annemarie Johanna Zimmermann, die ihn zehnJahre lang finanzierte. Er studierte an der Universität Kiel Literatur-wissenschaft, Philosophie, Psychologie und Soziologie bis 1949.Anderthalb Jahre war er Assistent des Kieler Professors MichaelFreund am Seminar für Wissenschaft und Geschichte der Politik.1954 wurde er Landesvorsitzender der Jungsozialisten (und erhieltprompt ein Jahr später „Redeverbot“ wegen massiver Kritik am Par-teivorsitzenden Ollenhauer). Im gleichen Jahr wurde sein SohnJens-Peter geboren. Steffen wurde Chefredakteur bei der „Flensbur-ger Presse“ und Leitartikler der Kieler „Volkszeitung“, kandidiertevergeblich für den Deutschen Bundestag, kam aber über die Landes-liste 1958 in den Schleswig-Holsteinischen Landtag. 1965 wurde ernach Walter Damm Landesvorsitzender und im Oktober 1966 (imHandstreich gegen Wilhelm Käber) Fraktionsvorsitzender und Op-positionsführer, er war Spitzenkandidat der SPD in den Landtags-wahlkämpfen 1967 und 1971. Noch in der Wahlnacht 1971 – nachschwerer Erkrankung – gab er seinen stufenweisen Rücktritt be-kannt: 1973 trat er als Fraktionsvorsitzender zurück und gab 2 Jahrespäter auch den Landesvorsitz auf. Steffen war Mitglied des SPD-Bundesvorstands ab 1968 und wurde später Vorsitzender der Grund-wertekommission. Aus tiefer Enttäuschung verließ er im November1979 seine Partei. Er schrieb einige Bücher („Strukturelle Revoluti-on“), zahlreiche Aufsätze und Satiren, und lebte zuletzt mit seinerFrau in Österreich.

    Steffen war gleichzeitig Journalist und Politiker, was kaum har-monieren konnte. Sein Redakteurskollege Gerhard Gründler sprachvon einer „Doppelbegabung mit letztlich Unvereinbarem“, die „ihn

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  • ins Abseits“ drängte. Steffen hatte genialen Sprachwitz und Anlagenzu einem Volksschriftsteller. Seine größte Stärke aber war die (mar-xistische) Gesellschaftsanalyse, gewürzt mit bildhafter Rhetorik. AlsRedner war er ein Original, das im Schleswig-Holsteinischen Land-tag ohne Beispiel blieb. Die Schärfe seiner Rhetorik war oft verlet-zend, seine politische Polemik kraft- und humorvoll, aber vernich-tend, seine oft wütenden Ausfälle grenzten an politische Demagogie.Steffen polarisierte die Menschen: in jedem Dorf überfüllte Säle,meist neugieriges Publikum wie bei einem Zirkus-Dompteur odereinem Zauberer, aber oft auch hasserfüllte Widersacher, die ihn nie-derschreien wollten. Der Redner Steffen setzte alle Kraft in seineArgumente und seine Rhetorik, er wollte Jeden und sofort überzeu-gen und sei er auch noch so hinterwäldlerisch, und er begeisterte dieMenge, die ihn bewunderte, oft aber auch fürchtete. Seine bildhaftenZukunftsperspektiven des sozialen Zusammenbruchs, der globalenKonflikte und der vergifteten Umwelt verängstigten viele Men-schen, die – von der konservativen Presse emotionalisiert – Schutzbei den bodenständigen Parolen des Landes („Alles bleibt wie esist !“) suchten. Der Zulauf zum Wahlkämpfer Steffen wurde immergrößer und stärker.

    Schon im Wahlkampf 1967 engagierte sich der SchriftstellerGünter Grass für den Kandidaten Steffen und seine Partei. AlsPreisträger 1969 berichtete Grass in seiner Büchner-Preisrede inDarmstadt über die Mühen des Wahlkämpfers und „Erklärers“ Stef-fen. 1970 kam Siegfried Lenz hinzu, der sich in Reden der Ostpoli-tik annahm. Zu den langjährigen Freunden gehörten auch HeinrichBöll und Rudolf Augstein.

    Obwohl Steffen keine Rücksicht nahm, wenn er seine politi-schen Gegner angreifen und verletzen konnte, war er selbst seltsamdünnhäutig. Die Angriffe insbesondere der Zeitungen des Springer-Konzerns und ihres aus der Nazizeit stammenden Karikaturisten tra-fen ihn tief, noch mehr allerdings die ängstlichen und opportunisti-schen Einwände seiner Kolleginnen und Kollegen im Landtag undim Landesvorstand. Steffen gelang es immer wieder mit großerÜberzeugungskraft seine Gremien hinter sich zu scharen, aber ins-besondere einige der pragmatischen Kommunalpolitiker und diefrühen Leitfiguren aus den fünfziger Jahren blieben auf Distanz. Sei-ne politische Macht im Landesverband bestand in der Begeiste-rungsfähigkeit der jungen Leute, die schon bald die Mehrheit aufden Parteitagen und in vielen Gremien besetzten, die ihn liebten undoft anhimmelten.

    Konservativere Kommunalpolitiker versuchten 1970, den desig-nierten Spitzenkandidaten zur Landtagswahl durch den Kieler Ober-bürgermeister Günter Bantzer zu ersetzen und erlitten eine schmäh-liche Niederlage. Schon vorher hatte es eine Vertrauenskrise aufdem Parteitag gegeben, im Rahmen dessen der Vorstand zurücktrat,aber dann doch mit großer Mehrheit Steffens Konzept guthieß undihn wiederwählte. Bei der Wahl zum Ministerpräsidenten ein Jahrspäter stimmten allerdings zwei namenlose sozialdemokratische

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  • Landtagsabgeordnete demonstrativ gegen Steffen (im Dunkel derWahlkabine). – Einige Intrigen im Verband stärkten letztlich den en-gen Zusammenhalt der jungen Sozialdemokraten gegenüber konser-vativeren Pragmatikern und stabilisierten die Parteiführung.

    Steffen konnte sich auf Freundschaften und enge Kollegen unterden älteren Abgeordneten und Politikern verlassen, die ihn uneinge-schränkt unterstützten. Im Landesvorstand war die beherrschendeFigur Wilhelm Geusendam, ein früherer holländischer Kommunistund Marxist, ein Organisationstalent und Programmatiker, der mitSteffen intellektuell gleichzog und ihn uneingeschränkt unterstützte.Auch Kurt Schulz, der Finanzpolitiker der Fraktion und Bürgermei-ster von Eckernförde, stand ohne Ausnahme auf Steffens Seite undwar eine wichtige Orientierungshilfe für andere Kommunalpolitiker.Bei der Aufstellung seiner „Regierungsmannschaft“ für den Wahl-kampf 1971 holte Steffen bundesweit bekannte Professoren wie Rei-mut Jochimsen und Karl Otto Conrady in sein Team. Der Gewerk-schaftsvorsitzende Jan Sierks und der Flensburger Oberbürgermeis-ter Heinz Adler waren ebenfalls dabei.

    Steffen war nicht nur ein hochgradiger Individualist und ein rhe-torisches Original, er war gleichzeitig sehr sensibel im Umgang mitseinen Kolleginnen und Kollegen. Er konnte Fehler verzeihen, abertaktische Mätzchen im Konkurrenzkampf der Politiker hasste er undkonnte dann hart zupacken. Sein Respekt als politischer Führer derLeitungsgremien war allgemein. Die zahlenmäßig stärkste Unter-stützung aber fand er bei den Jungsozialisten unter der Führung desjungen Bürgermeisters Günther Jansen und seines Nachfolgers GerdWalter.

    Im Landtag, auf Parteitagen und auf Kongressen war Steffen im-mer wieder ein Erlebnis. In den meisten Fällen hatte er sein Manus-kript handschriftlich vorgefertigt, obwohl er seinen Text frei sprachund mit spontanen und witzigen Bemerkungen würzte. Sein Credowar die uneingeschränkte und offenherzige „Wahrheit“, also die Er-kenntnis des Einzelnen, die Summe seines Wissens. Alles anderewar für ihn Heuchelei und Betrug, was er rücksichtslos und jeder-mann gegenüber denunzierte. Er sprach aus, was viele Zuhörerschockierte, verängstigte und in große Furchtsamkeit trieb. Dannaber kam auch seine Perspektive, seine Aufforderung zum gemein-samen Engagement und zur Kritik der kapitalistischen Klassenge-sellschaft. – Heute noch betreibt die Politik Diskussionen über For-derungen Steffens aus den siebziger Jahren: globale Sozial- undUmweltziele, internationale Gewerkschaftszusammenarbeit, finanz-und wirtschaftspolitische Perspektiven für Europa.

    Steffen war kein Dogmatiker, er konnte sich korrigieren, wennseine Analyse der Gesellschaftspolitik nicht mehr stimmig erschien.So hatte er in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre programma-tisch ganz auf Technologie und Modernität gesetzt: Schleswig-Hol-stein sollte die modernsten Infrastrukturen haben, Autobahnen undSchnellstrassen, Energie aus zahlreichen Atomkraftwerken. – 1973begann das Umdenken in der Partei und Steffen stand bald an der

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  • Spitze der Erneuerung. Er revidierte seine Positionen, wurde einheftiger Kritiker der Kernenergie und fand sich bald in engem Zu-sammenschluss mit seinem Nachfolger Günther Jansen, der dieBrokdorf-Demonstrationen der SPD anführte.

    Schon 1966 – zur Zeit des Briefwechsels von SPD und SED imgeteilten Deutschland – hatte Steffen als neuer Landesvorsitzenderdie ersten Forderungen zu einer neuen Deutschlandpolitik initiiert,wie sie bald darauf von Willy Brandt und Egon Bahr umfassendkonzipiert wurden. Als demokratischer Sozialist suchte er nach dem„dritten Weg“ zwischen den weltpolitischen Blöcken, besuchte Prä-sident Tito in Jugoslawien und diskutierte die Abkehr vom orthodo-xen Kommunismus. Gegen lauten Protest der Bonner SPD-Zentraleverglich er öffentlich die Intervention der USA in der Dominikani-schen Republik mit dem Überfall des Warschauer Paktes auf dieTschechoslowakei.

    Der Journalist Steffen war unermüdlich. Neben seinen Leitarti-keln, die oft in der Bonner SPD-Zentrale Widerstand auslösten,schrieb er Satiren in Missingsch, der Arbeitersprache von der KielerWerft (die einst auch Kurt Tucholsky benutzte). „Kuddl Schnööfund seine achtersinnigen Gedankens“ – später von Siegfried Lenzkommentiert in Buchform veröffentlicht – wurden eine politischeChronologie der Zeitgeschichte. 1978 erhielt Jochen Steffen als er-ster Politiker den Deutschen Kleinkunstpreis für seine Bücher. Auchhier werden „Wahrheiten“ erzählt in der humorigen Form des Dia-logs zwischen Kuddl und Natalje: „Aufklärung“ sollte sein gegenden „Volksbetrug“ der konventionellen Politiker- und Journalisten-phrasen.

    Der Marxist Steffen hatte seine Klassiker rauf und runter verar-beitet und auch hier blieb er bei der subjektiven „Wahrheit“. Für ihnwaren die Ziele der Arbeiterbewegung nicht nur eine materiell-so-ziale Entwicklung des Einzelnen in einer bürgerlichen Gesellschaft,sie waren auch eine Emanzipationsbewegung des Individuums in ei-ner solidarischen Gesellschaft. Die Freiheit des Einzelnen durfte nurim Rahmen der Solidargesellschaft begrenzt sein. Mit dieser Grund-these seines Denkens stand er diametral der autoritär-diktatorischenStruktur der kommunistischen Gesellschaft gegenüber: und weil„autoritär“ das Gegenstück zu „emanzipativ“ war, erklärte er seinfreiheitliches Denken für „links“, den leninschen Kommunismusaber für „rechts“. Man kann verstehen, dass diese seine These, die injeder Versammlung vorgetragen wurde, manchen „Linken“schockierte, zu gedanklicher Differenzierung – etwa über die The-sen des sog. „Staatsmonopolistischen Kapitalismus“ – beitrug unddie „Bündnisfrage“ zwischen Jungsozialisten und jungen Kommu-nisten provokativ in Frage stellte.

    Als der junge Gefreite Steffen aus dem Krieg kam und sich poli-tisch engagieren wollte, fragte er auch beim Büro der Kommunistenin Kiel an, um Informationen und Programme zu erhalten. Die Ant-wort war, man habe noch keine Programme, die kämen erst aus

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  • Egon Bahr redet mit JoachimSteffen auf dem Podium desSPD-Landesparteitags am 7./8.Juni 1975 in Travemünde: Demlächelnden Steffen lassen sich dieharten letzten Jahre, wohl auchFrustrationen und die Abschieds-rolle vom Gesicht ablesen. Deu-tet man die Körpersprache Bahrsalso richtig als ‚tröstend‘? ImHintergrund erkennbar HansWiesen (MdL, Bordesholm) undHeinz Lund (MdL, Lübeck)Foto: Arne Börnsen

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  • Moskau. Steffens Weltbild sah sich bestätigt: Er wollte als demokra-tischer und humaner Sozialist arbeiten und wurde 1946 SPD-Mit-glied. Er bekam frühzeitig Führungsfunktionen bei den Jungsozia-listen und freundete sich mit dem führenden Hamburger Jungsozia-listen Helmut Schmidt an – obwohl sie beide diametral unterschied-liche ideologische Positionen hatten, blieben sie jahrzehntelang imDialog und in enger Beziehung. Für Steffen gab es keine politischenoder emotionalen Abgrenzungen, wenn eine interessante und geist-reiche Persönlichkeit zu debattieren begann: so hatte er – der„Linksaußen“ im Parteivorstand – besonders gute Beziehungen zum„Rechtsaußen“ Hans-Jochen Vogel (der allerdings mit seinen Äm-tern und Jahren immer duldsamer, toleranter und weiser wurde).

    Auch mit Wilhelm Geusendam, dem Lübecker Kreisvorsitzen-den der SPD und Verlagsleiter des „Lübecker Morgen“, gab es weitmehr als nur kollegiale Zusammenarbeit. Wenn beide Marxistensich in internen Debatten und in freundschaftlicher Form zahlreicheMarx-Zitate an den Kopf warfen, stockte manchem Zuhörer derAtem angesichts des fundamentalen Wissens der beiden Politiker.Geusendam war am Ende der Weimarer Republik ein prominenterRedner der Jungkommunisten in Deutschland gewesen und hatte mitseinem Vater, der in Moskau umkam, die Sowjetunion bereist, späterwar er von den Nationalsozialisten verhaftet worden, war Lageräl-tester im KZ Flossenbürg und konnte am Ende des Krieges dieFlucht der Gefangenen zu den Amerikanern organisieren. Steffenhatte großes Vertrauen in den Freund, der ihm als Stellvertreter Or-ganisation und Verwaltung perfekt verantwortete und der bis zuletztum die sozialdemokratischen Zeitungen in Schleswig-Holsteinkämpfte. – Einen Vorwurf hätte Steffen dem früheren prominentenKommunisten nie gemacht: im Gegenteil, er achtete und respektier-te die außerordentliche Integrität und die Irrungen auf dem dramati-schen Lebensweg des in Bremen geborenen Holländers.

    Während eines Bürgerschaftswahlkampfes in Bremen um 1970wurde Steffen gebeten, in der neugegründeten Universität zu reden.Man wusste wohl, dass kein regionaler Politiker den politischen Ak-tivisten würde standhalten können. Tatsächlich saßen etwa 120 jun-ge Leute an getrennten Tischen und Steffen erkannte schnell, dass essich um kommunistische Sektierer handelte: Da waren die konserva-tiven DKP-Vertreter, die KPD, die zersplitterten Gruppen KB, KPD-ML, usw. Steffen begann mit dem „Verrat“ der Kommunisten amEnde der Weimarer Republik, als sie als ihren wichtigsten Gegnerdie „Sozialfaschisten“, also die SPD, angriffen, während die Nazisfür die Kommunisten zweitrangige Gegner waren. Steffen erläuterteund kritisierte detailliert die „Sozialfaschismus“-Thesen der Kom-munistischen Internationale und des Exekutiv-Komitees von 1932,die von Stalin und Dimitroff dogmatisch festgeschrieben wurden. –Im Raum wurde es immer lauter, nach 10 Minuten stand der Rednerverschmitzt lächelnd und hörte zu, wie sich die kommunistischenGruppen an den Tischen gegenseitig niederschrien. – Auch hiersprach Steffen unumwunden über die vielen Fehler, die die Sozial-

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  • demokratie in der Geschichte gemacht habe, aber sie habe immer„links“ und auf Seiten von Freiheit und Emanzipation der Menschengestanden, während sich die Kommunisten von Moskau dirigierenließen und ihre eigenen Leute verleugneten, zur Selbstkritik und inden Tod zwangen. Kommunisten seien eben antifreiheitlich, auto-ritär und „rechts“. – Der Saal tobte ...

    Die Steffensche Differenzierung und sein apodiktischer Anti-kommunismus fanden in der Springer-Presse keine Resonanz. Fürdie konservativen Blätter war Steffen ein „verkappter Kommunist“,obwohl er in jeder Rede gegen Bündnisse von Sozialdemokratenund Kommunisten agitierte. Auf sein Betreiben hin wurde der SPD-Abgeordnete Dr. Richard Bünemann, der eine „Euro-Kommunisti-sche Partei“ gründen wollte, aus der Fraktion ausgeschlossen. Beieiner Bauernversammlung in Schleswig-Holstein rief ein erregterLandwirt im Gejohle der voll besetzten Halle: „Du bist ein Ulbricht-Deutscher!“ – Steffen wurde knallrot im Gesicht und keilte zurück:„Komm her, ich hau Dir eine runter!“ Diese Episode wurde von derSpringer-Presse genüsslich dargeboten: Kandidat für das Minister-präsidentenamt will Bauern verprügeln ...

    Der Abgeordnete Jochen Steffen hatte jahrelang im Agraraus-schuss des Landtags gewirkt und sich mit der europäischen Land-wirtschaftspolitik detailliert auseinandergesetzt. Deshalb ging ergern in Bauernversammlungen und dozierte in plattdeutsch, mis-singsch und hochdeutsch. Er erklärte die EU-Agrarpolitik des Kom-missars Sicco Mansholt und forderte die Bauern auf, alternativlosdie EU-Agrarpolitik anzuerkennen, um nicht unterzugehen. DieBauern wollten das nicht hören, denn die CDU propagierte zur glei-chen Zeit: „Wer Bauer bleiben will, kann Bauer bleiben!“ WennSteffen seine Zuhörer aber nicht innerhalb einer Stunde zu Sozialde-mokraten gemacht hatte, obwohl er alle Kraft und Energie in die Ar-gumentation steckte und schon nach 10 Minuten im klatschnassenHemd auf der Bühne stand, resignierte er: „ Wenn Ihr die CDUwählt und Eure Betriebe kaputtgehen, dann kommt aber nicht beiuns Sozis auf den Hof zu singen !“

    Steffen war ebenso ein wirksamer Antikommunist, wie er eineingefleischter Antifaschist war. Er hasste die alte Garde der ehema-ligen Nazis, die nach der kurzen Wiederaufbauperiode der SPD-Re-gierungen Hermann Lüdemann und Bruno Diekmann Schleswig-Holstein regierten. Der BHE – der Bund der Heimatvertriebenenund Entrechteten – koalierte mit der CDU (nachdem die SPD derenForderung zurückgewiesen hatte, alle strafrechtliche Verfolgung derNazi-Verbrechen zu unterbinden) und wurde im Lauf der Jahre vonder CDU aufgesogen. In beiden Parteien saßen so viele ehemaligeNationalsozialisten, dass sie zeitweise die Zahl der bürgerlichen De-mokraten überwog. Ministerpräsident Dr. Helmut Lemke – späterLandtagspräsident – war seit 1933 NS-Bürgermeister in Eckernför-de und später in Schleswig gewesen. Dem aufmüpfigen GefreitenJochen Steffen bescheinigte er schriftlich: „Im Sinne des National-

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  • sozialismus nicht zuverlässig !“ 1967 standen sich Lemke und Stef-fen als Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten gegenüber:hitzige Auseinandersetzungen waren nicht zu vermeiden.

    Anfang der fünfziger Jahre waren in Schleswig-Holstein 90 %der in der NS-Zeit tätigen Richter und Staatsanwälte wieder in Amtund Würden. Noch in den sechziger Jahren stellten ehemalige SS-Führer knapp die Hälfte der höchsten Polizeioffiziere im Land. ZitatBürgermeister Lemke 1933: „Wir alle, jeder an seiner Statt, sinddazu aufgerufen, die Hammerschläge des Dritten Reiches auszu-führen.“

    Während sich die oppositionellen SPD-Politiker der fünfzigerJahre an die Rituale des Parlamentarismus hielten, hielt der jungeAbgeordnete Steffen den belasteten Regierungsmitgliedern rück-sichtslos den Spiegel vor. Gegen den BHE-Vorsitzenden undlangjährigen Sozialminister Hans-Adolf Asbach wurde 14 Jahrelang wegen „Mordes an Juden im polnischen Bereich“ ermittelt (an-geklagt wurde er nie), ebenso wurde der Fall des Euthanasie-ArztesProfessor Dr. Werner Heyde, alias Dr. Fritz Sawade, bundesweit be-kannt, der zehn Jahre lang unerkannt als Arzt in Flensburg praktizie-ren konnte. Steffen engagierte sich im Parlamentarischen Untersu-chungsausschuss. Die Identität des Massenmörders war in Regie-rung und Verwaltung bekannt, aber er stand unter dem Schutz vonNS-Freundeskreisen, bis sein Vorleben in der kritischen Presse ver-öffentlicht wurde.

    Tatsächlich war das Agrarland Schleswig-Holstein, dessen Nord-grenze lange Zeit umstritten war und erst nach dem Ersten Weltkriegendgültig festgelegt wurde, in der Schleswiger Region, aber auch inHolstein bis nach Altona dänisch regiert worden. Nach 1866 bliebendie beiden Provinzen preußisch. In den letzten freien Wahlen derWeimarer Republik 1932 wählten beide Provinzen als einzige inPreußen mit absoluter Mehrheit NSDAP und wurden damit dieHochburg der Nazis in Deutschland. SS-Freundeskreise an derWestküste sind noch in den siebziger Jahren von Bundestagsabge-ordneten der CDU offiziell begrüßt worden. Wohl kein Bundeslandhatte so intensiv die nationalsozialistische Ideologie aufgesogen undhat sich der Vergangenheitsbewältigung widersetzt wie Schleswig-Holstein. Eine systematische Aufarbeitung der Zeitgeschichte desLandes in Universitäten, Behörden und Kommunen begann erst un-ter der sozialdemokratischen Regierung Engholm zu Beginn derNeunziger Jahre.

    Der Wahlkampf des Antifaschisten Steffen 1970/71 war für dieCDU bedrohlich, da die SPD unermüdlich neue Wählerinnen undWähler anzog. Von den Hansestädten Hamburg und Lübeck wehteein liberaler Wind und auch der dänische Abgeordnete im KielerLandtag forderte mehr geistige Toleranz und Modernität. Selbst dieliberal-konservative Wirtschaftspartei FDP wechselte aus der Koali-tion und versprach ein Bündnis mit Steffens SPD. So wurde derKrupp-Direktor Dr. Gerhard Stoltenberg, langjähriger Bundesvorsit-zender der Jungen Union, stellvertretender Bundesvorsitzender der

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  • CDU und 1965 bis 1969 Bundesminister für wissenschaftliche For-schung im Bonner Kabinett, als neuer Spitzenkandidat der CDU auf-gestellt. Es war ein Generationswechsel, denn Stoltenberg war histo-risch unbelastet. Mehr noch: Es war eine Zeitenwende in Schleswig-Holstein, denn Steffens Marxismus und sein Antifaschismus wurdenzum Schattenboxen. Der Generationswechsel stand auch bei derSPD an: Noch in der Wahlnacht 1971 gab Steffen die Niederlage zuund begann stufenweise mit dem Rücktritt vom Fraktionsvorsitz undvom Landesvorsitz.

    Der Spitzenkandidat der SPD war nach dem Wahlkampf lebens-gefährlich erkrankt. Er war energetisch ausgelaugt, rauchte zuvielund hatte sein Leben total auf die Karte Politik gesetzt. Sein Wahl-kampf („Der geplante Sieg“) war gründlich vorbereitet und von vie-len Helfern geführt worden: dennoch blieb die Hauptlast bei dem ei-nen Mann, den alle sehen und hören wollten. Steffen und Stolten-berg polarisierten die Wählerschaft, es gab nur noch die zwei Perso-nen, die zum Teil gefürchtet, zum Teil begeistert gefeiert wurden.Die FDP mit dem tapferen Vorsitzenden Uwe Ronneburger wurdezwischen den Blöcken zerrieben.

    Jochen Steffen und Gerhard Stoltenberg waren Antipoden in derPolitik, der eine spontan, sensibel, gerecht und duldsam, der anderetechnokratisch, autoritär, dogmatisch, ein Computergehirn, ein poli-tischer Karrierist. Beide waren Einzelgänger und Parteiführer, beidewaren Kollegen und Assistenten bei Professor Michael Freund ander Kieler Universität, einer ging in den Journalismus, der andere indie Wirtschaft; in der Landespolitik trafen sich beide wieder. Sieachteten und respektierten sich gegenseitig in einer bürgerlichenForm, gleichzeitig verachteten sie die Positionen des jeweiligenKonkurrenten. Nach dem Wahlsieg Stoltenbergs verließ Steffen häu-fig den Plenarsaal, weil er das hochtrabende Pathos seines Gegnersnicht ertragen konnte.

    Die SPD Willy Brandts wurde von der Studentenbewegung anden Universitäten überrascht. Mehrheitlich – und im Sinne HelmutSchmidts – sollten die revoltierenden jungen Leute kujoniert werdenbis zur Anpassung oder Relegation. Allein Willy Brandt, der Partei-präsident, und mit ihm Gustav Heinemann, der Bundespräsident,forderten Geduld und die Bereitschaft zum Zuhören. Der BerlinerLandesverband der SPD forderte am radikalsten den Ausschluss deraufmüpfigen jungen Leute – und verlor eine ganze Generation kriti-scher Intellektueller. Auch Willy Brandt selbst, der langjährige undanerkannte Bürgermeister, der in der Freien Universität unehrlicheLobesworte auf den Verleger Axel Springer vortrug, wurde vom Pu-blikum zu Recht ausgebuht.

    Die Studentenrevolte an den Universitäten um 1968 wurde fastimmer von sozialdemokratischen Studenten getragen und von de-nen, die als Sozialistischer Deutscher Studentenbund SDS bereitsaus der SPD relegiert worden waren. Schon ein Jahr zuvor gab esbeim Dortmunder Bundesparteitag ein Gedränge und Geschiebe

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  • Joachim Steffen, auf einer nicht da-tierten Aufnahme (circa 1971) um-geben von seinen MitarbeiternGert Börnsen, der 1988 Vorsitzen-der der SPD-Landtagsfraktionwerden wird, und Günther Jansen,der 1975 Steffens Nachfolge imAmt des SPD-Landesvorsitzendenantritt (von links).Foto: Arne Börnsen

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  • durch junges Publikum, in dessen Gefolge Herbert Wehner die Pfei-fe verlor und mehrere Prominente in Klamauk und Geschrei gerie-ten. In der SPD kündigte sich der Generationswechsel an, dem einPolitikwechsel folgen sollte. 1969 wurde der Bundesvorstand dervorstandsfrommen Jungsozialisten im Handstreich abgesetzt unddurch eine linke Führung ersetzt, Vorsitzender wurde der Frankfur-ter Dozent Karsten D. Voigt.

    In Frankfurt am Main hatte sich auch schon seit einiger Zeit eineGruppe linker Sozialdemokraten und kritischer Gewerkschafter zu-sammengefunden und das Szene-Blatt „Express International“ her-ausgegeben. Daraus entwickelte sich der „Frankfurter Kreis“, einelose Diskussionsrunde mit Fraktionierungstendenz unter Leitungdes Oberbürgermeisters Walter Möller und des schleswig-holsteini-schen Landesvorsitzenden Jochen Steffen. Einige linke Granden ka-men dazu, so Rudi Arndt – der spätere Frankfurter Bürgermeister –,Peter von Oertzen – Landesvorsitzender in Niedersachsen – undauch der liberale Landesvorsitzende aus Rheinland-Pfalz, WilhelmDröscher. Der Bundesvorstand der Jungsozialisten war dabei, auchRedakteure der „Gewerkschaftlichen Monatshefte“, sowie Mitarbei-ter, darunter Steffens immer hilfreicher Referent Georg Beez.

    Der Kreis um Möller und Steffen setzte auf die „inneren Refor-men“, die die SPD stets versprochen hatte: Mitbestimmung, Vermö-gensbildung, Bekämpfung der Bodenspekulation. Die OstpolitikWilly Brandts wurde einhellig unterstützt, aber die inneren Refor-men kamen in der Regierung nicht voran (wohl aber das Notstands-programm). Die von den meisten abgelehnte Große Koalition inBonn mit Kanzler Kiesinger wurde als Blockierung sozialdemokra-tischer Programmatik empfunden. Was die SPD dringend brauchenwürde, wären „Grundwerte“ und ein „Langzeitprogramm“.

    Dies Thema war Jochen Steffen auf den Leib geschrieben. Miteiner großen Rede wurde er (mit dem Wohlwollen Willy Brandts)1968 in den Parteivorstand gewählt. Steffen wurde 1973 Vorsitzen-der der Grundwertekommission, gab den Auftrag aber im November1976 zurück, denn „ als Mensch, als Person und auch als Politikerhalte ich den Widerspruch zwischen unseren Prinzipien und unserertatsächlichen Politik – nebst ihren propagandistischen Begründun-gen – nicht aus“. Am 12. September 1977 gab Steffen seinen Sitz imBundesvorstand „ohne jegliche Bitterkeit“ auf. Vorher schon hatte ersich für das „Langzeitprogramm“ engagiert, das von Willy Brandtauf dem Saarbrücker Bundesparteitag vorgeschlagen und vom„Frankfurter Kreis“ mit der Forderung nach Quantifizierung verse-hen worden war. Der „Entwurf eines ökonomisch-politischen Orien-tierungsrahmens für die Jahre 1973-1985“ wurde mehrfach überar-beitet, blieb aber letztlich unverbindlich. Sicherheitshalber hatteHelmut Schmidt den Vorsitz übernommen, die Zentrale wollte allzuradikale Thesen vermeiden. Dies wurde bereits deutlich, als ein Par-teitag die Investitionslenkung beschloss und sofort durch das Partei-tags-Präsidium wieder zurücknahm. In zweiter Abstimmung hobensich die Hände im Block des Parteivorstandes auf dem Podium als

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  • Signal zur Ablehnung des Parteitages, nur Jochen Steffen und weni-ge Andere erhoben einsam die Hand zur Annahme.

    Das Langzeitprogramm blieb im wesentlichen ein Projekt des„Frankfurter Kreises“ und des Bundesvorstandes der Jungsozialis-ten. Nach dem Rücktritt Willy Brandts als Bundeskanzler und derWahl Helmut Schmidts wurde es nicht mehr beachtet. Jochen Stef-fen entschied sich für Protest und Rücktritt. Als Willy Brandt, derden kantigen Steffen mochte, den Landesvorsitzenden auf einemParteitag im Juni 1975 in Schleswig-Holstein mit einer Dankesredeverabschieden wollte, fehlte Steffen: Mit schwerem Kopf blieb er imBett.

    Steffen resignierte immer mehr, seine Zeitschriftenartikel wur-den radikaler, teilweise schwer verständlich. Er sympathisierte mitder neuen sozialen Umweltbewegung. Sein Landtagsmandat gab erim September 1977 zurück. Seine Nachfolge hatte er geregelt: derjunge Flensburger Abgeordnete Klaus Matthiesen war nach nur zweiJahren als Abgeordneter zum Fraktionsvorsitzenden gewählt wor-den, zwei weitere Jahre später wurde Bürgermeister Günther JansenLandesvorsitzender. Als Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl1972 konnte Steffen den Konstrukteur der Ostpolitik, Egon Bahr,nach Schleswig-Holstein holen. Lauritz Lauritzen, der Bundesbau-minister aus Schleswig-Holstein, sollte eigentlich Steffens Nachfol-ger als Spitzenkandidat zur nächsten Landtagswahl werden, er ver-zichtete aber auf sanften Druck der Jungsozialisten zugunsten vonMatthiesen.

    Im November 1979, nach heftigen Attacken auf das Atompro-gramm der sozialdemokratischen Bundesregierung, trat Jochen Stef-fen aus der SPD aus. Er blieb demokratischer Sozialist, aber er hatteimmer schon erklärt, „ die Organisation sei die Magd der Arbeiter-bewegung, nicht umgekehrt“. Er rief den neuen LandesvorsitzendenGünther Jansen und einige enge Freunde zu sich an die Westküsteund übergab uns sein Mitgliedsbuch. Wir waren konsterniert, dennSteffen war die Symbolfigur der schleswig-holsteinischen SPD.Steffen begründete uns seinen Schritt mit der Politik HelmutSchmidts und der Bundesregierung und betonte seine Übereinstim-mung mit der Politik seiner Nachfolger im Land. An Willy Brandtschrieb er: „Die Hauptursache ist, dass wir unsere Überzeugungenbis zur Unkenntlichkeit vermarktet haben und selbst nicht mehr dieWahrheit zu sagen und zu sehen wagen“.

    Einige Jahre später, bei einem Landesparteitag in Tönning, ludenwir den Parteilosen zum geselligen Abend des Parteitages ein und erkam. Klaus Matthiesen und zahlreiche Delegierte waren empört undverließen den Saal. Wir baten um ein kurzes Grußwort, bei dem er(versehentlich ?) seine ehemaligen Parteifreunde als „Genossinnenund Genossen“ ansprach und die Regionalpartei lobte. Es war keinWort im Zorn, aber Traurigkeit und Resignation gegenüber einer Po-litik, die er nicht mehr als demokratischen Sozialismus anerkennenmochte.

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  • Im Sommer 1987 besuchte Siegfried Lenz den schwerkrankenund bettlägerigen Jochen Steffen, wenige Tage vor seinem Tod.Lenz sprach über Dostojewski, über den er schreiben wolle. Steffenfragte: „Warum das ?“

    Lenz: „Mich interessiert dieser Mann. Ein gläubiger Zweifler,das könntest Du sein, Jochen !“

    Steffen: „Was hat Dir den größten Eindruck gemacht, bei diesemgläubigen Zweifler ?“

    Lenz: „Der Zwiespalt zwischen Wahrheit und Glaube. Wemwürdest Du nachgeben ?“

    Steffen: „Also wenn Du mich fragtest, und mich diesem Dilem-ma aussetztest zu wählen zwischen Glaube und Wahrheit, wobei ichnatürlich weiß, was alles der Glaube an Wärme und Wohlaufgeho-benheit einem Menschen liefern kann, ich würde mich immer für dieWahrheit entscheiden, gleichviel, welche Eiseskälte und welcheSchrecken sie einem bringen kann.“

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