Staatshaftung wegen fehlerhafter Richtlinienumsetzung - Haftungsfall Leiharbeitsrichtlinie

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Staatshaftung wegen fehlerhafter Richtlinienumsetzung – Haftungsfall Leiharbeitsrichtlinie? RA, FAArbR Dr. André Zimmermann, LL. M., Counsel bei King & Wood Mallesons LLP, Frankfurt a. M. Ende 2014 hat eine Leiharbeitnehmerin die Bundesrepublik vor dem LG Berlin wegen unzureichender Umsetzung der Leiharbeitsrichtlinie auf Schadensersatz verklagt. Der deutsche Gesetzgeber habe es – richtlinienwidrig – versäumt, den dauerhaften Einsatz von Leiharbeitnehmern zu gegenüber vergleichbaren Stammarbeitnehmern schlechteren Bedingungen zu unterbinden. Der Beitrag gibt zunächst einen Überblick über den unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch. Anschließend untersucht er, ob die Umsetzung der Leiharbeitsrichtlinie Ende 2011 tatsächlich ein Haftungsfall ist. I. Einleitung Für die Angleichung des Arbeitsrechts in der Union spielen Richtlinien eine herausragende Rolle. Sie sind für die Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlassen ihnen jedoch die Wahl der Form und der Mittel (Art. 288III AEUV). Setzt der nationale Gesetzgeber Richtlinien nicht, nicht fristgemäß oder inhaltlich unzureichend um, kommt ein Staatshaftungsanspruch in Betracht, wenn richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich ist. Aktuell wird das mit Blick auf die Umsetzung der Leiharbeitsrichtlinie vor dem Hintergrund einer anhängigen Staatshaftungsklage diskutiert. II. Der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch im Überblick „Erfunden“ hat der EuGH den unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch vor über 20 Jahren in der Rechtssache Francovich (EuGH, NJW 1992, 165). Weitere „leading cases“ des EuGH sind Brasserie du Pêcheur (EuGH, NJW 1996, 1267), Dillenkofer (EuGH, NJW 1997, 2585) und MP Travel Line (EuGH, NJW 1996, 3141). 1. Voraussetzungen Der EuGH formuliert drei Voraussetzungen für den Haftungsanspruch: a. Verstoß gegen individual begünstigende Regelung: Die fragliche Richtlinienbestimmung muss die Verleihung von individuellen Rechten bezwecken und somit individuell begünstigend wirken. Die Anforderungen des EuGH sind nicht hoch. Ausreichend ist, dass die Regelung nicht allein dem Interesse der Allgemeinheit dient, sondern zumindest auch die Verleihung individueller Rechte bezweckt (vgl. Urteil Brasserie du Pêcheur, Rn. 54). Allerdings muss die Norm hinreichend bestimmt sein: Der Richtlinie muss im Wege der Auslegung ein Mindestinhalt des zu verleihenden Rechts entnommen werden können, ein „Mindestrecht“ (vgl. Urteil Francovich, Rn. 15-22, 40; Urteil Dillenkofer, Rn. 43-45; Grabitz/Hilf/Nettesheim/v. Bogdandy/Jacob, Das Recht der Europäischen Union, 54. EL 2014, Art. 340 AEUV, Rn. 159). Im Fall Francovich ließ sich etwa der Richtlinie 80/987/EWG eine Mindestgarantie entnehmen. Ziel der Richtlinie ist es, den Arbeitnehmern bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers die Befriedigung ihrer nicht erfüllten Ansprüche zu garantieren. Auch wenn die Richtlinie den Mitgliedstaaten einen gewissen Gestaltungsspielraum bei der Festsetzung der Garantie einräumt, steht das Ziel Mindestgarantie klar fest. In der Rechtssache Dillenkofer zur Richtlinie 90/314/EWG über Pauschalreisen hat der EuGH der Zimmermann: Staatshaftung wegen fehlerhafter Richtlinienumsetzung – Haftungsfall Leiharbeitsrichtlinie? ArbRAktuell 2015, 165 Page 1 of 5 ArbRAktuell 2015, 165 - beck-online 09.04.2015 https://beck-online.beck.de/default.aspx?printmanager=print&VPATH=bibdata%2Fze...

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Staatshaftung wegen fehlerhafter Richtlinienumsetzung – Haftungsfall Leiharbeitsrichtlinie?

RA, FAArbR Dr. André Zimmermann, LL. M., Counsel bei King & Wood Mallesons LLP, Frankfurt a. M.

Ende 2014 hat eine Leiharbeitnehmerin die Bundesrepublik vor dem LG Berlin wegen

unzureichender Umsetzung der Leiharbeitsrichtlinie auf Schadensersatz verklagt. Der

deutsche Gesetzgeber habe es – richtlinienwidrig – versäumt, den dauerhaften Einsatz von

Leiharbeitnehmern zu gegenüber vergleichbaren Stammarbeitnehmern schlechteren

Bedingungen zu unterbinden. Der Beitrag gibt zunächst einen Überblick über den

unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch. Anschließend untersucht er, ob die Umsetzung

der Leiharbeitsrichtlinie Ende 2011 tatsächlich ein Haftungsfall ist.

I. Einleitung

Für die Angleichung des Arbeitsrechts in der Union spielen Richtlinien eine herausragende Rolle. Sie

sind für die Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlassen ihnen jedoch

die Wahl der Form und der Mittel (Art. 288III AEUV). Setzt der nationale Gesetzgeber Richtlinien nicht,

nicht fristgemäß oder inhaltlich unzureichend um, kommt ein Staatshaftungsanspruch in Betracht,

wenn richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich ist. Aktuell wird das mit Blick auf die Umsetzung der

Leiharbeitsrichtlinie vor dem Hintergrund einer anhängigen Staatshaftungsklage diskutiert.

II. Der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch im Überblick

„Erfunden“ hat der EuGH den unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch vor über 20 Jahren in der

Rechtssache Francovich (EuGH, NJW 1992, 165). Weitere „leading cases“ des EuGH sind Brasserie du

Pêcheur (EuGH, NJW 1996, 1267), Dillenkofer (EuGH, NJW 1997, 2585) und MP Travel Line (EuGH,

NJW 1996, 3141).

1. Voraussetzungen

Der EuGH formuliert drei Voraussetzungen für den Haftungsanspruch:

a. Verstoß gegen individual begünstigende Regelung: Die fragliche Richtlinienbestimmung muss

die Verleihung von individuellen Rechten bezwecken und somit individuell begünstigend wirken.

Die Anforderungen des EuGH sind nicht hoch. Ausreichend ist, dass die Regelung nicht allein dem

Interesse der Allgemeinheit dient, sondern zumindest auch die Verleihung individueller Rechte

bezweckt (vgl. Urteil Brasserie du Pêcheur, Rn. 54). Allerdings muss die Norm hinreichend bestimmt

sein: Der Richtlinie muss im Wege der Auslegung ein Mindestinhalt des zu verleihenden Rechts

entnommen werden können, ein „Mindestrecht“ (vgl. Urteil Francovich, Rn. 15-22, 40; Urteil

Dillenkofer, Rn. 43-45; Grabitz/Hilf/Nettesheim/v. Bogdandy/Jacob, Das Recht der Europäischen Union,

54. EL 2014, Art. 340 AEUV, Rn. 159).

Im Fall Francovich ließ sich etwa der Richtlinie 80/987/EWG eine Mindestgarantie entnehmen. Ziel der

Richtlinie ist es, den Arbeitnehmern bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers die Befriedigung ihrer

nicht erfüllten Ansprüche zu garantieren. Auch wenn die Richtlinie den Mitgliedstaaten einen gewissen

Gestaltungsspielraum bei der Festsetzung der Garantie einräumt, steht das Ziel Mindestgarantie klar

fest. In der Rechtssache Dillenkofer zur Richtlinie 90/314/EWG über Pauschalreisen hat der EuGH der

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Richtlinie die Verleihung eines Rechts an den Pauschalreisenden entnommen, das die Sicherstellung der

Erstattung der von ihm gezahlten Beträge und der Rückreise enthält. Den Inhalt dieses Rechts hielt das

Gericht für hinreichend bestimmt.

b. Qualifizierter Verstoß: Der Verstoß gegen die individual begünstigende Regelung muss

hinreichend qualifi

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Leiharbeitsrichtlinie? (ArbRAktuell 2015, 165)

ziert sein. Nur ein gravierender Verstoß soll Haftungsansprüche auslösen. Das bejaht der EuGH ohne

weiteres bei der Versäumung der Umsetzungsfrist und wenn bereits ein Urteil in der Welt ist – etwa

nach einem vorangegangenen Vertragsverletzungs- oder Vorabentscheidungsverfahren, das den

Verstoß festgestellt hat (so etwa im Fall Francovich).

Bei inhaltlichen Umsetzungsdefiziten sind die Anforderungen deutlich höher. Der Mitgliedstaat

muss die Grenzen, die seinem Ermessen gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten

haben (Urteil Brasserie du Pêcheur, Rn. 55; Urteil Dillenkofer, Rn. 23; v. Bogdandy/Jacob, a. a. O., Rn.

161). Ob das der Fall ist, entscheidet der nationale Richter. Er muss hierbei u. a. das Maß an Klarheit

und Genauigkeit der verletzten Vorschrift, den Umfang des Ermessensspielraums, den die verletzte

Vorschrift dem Mitgliedstaat lässt, die Frage, ob der Verstoß vorsätzlich begangen oder der Schaden

vorsätzlich zugefügt wurde und die Entschuldbarkeit eines etwaigen Rechtsirrtums (Urteil Brasserie du

Pêcheur, Rn. 56) berücksichtigen.

c. Unmittelbare Kausalität; Schließlich muss zwischen Umsetzungsdefizit und entstandenem

Schaden ein unmittelbarer und adäquater Kausalzusammenhang bestehen. Der Schadenseintritt darf

nicht außerhalb der allgemeinen Lebenserfahrung liegen. Hier gelten dieselben Grundsätze, die im

nationalen Recht mit der Adäquanztheorie beschrieben werden.

2. Rechtsfolgen

Liegen diese drei Voraussetzungen vor, muss der Staat dem Einzelnen den Schaden ersetzen, der

dadurch entstanden ist, dass die Richtlinie nicht, nicht fristgemäß oder inhaltlich unzureichend

umgesetzt wurde. Über die Art und Höhe des Schadensersatzanspruchs entscheiden die nationalen

Gerichte. Sie sind aber an gewisse europarechtliche Vorgaben gebunden. So kann etwa ein

entgangener Gewinn nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden (Urteil Brasserie du Pêcheur, Rn. 82

und 87).

Noch nicht geklärt ist das Verhältnis des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs zum

Haftungsanspruch aus Art. 34 GG i. V. m. § 839 BGB (vgl. MüKoBGB/Papier, 6. Auflage 2013, § 839

BGB Rn. 103 m. w. N.). Die praktisch wichtige Frage, welches Verjährungsregime gilt, ist inzwischen

beantwortet. Der EuGH hat die Geltung der allgemeinen Verjährungsfrist in § 195 BGB anerkannt

(EuGH, NVwZ 2009, 771; vgl. dazu Armbrüster/Kämmerer, NJW 2009, 3601).

III. Haftungsfall Leiharbeitsrichtlinie?

Aktuell wird die Haftung für fehlerhafte Richtlinienumsetzung mit Blick auf die Umsetzung der

Leiharbeitsrichtlinie Ende 2011 diskutiert. Eine Leiharbeitnehmerin macht vor dem LG Berlin

Schadensersatzansprüche gegen die Bundesrepublik geltend, weil der Gesetzgeber sie nicht wirksam

vor dauerhafter Überlassung zu gegenüber vergleichbaren Stammarbeitnehmern schlechteren

Bedingungen schütze. Das verlange die Richtlinie aber.

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1. Umsetzung der Leiharbeitsrichtlinie Ende 2011

Bis zum Erlass der Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG war es in Deutschland (seit 2003) zulässig,

Leiharbeitnehmer dauerhaft und damit ohne zeitliche Höchstgrenze zu überlassen. Nach Meinung

vieler Arbeitsrechtler verstößt eine solche dauerhafte Arbeitnehmerüberlassung jedoch gegen die

Leiharbeitsrichtlinie, die bis zum 5.12.2011 in nationales Recht umzusetzen war. Das AÜG legt in § 1I 2

dementsprechend seit 1.12.2011 fest, dass die Überlassung von Arbeitnehmern „vorübergehend“

erfolgt (vgl. zur AÜG-Reform 2011 Zimmermann, ArbRAktuell 2011, 62).

Die Vorschrift enthält nach der Rechtsprechung des BAG ein ausdrückliches Verbot der mehr als

vorübergehenden Überlassung. Beabsichtigt der Entleiher einen mehr als vorübergehenden Einsatz von

Leiharbeitnehmern, hat der Betriebsrat des Entleihers ein Zustimmungsverweigerungsrecht nach §

99II Nr. 1 BetrVG wegen Gesetzesverstoßes (BAG, ArbRAktuell 2013, 357 m. Anm. Lingemann; BAG,

ArbRAktuell 2015, 82 m. Anm. Söhl).

In gefestigter Rechtsprechung lehnt das BAG das Zustandekommen eines Arbeitsverhältnisses mit dem

Einsatzunternehmen mangels gesetzlicher Grundlage ab (BAG, ArbRAktuell 2014, 15 m. Anm. Bauer;

BAG, ArbRAktuell 2014, 436 m. Anm. Chwalisz). Andere Sanktionen (Bußgeld, Versagung, Rücknahme

oder Widerruf der Erlaubnis) sieht das AÜG für die mehr als vorübergehende Überlassung nicht vor,

wobei ein mehrfacher systematischer Verstoß gegen das Verbot der vorübergehenden Überlassung

Zweifel an der Zuverlässigkeit des Verleihers begründen wird und damit die allgemeinen verwaltungs-

und gewerberechtlichen Sanktionen auslösen kann (vgl. ErfK/Wank, 15. Auflage 2015, § 1 AÜG Rn. 37

f.).

2. Schadensersatzklage vor dem LG Berlin

Eine Leiharbeitnehmerin hält das für eine unzureichende Umsetzung der Vorgaben der

Leiharbeitsrichtlinie und hat die Bundesrepublik Deutschland Anfang Dezember 2014 vor dem LG Berlin

auf Schadensersatz i. H. v. ca. 30.000 EUR verklagt (Az. 28 O 6/15).

Die Klägerin ist bei einem Zeitarbeitsunternehmen angestellt und seit mehr als acht Jahren in einer

Klinik auf demselben Arbeitsplatz tätig. Sie wird nach Tarifverträgen der Zeitarbeit bezahlt und verdient

deutlich weniger als Stammarbeitnehmer der Klinik. Die Vergütungsdifferenz der letzten drei Jahre

verlangt sie als Schadensersatz vom Staat. Sie macht geltend, die Leiharbeitsrichtlinie lasse eine

dauerhafte Ungleichbehandlung von Leiharbeitnehmern nicht zu. Im AÜG fehlten aber entgegen Art.

10II der Leiharbeitsrichtlinie wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen bei mehr als

vorübergehender Überlassung. Zum Schutz dauerhaft überlassener Arbeitnehmer hätte der

Gesetzgeber Sanktionen in Form von individuellen Ansprüchen gesetzlich festschreiben müssen. Auch

die Rechtsprechung habe diese Lücke nicht geschlossen. Schließlich ziehe die Agentur für Arbeit als

zuständige Ver

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Leiharbeitsrichtlinie? (ArbRAktuell 2015, 165)

waltungsbehörde in ihrer Prüfungspraxis keine Konsequenzen aus dem Verbot der mehr als

vorübergehenden Überlassung.

3. Das finnische Vorlageverfahren AKT

Auslöser für die Klageerhebung Anfang Dezember 2014 dürften die Schlussanträge des zuständigen

Generalanwalts Szpunar am 20.11.2014 im finnischen Vorlageverfahren AKT (BeckRS 2014, 82404)

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gewesen sein. Er betonte, dass Leiharbeitsverhältnisse „vorübergehender Art“ seien. Leiharbeit sei eine

atypische Arbeitsform, die den Regelfall der direkten Anstellung nicht verdrängen dürfe. Ein Missbrauch

von Leiharbeit sei anzunehmen und könne ohne Verstoß gegen die Richtlinie von Mitgliedstaaten

verboten werden, wenn Leiharbeitnehmer neben Stammarbeitnehmern bei dauerhaftem Bedarf für

längere Zeit eingesetzt werden. Hier schien sich die Klägerin in ihrer Auffassung bestätigt zu sehen.

Anders als der Generalanwalt hat sich der EuGH dann in seinem Urteil vom 17.3.2015 nicht mehr mit

der Frage auseinandersetzen müssen, ob der dauerhafte Einsatz von Leiharbeitnehmern statt

Stammarbeitnehmern nach der Leiharbeitsrichtlinie unzulässig ist (EuGH, BeckRS 2015, 80381). Er hat

nur die erste Vorlagefrage beantwortet, ob Art. 4I der Leiharbeitsrichtlinie nationale Behörden und

Gerichte verpflichte, nationale Vorschriften unangewendet zu lassen, die gegen die Richtlinie

verstoßen.

Hier sieht der EuGH nur eine Überprüfungsverpflichtung der national zuständigen Behörden – keine

Pflicht der Gerichte, nationale Vorschriften nicht anzuwenden, die mit der Richtlinie unvereinbar

scheinen. Ggfs. waren daher die Mitgliedstaaten veranlasst, ihre nationalen Regelungen über Leiharbeit

nach entsprechender Prüfung zu ändern. Es stehe den Mitgliedstaaten jedoch frei, nicht gerechtfertigte

Verbote oder Einschränkungen aufzuheben oder anzupassen. Art. 4I der Richtlinie schreibe den

Mitgliedstaaten nicht den Erlass einer bestimmten Regelung vor, sondern lege nur den Rahmen fest, in

dem sich ihre Regelungstätigkeit abspielen dürfe.

4. Kein ausdrückliches Verbot der dauerhaften Überlassung

Die Erfolgsaussichten der Schadensersatzklage sind eher gering. Die Leiharbeitsrichtlinie enthält

zunächst kein ausdrückliches Verbot der dauerhaften Überlassung. Generalanwalt Szpunar entnimmt in

seinen Schlussanträgen in dem finnischen Vorlageverfahren AKT der Richtlinie allerdings das Ziel, die

Verdrängung von eigenen, auf Dauerarbeitsplätzen eingesetzten Arbeitnehmern durch

missbräuchlichen Einsatz von Leiharbeit zu unterbinden (BeckRS 2014, 82404, Rn. 120 f. vgl. zuvor

schon Hamann, RdA 2014, 271, 276; Düwell, ZESAR 2011, 449, 454 f.).

5. Keine hinreichende Bestimmtheit – Wahlfreiheit bei der Ausgestaltung der Sanktionen

Die Erreichung dieses Ziels, wenn man es der Richtlinie entnehmen will, ist aber auf vielen Wegen

möglich. Insoweit fehlt es der Richtlinie an der erforderlichen hinreichenden Bestimmtheit, wie dieses

Ziel zu erreichen ist (vgl. Hamann, a. a. O., 277). Der Richtlinie lässt sich – anders als in den

Rechtssachen Francovich und Dillenkofer – insbesondere nicht entnehmen, welchen Mindestinhalt

eine Sanktion der mehr als vorübergehenden Überlassung haben muss. Die Richtlinie verpflichtet in

Art. 5V die Mitgliedstaaten nur generell, „die erforderlichen Maßnahmen gemäß ihren nationalen

Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten“ zu ergreifen. In Art. 10II heißt es: „Die Mitgliedstaaten

legen die Sanktionen fest, die im Falle eines Verstoßes gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur

Umsetzung dieser Richtlinie Anwendung finden, und treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um deren

Durchführung zu gewährleisten. Die Sanktionen müssen wirksam, angemessen und abschreckend

sein.“

Die Mitgliedstaaten haben damit Wahlfreiheit bei der Ausgestaltung der Sanktionen. Hier ist vieles

denkbar: Equal Pay ohne Ausnahme (wie im Koalitionsvertrag „Deutschlands Zukunft gestalten“ nach

neun Monaten vorgesehen), Zustandekommen eines Arbeitsverhältnisses mit dem Entleiher, Geldbußen

gegen Verleiher und Entleiher und der Widerruf der Erlaubnis (vgl. Hamann, a. a. O.). Es ist damit

schon unklar, ob die Sanktion ein subjektives Recht des einzelnen Leiharbeitnehmers sein muss. Erst

recht ergibt sich aus der Richtlinie nicht, dass ein nicht dispositives Equal Pay erforderlich ist. Das ist

nur eine mögliche Sanktion.

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Lässt das Unionsrecht den Mitgliedstaaten aber einen solchen Spielraum, muss der nationale

Gesetzgeber sein Regelungsermessen offenkundig und schwerwiegend überschreiten, um

Staatshaftungsansprüche unter dem Gesichtspunkt des legislativen Unrechts auszulösen.

Leiharbeitnehmer sind aber auch nach geltendem Recht nicht schutzlos gestellt: Das BAG nimmt ein

Zustimmungsverweigerungsrecht des Betriebsrats im Einsatzbetrieb an, wenn Leiharbeitnehmer mehr

als vorübergehend überlassen werden (vgl. oben III. 1.). Sie dürfen bei einer wirksamen

Zustimmungsverweigerung daher nicht eingesetzt werden. Die dauerhafte Substitution von

Stammarbeitnehmern durch Leiharbeitnehmer wird so jedenfalls erschwert. Der Gestaltungsspielraum,

den die Richtlinie lässt, dürfte damit nicht offenkundig überschritten sein.

6. Vertragsverletzungsverfahren

Die Klägerin hat Anfang 2015 auch die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahren gegen die

Bundesrepublik bei der Europäischen Kommission beantragt. Mitte März 2015 hat die Kommission

bestätigt, dass sie Vorermittlungen aufgenommen hat (CHAP (2015) 00716). Von vornherein völlig

aussichtlos erscheint dieser Antrag daher nicht. Immerhin hat die Kommission in ihrem Bericht über die

Anwendung der Leiharbeitsrichtlinie vom 21.3.2014 (COM (2014) 176) festgestellt, dass „bestimmte,

häufig angewandte Ausnahmen vom Gleichbehandlungsgrundsatz in einigen Fällen möglicherweise

dazu geführt [haben], dass die Anwendung der Richtlinie keine effektive Verbesserung des Schutzes

der Leiharbeitnehmer herbeigeführt hat.“

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Leiharbeitsrichtlinie? (ArbRAktuell 2015, 165)

Die Bundesrepublik wird hier freilich nicht explizit genannt.

Nach dem Bericht wird die Kommission die Anwendung der Richtlinie auch weiterhin unter

Berücksichtigung der künftigen Entwicklungen im Bereich Arbeitsrecht und Leiharbeit genau

überwachen, um sicherzustellen, dass ihre Ziele angemessen verwirklicht und ihre Bestimmungen in

allen Mitgliedstaaten in vollem Umfang und korrekt in nationales Recht umgesetzt werden. Ggfs. werde

sie auch Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten einleiten, heißt es dort weiter.

Ob die Kommission ein Verfahren einleitet, liegt in ihrem Ermessen. Tut sie es, muss sie dem

Mitgliedstaat zunächst durch ein informelles Mahnschreiben Gelegenheit zur Stellungnahme geben.

Anschließend gibt sie eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab. Kommt der Staat dieser

Stellungnahme innerhalb der von der Kommission gesetzten Frist nicht nach, so kann die Kommission

den EuGH anrufen. Allerdings dürfte dann bereits die im Koalitionsvertrag vereinbarte Gesetzesreform

in Kraft getreten sein, die zwingend Equal Pay nach neun Monaten vorsieht (vgl. dazu Zimmermann,

ArbRAktuell 2013, 613).

V. Fazit

Unklarer Tatbestand, unklare Rechtsfolge – die gesetzgeberische „Performance” (Rieble/Vielmeier,

EuZA 2011, 475, 486) mag beschränkt gewesen sein, als er § 1I 2 Ende 2011 in das AÜG einfügte.

Staatshaftung scheidet jedoch aus. Auch wenn der Fingerzeig aus Luxemburg ausgeblieben ist, darf

gehofft werden, dass bei der angekündigten AÜG-Reform, die wohl erst 2016 ansteht, die

entscheidenden Punkte dieses Mal klar geregelt werden. Das gilt vor allem für den Bezug der geplanten

Höchstüberlassungsdauer (arbeitnehmer- oder arbeitsplatzbezogen?) und die Folgen eines Verstoßes.

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