verhaftet wegen spionage und antisowjetischer propaganda

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In den 1920er- und 1930er-Jahren lebten Tausende Österreicher in der Sowjetunion: Ehemalige Kriegsgefangene blieben frei- willig und gründeten eine Familie. In den Jahren der Weltwirtschaftskrise emigrier- ten zahlreiche Arbeitslose in die Sowjet- union, Techniker und Ingenieure wurden von sowjetischer Seite sogar aktiv ange- worben. Kommunistische Funktionäre wurden von der Partei zu Schulungszwe- cken nach Moskau entsandt. Einige Kom- munisten ließen sich von sowjetischen Geheimdiensten anwerben und brachten sich, als sie Aufdeckung befürchteten, in der Sowjetunion – wie sie dachten – in Si- cherheit. Schließlich flüchteten nach dem Februar 1934 etwa 750 Schutzbündler über die Tschechoslowakei in die Sowjet- union. Das vom Zukunftsfonds und vom Jubi- läumsfonds der Nationalbank unterstützte Forschungsprojekt des DÖW behandelt das Schicksal jener ÖsterreicherInnen, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in der Sowjetunion Opfer der stalinistischen Repressionen wurden, indem sie verhaftet, gefoltert, in Zwangsarbeitslager eingewie- sen oder erschossen wurden. Erfasst wur- den Personen, die einen engen Bezug zum Staatsgebiet der Ersten Republik hatten, auch wenn einige formal nicht österreichi- sche Staatsbürger waren. Festgestellt wurden bisher 769 Fälle von Verhaftungen, 185 davon betrafen Schutz- bundemigranten. Die zahlenmäßig größte Opfergruppe sind die 221 Wirtschaftsemi- granten. 89 Personen gelangten als KP- Anhänger in die Sowjetunion. Unter den erfassten Verhafteten waren 65 Frauen. Nicht berücksichtigt wurden Kriegsgefan- gene des Zweiten Weltkriegs und jene ös- terreichischen Juden, die als Opfer der so- genannten Nisko-Transporte 1939 in das „Generalgouvernement“ deportiert wur- den und dort über die Grenze in die So- wjetunion flüchteten oder von der SS über die Grenze gejagt wurden. Verhaftungen von Österreichern in der Sowjetunion gab es in den 1920er-Jahren nur in Einzelfällen. Als 1935 die Verfol- gung von Ausländern im großen Stil be- gann, waren auch 32 Österreicher betrof- fen. Das Gros der Verhaftungen entfiel je- doch auf die Zeit des Großen Terrors, als 1937/38 fast 500 Österreicher verhaftet wurden. Die Verhaftungswelle erreichte am 22. Juni 1941, dem Tag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, einen wei- teren Höhepunkt; unter den an diesem Tag verhafteten „Deutschen“ befanden sich 30 Österreicher. Einen Sonderfall stellen vier noch vor Kriegsende 1945 auf österreichischem Staatsgebiet verhaftete NKVD-Mitarbei- terInnen dar: Ernst Kernmayer, Gregor Kersche, Hildegard Mraz und Aloisia Soucek waren als sowjetische Agenten 1943 ins Deutsche Reich eingeschleust worden. Sie fielen der Gestapo in Wien in die Hände, überlebten aber die Haft. Nach der Befreiung Wiens meldeten sie sich zum Dienst bei der Roten Armee. Wegen „Landesverrats“ wurden sie zur Zwangs- arbeit verurteilt und in den Gulag depor- tiert. Ernst Kernmayer und Hildegard DÖW Mitteilungen DOKUMENTATIONSARCHIV DES ÖSTERREICHISCHEN WIDERSTANDES FOLGE 212 AUGUST 2013 VERHAFTET WEGEN SPIONAGE UND ANTISOWJETISCHER PROPAGANDA DÖW-Forschungsprojekt über österreichische Opfer der stalinistischen Repressionen Die jüngste DÖW-Publikation „Ein Paragraf wird sich finden“. Gedenkbuch der österreichischen Stalin-Opfer (bis 1945) von Barry McLoughlin und Josef Vogl wurde am 19. Juni 2013 der Öffentlichkeit vorgestellt. Dokumentiert sind hier die Lebenswege von 769 Ös- terreicherInnen, die bis Kriegsende 1945 von der stalinistischen Verfolgung in der Sowjetunion betroffen waren. In Vorbereitung ist ei- ne Datenbank mit Angaben zu den bisher ermittelten Opfern, die auf der Website des DÖW abrufbar sein wird. DÖW-Mitarbeiter und Ko-Autor Josef Vogl beschreibt Projekt und Publikation. Barry McLoughlin / Josef Vogl „... Ein Paragraf wird sich finden“ Gedenkbuch der österreichischen Stalin-Opfer (bis 1945) Mit einem Vorwort von Bundespräsident Heinz Fischer Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes Wien 2013, 622 Seiten EUR 24,50 ISBN 978-3-901142-62-8

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In den 1920er- und 1930er-Jahren lebtenTausende Österreicher in der Sowjetunion:Ehemalige Kriegsgefangene blieben frei-willig und gründeten eine Familie. In denJahren der Weltwirtschaftskrise emigrier-ten zahlreiche Arbeitslose in die Sowjet-union, Techniker und Ingenieure wurdenvon sowjetischer Seite sogar aktiv ange-worben. Kommunistische Funktionärewurden von der Partei zu Schulungszwe-cken nach Moskau entsandt. Einige Kom-munisten ließen sich von sowjetischenGeheimdiensten anwerben und brachtensich, als sie Aufdeckung befürchteten, inder Sowjetunion – wie sie dachten – in Si-cherheit. Schließlich flüchteten nach demFebruar 1934 etwa 750 Schutzbündlerüber die Tschechoslowakei in die Sowjet-union. Das vom Zukunftsfonds und vom Jubi-läumsfonds der Nationalbank unterstützteForschungsprojekt des DÖW behandeltdas Schicksal jener ÖsterreicherInnen, diebis zum Ende des Zweiten Weltkriegs inder Sowjetunion Opfer der stalinistischenRepressionen wurden, indem sie verhaftet,gefoltert, in Zwangsarbeitslager eingewie-sen oder erschossen wurden. Erfasst wur-den Personen, die einen engen Bezug zumStaatsgebiet der Ersten Republik hatten,auch wenn einige formal nicht österreichi-sche Staatsbürger waren.Festgestellt wurden bisher 769 Fälle vonVerhaftungen, 185 davon betrafen Schutz-bundemigranten. Die zahlenmäßig größteOpfergruppe sind die 221 Wirtschaftsemi-granten. 89 Personen gelangten als KP-Anhänger in die Sowjetunion. Unter denerfassten Verhafteten waren 65 Frauen.

Nicht berücksichtigt wurden Kriegsgefan-gene des Zweiten Weltkriegs und jene ös-terreichischen Juden, die als Opfer der so-genannten Nisko-Transporte 1939 in das„Generalgouvernement“ deportiert wur-den und dort über die Grenze in die So-wjetunion flüchteten oder von der SS überdie Grenze gejagt wurden.Verhaftungen von Österreichern in derSowjetunion gab es in den 1920er-Jahrennur in Einzelfällen. Als 1935 die Verfol-gung von Ausländern im großen Stil be-gann, waren auch 32 Österreicher betrof-fen. Das Gros der Verhaftungen entfiel je-doch auf die Zeit des Großen Terrors, als1937/38 fast 500 Österreicher verhaftetwurden. Die Verhaftungswelle erreichteam 22. Juni 1941, dem Tag des deutschen

Überfalls auf die Sowjetunion, einen wei-teren Höhepunkt; unter den an diesem Tagverhafteten „Deutschen“ befanden sich 30 Österreicher. Einen Sonderfall stellen vier noch vorKriegsende 1945 auf österreichischemStaatsgebiet verhaftete NKVD-Mitarbei-terInnen dar: Ernst Kernmayer, GregorKersche, Hildegard Mraz und AloisiaSoucek waren als sowjetische Agenten1943 ins Deutsche Reich eingeschleustworden. Sie fielen der Gestapo in Wien indie Hände, überlebten aber die Haft. Nachder Befreiung Wiens meldeten sie sichzum Dienst bei der Roten Armee. Wegen„Landesverrats“ wurden sie zur Zwangs-arbeit verurteilt und in den Gulag depor-tiert. Ernst Kernmayer und Hildegard

DÖW

MitteilungenDOKUMENTATIONSARCHIV DES ÖSTERREICHISCHEN WIDERSTANDES

FOLGE 212AUGUST 2013

VERHAFTET WEGEN SPIONAGE UND ANTISOWJETISCHER PROPAGANDADÖW-Forschungsprojekt über österreichische Opfer der stalinistischen Repressionen

Die jüngste DÖW-Publikation „Ein Paragraf wird sich finden“. Gedenkbuch der österreichischen Stalin-Opfer (bis 1945) von BarryMcLoughlin und Josef Vogl wurde am 19. Juni 2013 der Öffentlichkeit vorgestellt. Dokumentiert sind hier die Lebenswege von 769 Ös-terreicherInnen, die bis Kriegsende 1945 von der stalinistischen Verfolgung in der Sowjetunion betroffen waren. In Vorbereitung ist ei-ne Datenbank mit Angaben zu den bisher ermittelten Opfern, die auf der Website des DÖW abrufbar sein wird.DÖW-Mitarbeiter und Ko-Autor Josef Vogl beschreibt Projekt und Publikation.

Barry McLoughlin / Josef Vogl

„... Ein Paragraf wird sich finden“

Gedenkbuch der österreichischenStalin-Opfer (bis 1945)

Mit einem Vorwort von Bundespräsident Heinz Fischer

Dokumentationsarchiv desösterreichischen Widerstandes

Wien 2013, 622 SeitenEUR 24,50

ISBN 978-3-901142-62-8

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Mraz konnten nach dem Tod Stalins nachÖsterreich zurückkehren. Auch GregorKersche überlebte seine zehnjährige Gu-laghaft, während Aloisia Soucek 1948 ineinem Lager in der Republik Komi (imNordosten des europäischen Teiles derSowjetunion) zugrunde ging.Meist wurden die Verhafteten mit dem ab-surden Vorwurf der „Agententätigkeit“ fürÖsterreich, Deutschland oder fallweise an-dere Länder konfrontiert, der in keinemeinzigen Fall belegt ist. Oft wurde zusätz-lich der Vorwurf der „antisowjetischenAgitation“ erhoben, wofür schon die ge-ringste – praktisch immer gerechtfertigte –Kritik am System ausreichte, wenn sichein Denunziant fand. Etwa ein Drittel derVerhafteten wurde zum Tode verurteiltund erschossen, mehr als 80 weitere Ös-terreicher kamen in der Haft ums Leben.Von den zu Zwangsarbeit im Gulag verur-teilten Häftlingen überlebten 82 ihre Frist,was aber nicht immer volle Freiheit be-deutete: während des Zweiten Weltkriegswurden kaum Häftlinge freigelassen. Wernach Kriegsende endlich freikam, wurdenicht selten mit Aufenthaltsverbot in gro-ßen Städten belegt oder lebenslang nachSibirien verbannt. An die 100 Verhaftetewurden nach oft jahrelanger Untersu-chungshaft freigelassen und in der Folgemeist ausgewiesen. 92 Personen wurdennach dem Hitler-Stalin-Pakt aus der Un-tersuchungshaft oder dem Straflager ent-lassen und an die Gestapo ausgeliefert, da-runter waren auch Juden und Kommunis-ten.

Dass die Urteile politisch bedingt waren,beweist auch die noch vor dem 20. Par-teitag der KPdSU im Jahre 1956 eingelei-tete Rehabilitierungswelle: soweit Doku-mente dazu vorliegen (was eher selten ist),kann man feststellen, dass die früh unter-suchten Fälle gründlich bearbeitet wurden,sogar Zeugen der Anklage gegenüber demKGB zu ihren seinerzeitigen Aussagen er-neut Stellung nehmen mussten. Fallweisewurde festgestellt, dass die angeblichen„deutschen Spione“ im Deutschen Reichals gefährliche Staatsfeinde zur Verhaf-tung ausgeschrieben waren. Rehabilitie-rungen wurden im Allgemeinen nur dannabgelehnt, wenn über eine Person keineUnterlagen auffindbar waren. Allerdingserhielten die rehabilitierten Personen, so-fern sie überhaupt überlebt hatten, meistkeinen oder nur einen geringen Schaden-ersatz zugesprochen. Einigen nach Öster-reich zurückgekehrten Opfern wurde vonsowjetischer Seite mitgeteilt, Entschädi-gungen seien nur für sowjetische Staats-bürger vorgesehen.

Das vor Kurzem erschienene Gedenkbuchder österreichischen Stalin-Opfer „... EinParagraf wird sich finden“ enthält eineausführliche Einleitung über Politik undWirtschaft der Stalin-Ära (bis 1945) undgeht auf Ursachen, Verlauf und Opfer desTerrors ein. Umfangreichere Beiträge sindbesonders interessanten Gruppen von Op-fern gewidmet. Das Schicksal des „Pick-axe Coffee-Teams“ etwa könnte einemAgenten-Thriller entnommen sein: VierÖsterreicher – darunter eine Frau – imDienste des NKVD sollten über „Ost-mark“-Gebiet mit Fallschirmen absprin-gen und in Wien ein Agentennetz aufzie-hen. Dazu bedurfte es der Zusammenar-beit mit der britischen Guerilla- und Sabo-tageorganisation Special Operations Exe-cutive (SOE), weil die sowjetischen Flug-zeuge wegen der weit im Osten verlaufen-den Front das Zielgebiet bei Wien nichterreichten. Die vier NKVD-Agenten, alleaus Wien stammend, verweigerten jedochwegen mangelhafter Vorbereitung desUnternehmens (beispielsweise waren dieDokumente leicht als Fälschungen erkenn-bar) den Absprung und versuchten, sichauf der Rückreise in die Sowjetuniondurch Flucht nach Kanada dem Zugriffdes NKVD zu entziehen. Aus Rücksicht

auf den Bündnispartner spielten die kana-dischen Behörden nicht mit und liefertendie vier verhinderten Agenten an die Sow-jetunion aus. Die Sonderberatung, einaußergerichtliches Organ, fällte ein für diedamaligen Verhältnisse eher mildes Urteil:zehn Jahre Lagerhaft wegen „Landesver-rats“. Dass keiner der vier sowjetischerStaatsbürger war, ließ man außer Acht.Wilhelm Wagner und Albin Mayr kehrtenspäter nach Österreich zurück. HildegardWagner blieb freiwillig in der Sowjet-union und Anton Barak starb 1944 imGulag.

Frauen von Verhafteten fielen nicht seltender Sippenhaftung zum Opfer und wurdenals Angehörige von „Volksverrätern“ zuLagerhaft und Verbannung verurteilt.Kajetan Klug lernte als Gendarm in BadAussee die Krankenschwester MariaSchmidt kennen, die als Fürsorgerin inLinz arbeitete. Die beiden heirateten 1920und hatten zwei Söhne. Wegen Verwick-lung in die Februarkämpfe 1934 und Tä-tigkeit für den Kommunistischen Jugend-verband flüchtete Kajetan Klug im Sep-tember 1934 nach kurzer Haftzeit in Linzin die Tschechoslowakei, wohin ihm seineFrau Maria mit den Kindern bald folgte.Im September 1935 konnte die Familie indie Sowjetunion emigrieren, wo KajetanKlug Probleme mit dem Schutzbundkol-lektiv und der für die Betreuung derSchutzbündler zuständigen OrganisationMOPR bekam. Im April 1936 wurde er

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Gregor Kersche undHildegard Mraz (rechts) über-lebten die Gulaghaft. AloisiaSoucek (unten) starb 1948 ineinem sowjetischen Lager.

Fotos rechts: Wiener Stadt- undLandesarchivFoto unten: Staatsarchiv derRussischen Föderation (GARF)

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verhaftet und wegen „konterrevolutionärertrotzkistischer Tätigkeit“ zu fünf JahrenLagerhaft verurteilt. Nach der Haftentlas-sung erreichte er mit Glück wenige Tagevor dem deutschen Angriff die deutscheBotschaft in Moskau und wurde mit demdeutschen Botschaftspersonal evakuiert. Seine Frau Maria Klug nahm zusammenmit den Kindern bald nach der Verhaftungihres Mannes die sowjetische Staats-bürgerschaft an. Eine Ausreise oder eineIntervention der österreichischen Gesandt-schaft war daher ausgeschlossen. MariaKlug wurde im September 1941 verhaftetund wegen Spionage und antisowjetischerAgitation zu zehn Jahren Lagerhaft verur-teilt. Sie starb 1943 in einem Lager inKasachstan. Wilhelm Klug, der ältereSohn, besuchte in Moskau die deutsch-sprachige Karl-Liebknecht-Schule, arbei-tete dann als Elektroschweißer. Er undzwei weitere Österreicher, die im gleichenEmigrantenheim in Moskau wohnten,wurden am 16. März 1938 verhaftet.Wilhelm Klug wurde beschuldigt, der inMoskau operierenden faschistischen „Hit-lerjugend“ anzugehören, einer Spionage-organisation, die der Phantasie derNKVD-Offiziere entsprungen war. Erwurde stundenlang geschlagen, bis er einGeständnis ablegte, dann wegen „konter-revolutionärer Tätigkeit“ zu acht JahrenLagerhaft verurteilt. 1946 wurde WilhelmKlug entlassen, 1955 rehabilitiert – dochseine Ersparnisse und anderen Besitz be-kam er nicht zurück. Der Besitz war ver-schwunden, das Geld war angeblich seinerFrau ausgehändigt worden. Die sowjeti-schen Staatsorgane stießen sich nicht dar-an, dass Wilhelm Klug bei seiner Verhaf-tung erst 17 Jahre alt und gar nicht verhei-ratet war. Der jüngere Sohn der Familie,Arnold Klug, galt ab 1941 als verschollen.Er war vom Direktor eines Waisenhausesadoptiert worden und hatte einen russi-schen Namen bekommen. Erst in den1960er-Jahren konnte Arnold Klug wiederden Kontakt zu den überlebenden Fami-lienmitgliedern herstellen.

Gisela Lichtenstein aus Graz überwarfsich mit ihren konservativen jüdischen El-tern und emigrierte als Kommunistin 1934nach Char’kov, wo bereits ihre ältereSchwester Elsa lebte, die mit dem polni-schen Revolutionär Josef Beiser-Barski,ehemals Aktivist der KPÖ in Graz, verhei-ratet war. Als ihr Schwager verhaftet wur-de, wurde Gisela Lichtenstein, die von derExil-KPÖ zu einer Komintern-Schulungnach Moskau entsandt worden war, vonder Schule relegiert. Sie wurde zur Arbeitin eine Sowchose in der Wolgadeutschen

Republik abkommandiert. Dort wurdezuerst Gisela Lichtensteins Lebensgefähr-te, der Deutsche Erich Beyer, verhaftet; imAugust 1936 wurde sie dann selbst festge-nommen. Nach fast vier Jahren Untersu-chungshaft wurde Gisela Lichtenstein1940 wegen „Mitgliedschaft in einer Sa-botageorganisation“ und „antisowjetischerAgitation“ zu acht Jahren Lagerhaft verur-teilt, die im Berufungsverfahren auf fünfJahre reduziert wurden. 1952 wurdeGisela Lichtenstein wegen der gleichenVorwürfe zur Verbannung an die Kolyma,ein unwirtliches Gebiet im Nordosten derSowjetunion, verurteilt. Sie wurde 1957rehabilitiert. Gisela Lichtensteins Cousin JosefLichtenstein absolvierte ein Realgymna-sium in Graz. Er lebte einige Jahre inFrankreich, übersiedelte dann 1928 nachBerlin, wo er 1930 Mitglied der KPD wur-de. 1932 gelangte er mit einem Touristen-visum in die Sowjetunion, wo ihm ein Be-kannter einen Arbeitsplatz verschaffte.1937 verhaftet, wurde er wegen „betrüge-rischer Einreise“ und „konterrevolutionä-rer Tätigkeit“ für eine zionistische Spio-nageorganisation zum Tode verurteilt undwenig später in Butovo bei Moskau er-schossen. Sein Bruder Max Lichtensteinmachte eine technische Ausbildung inGraz und gehörte in den 1920er-Jahren ei-ner zionistischen Jugendorganisation an.Max Lichtenstein schloss sich einer Dele-gation des Bundes der Freunde der Sow-jetunion an und gelangte auf diese Art undWeise in die Sowjetunion. Da er in Öster-reich bereits längere Zeit arbeitslos war,blieb er in Moskau und suchte sich eineArbeit, die er als Techniker in einem Elek-trogerätebetrieb auch fand. Verhängnisvollwurde für Max Lichtenstein, dass er eineBekannte seines Bruders aus Deutschland(Eva Schneider), obwohl er sie nicht kann-te, als seine Frau ausgab und auf dieseWeise 1934 ihre Einreise in die Sowjet-union ermöglichte. Das KPD-MitgliedEva Schneider wurde 1937 als Trotzkistinverhaftet. Max Lichtenstein wurde eben-falls 1937 festgenommen, es wurden ihmMitgliedschaft in einer zionistischen Ju-gendgruppe in Graz und die Unterstützungim Fall Eva Schneider zur Last gelegt.Auch hatte er versäumt, die Erlaubnis derKPÖ zur Emigration einzuholen. GegenJahresende 1937 wurde Max Lichtensteinin Butovo erschossen.

Wilhelm von Lobkowitz stammte aus demböhmischen Hochadel und absolvierte dieTheresianische Militärakademie in WienerNeustadt. Im Ersten Weltkrieg machte erschnell Karriere. Nach der Demobilisie-

rung im Dezember 1918 zog er sich fürkurze Zeit in seine Heimatstadt Friedek(Österreichisch-Schlesien) zurück, ließsich dann von der galizisch-ukrainischenArmee der Westukrainischen Volksrepu-blik anwerben. Als seine Einheit in dieGefangenschaft der Roten Armee geriet,lief sie geschlossen zum Feind über. Ab1920 war Lobkowitz Stabschef einer Bri-gade der Roten Armee. Später trat er inden militärischen Geheimdienst ein undübernahm die Leitung einer Militärschule.Wegen „Spionage für Deutschland“ wurdeWilhelm von Lobkowitz im Oktober 1937verhaftet, im Jänner 1938 zum Tode verur-teilt und im Februar 1938 in Butovo beiMoskau erschossen.

Karriere in der Sowjetunion machten eini-ge österreichische Physiker. Felix Frankl,geboren 1905 in Wien, stammte aus einerwohlhabenden jüdischen Familie. Er emi-grierte bereits 1929 in die Sowjetunion.Einerseits war er seit 1928 Mitglied derKPÖ, andererseits war er in Schlägereienmit rechtsgerichteten Studenten verwi-ckelt und außerdem pflegte er Kontakte zurussischen Physikern und Mathematikern.In Moskau beschäftigte sich Frankl anverschiedenen Instituten mit der Strömungvon Gasen, Hydrodynamik, philosophi-schen Aspekten der Relativitätstheorie undQuantenmechanik. Frankl hatte Glück, er wurde in den Jahrender Repression nur aus der Partei ausge-schlossen: wegen „mangelnder Wachsam-keit“. Der Vorwurf bezog sich auf seinen

Felix Frankl, um 1951

Foto: Zentrales AerohydrodynamischesInstitut, Moskau (CAGI)

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Freund und Studienkollegen aus Wien,Franz Quittner. Quittner, Gründungsmit-glied des Kommunistischen Jugendver-bandes in Wien und Assistent am Physika-lischen Institut der Wiener Universität,war auf Druck der Polizei von der WienerUniversität entlassen worden. 1930 über-siedelte Quittner mit seiner Familie in dieSowjetunion. Er machte wichtige Erfin-dungen zur Isolation von Transformato-ren, wurde mit Prämien ausgezeichnet underhielt ein Patent auf eine Erfindung. Füreinen neuartigen Tiefseebohrer für dieÖlindustrie erhielten zwei ArbeitskollegenQuittners 1940 den Stalinpreis, währendQuittner bereits 1938 wegen „Spionagefür Österreich“ verhaftet und erschossenworden war. Zwar wurde er 1956 auf Be-treiben seiner Frau Genia Quittner-Landerehabilitiert, jedoch verweigerten die so-wjetischen Behörden die Auskunft überdie Umstände seines Todes. Noch 1961übermittelten sie über das Rote Kreuz ei-nen gefälschten Totenschein mit dem Da-tum März 1943. Auch Felix Frankl forder-te 1956 vergeblich Auskunft über dasSchicksal seines Freundes.

Alexander Weißberg, 1901 in Krakau ineine jüdische Familie geboren, lebte seitfrüher Kindheit in Wien. Er war bereits alsMittelschüler politisch aktiv und trat 1927der KPÖ bei, nachdem er und sein FreundManès Sperber Zeugen des Polizeimassa-kers beim Justizpalastbrand am 15. Juligeworden waren. Nach dem Studium derPhysik und Mathematik in Wien und ei-nem kurzen Aufenthalt in Argentinien zogWeißberg nach Deutschland und arbeiteteals Physiker an der Technischen Hoch-schule in Berlin. Als er in den Verdachtder Spionage für die Sowjetunion geriet,verließ er Deutschland und ließ sich in

Char’kov – damals Hauptstadt der Ukrai-ne – nieder. Er arbeitete am physikalisch-technischen Institut auf dem Gebiet derGastrennung und baute eine Versuchssta-tion des Institutes auf. Am 1. März 1937wurde Weißberg verhaftet und konterrevo-lutionärer Tätigkeiten beschuldigt. Ver-mutlich aufgrund der Interventionen vonAlbert Einstein und des Ehepaars Joliot-Curie wurde Weißberg am 31. Dezember1939 „nur“ zur Ausweisung verurteilt undsomit an die Gestapo ausgeliefert. Nacheinigen Monaten in Gestapo-Haft wurdeer in das Ghetto von Lublin verlegt, ausdem er flüchten konnte. Weißbergs Me-moiren erschienen zuerst 1951 unter demTitel Hexensabbat, in der Neuauflage1993 heißt das Buch Im Verhör. Ein Über-lebender der stalinistischen Säuberungenberichtet. Konrad Weisselberg, geboren 1905, warebenso wie sein Freund Weißberg jüdi-scher Abstammung und bei den sozialisti-schen Mittelschülern aktiv. Er studierteChemie an der Universität Wien und emi-grierte 1934 aufgrund einer Einladung desKohlechemie-Instituts in Char’kov in dieSowjetunion. Am 4. März 1937, drei Tagenach Weißberg, wurde Weisselberg ver-haftet. Er wurde beschuldigt, Mitglied ei-ner von Weißberg geleiteten trotzkisti-schen Spionage- und Sabotageorganisa-tion zu sein. Im Dezember 1937 wurdeKonrad Weisselberg hingerichtet. Weißbergs Lebensgefährtin Eva Stricker(Éva Amália Striker), geboren 1906 in Bu-dapest, war österreichische Staatsbürgerinund seit ihrer Kindheit mit Arthur Koestlerbefreundet. Sie lebte mit Weißberg in

Wien und Berlin, trennte sich von ihm inChar’kov und zog nach Moskau. Sie wur-de im Mai 1936 verhaftet und beschuldigt,in ihren Keramikentwürfen seien zionisti-sche Sterne und Hakenkreuze (!) erkenn-bar, was als zionistische und nationalsozi-alistische Propaganda qualifiziert wurde.Weißberg fuhr in ihrer Sache nach Mos-kau und Leningrad und schickte ihr Geldund Pakete. Nach einer Intervention derösterreichischen Gesandtschaft wurde EvaStricker 1938 freigelassen und des Landesverwiesen. Als Jüdin floh Stricker vor denNationalsozialisten aus Wien nach Eng-land, wo sie den angesehenen österreichi-schen Rechts- und Wirtschaftswissen-schaftler Hans Zeisel (bekannt u. a. alsMitarbeiter der Studie über die Arbeits-

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Alexander Weißberg

Foto: Universität Char’kiv

Konrad Weisselberg, 1937 hingerichtet

Foto: Universität Char’kiv

Franz Quittner wurde 1938 erschossen.

Foto: Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF)

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losen von Marienthal) heiratete. Das Ehe-paar übersiedelte dann in die USA, woEva Zeisels Keramikdesigns weltweite Er-folge verzeichneten. Sie starb 2011 inNew York.

Im Zuge des Forschungsprojekts konntendie Biographien einiger bedeutender Ös-terreicher, die hierzulande kaum oder garnicht bekannt sind (Beispiele dafür sindder Naturforscher und Schöpfer der sowje-tischen Nationalparks Franz Schillinger,die Musiker Hans Hauska, Herbert Breth-Mildner und Josef Pammer, die Schrift-steller Kurt Demant, Rudolf Rabitsch undErnst Fabri) rekonstruiert werden. Mate-rialien aus österreichischen und russischenArchiven oder andere Quellen erlaubten inzahlreichen Fällen die Herstellung infor-mativer Biographien.

„Sie kamen mit der Hoffnung auf Ar-beitsmöglichkeiten, Freiheit, oder auf dieVerwirklichung ihrer Ideale. Stattdessenerfuhren allzu viele Verleumdung undVerhaftung, Verhöre und Verzweiflung so-wie gnadenlose Behandlung durch Unter-drückung, Lagerhaft und Zwangsarbeit“,schreibt Bundespräsident Heinz Fischer inseinem Vorwort zum Buch. Bergarbeiter,Dreher, Schlosser, Drucker und andereHandwerker, die in Österreich jahrelangarbeitslos waren, oft in ganz Europa aufArbeitssuche herumwanderten, glaubten,in der Sowjetunion eine neue Heimat ge-funden zu haben. Gerade die Biographiender sogenannten kleinen Leute geben ei-nen tiefen Einblick in die sozialen, wirt-schaftlichen und politischen Verhältnissein den 1920er- und 1930er-Jahren in Mit-teleuropa und der Sowjetunion.

Archive | Quellen | Literatur

Die wichtigsten Archive für dieses Projektwaren das Russische staatliche Archiv fürsozial-politische Geschichte in Moskau,das Staatsarchiv der Russischen Födera-tion in Moskau, das Zentrale Staatsarchivfür historisch-politische Dokumente in St. Petersburg sowie das Archiv der russi-schen Nationalbibliothek in St. Peters-burg; in Österreich das ÖsterreichischeStaatsarchiv (vor allem Bestände des Wan-derungsamtes und des Kriegsarchivs), dasArchiv der Universität Wien, das Archivder KPÖ (Blaue Kartei der Gestapo) so-wie das DÖW. An gedruckten Quellen sind vor allem fol-gende Bücher zu nennen: Barry McLoughlin / Hans Schafranek /Walter Szevera, Aufbruch. Hoffnung.

Endstation. Österreicherinnen und Öster-reicher in der Sowjetunion 1925–1945,Wien 1997 (= Österreichische Texte zurGesellschaftskritik, 64); Dokumentationsarchiv des österreichi-schen Widerstandes (Hrsg.), Österreicherim Exil. Sowjetunion 1934–1945. EineDokumentation. Einleitung, Auswahl undBearbeitung: Barry McLoughlin / HansSchafranek, Wien 1999; Hans Schafranek (unter Mitarbeit vonNatalja Mussijenko), Kinderheim Nr. 6.Österreichische und deutsche Kinder imsowjetischen Exil, Wien 1998.

Eine weitere wichtige Quelle sind die rund2,6 Millionen Datensätze, die von der rus-sischen Menschenrechtsorganisation Me-morial zusammengestellt wurden, sie sindim Internet unter lists.memo.ru zu findenund wurden auch auf einer CD-ROM ver-öffentlicht. Daten, Dokumente und Fotossteuerten Rückkehrer aus der Sowjetunionbei, die den Aufenthalt in den Lagernüberlebt hatten, oder ihre Angehörigenund Nachkommen.

Ergiebige Quellen sind weiters die Me-moiren von Überlebenden, insbesondereist hier Karl Steiner aus Wien zu nennen,dessen Memoiren zuerst in kroatischer

Sprache erschienen: Karlo Štajner, 7000dana u Sibiru, Zagreb 1971; deutschspra-chige Ausgabe: 7000 Tage in Sibirien,Wien 1975.

Die Arbeit an diesem Projekt wird weiter-geführt. Wer über Dokumente, Fotos oderInformationen zum Thema verfügt, wirdgebeten, die Projektmitarbeiter zu kon-taktieren:

Barry [email protected],Josef [email protected]

Korrekturen, Ergänzungen und neue Fällekönnen in der geplanten Webdatenbankder Öffentlichkeit zugänglich gemachtwerden.

Präsentation des Gedenkbuchs der österreichischen Stalin-Opfer im Institut fürPublizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien, 19. 6. 2013

Am Podium (von links nach rechts): Brigitte Bailer (wissenschaftliche Leiterin des DÖW),Wladislaw Hedeler (Übersetzer des ebenfalls vorgestellten Buches „Was für einTeufelspack“. Die deutsche Operation des NKWD in Moskau und im Mokauer Gebiet 1936bis 1941 von Alexander Vatlin), Barry McLoughlin (Universität Wien), Josef Vogl (DÖW)und Fritz Hausjell (Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung).

Bereits am Vormittag des 19. Juni wurde die Publikation auch im Rahmen einerPressekonferenz im Veranstaltungszentrum des DÖW präsentiert.

Foto: Christa Fuchs

Diese Zeitung ist eine von1.800 aus dem Leseprogramm von

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1060 WIEN, LAIMGRUBENGASSE 10TEL.: 01/36060 - 5401; FAX: 01/36060 - 5699

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Rella Steiner(1923–2013)

Rella Steiner, NS-Verfolgte und Witwedes Mitbegründers und ersten wissen-schaftlichen Leiters des DÖW HerbertSteiner (1923–2001), starb am 16. Juli2013 im Alter von 90 Jahren in Wien.

Rella Steiner wurde als Tochter vonAbraham und Gitta Adlersberg am 28. Ap-ril 1923 in Wien geboren. Aufgrund ihrerjüdischen Herkunft musste sie als Gym-nasiastin im Jänner 1939 mit einem Kin-dertransport nach England flüchten. IhreMutter, die im Sommer desselben Jahresebenfalls nach England kommen konnte,starb bald nach der Ankunft. Ihr Vaterkonnte sich nach Shanghai retten undkehrte nach der Befreiung 1945 nach Wienzurück. Im englischen Exil lernte Rella Adlersbergihren späteren Ehemann Herbert Steinerkennen, der bereits 1938 aus Wien geflo-hen war – seine Eltern wurden im Zugeder Shoah von den Nationalsozialisten er-mordet.Rella Steiner zählte zeit ihres Lebens, sowie ihre Kinder Vally und Hans, zu denFreunden und Unterstützern des DÖW.

Wir bedanken uns

Das DÖW dankt der Familie von RudolfWiedersheim, die uns aus seinem umfang-reichen Nachlass Materialien für die Bi-bliothek überlassen hat.

Dr. Ariel Muzicant, Mitglied des DÖW-Vorstands, wurde mit der Josef-Samuel-Bloch-Medaille der Aktion gegen den An-tisemitismus in Österreich ausgezeichnet.

DÖW-Vorstandsmitglied Mag.a HannahLessing, Generalsekretärin des Allgemei-nen Entschädigungsfonds und des Natio-nalfonds der Republik Österreich, erhieltdas Österreichische Ehrenkreuz für Wis-senschaft und Kunst.

Dem Verein Gedenkdienst wurde derLeon Zelman-Preis verliehen.

Der Journalist und Zeitzeuge Karl Pfeifer,Mitglied des DÖW-Kuratoriums, feiert am22. August seinen 85. Geburtstag.

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Karl Flanner (1920–2013)Prof. Karl Flanner, Widerstandskämpfer, Gründer und langjähriger Leiter des In-dustrieviertel-Museums Wiener Neustadt, starb am 2. Juni 2013 im 93. Lebensjahr.Er gehörte dem Kuratorium des DÖW an.

Am 22. Oktober 1920 in Wiener Neustadtgeboren wuchs Karl Flanner im Arbeiter-viertel „Flugfeld“ auf. Als Jugendlichergehörte der gelernte Gärtner und Elektro-schweißer dem Arbeiter-Turnverein undden Roten Falken an. Nach den Februar-kämpfen 1934 trat er dem Kommunisti-schen Jugendverband (KJV) bei. Die An-nexion Österreichs durch Hitlerdeutsch-land im März 1938 brachte die organisier-te politische Tätigkeit nur kurz zum Erlie-gen. Flanner war am Wiederaufbau desWiener Neustädter KJV maßgeblich betei-ligt; bald hatte die KJV-Ortsgruppe auchStützpunkte in Winzendorf, Felixdorf undLichtenwörth und begann mit der Heraus-gabe der illegalen Zeitung Jungkommu-nist. Durch die Aussagen eines festgenom-menen Aktivisten wurde die Gruppe imSommer 1939 von der Gestapo WienerNeustadt aufgerollt. Flanner wurde am 22. August 1939 festgenommen und imZuge der Verhöre schwer misshandelt.1946 gab er auf dem PolizeikommissariatWiener Neustadt zu Protokoll:

„Beim Transport von meinem Wohn-haus bis zur Gestapo traktierten michGabriel und Jancsar [= Jancar] mit vie-len Fausthieben. [...] Mir wurde vorge-halten, dass ich mich gegen das natio-nalsozialistische Regime betätigt, eineillegale Zeitung herausgegeben und indieser Angelegenheit Mitwisser hätte.Da ich leugnete, begannen die obenbezeichneten Personen, mich mit Ohr-feigen, Fausthieben und Fußtritten zumisshandeln. Die Misshandlungendauerten mit kleinen Unterbrechungenungefähr vom 22. 8. 1939, 23.00 Uhrabends bis 23. 8. 1939, 3.00 Uhr mor-gens. Nach Beendigung der geschil-derten Prozedur war ich auf dem gan-zen Körper, besonders aber auf demKopf, verschwollen und wies zahlrei-che Hautabschürfungen auf. Geschlagen wurde ich von allen dortanwesenden Personen, besonders her-vorgetan hat sich dabei jedoch derKriminalbeamte Josef Gabriel. Es wur-den mir von diesem die Kopfhaare bü-schelweise ausgerissen.“

Flanner wurde am 4. Oktober 1940 vomOberlandesgericht Wien zu drei Jahrenund neun Monaten Zuchthaus verurteilt.

Nach der Strafverbüßung im September1943 wurde er nach mehreren MonatenHaft in Wien in Schutzhaft genommen, da,wie im Schutzhaftbefehl vom 4. Dezem-ber 1943 vermerkt ist, „auf Grund seinesVorlebens zu befürchten steht, er werdesich in Freiheit weiterhin für die KPÖ be-tätigen“. Flanner wurde am 6. Februar1944 in das KZ Dachau eingeliefert undEnde 1944 in das KZ Buchenwald über-stellt. Dort erlebte er die Befreiung im Ap-ril 1945.1946–1955 und 1960–1971 gehörte KarlFlanner für die KPÖ dem Gemeinderatvon Wiener Neustadt an. Nach seinemAusschluss aus der KPÖ war er im Stadt-archiv Wiener Neustadt tätig. Als vielfachausgezeichneter Historiker und Sozialfor-scher setzte sich Flanner über Jahrzehnteintensiv mit der Geschichte Wiener Neu-stadts – insbesondere der Geschichte derArbeiterbewegung – auseinander. SeinAnsatz, die arbeitenden Menschen in denMittelpunkt zu rücken, stand auch hinterder Gründung des von ihm initiierten In-dustrieviertel-Museums, das 1991 eröffnetwurde und mit dem Namen Karl Flanneruntrennbar verbunden ist.Ein besonderes Anliegen war Flanner diezeitgeschichtliche Bildung Jugendlicher;unzählige Vorträge, Diskussionen und Ge-spräche führten ihn als Zeitzeuge vor al-lem in Mittel- und Berufsschulen des In-dustrieviertels. In diesem Sinne erschienauch 2009 die als Unterrichtsmittel konzi-pierte zweiteilige DVD-DokumentationKarl Flanner – Widerstand (hrsg. vomVerein Zeitgeschichten), die Flanners poli-tischen Widerstand und seine Haft in denKZ Dachau und Buchenwald thematisiert.Er selbst resümierte sein Leben in der2008 erschienenen Autobiographie Zeugeder Zeit. Die Geschichte meines Lebens.

An der Herstellung dieser Nummer wirkten mit: Franz Graf-Stuhlhofer, Heimo Gruber, JohannesKammerstätter, Eva Kriss, Karl Pfeifer, ChristineSchindler, Josef Vogl.Impressum: Verleger, Herausgeber und Hersteller:Dokumentationsarchiv des österreichischenWiderstandes, Wipplingerstraße 6–8 (Altes Rathaus), 1010 Wien; Redaktion ebenda (Christa Mehany-Mitterrutzner, Tel. 22 89 469/322, e-mail: [email protected]; Sekretariat, Tel.: 22 89 469/319, Fax: 22 89 469/391, e-mail: [email protected]; web: www.doew.at).

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Franz Danimann (1919–2013)DÖW-Kuratoriumsmitglied Dr. Franz Danimann, Wider-standskämpfer und Auschwitz-Überlebender, starb im Altervon 93 Jahren.

Am 30. Juli 1919 in Lugos (Rumänien) geboren wuchs FranzDanimann in Schwechat (NÖ) auf. Der gelernte Gärtner gehörteals Jugendlicher den Roten Falken an, nach dem Februar 1934war er in der illegalen freien Gewerkschaftbewegung aktiv undschloss sich dem Kommunistischen Jugendverband (KJV) an.Im März 1938 gehörte er zu jenen, die für ein selbständigesÖsterreich eintraten. In einem Interview für das DÖW-ProjektErzählte Geschichte schilderte er später:

„Ich habe in Schwechat noch eine Demonstration von So-zialdemokraten, Kommunisten und christlichen Jugendli-chen angeführt an dem Abend, wo Schuschnigg abgedankthat. Am Hauptplatz von Schwechat haben wir demonstriert‚Rot-Weiß-Rot bis in den Tod‘, ‚Freiheit für Österreich‘ unddiese ganzen Sprüche. Auf einmal ist Polizei mit Haken-kreuzarmbinden aufgetaucht, und jemand hat gesagt: ‚Wasmarschiert ihr denn noch? Was demonstriert ihr denn noch,Schuschnigg hat bereits abgedankt.‘ […] Eigentlich ist eineWelt zusammengebrochen. Wir wussten, dass es jetzt sehrschlimm werden würde.“

Danimann war ab Sommer 1938 am Aufbau einer KJV-Gruppein Wien-Simmering beteiligt, die im Jänner 1939 eine größereFlugblatt-Aktion durchführte. Er wurde am 15. Februar 1939festgenommen und am 23. April 1940 vom Volksgerichtshofwegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu drei Jahren Zucht-haus verurteilt. Nach Strafverbüßung wurde er Ende April 1943nach Auschwitz überstellt. 1943 kam es zu einem weiterenVerfahren, wieder wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“:Danimann wurde vorgeworfen, er habe während seiner Straf-haft in Theimwald, einem Außenlager des Zuchthauses Stein ander Donau, Mitgefangene kommunistisch beeinflusst. Er wurdeam 13. Oktober 1943 von der Anklage freigesprochen, bliebaber weiterhin in Schutzhaft in Auschwitz. Dort erlebte er dieBefreiung durch die Rote Armee am 27. Jänner 1945 und waran der Sicherstellung von Beweisen für die NS-Verbrechen be-teiligt: „Als ob wir geahnt hätten, dass es später Neonazis gebenwürde, die die historisch einmaligen Massenverbrechen inAuschwitz zu leugnen bzw. zu bagatellisieren versuchen, mach-ten wir uns in der Kommandantur und in den SS-Unterkünftenauf die Suche nach Unterlagen über die dortigen Verbrechen.Wir fanden Anordnungen, konkrete Befehle, Listen der Opfer,Hinweise auf die Täter usw. Diese Unterlagen waren wichtigeBeweisstücke bei den späteren Kriegsverbrecherprozessen.“

Nach der Rückkehr nach Österreich absolvierte Danimann be-rufsbegleitend ein Jura-Studium und leitete in der Folge dasniederösterreichische Landesarbeitsamt. Ab den 1960er-Jahrenveröffentlichte er mehrere Arbeiten zur österreichischen NS-Vergangenheit, darunter Finis Austriae: Österreich, März 1938(1978, als Herausgeber) und Flüsterwitze und Spottgedichteunterm Hakenkreuz (1983; Ephelant 2001). Franz Danimannwar Ehrenvorsitzender der Lagergemeinschaft Auschwitz undEhrenmitglied des Bundes Sozialdemokratischer Freiheits-kämpfer/innen, Opfer des Faschismus und aktiver Antifa-schist/inn/en.

Erich Herzl (1920–2013)Ing. Erich Herzl war Mitbegründer des Vereins „InitiativeRiga“ und maßgeblich an der Errichtung eines Mahnmalsfür die nach Riga deportierten und ermordeten Jüdinnenund Juden beteiligt. Herzl, über Jahrzehnte Freund undUnterstützer des DÖW, starb am 10. Juni 2013 im 93. Le-bensjahr.

Erich Herzl, 1920 in Wien in eine jüdische Kaufmannsfamiliegeboren, flüchtete im Februar 1939 über Belgien nach Groß-britannien, wo er sich zunächst als Landarbeiter durchschlug.Von Mai 1940 bis Jänner 1941 war er – wie auch andere öster-reichische Flüchtlinge – als Enemy Alien auf der Isle of Maninterniert. In der Folge schloss er sich in London der Jugend-organisation Young Austria an. Aus dieser Zeit rührte auch seinelebenslange Freundschaft zum damaligen Sekretär von YoungAustria und späteren Mitgründer und wissenschaftlichen Leiterdes DÖW Herbert Steiner (1923–2001). 1944 meldete sichHerzl zur britischen Armee und war als Techniker und später alsDolmetscher in Kriegsgefangenenlagern in Großbritannien imEinsatz.

Nach der Rückkehr nach Österreich war er als leitender Direk-tor in einer internationalen Transportfirma und in der Folge un-ter anderem als langjähriger Direktor in einem Wiener Privat-spital tätig.

Wieder in Österreich musste Herzl aber auch erfahren, dass sei-ne Eltern – im Dezember 1941 nach Riga deportiert – Opfer derShoah geworden waren. Seinem unermüdlichen Einsatz ist dieErrichtung einer Gedenkstätte für die Jüdinnen und Juden, dienach Riga deportiert wurden und dort im Ghetto zugrunde gin-gen oder in den umliegenden Wäldern ermordet wurden, zu ver-danken. Nur ungefähr 800 der insgesamt 20.000 nach Riga de-portierten Männer, Frauen und Kinder überlebten die Selektio-nen, das Ghetto und die verschiedenen Konzentrationslager,darunter befanden sich auch etwa 100 österreichische Jüdinnenund Juden. Die Gedenkstätte wurde Ende November 2001 imBikernieki Wald, Riga eingeweiht.

„Das Trauma mit dem nicht vorhandenen Grab meiner er-mordeten Eltern belastete mich sehr. Ich wandte mich an dasSchwarze Kreuz und nach zehn Jahren mühseliger, letztlicherfolgreicher Arbeit gelang es mir, die Gedenkstätte Riga zuerrichten. Ich wollte für meine Eltern eine würdige Grab-stätte schaffen.“

Aus dem Beitrag von Erich Herzl in: Sonja Frank (Hrsg.),Young Austria. ÖsterreicherInnen im britischen Exil1938–1947. Für ein freies, demokratisches und unabhängi-ges Österreich, Wien 2012, S. 244.

Der begnadete Organisator Herzl, der sich nicht zuletzt alsZeitzeuge in Schulen darum bemühte, die Ermordeten demVergessen zu entreißen, gab auch den Anstoß zu einem Wie-dersehenstreffen von rund 400 ehemaligen Young Austrians1988 im Wiener Rathaus; eine kleinere Gruppe traf sich seithereinmal jährlich. Herzl, für sein Engagement vielfach ausge-zeichnet, initiierte zuletzt die von Sonja Frank 2012 herausge-gebene Publikation Young Austria. ÖsterreicherInnen im briti-schen Exil 1938–1947.

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„Am 11. 3. 1938 befreite der Einigerund Führer aller DeutschenAdolf Hitlerdie Ostmark vom Joche volksfremderBedrückung und führte sie heimins Großdeutsche Reich.“

So lautet die Aufschrift auf der „Führer-Glocke“, die zusammen mit dem SchlossWolfpassing (Niederösterreich) von derBundes-Immobilien-Gesellschaft (BIG)2013 an eine private Immobilienfirma ausLinz verkauft wurde. Über dieser Inschriftist ein Hakenkreuz angebracht.Das mittelalterliche Schloss, das im Laufeder Jahrhunderte mehrfach die Besitzerwechselte, war seit 2001 im Besitz derBIG, wurde generalsaniert und von ver-schiedenen öffentlichen Stellen genutzt.Im November 2011 wurde das Schlosssamt Nebengebäuden und dem 75.000 qmgroßen Grundstück im Rahmen eines öf-fentlichen Bieterverfahrens zu einem Min-destpreis von 1,77 Mio Euro zum Kauf an-geboten. 2013 wurde der Verkauf abge-wickelt.Schon ein flüchtiger Gang durch Schlossund Garten hätte genügt, um zu sehen,dass es im Schloss historisch interessante,wertvolle oder auch politisch umstritteneObjekte gibt. In einem der Eingangsberei-che hängt die Gedenktafel für den ermor-deten Bundeskanzler Dollfuß. Sie trägtfolgende Aufschrift:

„BundeskanzlerDr. Engelbert DollfußÖsterreichs Führer undMärtyrerkanzler† 25. Juli 1934, weilte im Sommer1933 und 1934des öfteren in diesem Schlosse,um Ruhe und Erholung zu finden.Wolfpassing, 7. Nov. 1934“

Im Freien auf einer Wiese vor demSchloss steht eine Gedenkstele mit derAufschrift „Dr. Ing. Anton List“. Die Steleträgt ein Reliefporträt des Gründungsdi-rektors der Milchwirtschaftlichen For-schungsanstalt Wolfpassing. Die For-schungsanstalt war von Dollfuß gegründetworden; Anton List wurde 1938 abgesetztund inhaftiert.

Eine sorgfältige Begehung des Schlossesbis zu den Dachböden führt auch zur„Führer-Glocke“, die in der Glockenstubeüber der Hauptfront des Schlosses ange-bracht ist. Die „Führer-Glocke“ war 1939aus der eingeschmolzenen „Dollfuß-Glo-cke“ hergestellt worden. 1935, zum erstenJahrestag des gescheiterten NS-Juli-Put-sches österreichischer Nationalsozialistenund der Ermordung von Dollfuß, hattendie Dorf- und SchlossbewohnerInnen vonWolfpassing eine Glocke mit folgenderInschrift gestiftet:

„Dem unvergesslichenHeldenkanzlerDr. Engelbert Dollfußin Dankbarkeit gewidmetvon den Bewohnerndes Dorfesund des Schlosses Wolfpassing.25. Juli 1935“

Weil der Versuch, die Dollfuß-Inschriftaus der Glocke herauszumeißeln, misslun-gen war, wurde die Glocke in derGlockengießerei Pfundtner eingeschmol-zen und als „Führer-Glocke“ neu gegos-sen. So überdauerte sie unbeachtet auchdie Befreiung, die Nachkriegsjahre unddie Übernahme durch die BIG 2001.Im Zuge des aktuellen Verkaufes – in die-sen geschichtsbewussteren Tagen – wurdedie BIG vom Autor auf diese Problematikaufmerksam gemacht. Der Verkauf wurdejedoch ohne Einhalt abgewickelt. Das ein-geschaltete Bundesdenkmalamt entschiedin bemerkenswert wenigen Tagen, nach-dem es von der Existenz der „Führer-Glo-cke“ erfahren hatte: „Gemäß § 1 Abs. 9DMSG wird durch die Unterschutzstel-lung eines Denkmals u. a. auch das Zu-behör mit einbezogen. Die gegenständli-che Glocke […] steht somit unter Denk-malschutz.“ Die Glocke muss daher in derGlockenstube bleiben; eine Informations-tafel kann auf Empfehlung des Bundes-denkmalamtes auf die Glocke als „Mahn-mal für den Schrecken und Terror des NS-Regimes“ hinweisen. Die BIG hat angebo-ten, die Kosten für eine solche Informa-tionstafel zu übernehmen.Allerdings stößt dieser Vorschlag auf brei-te Kritik. Eine Info-Tafel mit Formulie-

rungen dieser Art ist völlig ungeeignet, diehohe symbolische Bedeutung dieses histo-rischen Objektes zu vermitteln und denhistorischen und politischen Konflikt umÖsterreichs Identität gebührend und kri-tisch darzustellen. Dazu gehört die Glockein einen öffentlichen Raum, der einen of-fenen und informativen politisch-histori-schen Diskurs ermöglicht.Wer ein einmaliges NS-Relikt verkauft,setzt möglicherweise einen Straftatbe-stand. Um dies zu klären, hat der Autor beider Bezirkshauptmannschaft Scheibbs am24. Juni 2013 eine Anzeige wegen Ver-dachts der Verbreitung von nationalsozia-listischem Gedankengut eingebracht. DieRepublik Österreich hat sich im Staatsver-trag verpflichtet, „alle Spuren des Nazis-mus zu entfernen“ (parlamentarischerAusschussbericht 879 BlgNR 16. GP; zi-tiert in Walter/Thienel, Verwaltungsver-fahrensgesetze I Anm. 12 zu Art. IXEGVG). Die Verwaltungsstrafbehörde sollnun prüfen, ob durch den Verkauf dieserNS-Devotionalie ein strafbarer Tatbestandvorliegt, unabhängig davon die „Führer-Glocke“ für verfallen erklärt werden mussund daher in das Eigentum der RepublikÖsterreich übergeht. Die Anzeige wurdelaut Medienberichten an die Staatsanwalt-schaft weitergegeben. Würde auf dem Glockenturm des Schlos-ses Wolfpassing noch die originale„Dollfuß-Glocke“ hängen, sollte auch sienicht einfach dem nun privaten Schloss-besitzer überlassen werden. Die Ausstel-lung der als „Führer-Glocke“ umgegosse-nen „Dollfuß-Glocke“ im öffentlichenRaum eines Museums wäre jedenfalls sehrgut geeignet, den kontroversiellen Diskursüber eine entscheidende Person und Phaseunserer Geschichte offenzuhalten. Dass die „Führer-Glocke“ von Wolfpas-sing nicht als Privateigentum versteckt,sondern in einem öffentlichen Raum aus-gestellt werden soll, darin ist sich eineReihe von ExpertInnen und Betroffeneneinig: HistorikerInnen und JuristInnen, diewissenschaftliche Leiterin des Dokumen-tationsarchivs des österreichischen Wider-standes, das Mauthausenkomitee, die Is-raelitische Kultusgemeinde Wien und vie-le geschichtsbewusste BürgerInnen.

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Johannes KammerstätterDie „Führer-Glocke“ von Wolfpassing

Johannes Kammerstätter war bis 2005 Lehrer für Religion, Musik und Politische Bildung im Francisco Josephinum Wieselburg undist Autor des dreibändigen Werks „Unsere jüdischen Mitbürger und ihr tragbares Vaterland“, das die jüdische Bevölkerung des Most-viertels in den Mittelpunkt rückt.

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Köln war eine der am meisten durch Bom-ben zerstörten Städte Deutschlands, dastrifft insbesondere für die Stadtmitte zu.Doch das Haus am Appellhofplatz 23–25,das von 1935 bis 1945 Sitz der KölnerGestapo war, blieb unversehrt. Dieses EL-DE-Haus verdankt seinen Namen denInitialen seines Bauherrn, des katholi-schen Goldwaren- und UhrengroßhändlersLeopold Dahmen. Im Sommer 1935 wur-de das Haus noch im Rohbau von derGestapo in Beschlag genommen, der neueMieter war fortan das Deutsche Reich.Heute mietet die Stadt Köln das Gebäudevon der gleichen Familie.Im Keller befand sich das Hausgefängnisder Gestapo; erhalten geblieben sindHäftlingszellen mit Inschriften der Gefan-genen, die eindringlich an die Schreckender NS-Zeit erinnern. Oft haben zum Todverurteilte Häftlinge ihre letzten Worte andie Wand geschrieben, bevor sie im Hofdes Hauses hingerichtet wurden. Der größte Teil der Insassen, die hier in-haftiert waren, ist namentlich nicht be-kannt, doch gelang es, die Geschichte ei-niger der Häftlinge zu erforschen und da-durch mehreren Inschriften – die meistvon Frauen stammen – ein „Gesicht“ zugeben. Nach der Restaurierung sind rund1800 selbständige Inschriften oder Zeich-nungen gezählt worden, die aus der Zeitvon Ende 1943 bis zum 30. Juni 1945stammen. Am 7. März 1945, einen Tagnach der Befreiung, trug sich ein amerika-nischer Soldat ein. Am 30. Juni 1945 wur-de die kyrillische Inschrift „Am Leben ge-

blieben“ auf die Wand einer Zelle ge-schrieben. Mehr als ein Drittel aller In-schriften sind in kyrillischer Schrift vonRussen und Ukrainern verfasst worden,weitere 230 in anderen Sprachen, vor al-lem Französisch, Polnisch und Niederlän-disch. Diese Zellen sind ein einmaligesDenkmal und wer sie besucht, kann sichdie Todesangst der Häftlinge vorstellen,die während der Bomberangriffe nicht inden Luftschutzkeller gebracht wurden. Nach dem Krieg wurde das Gebäude alsStandesamt benutzt. So kam es, dass dieehemalige Gefangene Gertrud Kühlem(„Mucki“), die bei den „Edelweißpiraten“mitgemacht hatte und von der Gestapo in-haftiert und gefoltert worden war, im glei-chen Gebäude 1951 heiratete.Die Dauerausstellung Köln im National-sozialismus, die auf drei Stockwerken ge-zeigt wird und erst nach Demonstrationenvon Bürgern und Bürgerinnen errichtetwurde, dokumentiert folgende Bereiche:Aufstieg und Machtergreifung der Nazis indieser katholisch geprägten Stadt, Gleich-schaltung, Nationalsozialistischer Macht-apparat, Inszenierte Volksgemeinschaft,Jugend, Köln zwischen Alltag und großerPolitik, Religion oder „Gottgläubigkeit“?,Rassenpolitik: „Ausmerze“ und „Aufar-tung“, Rassisch ausgegrenzt und verfolgt,Sinti und Roma. Jüdisches Leben. DieAusstellung macht in diesem Bereichdeutlich, wie verlogen die Schutzbehaup-tung vieler Rheinländer von der Liberalitätauch während der NS-Zeit ist. Man kanndie antisemitischen Karnevalzüge sehen,

mit denen zur Gaudi der Massen Judenund Jüdinnen verspottet wurden. Gezeigtwerden auch noch die ThemenbereicheAbweichendes Verhalten und Widerstand,Köln im Krieg, Zwangsarbeit und Kriegs-ende.Was mich sehr beeindruckt hat: die Instal-lation Zwischen Anpassung und Wider-stand. Auf eine Wand, an der Bilder vonWiderstandskämpfern zu sehen sind, wirdeine große Menge von „Heil“ schreiendenKölnern projiziert, womit die Dimensio-nen des Widerstandes aufgezeigt werden.Der Historiker und Pädagoge Dr. WernerJung leitet das NS-Dokumentationszent-rum der Stadt Köln seit 27 Jahren undschilderte im Gespräch mit mir, wie erselbst als Student an Demonstrationen fürdie Errichtung dieses Hauses teilnahm.Der Erfolg spricht für sich: 2012 besuch-ten 60.000 Menschen die Ausstellung,mehr als die Hälfte davon SchülerInnenund Studierende. BesucherInnen steht eineAudioführung in deutscher, englischer,französischer, spanischer, polnischer, rus-sischer, hebräischer und niederländischerSprache zur Verfügung, seit Juli 2013 hatdas NS-Dokumentationszentrum eineachtsprachige Website: www.museen-koeln.de/ns-dokumentationszentrum.Kölnbesuchern ist die Besichtigung diesesHauses zu empfehlen. Eine Dauerausstel-lung Wien im Nationalsozialismus, dieaufzeigt, wie es war, könnte – so wie inKöln – einen Beitrag dazu leisten, dieMehrheit der Jugend gegen jede NS-Nos-talgie immun zu machen.

Karl PfeiferKöln im Nationalsozialismus

Karl Pfeifer, Journalist, Autor und Zeitzeuge, besichtigte im Rahmen einer Vorlesungs- und Vortragsreihe Anfang Juni 2013 in Kölndas ehemalige Gestapogebäude und die dort befindliche Dauerausstellung „Köln im Nationalsozialismus“.

REZENSIONENN

Flöck, Carmella: … und träumte, ichwäre frei. Eine Tirolerin imFrauenkonzentrationslagerRavensbrück. Erinnerung anWiderstand und Haft 1938–1945. Hrsg. v. Friedrich Stepanek.Innsbruck–Wien: Tyrolia 2012. 240 S.

Carmella Flöck, geboren 1898 in Inns-bruck, wuchs als uneheliches Kind in ei-nem religiösen Haushalt auf, ihre Mutter

nahm zwei weitere zurückgelassene Mäd-chen in den Familienverband auf. Ab 1926arbeitete Flöck beim „Landesverband derKatholischen Arbeitervereine Tirols“, derin der Zeit des „Ständestaates“ im „Bundder Katholischen Arbeiter und Angestell-ten Tirols“ in das System integriert wurde.Carmella Flöck arbeitete bis 1938 für denVerband, durfte aber – als Frau – nichtvollwertiges Mitglied werden. Ihre nun 30Jahre nach dem Tod veröffentlichten Erin-nerungen beginnen mit der Annexion Ös-

terreichs durch Hitlerdeutschland. Inmit-ten der ersten „Anschluss“-Begeisterungblieb Carmella Flöck von Anbeginn unbe-eindruckt und unerschütterlich ihrer Ein-stellung treu und schloss sich 1939 einermonarchistisch-katholisch-konservativenWiderstandsgruppe um August Skladal an,den sie noch aus der Vaterländischen Frontkannte. Durch Denunziation wurde dieGruppe im Oktober 1942 von der Gestapoaufgerollt. Auch Carmella Flöck wurdeverhaftet und im Februar 1943 in das KZ

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Ravensbrück überstellt. Dort erlebte siedie Befreiung des Lagers durch die RoteArmee am 30. April 1945 und kehrte imAugust nach Innsbruck zurück. Sie arbei-tete bald beim „Bund der Opfer national-sozialistischer Unterdrückung in Tirol“(bis zu seiner Auflösung 1948) und an-schließend für viele Jahre im Landes-dienst. Nach ihrer Pensionierung war sieweiterhin u. a. in der LagergemeinschaftRavensbrück engagiert. Carmella Flöckstarb auch offiziell hoch geehrt 1982.Die Erinnerungen wurden von Flöck ver-mutlich Anfang der 1960er-Jahre verfasst,lediglich einzelne Auszüge erschienennach ihrem Tod, u. a. in der DÖW-Publi-kation Widerstand und Verfolgung in Ti-rol (1984). Mit Einverständnis der Erbin,der Ziehschwester von Carmella Flöck,Rita Seistock, wurde das gesamte Manu-skript von Friedrich Stepanek, dessen Fa-milie mit der Autorin gut bekannt war,herausgegeben und umsichtig lektoriert.Er ergänzt den Erinnerungsbericht u. a.durch eine biographische Skizze und Ka-pitel zum katholischen Widerstand in Ti-rol.

Christine Schindler

Hirl, Friedrich: Meine Kindheit undJugend in Schwechat 1927–1945.Schwechat: Selbstverlag 2011. 112 S.

Ing. Friedrich Hirl wurde 1927 im nieder-österreichischen Schwechat geboren, 2011legte er seine Erinnerungen der Öffent-lichkeit vor. Es ist ein Buch über eine so-zialistische Arbeiterfamilie und eine bebil-derte Regionalgeschichte von der Jahr-hundertwende über die Februarkämpfe1934 und die nationalsozialistische Herr-schaft bis nach der Befreiung 1945. Hirlberichtet von der ersten Begeisterung des„Anschlusses“ 1938, die Menschen aus al-len Klassen und Schichten erfasste, underzählt auch von den Resistenten undWiderständigen. Er nennt Namen und dif-ferenziert Motive. Klar benennt er auchdas Motiv der Bereicherung an den„Arisierungen“, durch Ausbeutung derZwangsarbeiterInnen und Wehrmachts-aufträge, die einem verbrecherischen Vor-haben dienten. Er zeigt auf, was er als Ju-gendlicher alles miterlebte und erfuhr,vom Novemberpogrom 1938 bis hin zurVerurteilung seines Vaters wegen „Rund-funkverbrechens“, von seiner Schulkar-riere bis zur Einberufung zum RAD, sei-nen Kriegserlebnissen und den dramati-schen Ereignissen während der Befreiungvon Schwechat durch die Rote Armee.

Christine Schindler

Heinz, Daniel (Hrsg.): Freikirchen undJuden im „Dritten Reich“.Instrumentalisierte Heilsgeschichte,antisemitische Vorurteile und ver-drängte Schuld (= Kirche – Konfession– Religion; 54). Göttingen: Verlag V & R unipress 2011. 343 S.

Dieser Sammelband enthält zwölf Beiträ-ge: In zehn Aufsätzen befasst sich jeweilsein Historiker/eine Historikerin mit der ei-genen Freikirche in Deutschland. Weiterswerden die Vorgeschichte (19. und frühes20. Jahrhundert – Juden als „Heilsbringerund Verderber“, S. 13) sowie – in einemBeitrag des Verfassers im Anhang – dieVorgänge in Österreich. Die Texte sindkeineswegs verteidigend, sondern selbst-kritisch (was nun, nachdem die damaligenAkteure verstorben sind, leichter möglichist). Die einzelnen Freikirchen brauchtenlange, bis sie eigene Versäumnisse öffent-lich eingestanden: Ein Schuldbekenntnisder Baptisten kam 1984 heraus, Methodis-ten (1988), Mennoniten (1995) und Ad-ventisten (2005) folgten (S. 9).Daniel Heinz, der Herausgeber des Ban-des, leitet das Historische Archiv der Sie-benten-Tags-Adventisten von Europa ander Theologischen Hochschule Friedensau(Sachsen-Anhalt). Er sieht als Kennzei-chen der Freikirchen „ein bewusstes Ent-scheidungschristentum“ (S. 9). Freikir-chen, in Deutschland stärker verbreitet alsin Österreich, sind eine Alternative zuStaats-/Landes-/Volkskirchen. Historischgesehen bemühten sich Freikirchen um ei-ne stärkere Distanz gegenüber dem Staat.Demnach war auch eine Distanz gegen-über der NS-Regierung naheliegend. Wasdie Möglichkeit für Protest gegen Maß-nahmen des Staates betrifft, waren dieFreikirchen aufgrund ihrer geringen Größevon vornherein in einer schwachen Posi-tion. Und das jahrzehntelange Erleben derExistenzgefährdung durch einen mit eineretablierten Kirche verbündeten Staat, alsMinderheitsgemeinschaft oft mit dem Eti-kett „Sekte“ versehen, war keine günstigeVoraussetzung, um dem NS-Regimeselbstbewusst entgegenzutreten. Man warfroh, selbst als Gemeinschaft existieren zudürfen. Für die Nöte anderer Gruppenfehlte oft der Blick; soweit dieser gegebenwar, schien es keine aussichtsreichenHandlungsmöglichkeiten zu geben. Der Baptist Hans Luckey schrieb Ende1941 in seinen persönlichen Notizen:„Blutiges Drama. Wir Christen unter Zu-schauern.“ (S. 151) Mit diesem Satz über-schreibt Andrea Strübind, Professorin fürKirchengeschichte an der Universität Ol-

denburg, ihren Beitrag über die Baptisten.Sie erwähnt auch den in Wien tätigen Pre-diger Arnold Köster, der „bereits in derEndphase der Weimarer Republik zu denwenigen dezidierten Kritikern des Natio-nalsozialismus im freikirchlichen Umfeld“gehörte (S. 158). Köster hatte übrigens eine prinzipielle Meinungsverschiedenheitin der hermeneutischen Frage, ob eine –an die Bibel gebundene – Predigt Kritik ankonkreten Zeiterscheinungen beinhaltenkann. Der Methodistenprediger HinrichBargmann war dagegen; er plädierte füreine behutsame Bibelauslegung, da eineÜbertragung prophetischer Warnungendes Alten Testaments auf bestimmte Na-tionen der Gegenwart willkürlich sei.Köster rechtfertigte sein Konkretwerdenmit der biblischen Typologie: Bei der Lek-türe der Bibel würden Typen erkennbar,deren Wiederauftreten in der Gegenwartsehr wohl in der Bibelauslegung ange-sprochen werden solle (vgl. S. 316 ff.).Die alttestamentliche Betrachtung der Ju-den als „Volk Gottes“ war auch in Freikir-chen weit verbreitet, was aber nicht aus-schloss, in den politischen Vorgängen derNS-Zeit „ein Handeln Gottes zu erkennen,der die Juden in das verheißene Land zu-rückführen wolle“ (S. 133 aufgrund vonStellungnahmen in der Pfingstbewegung).Ein Beispiel für einen Juden als Mitgliedeiner Freikirche war der Arzt AlbertRosenthal, Gemeindeleiter bei den Adven-tisten. Er konnte überraschenderweise bisKriegsende als Arzt (ausschließlich für jü-dische PatientInnen) in München bleiben(S. 305). Manche Gemeinden wurdendurch jüdische Taufkandidaten mit der„Judenfrage“ konfrontiert. 1936 entschiedsich eine mennonitische Konferenz dage-gen, „Mischlinge in unsere Gemeindenaufzunehmen“ (S. 73). Eine ähnliche Vor-sicht gab es auch bei der Herrnhuter Brü-dergemeinde 1939 (S. 279 f.). Über die bereits genannten Gemeinschaf-ten hinausgehend enthält der Sammelbandauch Darstellungen zu den für ihr diakoni-sches Engagement bekannten Quäkern,außerdem zur Brüderbewegung, zu den„Freien evangelischen Gemeinden“ sowiezu den „Selbständigen evangelisch-luthe-rischen Kirchen“. Durch die Betrauungkompetenter Historiker der jeweils eige-nen Glaubensgemeinschaft entsteht einzuverlässiges, kritisches Bild über Hal-tung und Verhalten von Freikirchen in ei-nem dramatischen Zeitraum. Auf dieserGrundlage sollten nun Vergleiche der Frei-kirchen miteinander sowie die Einbindungdieses Stücks Freikirchengeschichte in ei-ne breitere Kirchengeschichte möglichwerden. Franz Graf-Stuhlhofer

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August 2013 11

Pfeifer, Karl: Einmal Palästina und zu-rück. Ein jüdischer Lebensweg. Wien:Edition Steinbauer 2013. 173 S.

Der Journalist Karl Pfeifer legt mit diesemautobiographischen Bericht eine beeindru-ckende Bilanz seiner ersten 23 Lebens-jahre vor, die nicht nur persönlich Erlebtesund Erlittenes vermittelt, sondern zugleichauf informative und instruktive Art dasErzählte in einen historischen und politi-schen Zusammenhang stellt. Karl Pfeifer wurde 1928 in Baden beiWien geboren. Seine Eltern stammten ausdem ungarischen Teil der Doppelmonar-chie und hatten sich schon 1908 und dannwieder zu Beginn der Herrschaft Horthysin Österreich niedergelassen. Obwohl Karlbehütete Kindheitsjahre im Schoß der Fa-milie verbringen konnte, machte er früheErfahrungen mit dem starken Antisemitis-mus der Umgebung. Sein älterer BruderErwin zog bereits 1935 die Konsequenzenund es gelang ihm, auf einem Schiff Pa-lästina zu erreichen und an Land zu gehen.Die Entfesselung der Verhältnisse nachder Machtergreifung der Nationalsozialis-ten bekam der zehnjährige Karl zu spüren,als er von einer Hetzmeute von Hitlerjun-gen verfolgt und gewürgt wurde. Die Eltern waren entschlossen, so schnellwie möglich das Land zu verlassen, undreisten mit Karl im Sommer 1938 nachUngarn aus, wo viele Familienangehörigelebten. Karl Pfeifer besuchte die jüdischenGymnasien in Debrecen und Budapestund lernte rasch Ungarisch. Er konnte inder Verwandtschaft ein breites Spektrumpolitischer Einstellungen kennenlernenund nahm sofort – nicht zuletzt durch per-sönliche Anpöbelungen – den massivenAntisemitismus der ungarischen Gesell-schaft wahr. 1940 fand er durch einenSchulfreund Zugang zur sozialistisch-zio-nistischen Jugendorganisation SchomerHazair, die nur im Untergrund existierenkonnte. Schomer Hazair, von Jugendbe-wegung und Zionismus gleichermaßen in-spiriert, orientierte sich als säkulare Ver-einigung an den kulturellen und ethischenWerten des Judentums, grenzte sich vomGeist der Assimilation ab und strebte dieEinwanderung in Palästina an. Nach demfrühen und tragischen Verlust der an Krebserkrankten Mutter wurde die Jugend-gruppe für Karl teilweise zum Familiener-satz. Trotz antisemitischer Gesetze und derKriegsteilnahme Ungarns als VerbündeterNazideutschlands hoffte ein beträchtlicherTeil der jüdischen Bevölkerung (darunterviele Verwandte Pfeifers, die später er-

mordet wurden), im Land überleben zukönnen. Nicht so Karl Pfeifer: SchomerHazair ermöglichte es ihm, im Jänner1943 mit einem Jugendzertifikat auf demLandweg nach Palästina zu gelangen, woer gemeinsam mit den anderen Jugend-lichen in den Kibbuzim Maabarot undSchaar Hamakim im Großraum Haifa un-tergebracht wurde. Da das rettende Reise-dokument für Karl Pfeifer im Austauschvon Zertifikaten der religiösen Jugendbe-wegung Bnei Akiva mit Schomer Hazairerworben worden war, musste er eine fal-sche Identität annehmen und verbrachtedie gesamte Zeit in Palästina und Israelunter dem Namen Zelig Buchbinder.Der Sozialismus von Schomer Hazair fandim Kibbuz das faszinierende Modell einergemeinschaftlichen Arbeits- und Lebens-form, das zugleich ein Laboratorium fürden emanzipatorischen Gedanken der Auf-hebung der Trennung von Kopf- undHandarbeit darstellte. Die große Begeis-terung von Karl Pfeifer wurde durch dieschwere landwirtschaftliche Arbeit etwasernüchtert. Es zählt zu den großen Stärkendieser Autobiographie, dass Pfeifer seinefrüheren Gefühle nicht mit dem Filter derSicht aus der Gegenwart zensuriert, wasdem Bericht einen authentischen Charak-ter verleiht und das Buch zu einem einzig-artigen Zeitdokument macht. So ver-schweigt er auch nicht seine (damals mitdem Schomer Hazair deckungsgleichen)politischen Haltungen, die sich als Fehl-einschätzungen erwiesen haben. Trotz dertödlichen Feindschaft des dominantenTeils der arabischen Gesellschaft gegen-über der jüdischen Bevölkerung im Landehielt der Schomer Hazair bis in die1940er-Jahre unbeirrt am Konzept derSchaffung eines binationalen Staates inPalästina fest. Zugleich wurde die Sow-jetunion in einem Ausmaß idealisiert, beidem ideologisches Wunschdenken dieSicht auf die Realität versperrte.1945 konnte die Nachricht von der Be-freiung Europas vom NationalsozialismusKarl Pfeifer nicht froh stimmen: 36 Ver-wandte waren der Shoah zum Opfer gefal-len, sein in Ungarn gebliebener Vater hattein einem Versteck überlebt, starb aber we-nige Tage nach der Befreiung Budapestsdurch die Rote Armee.Ebenfalls 1945 ging auch der dreijährigeUnterricht in der Kibbuzschule zu Endeund im März 1946 trat Pfeifer mit seinenFreunden in den Palmach ein, einer aufegalitären Prinzipien aufgebauten Elite-einheit der VerteidigungsorganisationHagana. Nach der militärischen Ausbil-dung wurde er in den Negev im Süden zurBewachung einer Wasserleitung gegen

Sabotageanschläge der Beduinen kom-mandiert. 1947 schließlich eskalierten diebürgerkriegsartigen Auseinandersetzun-gen. Auch vom Krieg berichtet Pfeifer ohne Pathos und mit großer Ehrlichkeit.Er beschwört keinen Heroismus, sondernerzählt, wie Angst und Trauer um gefalle-ne Freunde oft mit Galgenhumor abge-wehrt wurden.Das Ende der britischen Mandatsverwal-tung Palästinas sollte nach dem Beschlussder UNO die Teilung des Landes in einenjüdischen und arabischen Staat bringen,die aber von der politischen Vertretung derarabischen Bevölkerung und den arabi-schen Ländern verworfen wurde. Nach derErklärung der Unabhängigkeit und derAusrufung des Staates Israel im Mai 1948griffen die Armeen von fünf arabischenStaaten Israel an. Im Negev, wo KarlPfeifer stationiert war, war die ägyptischeArmee und Luftwaffe an Ausrüstung über-legen und versuchte, bis Tel Aviv vorzu-stoßen. Karl Pfeifer schildert – auch imKontext zu den politischen und diplomati-schen Bemühungen – die dramatischenKämpfe bis zur Wende im Krieg und demWaffenstillstand mit Ägypten im Februar1949.Nach der Abrüstung absolvierte KarlPfeifer einen Kurs für Schiffskellner undarbeitete eine Zeit lang in dieser Branche.Gleichzeitig nahm er Kontakt zu Ver-wandten in Zürich auf, die ihm einen Ein-führungskurs in der Hotelfachschule Lu-zern vermittelten. Danach arbeitete er inSchweizer Hotels, ehe ihn ein Brief seinesFreundes Dan aus Paris erreichte. Derstaatenlose Karl Pfeifer (erst 1952 wurdeein israelisches Staatsbürgerschaftsgesetzerlassen) besorgte sich ein Laissez-passerdes israelischen Konsulats in der Schweiz,das noch immer auf den Namen ZeligBuchbinder lautete. Damit reiste er auf ei-ner abenteuerlichen Odyssee nach Frank-reich weiter und als dort den beidenFreunden das Geld ausging, zogen sie inein jüdisches Obdachlosenasyl. Zuvor hat-te Karl Pfeifer leichtsinnig das Laissez-passer entsorgt und meldete sich mit sei-nem Geburtsnamen an, was die Polizei-behörde auf den Plan rief: Die Folge wa-ren Verhaftung und Abschiebung nach Ös-terreich, das er nach dreizehn Jahren am15. September 1951 zum ersten Mal wie-der betrat. Das Land, das ihn und seine Familie mitGewalt vertrieben hatte, hieß ihn auch beider Rückkehr nicht willkommen. Was da-nach geschah, hoffen wir in einer Fort-setzung der Autobiographie lesen zu kön-nen.

Heimo Gruber

Page 12: verhaftet wegen spionage und antisowjetischer propaganda

Österreicher im Exil. Mexiko 1938–1947. Eine Dokumentation,hrsg. v. DÖW. Deuticke 2002, 704 S., Bildteil. Leinen oderKarton i 15,– Leinen ... Stück

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Florian Freund, Concentration Camp Ebensee. Subcamp ofMauthausen, 2nd revised edition, Vienna 1998, 63 S., i 4,30

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Jonny Moser, Demographie der jüdischen Bevölkerung Öster-reichs 1938–1945, Wien 1999, 86 S. i 4,30 ... Stück

Josef Hindels, Erinnerungen eines linken Sozialisten, Wien1996, 135 S. i 6,50 ... Stück

KombiangebotGedenken und Mahnen in Wien, Gedenkstätten zu Widerstandund Verfolgung, Exil, Befreiung. Eine Dokumentation, hrsg. v.DÖW, Wien 1998 und Gedenken und Mahnen in Wien.Ergänzungen I, Wien 2001. i 13,– (statt i 15,–) ... Stück

Gerhardt Plöchl, Willibald Plöchl und Otto Habsburg in denUSA. Ringen um Österreichs „Exilregierung“ 1941/42, Wien2007, 288 S., Ladenpr. i 9,90 ... Stück

Wolfgang Form/Oliver Uthe (Hrsg.): NS-Justiz in Österreich.Lage- und Reiseberichte 1938–1945. Schriftenreihe des DÖW zuWiderstand, NS-Verfolgung und Nachkriegsaspekten, Bd. 3, LIT Verlag 2004, LVIII, 503 S., Sonderpreis i 25,– ( Ladenpr. i 49,90) ... Stück

Institut Theresienstädter Initiative/DÖW (Hrsg.) Theresien-städter Gedenkbuch. Österreichische Jüdinnen und Juden inTheresienstadt 1942–1945, Prag 2005, 702 S., i 29,–

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Herbert Exenberger/Heinz Riedel, Militärschießplatz Kagran,Wien 2003, 112 S., i 5,– ... Stück

DÖW, Katalog zur permanenten Ausstellung. Wien 2006, 207 S., 160 Abb., i 24,50 ... Stück

DÖW, Catalog to the Permanent Exhibition, Wien 2006, 95 S.,über 100 Abb., i 14,50 ... Stück

Bewahren – Erforschen – Vermitteln. Das Dokumentations-archiv des österreichischen Widerstandes, Wien 2008, 190 S., i 13,50 ... Stück

Martin Niklas, „... die schönste Stadt der Welt“. Österreichi-sche Jüdinnen und Juden in Theresienstadt. Wien 2009, 232 S., i 19,90 ... Stück

Rudolf Agstner / Gertrude Enderle-Burcel / Michaela Follner,Österreichs Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky.Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswär-tigen Dienstes 1918 bis 1959, Wien 2009, 630 S., i 29,90

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Günther Morsch / Bertrand Perz, Neue Studien zu nationalso-zialistischen Massentötungen durch Giftgas. Historische Be-deutung, technische Entwicklung, revisionistische Leugnung,Metropol Verlag 2011, 446 S., Ladenpr. i 24,– ... Stück

Heinz Arnberger / Claudia Kuretsidis-Haider (Hrsg.), Gedenkenund Mahnen in Niederösterreich. Erinnerungszeichen zu Wi-derstand, Verfolgung, Exil und Befreiung, Mandelbaum Verlag2011, 712 S., Ladenpr. i 39,90 ... Stück

Florian Freund, Die Toten von Ebensee. Analyse und Dokumen-tation der im KZ Ebensee umgekommenen Häftlinge 1943–1945,Braintrust, Verlag für Weiterbildung 2010, 444 S., i 29,–

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Forschungen zum Nationalsozialismus und dessen Nachwir-kungen in Österreich. Festschrift für Brigitte Bailer, hrsg. vomDÖW, Wien 2012, 420 S., i 19,50 ... Stück

Jahrbuch 2010, hrsg. vom DÖW, Schwerpunkt: Vermittlungs-arbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen, Wien 2010, 273 S., i 13,50 ... Stück

Jahrbuch 2011, hrsg. vom DÖW, Schwerpunkt: Politischer Wi-derstand im Lichte von Biographien, Wien 2011, 302 S., i 13,50 ... Stück

Jahrbuch 2012, hrsg. vom DÖW, Gedenkstätte für die Opferder Gestapo Wien. Bilder und Texte der Ausstellung, Wien 2012, 205 S., i 9,50 ... Stück

Opferschicksale. Widerstand und Verfolgung im National-sozialismus. 50 Jahre Dokumentationsarchiv des österreichi-schen Widerstandes, Jahrbuch 2013, hrsg. vom DÖW, Wien2013, 378 S., i 19,50 ... Stück

Barry McLoughlin / Josef Vogl, „... Ein Paragraf wird sich fin-den“. Gedenkbuch der österreichischen Stalin-Opfer (bis1945), hrsg. vom DÖW, Wien 2013, 622 S., i 24,50

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