Stärkung von Qualität im Gesundheitswesen – Erfahrungen aus der Praxis einer...

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St arkung von Qualit at im Gesundheitswesen – Erfahrungen aus der Praxis einer Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und Patricia Ex Die Fo ¨rderung von Qualita ¨t im Ge- sundheitswesen ist ein ha ¨ufig gefor- dertes und mehrfach angeku ¨ndigtes Vorhaben. Die Beantwortung der Fra- ge, was ,,Qualita ¨t‘‘ im Zusammen- hang mit unserer Gesundheitsversor- gung eigentlich ist, bringt viel Diskus- sionsbedarf. Meinem Versta ¨ndnis nach ist die bestmo ¨gliche Qualita ¨t der Anspruch eines solidarischen und universalistischen Gesundheits- systems, in dem jede Patientin und jeder Patient dauerhaft die medizini- sche Leistung auf der technischen Ho ¨he der Zeit erha ¨lt, die sie oder er beno ¨tigt und wu ¨nscht. Fu ¨r Reformen ist Qualita ¨t allerdings konkreter zu fassen. Zwischen 2001 und 2009 verbesserten wir die Qua- lita ¨t im Gesundheitswesen insbeson- dere an drei Stellschrauben: durch integrierte Versorgungsstrukturen, Transparenz und ein gerechtes Ver- sicherungssystem mit solidarischer Finanzierung. Bei meiner U ¨ bernahme des Minis- teriums im Jahr 2001 war kurz zuvor das Gutachten des Sachversta ¨ndigen- rats im Gesundheitswesen erschienen. Darin wurde ausfu ¨hrlich dargelegt, wie unser System von U ¨ ber-, Unter- und Fehlversorgung gepra ¨gt war. Organisierte Abla ¨ufe zwischen ambu- lanter und stationa ¨rer Versorgung wa- ren vielerorts rudimenta ¨r. Auch bei schweren Erkrankungen war es nicht selbstversta ¨ndlich, dass die beteiligten Institutionen und Berufsgruppen mit- einander sprachen. Seit Jahrzehnten wurde auf viele Wei- se versucht, diesen tradierten Ab- schottungen mit integrativen Lo ¨sun- gen zu begegnen. Meiner Vorga ¨ngerin Andrea Fischer war es schließlich ge- lungen, die Regelversorgung gesetz- lich mit Integrationsversorgung zu erga ¨nzen. Doch von den Akteuren angenommen wurde es nicht. Daher haben wir Integrierte Versorgungs- strukturen in vielen Reformen ge- sta ¨rkt, allen voran im Gesundheits- Modernisierungsgesetz von 2004. Wir weiteten Selektivvertra ¨ge aus und implementierten eine Anschub- finanzierung aus dem kollektivvert- raglichen Budgets. Innerhalb von wenigen Jahren wurden Tausende Selektivvertra ¨ge als Erga ¨nzung zu Versorgungsschwachstellen geschlos- sen. Als weitere Maßnahme mit diesem Ziel entwickelten wir Disease Ma- nagement Programme fu ¨r chronische Patienten (DMPs). Diese strukturier- ten Behandlungsprogramme ermo ¨gli- chen eine hohe Qualita ¨t der Versor- gung auf der Ho ¨he des medizinischen Fortschritts und schaffen Transparenz durch eine klare Organisation der ein- zelnen Abla ¨ufe. Endlich stand bei der Versorgung der Patient im Mittel- punkt, nicht die einzelnen Sektoren. Dazu kam die Gru ¨ndung des Gemein- samen Bundesausschusses (G-BA) als sektorenu ¨bergreifende Einrichtung und des Instituts fu ¨ r Qualita ¨t und Wirt- schaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Neben Patientenvertretern erhielt damit auch die Evidenz-basier- te Medizin Eintritt in die Gemeinsame Selbstverwaltung. Integrierte Versorgung kann nur funk- tionieren, wenn Transparenz in den Versorgungsabla ¨ufen besteht. Das gilt insbesondere in einem so komple- xen System wie dem Gesundheitswe- sen. Als ich anfing, erhielt ich Be- schreibungen von Patientinnen, nach denen Frauen schon beim Verdacht auf ein Mammakarzinom gleich die Silikonkissen fu ¨ r ihre Brustimplantate angepasst wurden – noch ehe das Ge- spra ¨ch mit dem Arzt oder der A ¨ rztin u ¨ber die endgu ¨ltige Diagnose stattge- funden hatte. Das zu a ¨ndern ging nur durch mehr Kooperation zwischen den einzelnen Berufsgruppen und Sekto- ren. Richtige Diagnosen und Behand- lungsabla ¨ufe kann man nur sicherstel- len, wenn man weiß, was an anderer Stelle passiert. Hierzu kann etwa auch za ¨hlen, dass man sich eine Zweitmei- nung einholt oder Kooperationen zwi- schen Hausarzt und betreffenden Facha ¨rzten und anderen nicht-a ¨rztli- chen Gesundheitsberufen anregt. Ein Gesundheitssystem ist immer nur so gut wie die Versicherung der Pa- tienten. Fu ¨r die Versicherten haben wir im GKV-Wettbewerbssta ¨rkungs- gesetz von 2006 sehr wichtige A ¨ nde- rungen in Richtung Qualita ¨t vorge- nommen – mit zielgenauen Verbesse- rungen im Leistungsbereich, freieren Wahl- und Fusionsmo ¨glichkeiten von Kassen, der Einfu ¨hrung eines be- grenzten Wettbewerbs bei der PKV und dem – mir besonders wichtigen – Versicherungsschutz fu ¨ r alle Bu ¨rger. Das Herzstu ¨ ck war die gerechtere und solidarischere Finanzierung: die Ein- fu ¨hrung des Gesundheitsfonds. Alle Mitglieder zahlen nach ihrer Leis- tungsfa ¨higkeit den gleichen gerechten Beitragssatz von ihrem Einkommen ein und Krankenkassen erhalten fairer und versorgungsgerechter Mittel zu- gewiesen als fru ¨her. Das Geld sollte dorthin fließen, wo die Kranken sind. Public Health Forum 22 Heft 83 (2014) http://journals.elsevier.de/pubhef 36.e1

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St€arkung von Qualit€at im Gesundheitswesen –Erfahrungen aus der Praxis einer Gesundheitsministerin

Ulla Schmidt und Patricia Ex

Die Forderung von Qualitat im Ge-

sundheitswesen ist ein haufig gefor-

dertes und mehrfach angekundigtes

Vorhaben. Die Beantwortung der Fra-

ge, was ,,Qualitat‘‘ im Zusammen-

hang mit unserer Gesundheitsversor-

gung eigentlich ist, bringt viel Diskus-

sionsbedarf. Meinem Verstandnis

nach ist die bestmogliche Qualitat

der Anspruch eines solidarischen

und universalistischen Gesundheits-

systems, in dem jede Patientin und

jeder Patient dauerhaft die medizini-

sche Leistung auf der technischen

Hohe der Zeit erhalt, die sie oder er

benotigt und wunscht.

Fur Reformen ist Qualitat allerdings

konkreter zu fassen. Zwischen 2001

und 2009 verbesserten wir die Qua-

litat im Gesundheitswesen insbeson-

dere an drei Stellschrauben: durch

integrierte Versorgungsstrukturen,

Transparenz und ein gerechtes Ver-

sicherungssystem mit solidarischer

Finanzierung.

Bei meiner Ubernahme des Minis-

teriums im Jahr 2001 war kurz zuvor

das Gutachten des Sachverstandigen-

rats im Gesundheitswesen erschienen.

Darin wurde ausfuhrlich dargelegt,

wie unser System von Uber-, Unter-

und Fehlversorgung gepragt war.

Organisierte Ablaufe zwischen ambu-

lanter und stationarer Versorgung wa-

ren vielerorts rudimentar. Auch bei

schweren Erkrankungen war es nicht

selbstverstandlich, dass die beteiligten

Institutionen und Berufsgruppen mit-

einander sprachen.

Seit Jahrzehnten wurde auf viele Wei-

se versucht, diesen tradierten Ab-

schottungen mit integrativen Losun-

gen zu begegnen. Meiner Vorgangerin

Andrea Fischer war es schließlich ge-

lungen, die Regelversorgung gesetz-

lich mit Integrationsversorgung zu

erganzen. Doch von den Akteuren

angenommen wurde es nicht. Daher

haben wir Integrierte Versorgungs-

strukturen in vielen Reformen ge-

starkt, allen voran im Gesundheits-

Modernisierungsgesetz von 2004.

Wir weiteten Selektivvertrage aus

und implementierten eine Anschub-

finanzierung aus dem kollektivvert-

raglichen Budgets. Innerhalb von

wenigen Jahren wurden Tausende

Selektivvertrage als Erganzung zu

Versorgungsschwachstellen geschlos-

sen.

Als weitere Maßnahme mit diesem

Ziel entwickelten wir Disease Ma-

nagement Programme fur chronische

Patienten (DMPs). Diese strukturier-

ten Behandlungsprogramme ermogli-

chen eine hohe Qualitat der Versor-

gung auf der Hohe des medizinischen

Fortschritts und schaffen Transparenz

durch eine klare Organisation der ein-

zelnen Ablaufe. Endlich stand bei der

Versorgung der Patient im Mittel-

punkt, nicht die einzelnen Sektoren.

Dazu kam die Grundung des Gemein-

samen Bundesausschusses (G-BA) als

sektorenubergreifende Einrichtung

und des Instituts fur Qualitat undWirt-

schaftlichkeit im Gesundheitswesen

(IQWiG). Neben Patientenvertretern

erhielt damit auch die Evidenz-basier-

te Medizin Eintritt in die Gemeinsame

Selbstverwaltung.

Integrierte Versorgung kann nur funk-

tionieren, wenn Transparenz in den

Versorgungsablaufen besteht. Das

gilt insbesondere in einem so komple-

xen System wie dem Gesundheitswe-

sen. Als ich anfing, erhielt ich Be-

schreibungen von Patientinnen, nach

denen Frauen schon beim Verdacht

auf ein Mammakarzinom gleich die

Silikonkissen fur ihre Brustimplantate

angepasst wurden – noch ehe das Ge-

sprach mit dem Arzt oder der Arztin

uber die endgultige Diagnose stattge-

funden hatte. Das zu andern ging nur

durchmehr Kooperation zwischen den

einzelnen Berufsgruppen und Sekto-

ren. Richtige Diagnosen und Behand-

lungsablaufe kann man nur sicherstel-

len, wenn man weiß, was an anderer

Stelle passiert. Hierzu kann etwa auch

zahlen, dass man sich eine Zweitmei-

nung einholt oder Kooperationen zwi-

schen Hausarzt und betreffenden

Facharzten und anderen nicht-arztli-

chen Gesundheitsberufen anregt.

Ein Gesundheitssystem ist immer nur

so gut wie die Versicherung der Pa-

tienten. Fur die Versicherten haben

wir im GKV-Wettbewerbsstarkungs-

gesetz von 2006 sehr wichtige Ande-

rungen in Richtung Qualitat vorge-

nommen – mit zielgenauen Verbesse-

rungen im Leistungsbereich, freieren

Wahl- und Fusionsmoglichkeiten von

Kassen, der Einfuhrung eines be-

grenzten Wettbewerbs bei der PKV

und dem – mir besonders wichtigen

– Versicherungsschutz fur alle Burger.

Das Herzstuck war die gerechtere und

solidarischere Finanzierung: die Ein-

fuhrung des Gesundheitsfonds. Alle

Mitglieder zahlen nach ihrer Leis-

tungsfahigkeit den gleichen gerechten

Beitragssatz von ihrem Einkommen

ein und Krankenkassen erhalten fairer

und versorgungsgerechter Mittel zu-

gewiesen als fruher. Das Geld sollte

dorthin fließen, wo die Kranken sind.

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Der Gesundheitsfonds war strukturell

notwendig, um Nachteile zwischen

den Kassen auszugleichen. Endlich

ging es im Wettbewerb der Kranken-

kassen untereinander um die Qualitat

ihrer Versorgung.

Zwischen dem Gesundheitswesen des

Jahres 2001 und dem heutigen liegt

ein Quantensprung. Heute ist unser

Land in vielen Belangen wieder Welt-

klasse. Geschimpft wird zwar gleich-

viel, aber man muss nicht mehr nach

Boston jetten, um eine exzellente me-

dizinische Versorgung zu erhalten, es

reicht der ICE nach Essen, Bonn, Ber-

lin oder Leipzig. Auch meine Aus-

zeichnung mit dem ,,Qualitatspreis

Gesundheit‘‘ im Jahr 2013 zeigt mir

als nachtragliche Anerkennung, dass

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die Qualitat des Gesundheitswesens

durch unsere Initiativen der neun Jah-

re auch nachhaltig fur die Menschen

gestiegen ist.

In meiner politischen Karriere habe

ich sehr gut gelernt, dass Reformen

selten von Jubel begleitet werden –

und dass sollte man auch nicht erwar-

ten. Denn bei jeder Reform wachst bei

den Menschen zunachst einmal die

Angst, dass man ihnen etwas weg-

nimmt. Diesen Widerstanden muss

man sich im Zweifelsfall jedoch wi-

dersetzen. Wichtig sind die Uberzeu-

gung und der Wille, die gesellschaft-

lichen Verhaltnisse zu verbessern.

Man konnte auch einen bequemeren

Pfad als Minister wahlen – nicht die

steinige Straße bergauf. Aber das ist

sicher nicht der, uber den Qualitat und

Integrierte Versorgung vorangebracht

werden. Das Gesundheitssystem ist

bezahlbar – dazu tragen immer neue

Reformen zu bei. Was wir uns aber

auf Dauer nicht leisten konnen, ist

schlechte Qualitat.

Die korrespondierende Autorin erklart, dasskein Interessenkonflikt vorliegt.

http://dx.doi.org/10.1016/j.phf.2014.03.008

Ulla Schmidt, MdBVizeprasidentin des DeutschenBundestagesDeutscher BundestagPlatz der Republik 111011 [email protected]

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Einleitung

Die Forderung vonQualitat im Gesundheitswesen ist ein haufig gefordertes und haufig angekundigtes Vorhaben. Kurz vor

meiner Ubernahme desMinisteriums 2001 hatte der Sachverstandigenrat im Gesundheitswesen ausfuhrlich dargelegt, wie

unser System von Uber-, Unter- und Fehlversorgung gepragt ist. Organisierte Ablaufe zwischen ambulanter und

stationarer Versorgung waren vielerorts rudimentar. Zwischen 2001 und 2009 haben wir insbesondere durch drei

Stellschrauben die Qualitat im Gesundheitswesen verbessert: durch integrierte Versorgungsstrukturen, durch Transpa-

renz und durch ein gerechtes Versicherungssystem mit solidarischer Finanzierung.

Summary

The promotion of quality in the health care system is a frequently requested and announced intention. Just before I assumed

the Ministry of Health in 2001 the German Council of Health Experts had exposed that the German health care system is

shaped by a poor coordination of procedures between in-patient and out-patient care resulting in overuse, underuse, and

misuse of health services. Between 2001 and 2009, we fostered quality in health care particularly by focusing on three

determining fields: integrated care structures, operational transparency and a more equitable insurance system with

solidarity-based funding.

Schlusselworter:

Qualitat im Gesundheitswesen = Quality in Health Care, Integrierte Versorgung = Integrated Care, Evidenz-basierte

Medizin = Evidence-BasedMedicine, Gesundheitsreform = Health Care Reform, Strukturierte Behandlungsprogramme =

Disease-Management-Programmes

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