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Stephan Moebius • Dirk Quadflieg (Hrsg.)

Kultur. Theorien der Gegenwart

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Stephan Moebius DirkQuadflieg(Hrsg.)

Kultur.Theorien der Gegenwart

III VS VERLAG FUR SOZIALWISSENSCHAFTEN

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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothel< verzeichnet diese Publil<ation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet iJber <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

1. Auflage Mai 2006

Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag fiJr Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006

Lektorat: Frank Engelhardt

Der VS Verlag fiJr Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Sphnger Science+Business Media. www.vs-verlag.de

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Umschlaggestaltung: KunkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Titelbild: Daniel Harders, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin Gedruckt auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany

ISBN-10 3-531-14519-3 ISBN-13 978-3-531-14519-8

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Inhaltsverzeichnis

Stephan Moebius/Dirk Quadflieg Kulturtheorien der Gegenwart - Heterotopien der Theorie 9

Symbol - Diskurs - Struktur

Dirk Quadflieg Roland Barthes: Mythologe der Massenkultur und Argonaut der Semiologie 17

Marc Rolli Gilles Deleuze: Kultur und Gegenkultur 30

Christian Lavagno Michel Foucault: Ethnologie der eigenen Kultur 42

Stephan Moebius Pierre Bourdieu: Zur Kritik der symbolischen Gewalt 51

Michael T. Schetsche/Christian Vdhling Jean Baudrillard: Wider die soziologische Ordnung 67

Dynamiken der Kulturen

Karsten Kumoll Clifford Geertz: Die Ambivalenz kultureller Formen 81

Peter J. Brdunlein Victor W. Turner: Rituelle Prozesse und kulturelle Transformationen 91

Thomas Keller Kulturtransferforschung: Grenzgange zwischen den Kulturen 101

Berndt Ostendorf Samuel Huntington: From Creed to Culture 115

Miriam Nandi Gayatri Chakravorty Spivak: Ubersetzungen aus Anderen Welten 129

Jochen Bonz/ Karen Struve Homi K. Bhabha: Auf der Innenseite kultureller Differenz: „in the middle of differences" 140

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Stephan Moebius/Dirk Quadflieg

Phanomene des AUtags

Hubert Knoblauch Erving Gofftnan: Die Kultur der Kommunikation 157

Bernt Schnettler Thomas Luckmann: Kultur zwischen Konstitution, Konstruktion und Kommunikation 170

Ronald Kurt Hans-Georg Soeffiier: Kultur als Halt und Haltung 185

Jochen Roose Jiirgen Gerhards: Quantifizierende Kultursoziologie 199

Reiner Keller Michel Maffesoli: Die Wiederkehr der Stamme in der Postmodeme 209

Amor und Psyche

Christian Kupke Julia Kristeva: Das Pathos des Denkens oder Die zweifache Genese des Subjekts 223

Andreas undMechthild Hetzel Slavoj Zizek: Psychoanalyse, Idealismus und Popularkultur 235

Heike Kampf Judith Butler: Die storende Wiederkehr des kulturell Verdrangten 246

Perspektiven auf den Spatkapitalismus

Matthias Junge George Ritzer: Die McDonaldisierung von Gesellschaft und Kultur 259

Christian Papilloud MAUSS: Mouvement Anti-Utilitariste dans les Sciences Sociales 267

Sven Opitz Richard Sennett: Das Spiel der Gesellschaft - Offentlichkeit, Urbanitat und Flexibilitat 282

Johannes Angermuller Fredric Jameson: Marxistische Kulturtheorie 297

Manfred Lauermann Michael Hardt & Antonio Negri: Kulturrevolution durch Multitudo 309

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Inhaltsverzeichnis

Kritiken der Exklusion

Konrad Thomas Rene Girard: Ein anderes Verstandnis von Gewalt 325

Andreas Reckwitz Ernesto Laclau: Diskurse, Hegemonien, Antagonismen 339

Johannes Scheu Giorgio Agamben: Uberleben in der Leere 350

Thomas Kron/Melanie Reddig Zygmimt Bauman: Die ambivalente Verfassung modemer und postmodemer Kultur 363

Popularkultur und Counter Culture

Rainer Winter Stuart Hall: Die Erfmdung der Cultural Studies 3 81

Udo Gottlich Paul Willis: Alltagsasthetik und Popularkulturanalyse 394

Lutz Hieber Douglas Crimp: Vom Postmodemismus zur Queer Culture 403

Technik, Korper und Wissenschaft

Claus Morisch Paul Virilio: Geschwindigkeit ist Macht 417

Werner Krauss Bruno Latour: Making Things Public 430

Karin Harrasser Donna Haraway: Natur-Kulturen und die Faktizitat der Figuration 445

Medien und Kommunikation

Kai Hochscheid Vilem Flusser: Kommunikation und menschliche Existenz 463

Petra Gehring Michel Serres: Garten, Hochgebirge, Ozeane der Kommunikation 471

Gerd Nollmann Manuel Castells: Kultur, Technologic und Informationsgesellschaft 481

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8 Stephan Moebius/Dirk Quadflieg

Dirk Jorke Jurgen Habermas: Das Vemunftpotential der Modeme 491

Bernd Terries Niklas Luhmann: Systemtheoretiker und Poet zivilklinischer Theorie 503

Herausforderungen der Globalisierung

Jorg Durrschmidt Roland Robertson: Kultur im Spannungsfeld der Glokalisienmg 519

Angelika Poferl Ulrich Beck: Ftir einen „Kosmopolitismus mit Wurzeln und Fltigeln" 531

Jorg Rossel Ronald Inglehart: Daten auf der Suche nach einer Theorie - Analysen des weltweiten Wertewandels 545

Bernd Heiter Immanuel Wallerstein: Unthinking Culture? 557

Matthias Koenig Shmuel Noah Eisenstadt: Kulturtheoretische Zivilisationsanalyse 571

Autorinnen und Autoren 5 81

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Kulturtheorien der Gegenwart - Heterotopien der Theorie

Stephan Moebius/Dirk Quadflieg

Wirft man einen Blick auf die Entwicklung der geisteswissenschaftlichen Theoriebildung des letzten Jahrhunderts, so lasst sich ein seit den dreiBiger Jahren besonders durch Marcel Mauss und Claude Levi-Strauss angeregter, aber erst ab dem letzten Drittel des 20. Jahr­hunderts beschleunigter und weit ausdifferenzierender cultural turn entdecken. Entgegen behavioristischen oder funktionalistischen Erklarungsmodellen des Sozialen aus den funf-ziger Jahren, die meinten, die subjektiven Sinn- und Weltdeutungen sowie die Handlungs-modalitaten der sozialen Akteure auBen vor zu lassen und lediglich die hinter den Akteuren liegenden Krafte zum bevorzugten Untersuchungsgegenstand zu erheben, entwickelten sich gerade in den letzten drei Jahrzehnten zahlreiche und durchaus heterogene Theoriestrange, die sich zu einem „kulturtheoretischen Feld" verdichteten und deren kleinster gemeinsamer Nenner in einem wachsenden Interesse flir die kulturellen Dimensionen des Sozialen be-steht. Dieser Prozess ist - wie man bereits durch die feldtheoretischen Analysen des franzo-sischen Soziologen Pierre Bourdieu weiB - nicht bloB gesellschaftlichen Veranderungen und Wirkungen geschuldet, sondem geht einher mit innertheoretischen Transformationen. Auch wenn beide Transformationsprozesse - gesellschaftliche wie innertheoretische - nicht ganzlich jeweils aufeinander reduzierbar sind, sind sie nichtsdestoweniger in einem engen Zusammenhang zu sehen. Einen gewichtigen Ausloser des cultural turn sehen Achim Landwehr und Stefanie Stockhorst beispielsweise in den zunehmenden Globalisierungspro-zessen; die Forschungen richten ihr Augenmerk vermehrt auf Kultur, Sinnsysteme und Wissensordnungen just in dem Augenblick, wo diese briichig zu werden drohen (vgl. Land-wehr/Stockhorst 2004: 74f.).

Die Entwicklung des kulturtheoretischen Feldes flihrt auch zu neuen defmitorischen Bestimmungen und Sinngehalten des Begriffes „Kultur" (vgl. Reckwitz 2000: 64ff.; Daniel 2002: 195ff., 443ff.; Ort 2003). Gilt „Kultur" schon bei Johann Gottfried Herder als das Ganze einer Lebensweise eines Kollektivs und ganz ahnlich bei Jacob Burckhardt als die Gesamtheit der menschlichen Lebensverhaltnisse, so erscheint ,JKultur" in differenzie-rungstheoretischen Untersuchungen hingegen lediglich als ein Teilsystem unter anderen. Dem entspricht ebenfalls das Alltagsverstandnis von „Kultur", mit dem vor allem jene geistigen Werte angesprochen sind, die historisch als Errungenschaften gelten und in Kunst, Literatur, Musik, Schauspiel etc. reproduziert und fortgeschrieben werden. Li der soziologischen Theoriebildung gait, insbesondere in ihrer kritischen Variante, Kultur im Sinne eines Teilphanomens lange Zeit als Ausdruck einer (btirgerlichen) Trennung zwi-schen materieller und geistiger Produktion, die iiberwunden werden sollte (vgl. Adomo 1996). Den geistesgeschichtlichen Hintergrund fur diese Ablehnung bildet eine normative Aufladung, die der Kulturbegriff spatestens seit Kant erfahren hat, und in dessen Folge er dann - bis hinein ins 20. Jahrhundert - in Frontstellung zu der mit Entfremdung, gefiihlslo-ser Rationalitat und „uneigentlicher" Masse assoziierten civilisation trat. Holzschnittartig ausgedriickt: Auf der einen Seite diente die „Kultur" als Ferment einer Kritik an der Mas-

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10 Stephan Moebius/Dirk Quadflieg

sengesellschaft, wahrend auf der anderen Seite noch die Kulturkritik selbst als verstrickt in eine btirgerliche Ideologic wahrgenommen wurde. Erst die neueren Kulturtheorien erwei-tem in Anlehnung an Max Weber und Ernst Cassirer den Begriff „Kultur" allgemein auf den „Komplex von Sinnsystemen oder - wie haufig formuliert wird - von ,symbolischen Ordnungen', mit denen sich die Handelnden ihre Wirklichkeit als bedeutungsvoU erschaf-fen und die in Form von Wissensordnungen ihr Handeln ermoglichen und einschranken" (Reckwitz2000:84).

Bis hier zusammenfassend bedeutet dies: Ungeachtet der genannten Unterschiede, die bei den so genannten „Klassikem der Kulturtheorie" (vgl. Hofinann et al. 2004) zu finden sind, lasst sich seit einigen Jahren eine „facherubergreifendc Praferenz fiir einen semioti-schen, bedeutungsorientierten und konstruktivistisch gepragten Kulturbegriff erkennen; demnach wird „Kultur als der von Menschen erzeugte Gesamtkomplex von Vorstellungen, Denkformen, Empfindungsweiscn, Werten und Bedeutungen aufgefasst, der sich in Sym-bolsystemen materialisiert." (Niinning/Niinning 2003: 6)

Dieser weite Kulturbegriff beinhaltet nach Vera und Ansgar Nimning (2003) nicht nur materiale Ausdrucksweisen, sondem auch soziale Institutionen oder mentale Dispositionen. In der Begrifflichkeit von Marcel Mauss konnte man deshalb „Kultur" als ein „soziales Totalphanomen" deuten (vgl. Moebius 2006), das sowohl materiale, biologische, religiose, asthetische, mentale als auch soziale Dimensionen umfasst. Obwohl eine solche Bestim-mung auf den ersten Blick einleuchten mag, steht doch fest, dass der neuere Kulturbegriff als „soziales Totalphanomen" zu einer konturenlosen Erweiterung tendiert, so dass eigent-lich alles mit „Kultur" etikettiert wird und die Grenzen - beispielsweise zwischen Kultur und Gesellschaft - verschwimmen. Ebenso fuhrt - in der anderen Richtung - eine rigide „gegenstandstheoretische Definition des Kulturbegriffs" zwangslaufig zu einer „problema-tischen Verengung" (Ntinning/Ntinning 2003: 8).

Trotz der Transformationen der Kulturtheorien und -begriffe ist die Polaritat zwischen einer totalitatsorientierten, „sozial- und zeichentheoretischen Ubergeneralisierung von ,Kultur' einerseits und deren Unterscheidung und ,differenztheoretischen' Abgrenzung von ,Gesellschaft' andererseits" fur die derzeitige Theorielandschaft pragend geblieben (vgl. Ort 2003: 25). Auch der folgende Band wird hier weder einer coincidentia oppositorum das Wort reden noch endgtiltige Antworten liefem konnen. Vielleicht aber wird er zur Einsicht verhelfen, dass man im Blick auf die Definition des Kulturbegriffs und der Kulturtheorien von einer gewissen theorie- und disziplinabhangigen Konstrukthaftigkeit der Gegenstande ebenso ausgehen kann wie von der Konstrukthaftigkeit der Fragestellungen.

Wenn namlich Kultur selbst nur in Abhangigkeit von ihrer jeweiligen Thematisierung erscheint, stellt sich die Frage, ob die Rede von einer „kulturtheoretischen Wende" iiber-haupt ein einheitliches wissenschaftliches Feld bezeichnet, das sich durch einen mehr oder weniger gemeinsamen Phanomenbereich definieren lasst. Hier ware zunachst zwischen einem disziplingeschichtlichen Wandel in der Wissenschaftslandschaft, der zur Erweiterung des universitaren Facherkanons um die so genannten Kulturwissenschaften gefiihrt hat, und einer theoriegeschichtlichen Wende, die man in Anlehnung an den lingusitic turn als cultu­ral turn bezeichnet, zu unterscheiden (vgl. Goller/Recki et al. 2005). Dieser cultural turn darf jedoch nicht als neuerliche tjberbietung der sprachtheoretischen Wende verstanden werden, sondem als deren Vertiefimg und Ausdifferenzierung. Die Fundierung von geis-teswissenschaftlicher Theoriebildung mit Hilfe von sprach- und zeichentheoretischen Ober-legungen hat von Anbeginn einen kulturhistorischen Aspekt auf den Plan gerufen, sofem

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Kulturtheorien der Gegenwart - Heterotopien der Theorie 11

Sprache als solche immer schon als verwurzelt in einem geschichtlichen, sozialen Kontext wahrgenommen wurde. Nach Kegels Versuch, diesen „Geist" der Sprache in einem „abso-luten Wissen" systematisch einzuholen, hat sich an der Epochenschwelle zur Modeme die Einsicht durchgesetzt, dass sich sprachhch sedimentiere Bedeutungsdimensionen allenfalls partiell einer theoretischen ExpHkation offiien, da sie selbst die Begriffe fiir ihr Verstandnis Hefem mtissen. Kultur steht dann neben anderen Begriffen, wie etwa „Lebenswelt" (Hus-serl) Oder „Lebensform" (Wittgenstein), stellvertretend fur einen nicht mehr vollstandig hinterfragbaren Horizont der sprachHchen-symboUschen Weltvermittlung, in dem die Theo-riebildung selbst eingelassen ist.

Gleichwohl ist mit dem Eingestandnis eines konstitutiven „blinden Flecks" infolge der sprachtheoretischen Wende das Projekt der Aufklarung keineswegs obsolet geworden. Allerdings wird die Utopie einer vollstandig durchsichtigen Vemimfteinsicht in das, was ist, durch eine Heterotopic^ ersetzt, das heiBt eine Verstreuung der Analysen auf unter-schiedlichste Orte mit jeweils verschiedenen Methoden. Kulturtheorie als Meterotopie bleibt dann nicht allein auf Betrachtungen des Kulturbereichs im alltagsprachlichen Sinne (sei es Hoch- oder Subkultur) beschrankt, sondem kann philosophische, soziologische, literaturwissenschaftliche, psychologische, historische usw. Untersuchungen gleichermaBen in sich aufiiehmen. Eigenttimlicherweise entscheidet daher weder der Gegenstand noch die Wahl der methodischen Mittel dartiber, ob kulturtheoretisch gearbeitet wird. Li der Medizin bedeutet „Heterotopie" die Bildung von Gewebe am falschen Ort. Auf die Kulturtheorie ubertragen kann man in diesem Bild zugleich ihre spezifische institutionelle Fremdheit und eine zuweilen subversive bis parasitare Anpassungs- und Anschlussfahigkeit an bereits vorhandene Denktraditionen sehen. Es ware somit vor allem das Zugestandnis an die Be-grenztheit des eigenen Aussagebereiches sowie die Offenheit gegeniiber andersartigen Diskursen, die eine heterotopische Kulturtheorie auszeichnen wiirde.

Der skizzierten Heterotopic auf Seiten der Theoriebildung korrespondiert zweifellos die Erfahrung einer lebensweltlichen „neuen Uniibersichtlichkeit" (vgl. Habermas 1985), die sich durch das Aufbrechen von politischen, sozialen und identifikatorischen Ordnungen auszeichnet. Dem daraus erwachsenden Wunsch nach umfassenden Erklarungsmodellen zum Verstandnis der eigenen Wirklichkeit kann die geisteswissenschaftliche Theoriebil­dung indes aus angefiihrten Grlinden nur noch in Teilbereichen entsprechen. Eine mogliche Antwort auf dieses Dilemma liegt in der Uberschreitung von eingespielten Arbeitsteilungen in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Die heute in diesem Zusammenhang reflexar-tig angefuhrte Inter- bzw. Transdisziplinaritat findet jedoch nicht seiten ihre Grenze dort, wo andere Begriffsverwendungen und methodologische Weichenstellungen die eigene Wissenskultur und -tradition in Frage stellen oder sich als heterogen erweisen. Dem Ge­geniiber steht eine wachsende Anzahl von kulturtheoretischen Erklarungsansatzen- und Modellen, die sich langst „zwischen den Stiihlen" eingerichtet haben und deren Rezeption insbesondere in der deutschen Wissenschaftslandschaft oftmals keinen rechten Ort zu fm-den vermag oder allenfalls selektiv und verspatet einsetzt.

Den Perspektivwechsel von der Utopie auf eine Heterotopic beschreibt bereits Michel Foucault. Allerdings reserviert er den Begriff der Heterotopic - in einer an Georges Batailles' „Heterologie" erinnernden Wen-dung - fur existierende soziale Raume, die sich auf konstitutivc Weisc auBcrhalb von alien gewohnlichen Orten befinden und doch zugleich als eine Art Spiegel oder Brennglas einer historischen Kultur funktionie-ren. In StammesgescUschaften konnen dies beispielsweise heilige oder verbotene Platze sein; in modemen Gesellschaften Psychiatrien, Friedhofe oder Museen (vgl. Foucault 2005).

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12 Stephan Moebius/Dirk Quadflieg

Das Anliegen des vorliegenden Buches ist es daher, eine Reihe von aktuellen facher-iibergreifenden Kulturtheorien einftihrend vorzustellen und einem groBeren Fachpublikum bekaimt zu machen. Die Auswahl der hier versammelten Theoretikerinnen imd Theoretiker bzw. Forschungsansatze erhebt selbstverstandlich keinen Anspruch auf Vollstandigkeit. Sie spiegelt vielmehr den Versuch wider, gerade solche Theorien zusammenzuflihren, die ge-genwartig fur verschiedene Disziplinen von Interesse sind oder ihrerseits fur ein Denken jenseits der Fachgrenzen eintreten. Neben bekannteren Namen und Ansatzen fmden sich deshalb auch solche, deren Rezeption vielfach noch aussteht. Weiterhin antwortet der Band einem Bediirfiiis, das sich bei interdiszipHnarer Zusammenarbeit ebenso wie in der univer-sitaren Lehre immer haufiger einstellt: Im standig groBer werdenden Repertoire der Namen und Schlagworte ein moghchst breites Nachschlagewerk bei der Hand zu haben, in dem sich ktirzere Uberblicksbeitrage und wertvolle Hinweise flir v^eitere Lektiiren finden.

Der Gegenwartsbezug ist dabei - auch aufgrund der verzogerten Rezeptions- und Ubersetzungsgeschichte einiger Ansatze - im weiteren Sinne zu verstehen. ExpHzit nicht aufgenommen werden sollten so genannte „Klassiker" der Kulturtheorie, wie etwa Levi-Strauss, Freud, Cassirer, Simmel, Bataille oder Benjamin. Die behandelten Theorien hinge-gen reichen bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts zuriick und bertihren somit eine Zeit, deren Umbruchcharakter sich erst heute, mit dem Abstand von nahezu 40 Jahren, in seinem ganzen Umfang abzeichnet und wirksam wird. Nicht nur, weil das Denken von beispielsweise Foucault, Barthes, Deleuze und Bourdieu eine nach wie vor gewichtige Rolle im Diskurs der Kulturtheorien spielt, sondem auch, weil sie selbst zu Referenz- und Ausgangspunkten ftir zahlreiche jtlngere Ansatze geworden sind, scheinen sie fiir das Ver-standnis der aktuellen Diskussionen unerlasslich, insofem also „gegenwartig".

Ebenfalls mit Einschrankungen zu versehen ist die Anordnung der Beitrage in 10 gro-Bere Themenfelder. Eine solche inhaltliche Gliederung bietet den Vorteil einer gezielten thematischen Auswahl und Lektiire, soUte jedoch nicht tiber den Umstand hinwegtauschen, dass jeder einzelne Beitrag mit gleichem Recht auch in mindestens einem anderen Themen-feld hatte aufgenommen werden konnen. Der Anlass ftir diese Form der Anordnung war der Wunsch, den Leserinnen und Lesem eine erste Orientierung zu geben, und nicht, eine aus-schlieBende inhaltliche Klassifikation vorzunehmen.

Ein breit gefacherter Uberblick, wie ihn der vorliegende Band bietet, kann nur durch die tatkraftige und engagierte Mitwirkung vieler Autorinnen und Autoren zustande kom-men. Ihnen gilt unser ganz besonderer Dank. Ihre kompetenten Beitrage und ihr groBes Interesse an der Sache waren fur uns der treibende Motor des Projekts. Ebenso herzlich mochten wir dem Verlag fur Sozialwissenschaften danken, namentlich Herm Frank Engel-hardt und Frau Britta Christmann, deren voller Unterstutzung wir zu jeder Zeit sicher wa­ren.

Literatur

Adomo, Th. W.: Kulturkritik und Gesellschaft. Gesammelte Schriften, hrsg. v. R. Tiedermann et al, Bd. 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1996, S. 11-30.

Daniel, U.: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schltisselworter. 3. Aufl. Frankfurt/M. 2002.

Foucault, M.: Von anderen Raumen. In: Foucault, M.: Schriften in vier Banden - Dits et Ecrits, Bd. IV: 1980-1988, hrsg. v. D. Defert/F. Ewald. Frankfurt/M. 2005, S. 931-943.

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Kulturtheorien der Gegenwart - Heterotopien der Theorie 13

Goller, Th./Recki, B. et al: Die kulturwissenschaftliche Wende. In: Information Philosophic, Nr. 3, 2005.

Habermas, J.: Die Neue Unubersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V. Frankfurt/M. 1985. Hofmann, M. L. et al.: Culture Club. Klassiker der Kulturtheorie. Frankfurt/M. 2004. Landwehr, A./Stockhorst, S.: Einfuhrung in die Europaische Kulturgeschichte. Paderbom 2004. Moebius, S.: Marcel Mauss. Konstanz 2006. Nunning, A./Niinning, V. (Hg.): Konzepte der Kulturwisscnschaften. Theorctischc Grundlagen -

Ansatze - Perspektiven. Stuttgart 2003. Ort, M.: ,Kulturbegriffe und Kulturtheorien', in: Nunning, A./Niinning, V. (Hg.): Konzepte der Kul-

turwissenschaften. Theoretische Grundlagen - Ansatze - Perspektiven. Stuttgart 2003, S. 19-38. Reckwitz, A.: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms.

Weilerswist 2000.

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Symbol - Diskurs - Struktur

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Roland Barthes: Mythologe der Massenkultur und Argonaut der Semiologie

Dirk Quadflieg

Die Allegoric des Argoschiffs, das wahrend der Fahrt nach und nach in alien Einzelteilen ersetzt und verandert wird und nur den Namen beibehalt, steht, so Barthes in seinen auto-biographischen Fragmenten IJber mich selbst, wie kein anderes Bild sowohl fur die Semio­logie als auch fur seine eigene Arbeitsweise (vgl. Barthes 1978: 50f.). Denn obwohl kein anderer Autor derart eng mit dem Begriff , Semiologie' verbunden wird wie Roland Bar­thes, fallt es aufgrund der verschiedenen Wendungen, die er dieser Form der Bedeutungs-analyse in seinen zahlreichen Schriften gibt, schwer, sein semiologisches Projekt auf einen festen und einheitlichen Kembestand zuruckzuflihren. So bleibt ein Name, Semiologie, bestehen, ohne dass ihm eine feste Bedeutung entsprechen wtirde. Und doch ist bereits mit dieser Feststellung etwas Wesentliches tiber Barthes' „semiologisches Abenteuer" gesagt: Das Zeichen (griech.: semeton) verweist auf keinen naturlichen und feststehenden Gegens-tand, es erhalt seine Bedeutung vielmehr aus einer hrfahrt, d.h. einem geschichtlichen Pro-zess, dessen Anfangspunkt nicht mehr auffmdbar ist.

Und auch Barthes selbst vcrgleicht sich zu Recht mit der Argo, denn er scheint sich mit der Zeit immer wieder zu ersetzen, neu zu erfmden: als Litcraturwissenschaftler, Kriti-ker, Schriftsteller, Philosoph, Kulturwissenschaftler, als Verfasser akademischer Bticher cbenso wie von unzahligen Zeitungs- und Zcitschriftenartikeln, als Vertreter der nouvelle critique, des Strukturalismus sowie des PoststrukturaHsmus und schlicBlich als Verfasser von cxperimentellen autobiographischen Fragmenten - und diese Liste ist keineswegs voll-standig. Diesen vielen Gesichtem des Roland Barthes entspricht ein multiples Schreiben, abcr kein einheitUches ,Werk' (vgl. Btirger 1992: 100). Es gibt deshalb stets mehr als eine Moglichkeit, sich ihm zu nahem. Da der Argonaut sein Schiff wahrend der Fahrt standig verandert, bietet sich fiir eine Einfuhrung eine chronologische Vorgehensweise an, die nicht mehr als einige wichtige Stationen zusammenstellen kann. Barthes hat in den siebziger Jahren an mindestens zwei Stellen eine Einteilung seiner eigenen Schriften in verschiedene Phasen vorgeschlagen, hat jedoch - wie konnte es anders sein - in beiden Fallen eine je-weils andere Einordnung vorgenommen (vgl. Barthes 1988: 7-12 und 1978: 158). Auch wenn uns also Barthes zu verstehen gibt, welchen Wert solche Selbstcharakterisierungen haben, sollen im Folgenden - nach einer kurzen biographischen Skizze - jene iibersichtli-chen vier Phasen, die in Uber mich selbst (1978) genannt werden, als Leitfaden dienen.

Biographische Skizze

Roland Barthes wird 1915 in Cherbourg geboren. Sein Vater, Louis Barthes, stirbt knapp ein Jahr nach der Geburt seines Sohnes bei einer Seeschlacht des Ersten Weltkrieges. Nach