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ST R A F R E C H T

ST R A F P R O Z E S S R E C H T

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Jürgen Möllering__________________________________________________

Grenzüberschreitungen - ein Weg aus dem Dogma*

Ich möchte mich einem Aspekt der Person und des Wirkens von Albin Eserzuwenden, der etwas außerhalb der Strafrechtswissenschaft liegt und trotz-dem für ihn - so glaube ich - sehr charakteristisch ist. Ich spreche von seinerBereitschaft, über den Zaun zu schauen - über den fachlichen und über dengeographischen Zaun. Diese Bereitschaft hat nicht nur stets seine eigene Tä-tigkeit geprägt,1 sondern sich auch in den Lebensläufen und Arbeiten seinerSchüler - teilweise sehr deutlich - niedergeschlagen.

Ich erinnere mich an das Jahr 1972, als ich - mehr zufällig als geplant - beiihm in Bielefeld eine Stelle als Assistent antrat. Strafrecht war für mich da-mals noch geprägt durch den Täter, der zu Demonstrationszwecken seineerste Frau durch "aberratio ictus", die zweite infolge eines "error in perso-nam" tötete und die dritte in Erwartung einer reichen Erbschaft auf eineSchiffsreise schickte, weil er geträumt hatte, sie werde von der Planke stür-zen - was dann auch tatsächlich geschah. Die sich eigentlich aufdrängendeFrage der Schuldfähigkeit des Täters wurde in solchen Fällen seltsamerwei-se nie gestellt.

Und plötzlich erlebte man ein ganz anderes Strafrecht: Da reduzierte sich dieBeihilfe zum Suizid nicht mehr nur auf die Frage, ob der Strick gereichtwerden darf, bei Eintritt der Bewußtlosigkeit dann aber tunlichst helfendeingeschritten werden muß. Es wurden Pychologen, Sozialarbeiter und Me- * Überarbeitete Fassung eines Vortrags, den der Verfasser am 27.1.1995 im Max-

Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg gehal-ten hat.

1 Z.B. aus der Bielefelder Zeit die interdisziplinären Projekte: Eser/Schumann, For-schung im Konflikt mit Recht und Ethik, Stuttgart 1976; Eser, Suizid und Eutha-nasie als human- und sozialwissenschaftliches Problem, Stuttgart 1976.

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diziner befragt. Ja, mehr noch: Es wurde mit ihnen diskutiert - was übrigenszuweilen gar nicht so erfreulich ist.

Ich denke an das Thema "Sterbehilfe", mit dem ich mich damals etwas in-tensiver befaßte.2 Eine der Fallgruppen, die man als Jurist leider ab und anbilden muß, war der unheilbar Kranke, der in klarer Erkenntnis des nahenEndes den Arzt bittet, keine lebensverlängernden Maßnahmen zu ergreifen.Halt! - hörte man da schon von den Medizinern. Erstens erlebe man immerwieder Wunder und längst aufgegebene Kranke würden plötzlich gesund.Und zweitens würden diese sich dann nur noch höchst ungern an ihren frü-her geäußerten Wunsch zu sterben erinnern. Zweifel kamen auf: War dieFallgruppe vielleicht ohne jeden praktischen Wert oder lag es daran, daßman es mit Vertretern einer Disziplin zu tun hatte, der die Fähigkeit zum ab-strakten Denken aufgrund ihrer extrem empirischen Ausrichtung abhanden-gekommen war?

Jedenfalls mußte man sich mit derart "unjuristischen" Beiträgen auseinan-dersetzen. Und ich sage es ehrlich: Bis heute habe ich tiefe Zweifel an Kon-struktionen, die den "würdigen Tod" über quasi-testamentarische Willensäu-ßerungen des Kranken ermöglichen sollen. Genau das hat mich die Diskus-sion mit den Ärzten gelehrt. Ich hoffe, daß die Ärzte, mit denen wir damalsdiskutiert haben und immer wieder diskutieren, auch etwas gelernt haben:nämlich daß es ein Selbstbestimmungsrecht des Menschen - des sterbendenMenschen - gibt, das Respekt verdient, auch gegen die medizinische "Ver-nunft".

Sie sehen, es kann nicht schaden, wenn man einmal einen Blick in Diszipli-nen wirft, die jenseits der Grenzen liegen, welche die eigene Wissenschaftdefinieren. Man macht sich allerdings das Leben etwas schwerer, denn stattder Zauberformeln, die jedem Juristen geläufig sind und die Basis für den -oft unbegründeten - Konsens bilden, muß man sich nun mit der Wirklichkeitauseinandersetzen - oder vielleicht auch nur mit den Wirklichkeiten der 2 Möllering, Schutz des Lebens - Recht auf Sterben, Stuttgart 1977.

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Mediziner, der Soziologen, der Psychologen, der Wirtschaftswissenschaftleroder sogar des einfachen Volkes. Dort, wo die "kriminelle Energie des An-geklagten" auf die "Meinung aller recht und billig Denkenden" trifft, ist sehrviel Erklärungsbedarf!

Aber ich sagte es bereits: Albin Eser hat nicht nur über die fachlichen, son-dern auch über die geographischen Grenzen geschaut. Die Liste seiner Ver-öffentlichungen und seine Tätigkeit am Max-Planck-Institut für ausländi-sches und internationales Strafrecht geben davon beredtes Zeugnis. Wasnützt es jedoch, wenn man sich mit dem Recht anderer Länder beschäftigt?Recht reicht doch nur soweit wie der Einfluß der jeweils rechtsetzenden In-stitution. Und der ist im Regelfall an den geographischen Grenzen der sou-veränen Gebietskörperschaft zu Ende.

Der einzige Fall, wo eine Beschäftigung mit ausländischem Recht ganz of-fensichtlich Sinn macht, ist derjenige, bei dem es für die Entscheidung aufStatusfragen der Beteiligten ankommt, die ihren Ursprung in einem Gesche-hen im Ausland haben. Wenn der ubische Herr A das ubische Fräulein B imStaate Ubistan geheiratet hat und dies tatsächlich dort normalerweise da-durch geschieht, daß man dreimal gemeinsam ins kalte Wasser springt, dannwird man dieser Eheschließung nicht gänzlich den Respekt des Rechts ver-sagen können, auch wenn A und B heute in Freiburg wohnen und dort dieoben erwähnte Zeremonie höchstens ein Frösteln hervorruft.

Ernsthafte Zweifel habe ich aber schon bei der Anwendung fremden Rechtsauf aktuelle Schuldverhältnisse. Wer wie ich erlebt hat, wie in einem Ver-fahren vor dem High Court seiner englischen Lordship die Grundzüge von"culpa in contrahendo" nahezubringen waren, oder wie in einem Prozeß vordem Hamburger Landgericht ein ziemlich substantieller Zinsanspruch sichangeblich nach dem Recht des Staates Dubai richten sollte, der wird sichereinige Sympathie für den Gedanken aufbringen, daß man die Einheit vonGerichtsstand, Recht und Sprache obligatorisch machen sollte. Keine Angst:es geht wohl nicht.

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Aber nun erst recht das Strafrecht: Was nützt uns die Beschäftigung mit demislamischen Strafrecht? Wir werden es hoffentlich nie zu spüren bekom-men.3 Oder mit dem angelsächsischen oder amerikanischen Strafrecht? Wasbringt es mehr als die Erkenntnis, mit wie wunderbarer Trennschärfe dochdie deutsche Strafrechtswissenschaft inzwischen zu arbeiten versteht. Dasgeht sogar soweit, daß man in den deutschen Law Reports schon weitgehenddarauf verzichtet, überhaupt den Sachverhalt darzustellen. Der würde dieGedankengebäude von höchster Abstraktion auch wohl nur stören.

Ich möchte an dieser Stelle ein weiteres Verdienst von Albin Eser erwähnen:In seinem bereits Anfang der siebziger Jahre erschienenen Studienkurs hat erdas Strafrecht erstmals anhand wirklicher Fälle dargestellt - mit Sachverhaltund Urteilsgründen. Das war sehr ungewöhnlich angesichts der damals vor-herrschenden "maßgeschneiderten" Konstruktionen, die wunderbar die Prin-zipien erklärten, aber leider oft vergessen ließen, daß man es im Strafrechtmit Lebenssachverhalten - und Lebensschicksalen - zu tun hat.

Aber zurück zum ausländischen Recht: Es war schon ein ziemlicher Schock,als ich im Jahre 1974 - sozusagen auf Esers Spuren - im Institute of Com-parative Law der New York University zum ersten Mal mit angelsächsi-schem Rechtsdenken konfrontiert wurde. Kein Gesetz, kein professoralesGesamtkonzept, geschweige denn ein Palandt oder Schönke-Schröder dienteals Quelle rechtlicher Erkenntnis. Vielmehr mußte man mühsam in CaseBooks oder unmittelbar in den Reports danach suchen, was irgendein mehroder weniger bedeutender Richter an allgemeiner Lebensweisheit verkündethatte. Dabei kam es augenscheinlich weit mehr auf die Bedeutung desRichters als auf die wissenschaftliche Qualität seiner Aussage an. "HisLordship felt ..." habe ich einmal in einem englischen Report - ich weißnicht mehr wo - gelesen. Das hat mich sehr beunruhigt.

3 Vgl. die eindrucksvollen Ausführungen von Professor Tibi in FAZ vom 23.6.1995,

S. 13.

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Fremdes beunruhigt oft, weil man es nicht versteht. Und ich gebe zu, daß ichden Unterschied zwischen "law"und "equity" bis heute nicht ganz ver-standen habe. Allerdings hoben sich nach einer gewissen Zeit die Dunst-schleier doch etwas, und ich konnte die Feststellung machen, daß trotz derhöchst sonderbaren Methoden der Rechtsfindung die Ergebnisse dieses Pro-zesses nicht so sehr von denen deutscher Jurisprudenz abwichen. Es scheintalso Recht zu geben, weil es vernünftig ist - und nicht, weil es irgendwo ineinem Gesetz steht oder in eine bestimmte, in sich geschlossene Dogmatikpaßt.

Die Beschäftigung mit einem grundlegend anderen Recht fördert aber auchdas Verständnis für das eigene Recht. Vieles, was ich im deutschen Rechtbis dahin "eingepaukt" hatte, wurde aus der Warte des amerikanischenRechts plötzlich "verständlich". Ich denke etwa an die für das Schenkungs-versprechen vorgeschriebene Form der notariellen Beurkundung. Das anglo-amerikanische Recht verlangt für die Wirksamkeit einer durch einfachesVersprechen eingegangenen Verpflichtung, daß "consideration" - also eineGegenleistung - gegeben wird. Für Versprechen ohne Gegenleistung wird"contract under seal" oder "deed" verlangt. In anderen Rechtsordnungenmuß man vielleicht ein Huhn opfern. Die Idee dahinter ist immer dieselbe:Wer sich ohne Gegenleistung zu etwas verpflichtet, soll das nicht leichtfertigtun.

Eine Funktion des Rechts ist - wie Niklas Luhmann sagt - die Reduktion vonKomplexität.4 Wenn man weiß, was man darf, kann man sich danach richtenund muß nicht in der Furcht unvorhersehbarer Sanktionen leben. Ob dasheutige Recht diese Funktion noch erfüllt, möchte ich manchmal anzweifeln.Ich werde das gleich noch am Beispiel des deutschen Gesetzes gegen denunlauteren Wettbewerb kurz erläutern.

Eine andere Funktion liegt darin, Frieden zu stiften. Und hier habe ich auchwieder etwas aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis gelernt. Für die 4 Luhmann, Rechtssoziologie, Reinbek bei Hamburg 1972.

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friedensstiftende Funktion reicht es vielleicht nicht aus, wenn ein geradedem Studium entronnener Rechtsjünger in schwarzer Robe eine perfekte ju-ristische Begründung abliefert, die nur ein anderer, ebenso perfekter Vertre-ter seines Standes versteht - ein bloßer Austausch von "Zauberwörtern" un-ter Mitgliedern eines geheimen Bundes - wenn überhaupt noch vor Gerichtgeredet wird.

In dieser Beziehung hat sicher das angelsächsische System, welches denRichter oft ohne die "Krücke" des Gesetzes läßt, einen erheblichen Vor-sprung. Dort kann man sich nicht auf "§ soundso in Verbindung mit § so-wieso" zurückziehen, sondern muß zu einem konkreten Sachverhalt in einerkonkreten und grundsätzlich allgemeinverständlichen Begründung sagen,warum der Spruch so und nicht anders ist. Und sicher ist es diesbezüglichauch sehr hilfreich, daß dort niemand unmittelbar nach dem Studium, son-dern erst mit langjähriger Erfahrung in der Profession Richter wird.

Nebenbei sei gesagt, daß auf diesem Boden teilweise großartige, manchmalschon fast poetische Urteilsbegründungen geschrieben worden sind. So etwavon Mr. Justice Douglas, Richter am amerikanischen Supreme Court, der imJahre 1965 das damals im Staate Connecticut noch bestehende Verbot desGebrauchs von Mitteln der Schwangerschaftsverhütung als Verstoß gegendas nirgendwo in der Verfassung ausdrücklich erwähnte "Right to Privacy"wertete: "This notion of privacy is not drawn from the blue. It emanatesfrom the totality of the constitutional scheme under which we live." DieseEntscheidung Griswold v. Connecticut5 ist übrigens eines der leuchtendsten,aber auch zahlreichen Beispiele aus dem amerikanischen Recht, die zeigen,daß man eine funktionierende Verfassung weiterentwickeln kann, ohnegleich nach dem Verfassungsgesetzgeber zu rufen.

5 381 U.S. 479, 85 S.Ct. 1678, 14 L.Ed. 2nd. 510 (1965); vgl. auch Möllering, Von

der "Privatheit" des eigenen Todes, in: Eser, Suizid und Euthanasie als human-und sozialwissenschaftliches Problem, S. 347 ff.

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Oder nehmen sie Lord Denning, der im Jahre 1974 ohne Rückgriff auf einegeschriebene Verfassung die Reichweite der Verträge von Rom im Hinblickauf das englische Recht definierte: "The Treaty does not touch any of thematters which concern solely the mainland of England and the people in it.These are still governed by English law. They are not affected by the Treaty.But when we come to matters with a European element, the treaty is like anincoming tide. It flows into the estuaries and up the rivers. It cannot be heldback."6 - Leider muß man heute wohl annehmen, daß Lord Denning beimersten Teil seiner Feststellung geirrt hat. Aber schön gesagt hat er es jeden-falls.

Zu welchen begriffsjuristischen Ausfallerscheinungen andererseits der deut-sche Jurist fähig ist, zeigt sich m.E. immer dann am deutlichsten, wenn ereinmal den Bereich des rein Konstruktiven verlassen und sich mit den soge-nannten unbestimmten Rechtsbegriffen befassen muß. Keine Angst, ichwerde hier nicht die "Fanny Hill"-Rechtsprechung heranziehen, sondernmeine Beispiele aus einem Gebiet holen, das mich in den vergangenen Jah-ren mehr beschäftigt hat: Ich nannte es schon: das Gesetz gegen den unlaute-ren Wettbewerb. Da begeht etwa eine Handlung, die gegen die guten Sittenverstößt, wer im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs einAuto unter Angabe der Leistung in PS, statt der vorgeschriebenen KW, an-preist7 oder - noch schlimmer - wer bei der Werbung für EDV-Disketten de-ren Durchmesser in Zoll angibt.8 Er setze sich, so die Begründung, bewußtund planmäßig über das Gesetz über Einheiten im Meßwesen hinweg undschaffe sich dadurch einen ungerechtfertigten Vorsprung gegenüber seinemgesetzestreuen Mitbewerber.

Oder da wirbt ein deutscher Kekshersteller für seine Müslipralinen mit demSlogan "Naschen erlaubt". Das, so befindet das Kammergericht, sei Irrefüh-

6 Lord Denning, M.R. in H.P.Bulmer, Ltd. v. J.Bollinger S.A. (1974) Ch. 401, 418;

(1974) 2 All E.R. 1226, 1231.7 BGH, Urteil vom 4.3.1993 (I ZR 15/91), BB 1993, 1244.8 OLG Hamm, Urteil vom 23.9.1993, Az. 4 U 113/93.

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rung des Verbrauchers nach § 3 UWG, denn bei dem Verbraucher würdendurch den Begriff "erlaubt" unangebracht positive Vorstellungen über einegesundheitliche Unbedenklichkeit erweckt; damit täusche die Werbung überdie Beschaffenheit des Produkts. Das darin enthaltene "Attest" für gesund-heitliche Unbedenklichkeit sei zumindest in dem Maße irreführend, wie einesolche Unbedenklichkeit bei Zuckerkonsum außerhalb der normalen Nah-rungsaufnahme gerade nicht wissenschaftlich gesichert sei.9

In einem Fall, der im Jahre 1984 beim EuGH zur Entscheidung stand, heißtes, der deutschen Wettbewerbsrechtsprechung liege das Leitbild eines ab-solut unmündigen, fast schon pathologisch dummen und fahrlässig unauf-merksamen Durchschnittsverbrauchers zugrunde.10 Und ein spanischerRechtswissenschaftler vermutet gar, daß dieser Unterschied zum spanischenPublikum, welches Werbebotschaften gegenüber skeptisch und kritisch sei,letzten Endes auf Unterschiede des Charakters, der Bildung und des Klimaszurückgehe11 - möchte man meinen. Ich sehe das anders: Der deutsche Ver-braucher ist kein besonders ausgeprägter "Depp". Er läuft allerdings Gefahr,ein solcher zu werden, wenn die deutsche Wettbewerbsrechtsprechung aufden bisherigen Gleisen weiterfährt.

Hier zeigt sich übrigens ein weiterer interessanter Aspekt: Genauso wenig,wie die begriffliche Verschiedenheit der Rechte zu unterschiedlichen Er-gebnissen führen muß (siehe oben), genauso wenig muß die begrifflicheÜbereinstimmung zu gleichen oder auch nur ähnlichen Ergebnissen führen.Der Irreführungstatbestand im Wettbewerbsrecht ist in Europa durch dieRichtlinie über irreführende Werbung12 seit langem harmonisiert. Dennochwürden über das Urteil des Kammergerichts in Sachen "Naschen erlaubt" 9 KG, Urteil vom 28.11.1990 (27 U 617/89), WRP 1991, 312 m. Anm. Möllering.10 EuGH, Urteil vom 13.3.1984, Rs. 16/83 - Bocksbeutel (Parteivortrag Prantl).11 Zitiert nach Schricker, in ZAW: (Hrsg.), Irreführende Werbung in Europa, Bonn

1990, S. 35.12 Richtlinie des Rates vom 10. September 1984 zur Angleichung der Rechts- und

Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über irreführende Werbung (84/450/EWG) Abl.Nr. L 250/17 vom 19.9.1984.

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die Franzosen sich vielleicht noch wundern, die Spanier den Kopf schüttelnund die Italiener sich halbtot lachen.

Der Hieb auf das deutsche Wettbewerbsrecht ist kein Selbstzweck. Er istmeine Brücke, um wieder auf das Thema des Vortrags zurückzukommen:Können Sie sich vorstellen, daß jemand die PS-Werbung als Verstoß gegendie guten Sitten verurteilen könnte, wenn er drei Jahre lang Autoverkäufergewesen wäre? Wer hätte ihn wohl schon einmal nach der KW-Leistung der"schnellen Schlitten" gefragt? Können Sie sich vorstellen, daß ein PC-Freakeinem anderen gegenüber den Durchmesser der von ihm verwendeten Dis-ketten in Zentimetern angäbe? Und können Sie sich schließlich vorstellen,daß ein Richter nach einem längerem Auslandsaufenthalt - ganz gleich wo -den Werbeslogan "Naschen erlaubt" noch als irreführend ansähe? Ich erin-nere mich noch gut an den Werbespruch an der Rezeption eines Hotels inLos Angeles: "Ramada's in, Holiday's out", wobei gleich noch allen, die ihreReservierung bei Holiday Inn löschten und auf Ramada umbuchten, zehnDollar in Cash versprochen wurden. So weit muß der Wettbewerb nicht un-bedingt gehen. Aber wird bei den engen Fesseln, welche die deutsche Wett-bewerbsrechtsprechung den Wettbewerbern anlegt, das geschützte Gut - derWettbewerb - nicht letztlich abgetötet?13

Wir sind heute im Wettbewerbsrecht in der traurigen Situation, daß an undfür sich adäquate Gesetzestexte - wie sie fast wörtlich gleichlautend auch inanderen zivilisierten Ländern existieren (siehe oben) - geändert werdenmüssen, weil eine immer bizarrer werdende Dogmatik jegliche "Bodenhaf-tung" verloren hat.14 Wie schwer dies ist und wie sehr trotz aller Reformbe-mühungen des Gesetzgebers die "juristischen Bruderschaften" - allen vor-an die Rechtsprechung - versuchen, an den liebgewonnenen "Zauberfor-meln" festzuhalten, haben die zahlreichen Novellen der vergangenen Jahre

13 Vgl. Schricker, Deregulierung im Recht des unlauteren Wettbewerbs? GRUR Int.

1994, 586 ff., 587.14 Vgl. dazu Schricker (Anm. 13); Gröning, Vom Saulus zum Paulus, WRP 1993,

435 ff.

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gezeigt. Wahrscheinlich wird auch der bevorstehenden "großen UWG-Reform" kein besseres Schicksal beschieden sein. Beispiele für solche Ent-wicklungen lassen sich allerdings auch in anderen Rechtsbereichen (Arbeits-recht, Mietrecht - auch im Strafrecht?) und Rechtsordnungen (z.B. Produkt-haftung in den USA) finden.

Helmut Ostermeyer, ehemals "Enfant terrible" unter den Bielefelder Rich-tern und natürlich auch Teilnehmer an Esers interdisziplinärem Gesprächs-kreis, hat die Gefahr dogmatischer Verengung - in erster Linie bezogen aufdie Strafrechtswissenschaft - m.E. sehr treffend beschrieben: "BegrifflicheArgumentation ist in unserer hochkomplizierten Rechtsordnung als techni-sches Hilfsmittel unentbehrlich. Sie ist nützlich, wenn sie kritisch angewen-det wird, das heißt im Bewußtsein ihrer Funktion, die Wirklichkeit rechtlichhandhabbar zu machen, nicht aber selbst Wirklichkeit zu sein. Wird dieserfunktionale Charakter vergessen und werden die Begriffe als Wirklichkeitgenommen, so können auf die Dauer falsche Ergebnisse nicht ausgeschlos-sen werden. Ihre Korrektur erfordert dann einen großen gedanklichen Auf-wand bei der Demonstration der Überforderung des Begriffes. Besser ist esdeshalb, sich zu jeder Zeit des Unterschieds zwischen Begriff und Wirklich-keit bewußt zu bleiben."15

Grenzüberschreitungen - fachlich wie geographisch - sind ein vortrefflicherWeg, um der Gefahr einer Fixierung auf das Dogma zu entfliehen. Das zeigtnicht zuletzt auch die Arbeit von Albin Eser, in der stets erkennbar bleibt,daß jenseits aller "juristischen Zauberformeln" noch Wirklichkeiten liegen.

15 Ostermeyer, Die juristische Zeitbombe, München 1973, S. 76.

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Holger Rostek__________________________________________________

Sachverhaltsverfälschung in derobergerichtlichen Rechtsprechung

Über den Fall Rose-Rosahl1 ist viel geschrieben worden. Der Fall gehört zudem gesicherten Repertoire der Anfängerübung im Strafrecht. Die Aufga-benstellung ist immer dieselbe: Wie wirkt sich der Irrtum des Täters über diePerson des Opfers auf den Anstifter aus? Im wesentlichen gibt es drei Lö-sungsvorschläge:

- Bestrafung wegen versuchter Anstiftung,2- wegen Anstiftung zum Versuch3 oder- wegen vollendeter Anstiftung.4

Die Rechtsfolgen sind klar: Bei Anstiftung zum Mord ist die lebenslangeFreiheitsstrafe vorgeschrieben, bei der versuchten Anstiftung greift § 30StGB mit der obligatorischen Milderung über § 49 Abs. 1 StGB (3-15 Jah-re), bei der Anstiftung zum versuchten Mord ist eine Milderung über § 23Abs. 2 StGB möglich (3-15 Jahre).

Es dauerte über 130 Jahre, bis die Rechtsprechung eine Gelegenheit bekam,über die Problematik erneut zu entscheiden. Es ist der Mord von Frille, einOrt im tiefen Ostwestfalen an der Grenze zu Niedersachsen, eine fast ge-spenstische Atmosphäre, wenn man an den Tatort, den Schäkelhof mit sei-nen Stallungen, kommt. Jetzt nennt man den Fall Rose-Rosahl II oder den 1 GA Band 7, 332.2 SK-Rudolphi, StGB, § 16 Rdnr. 30; LK-Roxin, § 26 Rdnr. 26.3 Stratenwerth, Strafrecht AT, Rdnr. 287; SK-Samson, vor § 26 Rdnr. 40; Schleho-

fer, GA 1992, 307 ff.4 BGH NStZ 1991, 123, zustimmend Puppe, NStZ 1991, 124 und Preußisches

Obertribunal, GA Band 7, 332.

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Hoferbenfall. Das finde ich nicht richtig. Die Täter haben ein Recht auf Per-sonifizierung. Fritz Möller, der Anstifter, und Siegfried Steigmann, der Tä-ter, deshalb kurz Möller-Steigmann-Fall. So ist dieser Fall auch in Zukunftin Rechtsprechung und Literatur zu bezeichnen.

Aber nun zum Fall selbst. Ich nehme das Ergebnis vorweg. Der BGH sagt inseinem Urteil vom 25.10.1990, der Irrtum sei unbeachtlich, weil sich dieAbweichung vom geplanten Tatgeschehen in den Grenzen des nach der all-gemeinen Lebenserfahrung Voraussehbaren hält.5

Oder anders ausgedrückt: Fritz Möller muß sich den von dem Plan abwei-chenden Tatverlauf zurechnen lassen, weil eine Verwechslung des Opfersdurch den Täter nicht außerhalb jeglicher Lebenserfahrung liegt.6

Zutreffend führt Roxin7 aus, dieses sei eine Behauptung ohne Begründung.

Das LG Bielefeld hat mit seinem Urteil vom 23.10.1989 Fritz Möller wegenversuchter Anstiftung zum Mord zu einer Freiheitsstrafe von13 Jahren ver-urteilt. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hat der BGH durchentschie-den und den Schuldspruch von versuchter Anstiftung in Anstiftung geän-dert.8 Damit war an sich die lebenslange Freiheitsstrafe programmiert. Wiewir sehen werden, kam es im Ergebnis anders.

Ich will hier die dogmatische Problematik nicht vertiefen. Auch will ichmich nicht mit den verschiedenen Meinungen auseinandersetzen. Vielmehrinteressiert mich als Praktiker, welcher Sachverhalt dem Obersatz des BGH,der Irrtum sei unbeachtlich, weil sich die Abweichung vom geplanten Tatge-schehen in den Grenzen des nach der allgemeinen Lebenserfahrung Voraus-sehbaren halte, zugrundeliegt.

5 BGH NStZ 1991, 123.6 BGH NStZ 1991, 123.7 JZ 1991, 680.8 BGH NStZ 1991, 123.

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Alle Kommentatoren gehen offensichtlich von der vom BGH mitgeteiltenKurzfassung aus:9

"Der Angeklagte hatte sich 1984 entschlossen, K. - seinen Sohn aus ersterEhe, den Hoferben - zu töten. Er hatte dem Sohn den Hof gegen Einräumungeines Nießbrauchs übergeben; das Nießbrauchsrecht machte K. ihm aberstreitig. Dieser ließ sich auch - meist unter Alkohol - eine Reihe tätlicherÜbergriffe zuschulden kommen. Der Angeklagte fürchtete daher neben derExistenzvernichtung den Verlust seines Heimes und sah den häuslichenFrieden nachhaltig gestört. Obwohl er selbst finanziell von Landverkäufendes Sohnes profitiert und die Hofübergabe ihn von seinen Schulden befreithatte, glaubte er, daß die Tötung seines Sohnes zur eigenen Rettung und zurRettung der Familie erforderlich sei. Es gelang ihm, den Mitangeklagten S.gegen das Versprechen einer Geldsumme für die Tötung zu gewinnen; erselbst fühlte sich als Vater außerstande, die Tat zu begehen.

S. sollte K. im Pferdestall töten, den dieser bei seiner Heimkehr regelmäßigdurchquerte; das nähere Vorgehen war ihm überlassen. Um sicherzugehen,daß andere Personen nicht zu Schaden kamen, unterrichtete der Angeklagteden Mitangeklagten S. über die Gewohnheiten und das Aussehen seinesSohnes, ferner legte er ihm ein Lichtbild vor. Er suchte am 24.11.1985 S. aufund setzte ihm im Hinblick auf mehrere gescheiterte Anläufe - bei einem vonihnen hatte S. den Sohn auch gesehen - eine Frist zur Ausführung der Tat,welche nunmehr mit einem vom Angeklagten ausfindig gemachten Kleinka-libergewehr verübt werden sollte.

S. begab sich darauf am 25.11.1985 zum Hof des Angeklagten und in denPferdestall. Er traf dort zufällig mit dem Angeklagten zusammen, der seinVorhaben erkannte und sich durch eine Frage vergewisserte, daß er K. werdeidentifizieren können. S. wartete sodann in dem Stall auf das Erscheinen desOpfers. Es war dunkel, eine gewisse Helligkeit wurde lediglich dadurch er-zeugt, daß Schnee lag.

Gegen 19 Uhr betrat B., ein Nachbar, den Hof und öffnete die Stalltür. Erähnelte K. in der Statur und führte in der Hand eine Tüte mit sich, wie diesesauch K. zu tun pflegte.

S. nahm deshalb an, K. vor sich zu haben, und erschoß den nichtsahnendenB. aus kurzer Entfernung."

9 So der Sachverhalt in der Entscheidung des BGH; in MDR 1991, 169 und NStZ

1991, 123 wird der Sachverhalt noch knapper und entstellter wiedergegeben.

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Diese Kurzfassung ist schlicht und einfach falsch. Sie verfälscht den Sach-verhalt in entscheidenden Punkten.

Drei wesentliche Sachverhaltselemente, die für das LG Bielefeld von ent-scheidender Bedeutung sind, werden nicht mitgeteilt und bleiben deshalbunberücksichtigt.

1. Die Tat wurde am 25.11.1985 begangen. Bereits Ende Juli/Anfang Au-gust 1985 waren Täter und K. - nicht zufällig - im Pferdestall zusammenge-troffen, weil der ursprüngliche Plan der beiden Angeklagten war, dem Sohnvon hinten eine vorbereitete Schlinge um den Hals zu werfen, ihn zu dros-seln und anschließend das Seil durch einen oberhalb der Pferdebox in derDecke eingelassenen Ring hochzuziehen. Bei diesem Vorfall hatte Steig-mann Gelegenheit, den Sohn aus nächster Nähe lebend zu sehen und sichdessen Aussehen einzuprägen.10

2. Das LG Bielefeld führt an anderer Stelle wörtlich aus:11

"Aufgrund der Beschreibungen durch den Angeklagten Möller über Aussehenund Gewohnheiten seines ältesten Sohnes K., der Vorlage eines Lichbildesund aufgrund des Zusammentreffens mit K. anläßlich des Vorfalles, bei demSteigmann sein Opfer mit dem Führstrick erwürgen sollte, war sich Steigmannsicher, K. identifizieren zu können. Auf den Vorhalt des angeklagten Möllererwiderte Steigmann demgemäß, daß er 'den Dicken' kenne. Der AngeklagteMöller, der sicher war, daß Steigmann seinen Sohn K. identifizieren und keinanderer durch das Tatgeschehen zu Schaden kommen werde, verließ denPferdestall und ging in das Wohnhaus ..."

3. Zum Vorwurf der fahrlässigen Tötung führt die Kammer wörtlich aus:12

"Der Tod des B. war für den Angeklagten Möller weder individuell vorher-sehbar noch vermeidbar. ...". "Eine Gefährdung anderer Personen hatte er aberdadurch ausgeschlossen, daß er Steigmann seinen ältesten Sohn K. nicht nurgenauestens beschrieben hatte, sondern Steigmann auch Gelegenheit gegebenhatte, K. aus nächster Nähe lebend zu sehen und sich dessen Aussehen einzu-prägen."

10 Urteil des LG Bielefeld vom 23.10.1989 - 10 Ks 46 Js 571/87, S. 58.11 Urteil des LG Bielefeld, S. 30.12 Urteil des LG Bielefeld, S. 58.

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Der Sachverhalt ist mit diesen Ausführungen - für die Revision - nicht an-greifbar und festgeschrieben. Wenn das LG feststellt, daß der Angeklagtesich sicher sei, daß Steigmann seinen Sohn identifizieren werde und daßkein anderer zu Schaden kommen kann, so ist kein Raum für die Argumen-tation des BGH, daß das Geschehen im Rahmen der allgemeinen Lebenser-fahrung lag. Der Obersatz des BGH hängt in der Luft, ist vom Sachverhaltnicht gedeckt. Wie nahe war doch Roxin mit seinen Ausführungen am fest-gestellten Sachverhalt.13

Der festgestellte und für das Revisionsgericht nicht angreifbare Sachverhaltläßt eine Verurteilung wegen vollendeter Anstiftung nicht zu. Der BGHhätte die Revision der Staatsanwaltschaft zurückweisen müssen. Die Aufhe-bung durch das Urteil des BGH und die Änderung des Schuldspruchs wurdenur dadurch möglich, daß der Sachverhalt nicht vollständig ausgewertet, anentscheidenden Stellen sogar verfälscht wurde.

Zum Glück war dieses für Fritz Möller noch nicht das Ende des Verfahrens.Durch Beschluß vom selben Tage, nämlich dem 25.10.1990, hob der BGHdas Urteil des LG Bielefeld auf die Revision der Verteidigung im Strafaus-spruch auf unter Zurückweisung an das LG Bielefeld.

Im zweiten Durchgang verhängte eine andere Bielefelder Schwurgerichts-kammer nach über 30 Verhandlungstagen und acht Monaten Verhandlungs-dauer die lebenslange Freiheitsstrafe. Gegen dieses Urteil legte die Verteidi-gung Revision ein. Dieses führte zu einer zweiten Aufhebung und Rückver-weisung an das LG Dortmund. Dieses zog einen neuen Gutachter hinzu, derdem Angeklagten verminderte Schuldfähigkeit zusprach. Somit ergab sichein zeitiger Strafrahmen von 3-15 Jahren. Das LG Dortmund verhängte eineFreiheitsstrafe von 12 Jahren. Am 22.12.1993 wurde Fritz Möller nachsechsjähriger Untersuchungshaft entlassen. Im Sommer 1994 hatte der Halb-strafenantrag des Angeklagten nach § 57 Abs. 2 Ziffer 2 StGB Erfolg.

13 Roxin, JZ 1991, 680.

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Fritz Möller ist endgültig frei und lebt nicht weit vom Tatort entfernt mitseiner Ehefrau im 70. Lebensjahr.

Ich fürchte, daß es viele obergerichtliche Entscheidungen gibt, die den auf-gezeigten Fehler aufweisen. Es wäre vielleicht ein interessanter Forschungs-ansatz, obergerichtliche Entscheidungen unter diesem Aspekt zu überprüfen.

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Jürgen Meyer__________________________________________________

Zeugenschutz im Spannungsfeld vonWahrheitsermittlung und Beschuldigtenrechten*

Bei einer Sachverständigenanhörung des Deutschen Bundestages zu dem in-zwischen gestrichenen § 175 StGB1 vor etwa 25 Jahren hat der Vorsitzendedes zuständigen Ausschusses es noch für eine unzulässige Grenzüberschrei-tung gehalten, daß der Sachverständige des Freiburger Max-Planck-Institutsim Anschluß an die Erläuterung der Rechtslage in anderen Ländern nochrechtspolitische Empfehlungen vortragen wollte. Das wäre heute nicht mehrdenkbar. Die Neuregelung der §§ 218 ff. StGB wäre ohne die rechtsverglei-chenden Gutachten und Empfehlungen de lege ferenda von Albin Eser an-ders ausgefallen. Deshalb ist zu hoffen, daß der Deutsche Bundestag bei deranstehenden Neuregelung des Zeugenschutzes Unterstützung durch ähnliche- ganz und gar erwünschte - Grenzüberschreitungen erfahren wird.2

1. Das Problem

Der Zeuge, vielfach zentrale Beweisfigur im Strafverfahren, hat bekanntlichdie staatsbürgerliche Pflicht, zur Vernehmung zu erscheinen, wahrheitsge-mäß auszusagen und seine Aussage auf Verlangen zu beeiden. Kommt erdiesen Pflichten nicht nach, so drohen ihm Zwangsmittel, wie beispielsweiseOrdnungsgeld oder Ordnungshaft bei Nichterscheinen trotz Ladung (vgl. * Für wertvolle Unterstützung danke ich meiner Bonner Mitarbeiterin, Frau

Assessorin Stephanie Scholz.1 BGBl. I 1994, 1168.2 Vgl. dazu bisher Hünerfeld (Hrsg.), Zeugenschutz durch Verkürzung oder Vorent-

haltung von Angaben zur Person des Zeugen, Freiburg i.Br. 1992 (unter Beschrän-kung auf den im Titel genannten speziellen Aspekt des Zeugenschutzes und unterVerzicht auf rechtspolitische Empfehlungen aus rechtsvergleichender Sicht).

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§ 51 StPO) oder bei Verweigerung der Aussage (vgl. § 70 StPO). Nicht sel-ten ist der Zeuge aber auch Pressionen aus dem Umfeld des Beschuldigtenausgesetzt. Besonders drastisch drückt dies ein amerikanisches Appellati-onsgericht aus: "He can commit perjury; he can refuse to testify and riskcontempt of court; or, he can truthfully testify and risk death."3 Daß sichZeugen in dieser Pflichtenposition häufig als bloßes "Objekt der Beweisauf-nahme"4 benutzt fühlen, und dies erst recht, wenn sie gleichzeitig Opfer derangeklagten Tat sind, ist nicht verwunderlich. Das kann wiederum dazu bei-tragen, die Vernehmungsatmosphäre zu belasten, was schließlich für dieWahrheitsfindung abträglich ist.

Nur kursorisch sei an dieser Stelle auf die später vertiefend zu erläuterndenRechte des Zeugen verwiesen, die zu den genannten Pflichten einen Gegen-part bilden, aber dennoch dem Bedürfnis des Zeugen nach staatlichemSchutz nur im Ansatz entsprechen. Zu denken ist an das Zeugnis- und Aus-kunftsverweigerungsrecht (§§ 52, 55 StPO), an das Recht, einen Rechtsan-walt als Beistand zu der Vernehmung hinzuzuziehen (§ 406f StPO), an dasRecht, persönliche Angaben im Rahmen des § 68 StPO zu verweigern, undan die Fürsorgepflicht des Gerichts.

Diese Rechte, die zum Teil nur unter engen Voraussetzungen gewährt wer-den, können aber längst nicht mehr das Gefährdungspotential auffangen, dasZeugen heute zunehmend bedroht. Das inzwischen zum Schlagwort gerate-ne Phänomen der "Organisierten Kriminalität" führte zu dem am 15. Juli1992 verabschiedeten "Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgift-handels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität"(OrgKG),5 das eine Reihe von Bestimmungen zur erleichterten Ermittlungeines Täters einführte (vgl. §§ 98a-98c, 100c, d, 110a-110e, 111o, p, 163d,459i StPO), jedoch nur ansatzweise die Probleme berücksichtigte, die mit

3 Note, Whether the Witness? 76 Cornell L. Rev. 1315, zitiert nach Walther, Landes-

bericht USA, in: Hünerfeld (Anm. 2), S. 228.4 Gomolla, Der Schutz des Zeugen im Strafprozeß, 1986, S. 1.5 BGBl. I 1992, 1302.

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der Überführung des Täters durch die Person des Zeugen zusammenhängen.Man denke etwa daran, daß der betreffende Zeuge selbst dem kriminellenBandenmilieu entstammt, sich inzwischen aber losgesagt hat und nach einerden Angeklagten belastenden Aussage Repressalien befürchten muß. Im Er-gebnis können Einschüchterungen von Zeugen durch das persönliche Um-feld des Beschuldigten oder diesen selbst zu erheblichen Behinderungen derStrafrechtspflege führen, weil schwere Delikte mangels Kooperationsbereit-schaft von Zeugen nicht mehr umfassend aufgeklärt und strafrechtlich ver-folgt werden.6

Wegen dieser Problematik bestand im Rechtsausschuß des Deutschen Bun-destages vor Verabschiedung des OrgKG und insbesondere des noch zu er-läuternden neugefaßten § 68 StPO Einvernehmen darüber, daß die dort vor-gesehenen Möglichkeiten nur ein erster und nach entsprechenden Erfahrun-gen zu erweiternder Schritt zur Verbesserung des Zeugenschutzes seinsollten.

Ein ganz anderes, aber ebenso einschneidendes Problem des Zeugenschutzesentsteht bei der Vernehmung von kindlichen Opferzeugen, insbesondere inFällen von sexuellem Mißbrauch. Am Rande des Mainzer Kindesmiß-brauchs-Prozesses betonte der Justizminister von Rheinland-Pfalz, Caesar,"das Leid, das den Kindern bei der Vernehmung durch die Justiz zusätzlichzugefügt wird, ist ungeheuer groß und rechtspolitisch nicht vertretbar. Auchwird die Wahrheitsfindung durch die oftmals überforderten Kinder er-schwert".7 Um eine von dem Druck der Anwesenheit von mehr als 30 Pro-zeßbeteiligten entlastete Zeugenaussage der betroffenen Kinder zu erhalten,entschied die Mainzer Strafkammer, die Methode des "closed-circuit-tele-vision" zuzulassen, also die Zeugen "in camera" durch den Vorsitzenden 6 Vgl. eine USA-Studie bereits aus dem Jahre 1973, wonach 23 % von 1547 unter-

suchten Fällen schwerer Straftaten (Mord, Vergewaltigung, Raub, Körperverlet-zung und Einbruchsdiebstahl) deshalb nicht verfolgt wurden, weil die Tatzeugenaus Furcht vor Rache nicht bereit waren, mit den Behörden zusammenzuarbeiten;entnommen aus Walther (Anm. 3), S. 234.

7 Mainzer Allgemeine Zeitung vom 11. Mai 1995.

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Richter zu befragen und die Befragung per Video "in foro" zu übertragen,während zwischen dem Vorsitzenden und einem Beisitzer eine Telefonver-bindung bestand.8 Da die Wahrung der Rechte des Angeklagten und derVerteidigung bei dieser zeugenschützenden Methode, die in dem genanntenProzeß erstmals Einzug in ein deutsches Strafverfahren gefunden hat, ledig-lich auf Absprachen und Vereinbarungen zwischen den Prozeßbeteiligtenberuhte, ist ihr Revisionsschicksal noch ungewiß. Der beschrittene Weg istauch nicht ohne weiteres verallgemeinerungsfähig.

Im folgenden soll zunächst skizziert werden, welchen Lösungsvorrat für dieerläuterten Probleme andere europäische Rechtsordnungen bereithalten (2).Anschließend werden Modelle des Zeugenschutzes mit internationalem Be-zug erläutert (3), bevor sich die Untersuchung dem deutschen Recht de legelata und de lege ferenda zuwendet (4-6).

2. Ausgewählte Beispiele des Zeugenschutzes aus Westeuropa

a) Fernsehübertragung

Diese im deutschen Prozeßrecht noch nicht vorgesehene Möglichkeit gibt esbeispielsweise in Nordirland, wo anerkannt ist, daß ein Zeuge, der Angsthat, vor Gericht zu erscheinen, per direkter Fernsehübertragung vernommenwerden kann.9 Zweifellos trägt die Vernehmung in einem eher neutralenUmfeld zu einer angstfreieren Vernehmungsatmosphäre bei und kann so derungestörteren Wahrheitsfindung dienen. Das Kriterium "Angst" mag zwarfür den von terroristischen Angriffen betroffenen Raum Nordirlands ausrei-chend sein, müßte aber für Vernehmungen im Rahmen der StPO näher spe-zifiziert und mit der Voraussetzung einer konkreten Gefahr für Leib und Le-ben verbunden werden.

8 FAZ vom 16. Mai 1995.9 Huber/Klumpe, Landesbericht England/Wales und Nordirland, in: Hünerfeld

(Anm. 2) S. 43.

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Bedenkt man, daß nach schweizerischem Recht die Möglichkeit besteht,Zeugen, die sich vor dem Angeschuldigten fürchten, nachdem sie Opfer vonSexualdelikten wurden, oder auch bei erheblicher räumlicher Entfernung desZeugen eine schriftliche Beantwortung von Fragen einzuräumen,10 sokönnte man in teleologischer Erweiterung daran denken, daß dort auch eineaudiovisuelle Vernehmung möglich sein müßte, die noch eher eine Kon-frontation zwischen Angeklagtem und Zeugen zuläßt, als dies auf schriftli-chem Wege möglich ist.

b) Unmittelbarkeitsprinzip und Anonymisierung

Unabhängig von der Frage einer audiovisuell unterstützten Vernehmung istbekanntlich das Prinzip der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme eine hoheSchranke für zeugenschützende Maßnahmen. Frankreich kennt insoweit nurdie formelle Unmittelbarkeit, welche die Beweisaufnahme vor dem erken-nenden Gericht vorschreibt, jedoch nicht materiell die Präsentation des demBeweisthema sachnächsten Beweismittels. Daher können dort eher mittelba-re Beweise, die jedoch dem Mündlichkeitsprinzip gerecht werden müssen,eingeführt werden.11

Weitreichende Durchbrechungen des Unmittelbarkeitsprinzips im Sinne desdeutschen Strafprozeßrechts kennt auch das niederländische Recht, das dieVerlesung jeglicher behördlichen Vernehmungsprotokolle zuläßt, also auchvon polizeilichen Protokollen und Erklärungen von Sachverständigen, eben-so von anonymen Zeugenerklärungen.12 Die Rechte des Angeklagten redu-zieren sich in solchen Fällen darauf, den Wahrheitsgehalt der Protokolleoder Zeugenaussagen zu bestreiten.13 Hinsichtlich der Urteilsfindung auf 10 Heine, Landesbericht Schweiz, in: Hünerfeld (Anm. 2), S. 183.11 Lorenz, Landesbericht Frankreich, in: Hünerfeld (Anm. 2), S. 65.12 Schriftliche Aussagen eines anonymen Zeugen dürfen jedoch nur neben weiteren,

die Verurteilung stützenden Beweisen verwertet werden, vgl. van de Reyt, Lan-desbericht Niederlande, in: Hünerfeld (Anm. 2), S. 162.

13 van de Reyt (Anm. 12), S. 134.

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der Grundlage von anonymen Zeugenaussagen haben jedoch die insoweitbesonders zeugenfreundlichen Verfahrensregeln der Niederlande eine Ände-rung zugunsten der Rechte des Angeklagten erfahren, nachdem der Europäi-sche Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Kostovski entschied, daß An-onymität eines Zeugen nur dann möglich ist, wenn zugleich die Befragungs-rechte sowie die Glaubwürdigkeitsprüfung durch die Verteidigung ausgeübtwerden können.14

Die 1991 durch den Ministerrat genehmigten und inzwischen in Kraft ge-tretenen Reformen sehen weiterhin die Möglichkeit des völlig anonymenZeugen vor, aber nur dann, wenn dieser in einem besonderen Verfahren, andem Staatsanwalt, Verteidiger, Beschuldigter, der Zeuge selbst und als Ent-scheidungsträger der Untersuchungsrichter beteiligt sind, als "bedrohter Zeu-ge" anerkannt wurde. Kriterien dafür sind die Gefahr für Leben, Gesundheit,aber auch für das ungestörte Familienleben oder die gesellschaftliche undwirtschaftliche Existenzsicherheit, verbunden mit der Mitteilung des Zeu-gen, deshalb nicht aussagen zu wollen.15 Dieses Verfahren scheint den In-teressen aller Beteiligten eher gerecht zu werden als eine einseitige richterli-che Entscheidung über die Anonymität des Zeugen, da insbesondere der Be-schuldigte nicht unvermittelt mit der Anonymität eines ihn belastendenZeugen konfrontiert wird. Vielmehr kann er im Vorfeld der Entscheidungmitwirken. Im Gespräch mit dem Untersuchungsrichter kann er deutlich ma-chen, daß es ihm vorrangig um sein Recht der unmittelbaren Konfrontationmit dem Zeugen geht und nicht um die Verhinderung oder Nichtverwertungeiner ihn möglicherweise schwer belastenden anonymen Zeugenaussage.Der Beschuldigte kann die dem Zeugen oder nahestehenden Personen ge-genüber erfolgten Bedrohungen in Zweifel ziehen oder eventuell sogar be-enden helfen. Damit kann er verhindern, daß der Richter den Zeugen als"bedrohten Zeugen" einstuft. Diese Chance wird sich in der Praxis jedoch 14 Wiedergabe und Erläuterung der Entscheidung bei van de Reyt (Anm. 12),

S. 140 ff.; EGMRE 20.11.1989, StV 1990, 481-483.15 van de Reyt (Anm. 12), S. 157; vgl. zur neuen Gesetzeslage: Staatsblad van het

Koninkrijk der Nederlanden 1993, 603, S. 1 ff.

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nur in wenigen Einzelfällen realisieren, da das Interesse des Angeklagten,mit dem Zeugen persönlich konfrontiert zu werden, dann abnimmt, wenn erden hohen Grad der von dem Zeugen ausgehenden Belastungsgefahr kenntund einen Ausweg aus der sich anbahnenden Verurteilung eventuell nur inder Bedrohung des Zeugen sieht, um diesen an der Aussage zu hindern. Dieunmittelbare Konfrontation mit dem Zeugen ist dem Angeklagten aus seinerSicht nur dann nützlich, wenn es sich um einen schwachen, sich aller Vor-aussicht nach in Widersprüche verfangenden Zeugen handelt.

Im Ergebnis kann die Anonymisierung des "bedrohten Zeugen" nach demniederländischen Modell weiter gehen als das Verschweigen der Identität imRahmen von § 68 dStPO. Denn es erlaubt nicht nur das Vorenthalten vonpersönlichen Angaben wie Name, Anschrift, Alter usw., sondern darüberhinaus auch das Unkenntlichmachen des Zeugen durch Schminken, Ver-mummen sowie Stimmenverzerrung durch entsprechende technische Mittel.Um diese Maßnahmen nicht ins Leere laufen zu lassen, kann der Untersu-chungsrichter das Fragerecht der Verteidigung gegenüber dem Zeugen be-schränken.16

In Italien, wo man reiche Erfahrungen mit der Prozeßführung gegen Be-schuldigte aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität hat, ist auffal-lend, daß die Gefährdung von Belastungszeugen nicht in gleicher Weise be-rücksichtigt wird, wie dies in den Niederlanden und in Deutschland der Fallist. Zwar ist es auch nach italienischem Recht möglich, die Identität einesgefährdeten Zeugen zu verdecken. Entscheidend ist jedoch, daß die Ver-wertbarkeit der Aussagen dieses Zeugen nur möglich ist, wenn er letztlichdoch seine Angaben zur Person macht.17 Die Entscheidung des Richters, dieAussage des anonymen Zeugen zu verwerten, fällt zwar erst am Ende deserstinstanzlichen Verfahrens. Von da an ist es aber möglich, den Zeugen fürein sich eventuell anschließendes Berufungsverfahren unter Druck zu setzen.Denn mit der richterlichen Verwertung ist bekannt, wessen Aussage das 16 van de Reyt (Anm. 12), S. 159.17 Orlandi, Landesbericht Italien, in: Hünerfeld (Anm. 2), S. 115.

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Urteil maßgeblich beeinflußt hat. Die engen Vorschriften des italienischenRechts erklären sich mit der starken Stellung der Verteidigung im Strafver-fahren. Das führt letztlich dazu, daß Zeugenschutz eher durch Beschränkun-gen der Öffentlichkeit der Beweisaufnahme versucht wird.18

In den USA steht die Strafrechtspflege, soweit sie auf den Beweiswert einesgefährdeten Zeugen angewiesen ist, in einem besonderen Dilemma. Denndas verfassungsrechtlich garantierte Verteidigerrecht der Konfrontation läßteine Anonymisierung des Zeugen nicht zu, außerdem keine Vernehmung ei-nes Zeugen vom Hörensagen, allenfalls das Verschweigen von Wohn- oderArbeitsort.19 Daraus erklären sich die insbesondere in den USA angewand-ten außerverfahrensrechtlichen Schutzmaßnahmen, wie Zeugenschutzpro-gramme, die mit polizeilichen und administrativen Mitteln versuchen, Ge-fahren vom Zeugen abzuwenden.

3. Maßnahmen des Zeugenschutzes mit internationalem Bezug

Die Bestrebungen, den Zeugenschutz zu verbessern, beschränken sich nichtauf den nationalen Rahmen. Vielmehr verfolgt auch die Europäische Uniondas Ziel, in diesem Bereich gemeinsame Maßstäbe zu setzen. Der Hand-lungsbedarf auf europäischer Ebene erklärt sich aus der zunehmend engerenKoordinierung der Strategien zur Bekämpfung der internationalen Krimina-lität. Dem entspricht die Aufnahme des Bereichs "Inneres und Justiz" in denUnionsvertrag ("dritte Säule"). Und es wird praktisch durch die Zusammen-arbeit im Rahmen von EUROPOL gefördert.

Von der unionsinternen Arbeitsgruppe "Internationale Organisierte Krimi-nalität" wurde der Entwurf einer Entschließung zum Zeugenschutz erarbei-tet, die durch den Rat verabschiedet werden soll.20 Darin werden die Mit- 18 Orlandi (Anm. 17), S. 104.19 Walther (Anm. 3), S. 237.20 Nach Auskunft des BMJ im März 1995 hat eine vertiefte Diskussion dieses Do-

kuments noch nicht stattgefunden.

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gliedstaaten aufgefordert, effektiven Zeugenschutz durch die Ausarbeitungeinschlägiger Bestimmungen sicherzustellen, aufgrund deren Schutz vorBedrohung, Druck und Einschüchterung gewährleistet wird. In bezug aufden Einsatz audiovisueller Verfahren stellt der Entwurf fest, daß dadurchkeine Beeinträchtigung des Grundsatzes der persönlichen Anwesenheit ge-geben sein dürfe. Dieser Begriff ist m.E. jedoch auslegungsfähig. Er dürftesich auf die Konfrontationsmöglichkeiten zwischen Angeklagtem und Zeu-gen beziehen, die durch einen bestmöglichen technischen Einsatz der audio-visuellen Mittel eröffnet werden. Das heißt, daß die persönliche Anwesen-heit auch besteht, wenn in Situationen besonderer Gefährdung für den Zeu-gen eine "closed-circuit-television"-Befragung "in camera" stattfindet, undzwar unter Beachtung aller technischen Kriterien, die eine Manipulation desZeugen ausschließen (z.B. mehrere Kameras sorgen dafür, daß kein "toterWinkel" möglich ist). Unter diesen Voraussetzungen kann das auf Leinwandübertragene Geschehen der körperlichen Anwesenheit gleichgestellt werden.Der im Rahmen des Prozeßrechts ungehinderte Kontakt über eine Sprech-leitung zwischen Verteidigung und vernommenem Zeugen trägt zur Wah-rung der Unmittelbarkeit bei.

Die Problematik des Einsatzes audiovisueller Mittel im Rahmen der Zeu-genvernehmung stellt sich in den letzten Jahren als zunehmend regelungsbe-dürftig dar, zumeist ausgelöst durch Fälle kindlicher Zeugen, die Opfer vonsexuellem Mißbrauch wurden. Ähnliches gilt für Frauen, gegen die Strafta-ten gegen die sexuelle Selbstbestimmung verübt worden sind. Der Schutzvon an Leib und Leben wegen ihrer Aussage gefährdeten Zeugen wird je-doch durch den Einsatz audiovisueller Mittel kaum verbessert. Denn dieÜbertragung der Vernehmung schützt nicht vor dem Wiedererkanntwerden.Der Einsatz audiovisueller Mittel kommt eher dem Zeugen zugute, der inseiner Aussagebereitschaft und Aussagefähigkeit deshalb beeinträchtigt ist,weil die Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten insgesamt eine für ihn be-drohliche Kumulation von unterschiedlich motivierten Zuhörern darstelltund deshalb das durch die Aussage wiederbelebte Trauma verstärkt.

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Schließlich sieht der Ratsentwurf vor, daß in "extrem schwierigen Fällen"für den gefährdeten Zeugen und ihm nahestehende Personen die Möglichkeitgegeben sein muß, eine andere Identität anzunehmen.

Der Entwurf zeigt, daß sich europäische Standards zu entwickeln beginnen,welche die Erfordernisse eines effektiven Zeugenschutzes mit den Rechtendes Angeklagten in Einklang zu bringen versuchen. Im einzelnen liegt dieAbwägung zwischen diesen beiden Gegenpolen wegen der Zuständigkeit derMitgliedstaaten aber bei diesen. Im Konfliktfall kann jedoch der Europäi-sche Gerichtshof für Menschenrechte unter Anwendung der EuropäischenMenschenrechtskonvention (z.B. Art. 1, 6 EMRK) die gebotenen Maßstäbeentwickeln.

4. Die deutschen Regelungen zum Schutz des Zeugen im Überblick

a) Die eingangs erwähnten Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechtebefreien den Zeugen in Deutschland aus einer konfliktgeladenen Zwangsla-ge, die beim Zeugnisverweigerungsrecht auf dem Angehörigenverhältniszwischen dem Zeugen und dem Beschuldigten beruht. Durch das Aus-kunftsverweigerungsrecht wird der Zeuge davor bewahrt, sich selbst zu be-lasten. Die Bedrohung des Zeugen mit der Verletzung seiner körperlichenUnversehrtheit oder derjenigen seiner Angehörigen ist von diesen Zwangs-lagen jedoch nicht erfaßt.

Zwar begründet eine Bedrohung des Zeugen durch den Beschuldigten odersein Umfeld kein Recht zur Aussageverweigerung nach strafprozessualenRegeln. Gleichwohl gewährt ihm die Rechtsordnung in Anwendung der§§ 34, 35 StGB einen gewissen, wenn auch eingeschränkten Schutz, den ergrundsätzlich allerdings nicht während seiner Vernehmung als Zeuge gel-tend machen kann, sondern der erst in einem Strafverfahren, das sich gegenden Zeugen wegen einer Falschaussage richtet, berücksichtigt werden kann.Nur bei vollständiger Aussageverweigerung des Zeugen etwa wegen Mord-drohungen oder anderer Gefahren für Leib und Leben wird bereits prozes-

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sual nach § 70 StPO auf Zwangsmittel verzichtet, weil der Zeuge "mit ge-setzlichem Grund" (hier kann auf § 34 StGB zurückgegriffen werden) dasZeugnis verweigert.21

Problematisch für den Zeugen können allerdings die drei tatbestandlichenErfordernisse sein, die § 34 StGB voraussetzt. Zunächst muß er die gegen-wärtige Gefahr für Leben, Leib oder auch Freiheit darlegen, und der Scha-denseintritt muß bei natürlicher Weiterentwicklung der Dinge wahrschein-lich sein.22 Es kommt also darauf an, ob der Zeuge konkrete Anhaltspunktefür die Realisierung der Gefahr vorweisen kann. Wenn dieses noch relativproblemlos möglich ist, führt die Suche nach einem milderen Mittel wo-möglich zur Gewährung von Polizeischutz, der als ausschließlich möglicheMaßnahme sehr fragwürdig sein kann, weil er nur vorübergehend geleistetwerden kann.23 Schließlich verlangt § 34 StGB eine Interessenabwägung,die den Zeugen trotz der Todesgefahr, die ihm droht, die wahrheitsgemäßeAussage auferlegen kann, wenn das Gericht im Einzelfall das Strafverfol-gungsinteresse als Mittel zum Rechtsgüterschutz und zur Gewährung derRechtsordnung höher ansiedelt als die körperliche Unversehrtheit des Zeu-gen. Dieses Ergebnis wird letztlich auch gestützt durch die dem bedrohtenZeugen offenstehende Möglichkeit, die Interessenabwägung bereits imRahmen des Aussageverweigerungsrechts nach § 70 StPO herbeizuführenund auf dieser Grundlage die Falschaussage zu unterlassen. Jedoch ist derZeuge in der Regel nicht über den Inhalt des § 70 StPO informiert, weil esinsoweit keine Hinweispflicht des Gerichts gibt. In jedem Fall ist das aus§ 34 StGB abgeleitete Schweigerecht den gerichtsabhängigen Unwägbar-keiten ausgesetzt.

b) Wird der Zeuge vernommen, so muß er nach § 68 Abs. 1 StPO persönli-che Angaben machen, die der Identitätsklärung dienen. Gemäß § 68 Abs. 2StPO (neue Fassung von 1992) reicht eine nichtqualifizierte Gefährdung des 21 Kleinknecht/Meyer-Goßner, 42. Aufl. 1995, § 70 Rn. 6.22 Dreher/Tröndle, 47. Aufl. 1995, § 34 Rn. 4.23 Gomolla (Anm. 4), S. 58.

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Zeugen oder einer anderen Person aus, um anstelle des Wohnorts eine ande-re ladungsfähige Anschrift anzugeben. Stellt sich die Gefährdung für denZeugen oder eine andere Person als Bedrohung von Leben, Leib oder Frei-heit heraus, so ist es nach § 68 Abs. 3 StPO möglich, daß der Zeuge sämtli-che persönlichen Angaben zu seiner Identität verschweigt und nur zur Sacheaussagt. An dieser Regelung, die im Vergleich zu anderen Rechtsordnungendes europäischen und US-amerikanischen Raumes relativ weitgehend ist,wird der Konflikt zwischen dem Schutz des gefährdeten Zeugen einerseitsund den Rechten des Beschuldigten und seiner Verteidigung auf der anderenSeite deutlich.

Mit der Identität des Zeugen hängt die Überprüfung seiner Glaubwürdigkeiteng zusammen. Denn die durch den Zeugen geleistete Aussage kann, einge-ordnet in den persönlichen Hintergrund des Zeugen, viel plastischer undnachvollziehbarer, aber auch relativierbarer werden als sie es in isolierter,von der Person des Zeugen losgelöster Form wäre. Hier setzt auch die Kritikan dieser den Zeugen schützenden Maßnahme an. So wird auf die Gefahr fürden Angeklagten hingewiesen, die von Zeugen ausgeht, die sich nach eige-ner Straffälligkeit mit "Beweismaterial" Vergünstigungen verschaffen wol-len, ohne daß die gelieferten Fakten unbedingt der Wahrheit entsprechen.24

Allerdings läßt sich auch im Rahmen der freien Beweiswürdigung berück-sichtigen, daß eine Glaubwürdigkeitsüberprüfung des Zeugen nach erfolgterAnonymisierung nicht so umfassend stattfinden konnte, wie es unter nor-malen Bedingungen der Fall ist. Deshalb ist ein völliger Verzicht auf denZeugen bei unzumutbaren Bedrohungen nicht zwingend geboten.

Die neue Regelung des § 68 Abs. 3 StPO dient konsequent dem Zeugen-schutz. Deshalb werden die Unterlagen, die über die Identität des ZeugenAuskunft geben, bis zum Entfallen der Gefährdung bei der Staatsanwalt-schaft verwahrt, so daß der Verteidiger erst danach sein Akteneinsichtsrechtnach § 147 StPO auch auf die Unterlagen zur Person des Zeugen erstreckenkann. 24 Eisenberg, NJW 1993, 1036.

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Dennoch kann auch so späteren Racheakten nicht vorgebeugt werden. Da-von abgesehen, ist aber eine Gefährdung in der Regel so lange anzunehmen,wie die Zeugenaussage für den Ausgang des Verfahrens von Bedeutung ist.Dies kann sich bis zum Ende der letzten Tatsacheninstanz hinziehen. Undeigentlich hat die Verteidigung nur bis dahin grundsätzlich Interesse an derÜberprüfung des Zeugen. Da es somit im Extremfall möglich ist, daß dieUnterlagen zur Person des Zeugen letztlich überhaupt nicht von der Vertei-digung eingesehen werden (können), hat der Zeugenschutz der Neuregelungeine beachtliche Reichweite.

Andere Länder, wie beispielsweise Großbritannien und Dänemark,25 habensich hier für eine differenziertere Lösung entschieden.26 Sie trennen zwi-schen dem Informationsstand des Angeklagten, der bei Gefährdung desZeugen nicht über dessen Identität in Kenntnis gesetzt wird, und dem desVerteidigers, der die persönlichen Daten des Zeugen kennt. Diese Unter-scheidung mildert das ansonsten bestehende Ungleichgewicht zulasten derVerteidigung ab, so daß der Verteidiger auf dem gleichen Stand wie die An-klagebehörde ist. Natürlich setzt dieser Einschnitt in das Vertrauensbandzwischen Verteidiger und Angeklagtem voraus, daß der Verteidiger seineRolle als "Organ der Rechtspflege" ernst nimmt und sich an die ihm aufer-legte Pflicht hält, keine Informationen zur Person des Zeugen an seinenMandanten weiterzugeben.

Besonders deutlich wird die Problematik des anonymen Zeugen in ihrerAuswirkung auf die Rechte und Möglichkeiten der Verteidigung, wenn essich um einen sogenannten V-Mann handelt, dem eventuell eine Tatbeteili-gung nachgewiesen werden könnte, wenn seine Befragung durch den Ver-teidiger zugelassen würde. Bekanntlich spielt die Beteiligung des V-Mannesan der Tat, eventuell als agent provocateur, bei der Strafzumessung zugun-

25 Vgl. Cornils/Kohls, Landesbericht Dänemark, in: Hünerfeld (Anm. 2), S. 10;

Huber/Klumpe (Anm. 9), S. 52.26 Diese ist jedoch von § 68 StPO nicht ausgeschlossen, vgl. BT-Drs. 12/989, S. 35,

36.

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sten des Angeklagten eine erhebliche Rolle. Bei besonders hartnäckigerEinwirkung des V-Mannes auf den späteren Angeklagten ist sogar die Ver-wirkung des staatlichen Strafanspruchs möglich.27

Problematisch innerhalb eines rechtsstaatlichen Verfahrens ist jedoch nichtallein die Anonymisierung des V-Mannes als Zeuge, sondern mindestensebenso die behördliche Sperrung des Zeugen, wodurch die Wahrheitsfin-dung erheblich eingeschränkt wird. Man denke dabei an einen V-Mann, dersich von seiner früheren kriminellen Vereinigung losgesagt hat und nun vorseiner den Angeklagten belastenden Aussage durch Helfershelfer des Ange-klagten oder der hinter ihm stehenden Organisation massiv bedroht wird. Ei-ne Sperrrung des V-Mannes nach §§ 54 oder 56 StPO wegen der Gefahr, dieihm droht, dient dann zwar dem Schutz des Zeugen, bedeutet aber in derKonsequenz, daß der Angeklagte die Beweisführung des Gerichts durch denEinsatz von Drohungen zu steuern vermag.28

Um dieser Auswirkung des Zeugenschutzes zu begegnen, kann der gefähr-dete Zeuge entweder durch eine mittelbare Aussage, etwa über eine kom-missarische Vernehmung gemäß §§ 223, 224 StPO, in das Verfahren einbe-zogen oder anonymisiert werden, wie es § 68 Abs. 3 StPO vorsieht.

Die Anonymisierung des Zeugen durch Nichtangabe seiner Identität entbin-det diesen jedoch nicht von seiner Pflicht, vor Gericht zu erscheinen, so daßallein die optische und akustische Konfrontation mit dem Angeklagten zurEnthüllung der Identität des Zeugen führen kann.

Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist die Vernehmung eines optischoder akustisch "abgeschirmten", insbesondere eines vermummten oder sonst

27 BGH NJW 1980, 1761; BGH NJW 1981, 1126; BGH NStZ 1981,70; BGH StV

1984, 58.28 J. Meyer, Zur prozeßrechtlichen Problematik des V-Mannes, ZStW 95 (1983),

S. 834, 852; zur Problematik der behördlichen Sperrung von Zeugen vgl. J. Meyer,JR 1983, 475 f. und JR 1983, 477 ff. und NStZ 1986, 132 f. (Anmerkungen zurBGH-Rechtsprechung).

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unkenntlich gemachten Zeugen nicht möglich.29 Dies ergibt sich wohl auchaus Art. 103 Abs. 1 GG, der ein umfassendes Informationsrecht des Ange-klagten hinsichtlich aller der Entscheidung zugrundeliegenden Tatsachenimpliziert.30

Immerhin gehört die Abschirmung des Zeugen vor dem Angeklagten, ande-ren Verfahrensbeteiligten und den Zuhörern vor und nach der Vernehmungzu den rechtlich möglichen und auch gebräuchlichen zeugenschützendenMaßnahmen. Dazu gehört auch, daß Zeitpunkt und Ort der Vernehmung zu-nächst nicht bekannt gemacht werden,31 was sich vorrangig gegen von lan-ger Hand geplante Übergriffe auf den Zeugen richten wird.

Das Vorenthalten von Angaben zur Person ist nach wie vor auch in anderenRechtsordnungen ein weit verbreitetes und viel diskutiertes Mittel zumSchutz von Zeugen. So ist das in den USA grundsätzlich im Vorfeld desHauptverfahrens bestehende Recht der Verteidigung auf Einsichtnahme indas Beweismaterial der Anklage lediglich in der Hälfte der Bundesstaatenunbeschränkt. Die übrigen Einzelstaaten sowie das Verfahrensrecht desBundes legen die Gewährung dieses Informationsrechts in das Ermessen desGerichts.32 Während des Hauptverfahrens ist jedoch das verfassungsrecht-lich gewährleistete Recht auf Konfrontation des Angeklagten mit dem Zeu-gen grundsätzlich einzuhalten. Dazu gehört das Recht, aufgrund der Identitätdes Zeugen dessen Glaubwürdigkeit zu überprüfen. Dennoch haben die Ge-richte die Möglichkeit, im Einzelfall zwischen dem Informationsrecht derVerteidigung und der Schutzbedürftigkeit eines persönlich gefährdeten Zeu-gen zu dessen Gunsten abzuwägen und das Fragerecht der Verteidigung in-soweit zu begrenzen.

29 BGHSt 32, 115, 124.30 Vgl. BVerfGE 1, 418, 429; 22, 267, 273; 54, 140, 142; 57, 250, 273 f.31 Rebmann/Schnarr, Der Schutz des gefährdeten Zeugen im Strafverfahren, NJW

1989, 1185, 1188.32 Walther (Anm. 3), S. 243.

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c) Über das Verschweigen der Identität hinaus geht die Änderung der frü-heren Identität in eine völlig neue Richtung. Noch im Gesetzentwurf desBundesrates zum OrgKG vom 25. Juli 199133 war in Art. 7 eine Änderungdes Personenstandsgesetzes vorgesehen, die es ermöglichen sollte, dieSchutzpflicht des Staates gegenüber gefährdeten Zeugen nicht nur durchprozessuale Maßnahmen in der Hauptverhandlung zu erfüllen. Darüber hin-aus sollte der Zeuge die standesamtliche Registrierung einer neuen Identitäterwirken können. Damit sollte eine über die Dauer des Strafverfahrens hi-nausgehende Sicherung des Zeugen vor Ausforschung seiner Identität ge-währleistet werden. Der Vorschlag fand jedoch keine parlamentarischeMehrheit, weil man dadurch die Glaubwürdigkeit und den Beweiswert derAngaben in den Personenstandsbüchern als gefährdet ansah, obwohl die Än-derung der persönlichen Daten nur als ultima ratio bei besonderer Schutzbe-dürftigkeit des Zeugen vorgeschlagen worden war.34

Der Vorschlag des Bundesrates orientierte sich an dem bereits 1970 in denUSA eingeführten "Witness Security Program", das sich als verfahrensunab-hängige Strategie versteht, effektiven Personenschutz für gefährdete Zeugeninsbesondere im Rahmen der Bekämpfung der organisierten Kriminalität zugewährleisten.35 Innerhalb dieses Zeugenschutzprogramms sind verschiede-ne Maßnahmen vorgesehen, die gedanklich wohl auch dem erwähnten Ge-setzentwurf zugrundelagen: Die Umsiedlung an einen sicheren Wohnort, dieÄnderung der Identität sowie staatliche Unterstützung bei der Suche nacheinem neuen beruflichen und sozialen Umfeld.

In ähnliche Richtung geht das sogenannte "Hamburger Modell" aus demJahre 1984, das vom Personen- und Objektschutz bis zur Verschaffung einerneuen Identität reicht.36 Der Erfolg des Programms war beachtlich. So trateninnerhalb eines Jahres 49 Zeugen an die innerhalb der Polizeibehörde dafür 33 BT-Drs. 12/989, S. 1 ff.34 BT-Drs. 12/989, S. 60.35 Walther (Anm. 3), S. 239.36 Vgl. Sielaff, "Aussageverbot" vom Täter, Kriminalistik 1986, 58, 60.

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abgestellten Zeugenschutzbeamten heran und baten um unterstützende Be-gleitung. Häufig wird von seiten der Verteidigung eingewandt, der Polizeikäme es im Rahmen ihrer Ermittlungen vorrangig auf eine Zeugenbeeinflus-sung an, die durch Schutzmaßnahmen für Zeugen besonders leicht zu errei-chen sei. Deshalb ist organisatorisch darauf zu achten, daß die Zeugen-schutzbeamten einer Dienststelle angehören, die nicht mit Ermittlungsaufga-ben befaßt ist. Damit wäre ein bestimmter Neutralitätsstandard ehergegeben, als wenn die Ermittlungsbehörde selbst für den Zeugenschutzsorgt.

Nur die Beauftragung privater Sicherheitsdienste durch das Gericht könnteeine noch größere Unabhängigkeit von den Ermittlungsbehörden sichern.Dabei würde es sich aber als nachteilig erweisen, daß diese außerstaatlichenDienste vorrangig auf konkreten Personen- und Objektschutz ausgerichtetsind und weniger die Einbindung des Zeugen in das Strafverfahren mit dendamit verbundenen Rechten und Pflichten kennen. Denn die Aufklärung desZeugen über seine verfahrensrechtliche Situation und das damit verbundeneVermitteln einer besseren Einschätzung der realen Gefahren ist eine wesent-liche Funktion des Zeugenschutzes. Das betreuende Element des Zeugen-schutzes umfaßt ferner die psychologischen Aspekte, die helfen sollen, Äng-ste zu nehmen, indem dem Zeugen erfahrene Gesprächspartner zur Seite ste-hen.

Angesichts der Methoden, mit denen Banden aus dem Milieu der organi-sierten Kriminalität zur Verfolgung ihrer Ziele vorgehen, spricht viel dafür,die erb-, familien- und sonstigen rechtlichen Folgeprobleme aus einer um-fassenden Identitätsänderung zu regeln, statt völlig auf die eventuelle Ände-rung der Personenstandsbücher zu verzichten. Diese bietet jedenfalls eineneffektiveren Schutz des hoch gefährdeten Zeugen, als das bloße Ausfertigenneuer Ausweisdokumente. Denn wegen der bislang noch geltenden Unan-tastbarkeit der Personenstandsbücher kann schon der leiseste Zweifel an derKongruenz von Ausweispapier und ursprünglicher Identität des Ausweisträ-

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gers und Zeugen zu einer Überprüfung der Angaben im Personenstandsbuchdurch den Angeklagten oder seine Mittelsleute führen.

In den USA wurde das bereits erwähnte Zeugenschutzprogramm im Jahre1982 durch den "Victim and Witness Protection Act"37 erweitert. Dabei ori-entierte man sich an Empfehlungen der amerikanischen Anwaltsvereinigung,die u.a. vorsahen, die Freilassung eines Beschuldigten auf Kaution mit derAuflage zu verbinden, keinen Zeugen einzuschüchtern.38 Die deutscheStrafprozeßordnung kennt in § 116 Abs. 2 Satz 2 eine vergleichbare Rege-lung, die jedoch eher der Verdunklungsgefahr begegnen soll als der Gefähr-dung eines eingeschüchterten Zeugen. § 116 StPO legt die Voraussetzungenfest, unter denen ein Haftbefehl gegen einen Beschuldigten ausgesetzt wer-den kann, nämlich dann, wenn er bestimmte Anweisungen einhält, die alsweniger einschneidende Maßnahmen als die Inhaftnahme ebenso geeignetsind, das Ermittlungsverfahren nicht zu beeinträchtigen. § 116 Abs. 2 Satz 2StPO lautet: "In Betracht kommt namentlich die Anweisung, mit Mitbe-schuldigten, Zeugen oder Sachverständigen keine Verbindung aufzuneh-men." Dieses Verbot der Kontaktaufnahme, das bei Zuwiderhandeln zurrichterlichen Anordnung des Vollzugs des Haftbefehls führt (§ 116 Abs. 4Nr.1 StPO), umfaßt auch die Verbindungsaufnahme durch Mittelspersonenund gilt auch für die Verbindung mit Personen, die noch nicht Zeuge sind,es aber voraussichtlich sein werden.39 Man wird unter diese Kontaktauf-nahme unschwer das Einschüchtern und Bedrohen von Zeugen subsumierenkönnen, gewissermaßen als intensivste Form der Verbindungsaufnahme.Zwar betrifft die Auflage nur den Beschuldigten, von dem eine Verdunk-lungsgefahr ausgeht, sie führt aber bei jedem anderen Beschuldigten, dessenUntersuchungshaft aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ausgesetzt wurde,ebenso zum Vollzug des Haftbefehls, da das Einschüchtern von Zeugen im-mer Verdunklungsgefahr begründet. § 116 StPO schützt den Zeugen aber

37 1982 U.S. Code Cong. & Admin. News, S. 2515 ff.; vgl. Walther (Anm. 3), S. 241.38 Walther (Anm. 3), S. 240.39 Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 116 Rn. 15.

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nur rudimentär, denn Mittelspersonen und Hintermänner können ihre Ein-schüchterungen auch dann fortsetzen, wenn sich der Beschuldigte wieder inUntersuchungshaft befindet.

d) Im Rahmen der Vernehmung eines Zeugen in der Hauptverhandlung hat§ 247 StPO besondere Bedeutung, da er die Entfernung des Angeklagten inden Fällen ermöglicht, in denen zum einen die Wahrheitsfindung durch diePräsenz des Angeklagten gefährdet ist oder zum anderen schwerwiegendeNachteile für die Gesundheit des Zeugen durch die Gegenüberstellung mitdem Angeklagten zu erwarten sind. Sobald das Wohl eines Zeugen, der dasAlter von 16 Jahren noch nicht erreicht hat, gefährdet ist, besteht ebenfallsdie Möglichkeit, den Angeklagten aus der Hauptverhandlung zu entfernen.Für kindliche oder jugendliche Zeugen ist eine Beeinträchtigung ihresWohls dann anzunehmen, wenn von der Vernehmung des Zeugen im Bei-sein des Angeklagten eine beeinträchtigende Wirkung zu erwarten ist, dieüber die unmittelbare Befragung hinaus eine gewisse Zeit andauert und bei-spielsweise durch ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Zeugen und Ange-klagtem begründet ist.40 Da die Anwendung der Vorschrift im Ermessen desGerichts liegt, hat der Zeuge letztlich keinen Anspruch auf die Entfernungdes Angeklagten. Das Gericht ist jedoch auch aufgrund seiner Fürsorge-pflicht zu einer fehlerfreien Ermessensausübung gehalten. Die beim erwach-senen Zeugen zu befürchtende erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigung, dieeine Entfernung des Angeklagten auslösen kann, wird bislang eng auf dieVernehmungssituation bezogen. So genügt zwar die Gefahr, daß der Zeugewährend der in Anwesenheit des Angeklagten durchgeführten Vernehmungzusammenbricht und vernehmungsunfähig wird, um § 247 StPO anzuwen-den.41 Jedoch ist zweifelhaft, ob auch Gefährdungen der Gesundheit desZeugen ausreichen, die aus Bedrohungen durch das persönliche Umfeld desAngeklagten entstehen. Es spricht viel für eine weite Auslegung, welche dieBefürchtung des Gesundheitsnachteils nicht auf die Vernehmungssituation

40 Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 247 Rn. 11.41 BGHSt 22, 289, 295 f.

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beschränkt, sondern auch Gesundheitsgefährdungen durch äußere Einwir-kungen miteinbezieht.42

Darüber hinaus empfiehlt es sich in der Regel, auch Maßnahmen zur Identi-tätsabschirmung nach § 68 StPO zu treffen, um Nachforschungen zum Auf-enthaltsort des Zeugen zu erschweren. Nahezu unausweichlich ist die Be-gegnung des Zeugen mit dem Angeklagten jedoch, wenn es zur Vereidigungdes Zeugen kommt. Denn diese darf regelmäßig nicht in Abwesenheit desAngeklagten erfolgen.43 Jedoch ist es auch dann im Einzelfall möglich, demAngeklagten die Anwesenheit zu versagen, wobei es auf die Intensität derGefahr einer Gesundheitsbeeinträchtigung ankommt.44

Die Verteidigerrechte werden bei einer Entfernung des Angeklagten nach§ 247 StPO dadurch gewahrt, daß der Zeuge dem Verteidiger zur Beant-wortung seiner Fragen zur Verfügung steht. Teilweise wird darauf hinge-wiesen, daß die in § 247 Satz 2 StPO vorgesehene Möglichkeit des Zeugen-schutzes in der Praxis wegen eines befürchteten Revisionsrisikos oft nichtumgesetzt werde.45

e) Eine weitere Zeugenschutzvorschrift ist § 68a StPO. Danach soll dieVernehmung des Zeugen grundsätzlich keine Fragen zum persönlichen Le-bensbereich oder Fragen, die den Zeugen oder seine Angehörigen in ihrerEhre verletzen können, enthalten. Eine Ausnahme gilt, wenn die Fragen un-erläßlich sind. Insoweit fällt die Entscheidung im Konflikt zwischen derSchutzbedürftigkeit des Zeugen in seinem Privatbereich und der notwendi-gen Sachaufklärung zugunsten der Tataufklärung aus. § 68a StPO ist zwareine reine Ordnungsvorschrift, die als solche nicht revisibel ist.46 Gleich-

42 Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 247 Rn. 12: "gleichviel aus welchem Grund".43 BGHSt 26, 218; NStZ 1982, 256; 1986, 133.44 BGHSt 37, 48, 49.45 Pasker, Der prozessuale Schutz des Zeugen im Strafverfahren, JA 1993, 158, 159.46 Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 68a Rn. 9.

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wohl kann eine zu Unrecht abgelehnte Frage wegen Verletzung des Frage-rechts gemäß § 240 Abs. 2 StPO zur Aufhebung des Urteils führen.47

Selbst wenn die Voraussetzungen für den Schutz der Privatsphäre des Zeu-gen nach § 68a StPO nicht vorliegen sollten, besteht seit der Einführung des§ 171b GVG die Möglichkeit, bei der zur Sachaufklärung unerläßlichen Er-örterung persönlicher Lebensverhältnisse die Öffentlichkeit während derVernehmung auszuschließen. Der Entscheidung, die Öffentlichkeit auszu-schließen, muß eine Abwägung zwischen dem Geheimhaltungsinteresse desZeugen und dem Interesse an öffentlicher Erörterung zugrunde liegen. Dabeihat die Schutzwürdigkeit des Zeugen umso mehr Gewicht, je mehr es umden Schutz des inneren Kerns der Persönlichkeitssphäre geht und die Gefahreiner öffentlichen Anprangerung durch die Massenmedien droht.48 Eine imErgebnis offene Abwägung geht zugunsten des Zeugen aus.49 Das durchArt. 6 Abs. 1, 2 EMRK geschützte Öffentlichkeitsprinzip wird durch dieseEinschränkung nicht verletzt.50 Auch § 171b GVG ist nicht mit äußersterZurückhaltung anzuwenden, da die Entscheidung des Gerichts nicht an-fechtbar und nicht revisibel ist.51

In diesem Zusammenhang ist auch § 172 GVG zu nennen, der den Aus-schluß der Öffentlichkeit unter erweiterten Voraussetzungen zuläßt. Für denZeugen ist die Norm vor allem dann von Bedeutung, wenn das Leben, diekörperliche Integrität oder die Freiheit des Zeugen oder einer anderen Persongefährdet ist. Außerdem sind Berufsgeheimnisse sowie strafrechtlich ge-schützte Privatgeheimnisse vor der Öffentlichkeit geschützt, ebenso derkindliche und jugendliche Zeuge unter 16 Jahren.

47 BGH NStZ 1982, 170.48 Kleinknecht/Meyer-Goßner, GVG § 171b Rn. 5.49 Kleinknecht/Meyer-Goßner, GVG § 171b Rn. 5.50 Kleinknecht/Meyer-Goßner, MRK Art. 6 Rn. 6.51 Kleinknecht/Meyer-Goßner, GVG § 171b Rn. 12.

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Über die entsprechenden Rechte wird der Zeuge jedoch in der Regel nichtaufgeklärt. Die Informationen, die er mit seiner Ladung durch das Gerichterhält, beschränken sich auf die Androhung von Ordnungsgeldern, die zuzahlen sind, falls er nicht erscheint. Unmittelbar vor der Befragung überprüftdas Gericht zur Klärung des Zeugnisverweigerungsrechtes nur noch dieVerwandtschaftsverhältnisse des Zeugen zum Angeklagten, um dann mit derEinvernahme zu beginnen. Das führt zu Problemen bei Zeugen, deren Aus-sage mit Bereichen ihres Privatlebens verknüpft ist, die sie keinesfalls preis-geben können oder wollen. Sie könnten nach § 68a StPO oder § 171b GVGgeschützt werden. Wenn ein Zeuge diese Rechte nicht kennt und die ihm an-gedrohten Rechtsfolgen für eine Falschaussage in der Hoffnung, ihm könneman eine solche nicht nachweisen, nicht ernst nimmt, kann die Wahrheits-findung erheblich beeinträchtigt werden. Das übliche Aufklärungsverhaltender Gerichte reicht in diesen Fällen nicht aus.52

Ist der Zeuge gleichzeitig Verletzter der aufzuklärenden Straftat, steht ihmnach § 406f StPO das Recht zu, zu seiner Vernehmung einen Rechtsbeistandhinzuzuziehen. Die Notwendigkeit dieser Regelung ergibt sich neben demallgemeinen Bedürfnis, den Zeugen in einer häufig belastenden Situationbetreuend zu unterstützen, auch aus der inneren Drucksituation des Opfer-zeugen. Oft braucht aber nicht nur das Opfer einer Straftat die Unterstützungdurch einen Rechtsbeistand, sondern ebenso der deliktisch nicht betroffeneZeuge. Das Recht des Zeugen auf einen Rechtsbeistand ist unbestritten. Eswurde vom Bundesverfassungsgericht bereits in einem Beschluß aus demJahre 1974 anerkannt,53 in dem es den Zeugen betont aus seiner oft als Ob-

52 M.E. sollte die Auflärungspflicht des Gerichts gegenüber dem Zeugen erweitert

werden, was durch ein Formblatt ohne weiteren Arbeitsaufwand zu erreichen wä-re. Man könnte in diesem Zusammenhang an folgende Änderung des § 214 StPOdenken:§ 214: eingefügt wird folgender neuer Absatz 2: Als besonderen Hinweis hat dieLadung des Zeugen den Vermerk zu enthalten, daß ihm in Konfliktsituationen, diedurch die wahrheitsgemäße Aussage entstehen, Schutzrechte wie insbesondere§§ 68, 51, 70, 68a StPO, §§ 171b, 172 GVG zustehen können.

53 BVerfGE 38, 105, 112, 115.

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jektrolle empfundenen Situation im Strafverfahren "befreien" und seinenschutzwürdigen Interessen auch bei Staatsanwaltschaft und Gericht mehrBeachtung verschaffen wollte. Als Nichtopfer kann sich ein Zeuge bislangauf § 3 Abs. 3 BRAO berufen, der jedermann das Recht gibt, sich in Rechts-angelegenheiten aller Art vertreten zu lassen.

Damit ist aber noch nichts darüber gesagt, wer den Rechtsbeistand bezahlt.De lege lata gestattet die StPO in § 406g Abs. 3 nur dem nebenklageberech-tigten Opferzeugen, Prozeßkostenhilfe zu beantragen. Denkt man daran, daßbeispielsweise ein Gewaltdelikt wie räuberische Erpressung nicht zu denNebenklagedelikten zählt, eine Beleidigung aber wohl, wird die Untauglich-keit des Kriteriums der Nebenklage als Anknüpfungspunkt für die Kosten-belastung des Opfers deutlich.

De lege ferenda sollte daher die prinzipielle Unterscheidung zwischen ne-benklageberechtigten und nicht nebenklageberechtigten Opferzeugen aufge-geben werden. Dabei ist nicht nur von der ebenfalls vorhandenen Schutz-würdigkeit und Schutzbedürftigkeit des nicht nebenklageberechtigen Opfersauszugehen, sondern auch davon, daß das Opfer in jedem Fall durch dieHinzuziehung eines Beistands die Gesetzmäßigkeit des Prozeßverlaufs bes-ser mitträgt und damit auch ein Allgemeininteresse realisiert.54 Zur Verstär-kung des Opferschutzes in der Zeugenposition ist die Beiordnung einesRechtsanwalts, ähnlich der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 StPO,angebracht, allerdings nicht ex officio, sondern auf Antrag des Zeugen, umdie Opferautonomie zu wahren. Die aufgrund der Beiordnung entstandenenKosten sollte bei seiner Verurteilung oder der Einstellung des Verfahrensnach § 153a StPO der Angeklagte tragen. Nur im Falle der Zahlungsunfä-higkeit oder bei Freispruch müßte die Staatskasse eintreten. Sollte eine Bei-ordnung wegen eines einfacher gelagerten Falles nicht notwendig sein,

54 Vgl. Gesetzentwurf der Abgeordneten Dr. Meyer, Dr. Pick u.a. der SPD-Fraktion

zur Änderung der §§ 250, 406f, 406g und 472 Abs. 3 StPO - Deutscher Bundestag,13. Wahlperiode; der Entwurf wird derzeit in den zuständigen Arbeitsgruppen derFraktion beraten.

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müßte entgegen dem geltenden Recht generell die Möglichkeit der Bewilli-gung von Prozeßkostenhilfe bestehen.55

f) Zeugenschutz als Nebenwirkung resultiert aus der Beschränkung desAkteneinsichtsrechts nach § 147 Abs. 2 StPO. Bis zum Abschluß der Er-mittlungen kann der Verteidigung die Einsicht in die Akten verwehrt wer-den, wenn sonst der Untersuchungszweck gefährdet wäre. Als derartige Ge-fährdung kommt die einschüchternde Einflußnahme aus der Sphäre des An-geklagten auf den Zeugen in Betracht. Zwar ist eine Erschwerung derSachaufklärung nicht automatisch ausreichend, um das Akteneinsichtsrechtzu beschränken56. Wenn sie jedoch mit Mitteln der Nötigung geschieht, dieden Zeugen berührt, handelt es sich nicht mehr um von der Rechtsordnunggebilligte Verteidigungsrechte des Angeklagten (wie etwa das Recht zu lü-gen), sondern um strafrechtlich relevantes Verhalten, das die Untersu-chungsvorgänge rechtswidrig gefährdet und somit eo ipso zu einer Be-schränkung führen muß. Da diese jedoch zeitlich nur bis zum Abschluß derErmittlungen möglich ist, kann sie allenfalls im frühen Vorfeld des Verfah-rens zeugenschützend wirken. Das kann immerhin dazu dienen, weitere undintensivere Zeugenschutzmaßnahmen vorzubereiten, ohne den Zeugen schonder Verteidigung bekanntgeben zu müssen. Führen diese Maßnahmen letzt-lich zu einer Anonymisierung des Zeugen nach § 68 StPO, so sind die per-sönlichen Daten des Zeugen ohnehin der Verteidigung nicht zugänglich underst nach Beendigung der Zeugengefährdung von der Staatsanwaltschaftfreizugeben (§ 68 Abs. 3 StPO).

g) Für Zeugen, die dem öffentlichen Dienst angehören, gelten §§ 96, 54StPO, die eine Sperrung durch die Dienststelle vorsehen, wenn ein öffentli-ches Geheimhaltungsinteresse besteht. Die Bestimmungen dienen darüberhinaus als wesentliche Grundlage für die Zusage der Geheimhaltung durchdie Strafverfolgungsbehörden gegenüber gefährdeten Zeugen, seien es Zu-fallszeugen oder V-Personen der Polizei, die gezielt zur Aufklärung einge- 55 Vgl. Gesetzentwurf (Anm. 54).56 BGHSt 29, 99.

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setzt werden.57 Nach den gemeinsamen Richtlinien der Justiz- und Innenres-sorts der Länder aus dem Jahre 1986 sind Staatsanwaltschaft und Polizeigrundsätzllich an die dem Zeugen gewährte Zusage gebunden, was zur Un-erreichbarkeit des Zeugen im Rahmen des § 244 StPO58 und zur Bejahungeines Hindernisses für das Erscheinen in der Hauptverhandlung gemäß § 223Abs. 1 StPO59führen kann.60 Bevor das Gericht jedoch die Unerreichbarkeiteines durch die Geheimhaltungszusage der Ermittlungsbehörden geschütztenZeugen annimmt, muß es zumindest versucht haben, die Behörde zur Preis-gabe der Identität zu bewegen, indem es weniger einschneidende Maßnah-men, wie den Ausschluß der Öffentlichkeit oder die Entfernung des Ange-klagten in der Hauptverhandlung, in Erwägung zieht.61

Ob das Gericht letztlich an die Geheimhaltungszusage gebunden ist, hängtwesentlich davon ab, ob die Sperrerklärung gemäß §§ 96, 54 StPO von einerobersten Dienstbehörde stammt.62 Denn die Unabhängigkeit und die Aufklä-rungspflicht des Gerichts führen dazu, Auskunftsverlangen auch zur Iden-titätsfeststellung hinsichtlich des zur Sachaufklärung erforderlichen Zeu-gen an alle befaßten Behörden zu richten. Erst mit einer bindendenSperrerklärung wird die Vertraulichkeitszusage auch für das Gericht rele-vant. Im Zweifel sollte das Gericht jedoch die Möglichkeiten der Identitäts-verdeckung prüfen, die § 68 StPO bietet.

h) Zu einer Verbesserung des Zeugenschutzes könnte der am 17.2.1995vom Bundesinnenminister vorgelegte Entwurf eines neuen BKA-Gesetzesbeitragen.63 In § 6 ist erstmals eine Rechtsgrundlage für Maßnahmen desBKA vorgesehen, um Gefahren für Leib und Leben, Gesundheit, Freiheit 57 BT-Drs. 12/989, S. 34; vgl. auch J. Meyer, ZStW 95 (1983), S. 834.58 Löwe/Rosenberg/Gollwitzer, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfas-

sungsgesetz mit Nebengesetzen, 24. Aufl. 1984 ff., § 244 Rn. 271.59 Löwe/Rosenberg/Gollwitzer (Anm. 58), § 223 Rn. 12.60 Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 244 Rn. 66; BGHSt 32, 115, 126.61 Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 244 Rn. 66.62 BGHSt 32, 115; BGHSt 35, 82; BGH NStZ 1993, 293.63 BR-Drs. 94/95.

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und wesentliche Vermögenswerte abwehren zu können. Dies gilt jedoch nurfür die Fälle, in denen das BKA die Strafverfolgung wahrnimmt, d.h. beiStraftaten mit internationalem Bezug (vgl. § 4 des Entwurfs).

5. Vorschläge de lege ferenda in der Literatur

Die erläuterten Regelungen, die teils direkt und teils im Nebeneffekt demZeugenschutz dienen, legen den Gedanken an eine Gesamtkonzeption nahe,die durch eine Neukodifizierung des Zeugenschutzes verwirklicht werdenkönnte. Rebmann/Schnarr und Miebach schlagen Konzeptionen de lege fe-renda vor,64 auf die nunmehr einzugehen ist.

Dazu gehört der Vorschlag, für gefährdete Zeugen eine "aktenmäßige Publi-zität" herzustellen,65 die gewährleisten soll, daß die Gefährdung des Zeugenden Prozeßbeteiligten frühzeitig bekannt wird. Dadurch soll sich auch dieVerteidigung frühzeitig mit Zeugenschutzmaßnahmen befassen können.Beispielsweise kann der rechtzeitig informierte Verteidiger bereits im An-fangsstadium des Verfahrens versuchen, auf den Angeklagten mit dem Zieleinzuwirken, die Bedrohungen zu beenden.Verteidiger und Angeklagterkönnen sich aber auch im Rahmen einer erwarteten Anonymisierung nach§ 68 Abs. 3 StPO darauf vorbereiten, die Glaubwürdigkeitsprüfung ohneFragen nach dem Namen des Zeugen o.ä. durchzuführen. In Verbindung mitdem Vermerk über die Gefährdung eines Zeugen könnte dieser obligatorischüber seine prozessualen Rechte belehrt werden.

Eine Belehrungspflicht ist zwar im Ansatz in § 406h StPO für den soge-nannten Opfer-Zeugen als "Sollvorschrift" vorgesehen. Sie bezieht sich je-doch lediglich auf die Befugnisse des Verletzten, Rechtsbeistand und Ver-fahrensinformationen zu erhalten, und wird zudem in der Praxis nicht re-gelmäßig beachtet. Häufig ist sie den mit der Sache befaßten Justizange- 64 Rebmann/Schnarr, NJW 1989, 1190; Miebach, Der Ausschluß des anonymen

Zeugen aus dem Strafprozeß, ZRP 1984, 81 ff.65 Rebmann/Schnarr, NJW 1989, 1190.

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hörigen nicht einmal bekannt.66 Ein Zeuge aber, der seine Schutz- und Bei-standsrechte genau kennt, ist eher zur Kooperation mit den Justizbehördenbereit. Dies gilt umso mehr, wenn der bedrohte oder körperlich mißhandelteZeuge eine psychische Stabilisierung durch Fachleute erfährt, die ihn in sei-ner Notlage auch psychologisch betreuen.

Bekanntlich ist höchstrichterlich entschieden, daß ein Zeuge, der vom Todebedroht ist, nicht zum Erscheinen und zur Aussage verpflichtet ist, es seidenn, er ist durch hinreichende Schutzmöglichkeiten gesichert.67 In diesemSinne könnten die Vorschriften, die für den Verstoß des Zeugen gegen seinePflichten Sanktionen vorsehen, um zeugenschützende Normen ergänzt wer-den.68

Die de lege ferenda vorgeschlagene Möglichkeit, einen Rechtsanwalt, dernicht Verteidiger ist, als Mittelsperson zwischen Verteidigung und Zeugenwirken zu lassen, und dessen Erkenntnisse, die er aus Gesprächen mit demgefährdeten Zeugen gewonnen hat, durch seine Befragung in der Hauptver-handlung in die Urteilsfindung miteinzubeziehen,69 ist allerdings kaum mitdem Unmittelbarkeitsprinzip des § 250 StPO vereinbar.

66 Vgl. Kaiser, Die Stellung des Verletzten im Strafverfahren, 1992, S. 282.67 BGHSt 30, 34, 37; BGH NStZ 1984, 31.68 Vgl. dazu auch Rebmann/Schnarr, NJW 1989, 1190; eine entsprechende Ergän-

zung der §§ 51, 70 StPO könnte wie folgt aussehen:1. § 51 Abs. 2: eingefügt wird folgender neuer Satz 2: Als genügende Entschuldi-gung ist anzuerkennen, wenn die ernsthafte Befürchtung besteht, daß der Zeugeoder eine ihm nahestehende Person durch eine wahrheitsgemäße Aussage in Le-bensgefahr gerät, es sei denn, diese Gefahr kann durch ausreichende Schutzmög-lichkeiten abgewendet werden.2. § 70: eingefügt wird folgender neuer Absatz 2: Ein gesetzlicher Grund im Sinnedes Absatzes 1 liegt insbesondere unter den Voraussetzungen des § 51 Abs. 2 Satz2 vor.

69 So Rebmann/Schnarr, NJW 1989, 1191.

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Auf der Grundlage einer kritischen Auseinandersetzung mit der Entschei-dung des Großen Senats vom 17.10.198370 befürwortet Miebach die gesetz-liche Einführung der Möglichkeit, eine Vernehmung von an Leben, Leiboder Freiheit bedrohten Zeugen unter optischer und akustischer Abschir-mung durchzuführen.71 Dies war nach früherer Rechtsprechung bei gefähr-deten und nach dem Willen der Verwaltung deshalb anonym bleibenden V-Leuten zulässig72 und ist durch den Beschluß des Großen Senats ausge-schlossen worden.

Unter dem Aspekt des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ist aber zu bedenken,daß der abgeschirmte Zeuge direkt und persönlich Rede und Antwort steht,was bei einem Gewährsmann als "Zeuge vom Hörensagen" nicht der Fall ist.Der abgeschirmte Zeuge könnte dem durch das Bundesverfassungsgerichtaus dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit hergeleiteten Erfordernis des best-möglichen und sachnäheren Beweises in bestimmten Fällen besser entspre-chen als der "Zeuge vom Hörensagen" oder die kommissarische Verneh-mung nach § 223 StPO.

In jedem Fall ist der ausgleichenden Funktion der freien Beweiswürdigung(§ 261 StPO) bei Zeugen, die nicht direkt und unbeschränkt mit dem Ange-klagten und seinem Verteidiger konfrontiert werden, große Bedeutungbeizumessen. Denn die Art und Weise des Zustandekommens der Beweiseund ihre daraus eventuell resultierende eingeschränkte Verwendbarkeit müs-sen vom Gericht berücksichtigt werden.

70 BGHSt 32, 115; vgl. dazu auch J. Meyer, Festschrift für Jescheck, 2. Halbband

1985, S. 1311 ff., 1329 ff.71 Miebach, ZRP 1984, 85; ähnlich bereits J. Meyer, ZStW 95 (1983), S. 834 ff.,

858.72 BGHSt 31, 148, 156; BGHSt 31, 290, 293; BGH NStZ 1982, 42; BGH NStZ 1983,

467; BGH NStZ 1984, 33.

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6. Schlußbetrachtung

Die in- und ausländischen Ansätze zur Verstärkung des Zeugenschutzes unddie lebhafte Diskussion darüber, wie der aus der Sphäre des Beschuldigtenbedrohte Zeuge noch besser geschützt werden kann, machen deutlich, daß essich um ein internationales Problem von hoher Brisanz handelt. Dabeizeichnen sich verschiedene Lösungsmodelle ab, zu denen vorläufig Stellunggenommen werden konnte. Jeder Reformschritt ist ein schwieriger Balance-akt zwischen den Erfordernissen der Funktionstüchtigkeit der Strafrechts-pflege und der Fairneß des Strafverfahrens, auf die der Beschuldigte einenunverzichtbaren Anspruch hat. Soweit die Vorschläge de lege ferenda mitdem Hinweis auf neue Formen der Kriminalität und insbesondere die Orga-nisierte Kriminalität verbunden werden, besteht noch erheblicher Aufklä-rungsbedarf. Es kann nicht hingenommen werden, daß ständig neue Gesetzeim Eilverfahren verabschiedet werden, ohne zuvor mindestens die Wirkungbisher geltender und bereits mehrfach geänderter Gesetze seriös ermittelt zuhaben.73 Das gilt auch für die Weiterentwicklung des Zeugenschutzes, überdie nur auf der Grundlage des von der Bundesregierung mehrfach angekün-digten Erfahrungsberichtes über die Anwendung des neugefaßten § 68 StPOabschließend entschieden werden kann. Die ausländischen Reformmodelleund die mit ihnen gemachten Erfahrungen sollten ausgewertet werden undein wesentlicher Bestandteil der künftigen Gesetzesberatungen sein.

73 So hat die Bundesregierung eine Große Anfrage der SPD-Fraktion zur Organi-

sierten Kriminalität, BT-Drs. 12/4948, vom 12. Mai 1993 nicht beantworten kön-nen, aber gleichwohl das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28. Oktober 1994eingebracht und durchgesetzt (BGBl. I, 3186). Die Große Anfrage wurde inzwi-schen in aktualisierter Fassung neu eingebracht (BT-Drs. 13/1925).

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