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Leseprobe Müller, Heiner Traumtexte Herausgegeben von Gerhard Ahrens © Suhrkamp Verlag Bibliothek Suhrkamp 1445 978-3-518-22445-8 Suhrkamp Verlag

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Leseprobe

Müller, Heiner

Traumtexte

Herausgegeben von Gerhard Ahrens

© Suhrkamp Verlag

Bibliothek Suhrkamp 1445

978-3-518-22445-8

Suhrkamp Verlag

SV

Band 1445 der Bibliothek Suhrkamp

Heiner M�llerTraumtexte

Herausgegeben

von Gerhard Ahrens

Suhrkamp Verlag

� Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der �bersetzung,

des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.

Druck: Druckhaus Nomos, SinzheimPrinted in GermanyErste Auflage 2009

ISBN 978-3-518-22445-8

1 2 3 4 – 14 13 12 11 10 09

Traumtexte

F�r Anna M�ller

Inhalt

Vorwort 9

ITraumbuch 25

IITraumprotokolle 87

IIIAutorentraum 109

IVTraumtexte 113

Editorische Notiz 209

Vorwort

Traumtexte von Heiner M�ller. Dieser Band versammeltReverien aus dem Leben und dem Werk des Dichters. DasMaterial wird in vier Abteilungen ausgelegt. Pr�sentiert wer-den Notizen, Protokolle, Texte und Theaterszenen. Der Sta-tus der Texte ist unterschiedlich. Zum einen handelt es sichbei den Aufzeichnungen um Selbstzeugnisse eher privaterNatur, auch wenn bei einem Schriftsteller wie Heiner M�l-ler, dem alle erdenklichen Lebenszusammenh�nge zu Ma-terial gerinnen, von privater Sph�re im strikten Sinne nichtmehr die Rede sein kann; zum anderen um Texte aus derWerkproduktion, den Traumtexten aus Poesie und Prosaoder den Traumszenen aus der St�ckeproduktion, aber auchum Texte �ber den Traum aus den Gespr�chen, die derSchriftsteller gef�hrt hat. Bei den Traumaufzeichnungen, dieaus dem im Heiner-M�ller-Archiv [HMA] verwahrten Nach-laß vorgestellt werden, handelt es sich um Erstverçffent-lichungen. Sie geben eine Anschauung von Heiner M�llersTraumvorstellungen und werden, wenn ihr manifester Inhaltin einem seinerWerke Einschlag gefunden hat, diesen Textenzugeordnet. Die vier Sektionen dieses Bandes mit den ge-sammelten Traumtexten Heiner M�llers tragen die Unter-titel:Traumbuch, Traumprotokolle, Autorentraum,

Traumtexte.

Die erste Sektion: Traumbuch

Heiner M�ller hat in einer mit dem Titel »Traumbuch« ver-sehenen Mappe eine Sammlung von Exzerpten aus Textender Psychoanalyse, Psychologie und Psychiatrie und daraus

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folgenden Betrachtungen zur Technik der Psychoanalyse,Ge-schlechterspannung und Familie sowie Traumprotokolle voneigener und ein Konvolut mit Traumprotokollen von frem-der Hand aufbewahrt, die aus der Zeit nach dem Krieg inWaren/M�ritz stammen oder an anderen Orten, Franken-berg/Sachsen und Berlin, bis zum Jahre 1952 entstandensind.

»Tr�ume und dergleichen haben mich schon immer inter-essiert, schon in Waren. Da hatte ich angefangen �ber Lite-ratur, Psychoanalyse, Psychologie und Psychiatrie zu lesen,nat�rlich auch die Traumdeutung von Freud. Ich fragte alleerreichbaren Personen nach ihren Tr�umen. Bedeutung f�rmeine Arbeit hat der Traumnicht als bloße Erscheinung des-sen, was nachts passiert, wenn man schl�ft, es geht weit dar-�ber hinaus.« [Typoskript Autobiographie. HMA 4487, S. 416]

Die »Traumbuch«-Mappe umfaßt insgesamt 19Autographen,die den Grundstock bilden sollten zu einem von HeinerM�ller konzipierten TRAUMBUCH, das neben den in ihmversammelten Traumaufzeichnungen wohl auch eine Ideevon der Traumstruktur seiner Texte insgesamt h�tte vermit-teln sollen.

Die �berlieferten Traumprotokolle aus der Zeit in Waren er-scheinen als Bruchst�cke zu einem Portrait des K�nstlersals junger Mann, das Heiner M�ller nach seiner Autobio-graphie »Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen«[KoS; HMW 9. Eine Autobiographie] noch hatte schreiben wol-len. Als Kondensat aus Gespr�chen war dieser 1992 erschie-nene Lebensbericht in seinen Augen literarisch nicht vonBelang, weshalb er noch einen autobiographischen Prosatext

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von Gewicht zu verfassen gedachte, nach dem Beispiel vonJames Joyce und unter dem Titel »Eine Jugend in Deutsch-land (Krieg ohne Schlacht)« oder auch: »Autoportr�t be-tween chairs // Selbstbildnis als junger Mann« [HMA 4467.

vgl. HMW9.EineAutobiographie.Kommentar, S. 502].Dieses Pro-jekt ist am weitesten fortgeschritten in dem unter dem Titel»Im Herbst 197. . starb mein Vater . . .« aus dem Nachlaßverçffentlichten Text, aus dem in diesem Traumbuch wie-derholt zitiert wird.

In Referenz zu diesem Vorhaben werden die aus fr�her ZeitstammendenTraumtexte und theoretischen Reflexionen, diedas erwachende Interesse Heiner M�llers an der Psycho-analyse abbilden, umrahmt von einem biographischen Ab-riß seiner Lebensumst�nde inWaren. Vor und nach der Tran-skription der Autographen aus der »Traumbuch«-Mappewird in Form einer Collage aus Selbstzeugnissen und Doku-menten in wiederholter Spiegelung die Jugend des Dichtersbeleuchtet, insbesondere sein Verh�ltnis zum Vater. AlsZeitzeuge desGeschehens tritt Gerhard Bobzin auf, einMit-sch�ler Heiner M�llers aus Waren im Jahre 1947, der als Ver-fasser der Tr�ume von unbekannter Hand aus der »Traum-buch«-Mappe ausfindig gemacht werden konnte.

Die Betrachtungen und Traumprotokolle aus der WarenerZeit sind Zeugnisse aus der Adoleszenzzeit des K�nstlers,dessen Jugenderlebnisse zum konstituierenden Element sei-nes Schreibens wurden. Sein Werk ist Schauplatz der histo-rischen Z�suren, die sein Leben bestimmt haben. Ihm sinddie entscheidendenDaten deutscher Geschichte eingebrannt:1933. 1945. 1953. 1961. 1968. 1989.

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»Ich spreche von Geschichte, von ihr bin ich besessen, ne-giere sie aber gleichzeitig, zeige sogar, wie das Geschichts-konzept nicht mehr existiert.«[Nach Brecht. Begegnung mit Heiner M�ller. Heiner M�ller

und Maria Maderna. Mailand, September 1985. HMW 10. Gespr�-

che 1, S. 797]

Eine Ausnahmebiographie. Jahrgang 1929, von dem HansMagnus Enzensberger, ebenfalls Jahrgang 1929 wie HeinerM�ller, sagte, damit sei man unter dem politischen Aszen-denten des »Verrats« auf die Welt gekommen. Dergestaltvon Geschichte okkupiert, hat Heiner M�ller im Experi-ment seiner Dichtung wie in einem Selbstversuch die Zu-kunft der Vergangenheit eines Leben in zwei Diktaturenerkundet. Das Medium dieser Verdichtung von Gegenwartwar die Erinnerung, die es zu bewahren gilt gegen das »VER-GESSEN UNDVERGESSEN UNDVERGESSEN«[Heiner M�ller, Wolokolamsker Chaussee V: Der Findling.

Nach Kleist. HMW 5. Die St�cke 3, S. 239-246 passim].

»Vergessen ist konterrevolution�r, denn die ganze Techno-logie dr�ngt auf Auslçschung von Erinnerung.«[Das Bçse ist die Zukunft. Heiner M�ller und Frank M. Rad-

datz. Berlin, Februar 1991. HMW 11. Gespr�che 2, S. 825]

»Erinnerungen sind ja was sehr Kompliziertes. Der Text�ber meinen Vater, der Text �ber meinen Großvater, der Text�ber den Selbstmord meiner Frau . . . Nachdem das aufge-schrieben ist, wurde es so wie etwas Geronnenes. Es exi-stiert jetzt als Text, und ich kann wirklich nicht mehr genausagen, was an dem geschriebenen Text stimmt und was ein-fach Verdichtung ist oder Verdr�ngung. Das ist nicht mehrnachvollziehbar . . . Und ich glaube, es ist wirklich so etwas

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�hnliches wie wenn das Leben als Traum erlebt oder erin-nert wird. Und wenn Sie einen Traum erz�hlen, ver�ndernSie ihn schon. Wenn Sie ihn aufschreiben, ver�ndern Sie ihnnochmal. Und da ist das Resultat schließlich doch Dichtungund Wahrheit, dieser geniale Titel von Goethe. Wer weißschon, wie das wirklich war, nachdem man es aufgeschrie-ben hat. Es ist in eine Ebene, in eine Kategorie gekommen,wo man nicht mehr unterscheiden kann zwischen WahrheitundWirklichkeit. Wenn es geschrieben ist, hat es eine Wahr-heit, die es vielleicht wirklich gar nicht hatte.«[Heiner M�ller oder Leben im Material. Heiner M�ller und

Hermann Theissen. Berlin, 22. 6. 1992. HMW 12.Gespr�che 3, S. 245]

Die Sonderstellung der Schriften von M�llers Hand aus der»Traumbuch«-Mappe beruht darauf, daß es sich um authen-tisches Material aus der Jugend des Dichters handelt, dasseine sp�teren Reminiszenzen an diese Zeit in den »Gesam-melten Irrt�mern« seiner Interviews oder in den Erinne-rungen seiner Autobiographie konfrontiert mit der Seelen-t�tigkeit des J�nglings, der im Durchtr�umen und Ahnenden Beginn der Entwicklung zum Dichter erf�hrt. Die we-nigen Exponate aus dieser Zeit kçnnen getrost als KeimzelledesM�llerschenŒuvres angesehenwerden,weil sie imKernschon zentrale Motive beinhalten, deren Spuren und Aus-l�ufer sich in den sp�teren Werken, bis ins Sp�twerk hinein,verfolgen lassen. Und dies nicht nur verstanden als stoff-licher Vorrat an Erlebtem, das er im Verlauf seines Schrift-stellerdaseins ins Werk zu setzten gedachte, vielmehr ist andiesen Texten aus der Fr�hzeit die Motivation Heiner M�l-lers zum Schreiben selbst einsehbar, der Beweggrund, dervon Anbeginn schon als Bew�ltigung der erlebten Stoffmas-se die Form einer Textproduktion vor Augen hatte, die sich

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orientiert an der Collage von Traumbildern und der textuel-len Struktur von Tr�umen.

Wie die Seele mit der Welt ihrer Tr�ume eine untrennbareEinheit bildet, wodurch allererst im Tr�umen die Seele zurVorstellung ihrer individuellen Welt gelangt, so ist, Hegelhat dies in seiner »Enzyklop�die« dargelegt, das Verh�ltnisdes Individuums zu seinem Genius geartet: »Unter demGenius haben wir die in allen Lagen und Verh�ltnissen desMenschen �ber dessen Tun und Schicksal entscheidende Be-sonderheit desselben zu verstehen. Ich bin n�mlich ein Zwie-faches in mir, – einerseits das, als was ich mich nach meinem�ußerlichen Leben und nach meinen allgemeinen Vorstellun-gen weiß, und andererseits das, was ich in meinem auf be-sondere Weise bestimmten Inneren bin. Diese Besonderheitmeines Inneren macht mein Verh�ngnis aus, denn sie istdas Orakel, von dessen Ausspruch alle Entschließungen desIndividuums abh�ngen; sie bildet das Objektive, welchessich von dem Inneren des Charakters heraus geltend macht.Daß die Umst�nde und Verh�ltnisse, in denen das Indivi-duum sich befindet, dem Schicksal desselben gerade dieseund keine andere Richtung geben, dies liegt nicht bloß inihnen, in ihrer Eigent�mlichkeit, noch auch bloß in der all-gemeinen Natur des Individuums, sondern zugleich in des-sen Besonderheit. ›Zu den n�mlichen Umst�nden verh�ltdies bestimmte Individuum sich anders als hundert andereIndividuen; auf den einen kçnnen gewisse Umst�nde ma-gisch wirken, w�hrend ein anderer durch dieselben nichtaus seinem gewçhnlichen Geleise herausgerissen wird. DieUmst�nde vermischen sich also auf eine zuf�llige, besondereWeise mit dem Inneren der Individuen, so daß diese teilsdurch die Umst�nde und durch das Allgemeing�ltige, teils

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durch ihre eigene besondere innere Bestimmung zu demje-nigen werden, was aus ihnen wird.‹«[G.W. F. Hegel, Enzyklop�die der philosophischen Wissen-

schaften. Dritter Teil. In: G.W. F. Hegel, Theorie-Werkausgabe,

Bd. 10. Frankfurt am Main, S. 131 f.]

Die zweite Sektion: Traumprotokolle

Bei den in dieser Abteilung vorgelegten Traumaufzeichnun-gen Heiner M�llers handelt es sich zumeist um fl�chtigeSkizzen undNotate, mit denen er in Stichworten das Traum-geschehen nach dem Erwachen oder nachtr�glich aus derErinnerung festzuhalten trachtete; aber auch um Traumno-tizen, in denen die Traumerz�hlung schon Kontur annimmt;oder aber um Traumprotokolle, in denen der Versuch unter-nommen wird, die Geschichte eines Traumes ausformuliertzu erz�hlen, wenn auch beileibe nicht in der von HeinerM�ller literarisch sanktionierten Gestalt eines Traumtextes,wie er dergleichen zu Ende seines Lebens verçffentlichteTexte explizit benannt hat.[Vgl. im Kapitel TRAUMTEXTE die Texte Nr. 26 und 31.]

Die in dieser Sektion zusammengestellten Texte sind eineWeiterf�hrung der von Heiner M�ller angelegten »Traum-buch«-Sammlung, denn die Traumaufzeichnungen dieses Ka-pitels sind alle nach 1952 entstanden, jenem Jahr also, mitdem das Traumbuch endet. Die bis ins Todesjahr 1995 rei-chenden Aufzeichnungen sind aus dem Nachlaß kollektio-niert und bisher ebenfalls nicht publiziert. Eine genaue Da-tierung l�ßt sich aus dem Material dieser Kollektion freilichnicht erschließen; einmal ist die Handschrift Heiner M�l-

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lers bereits sehr fr�h schon ausgepr�gt, so daß aus ihr keinetempor�ren R�ckschl�sse zu ziehen sind; zum anderen istauch vom Status der beschriebenen Papiere eine Datierungselten ablesbar, so daß als Kriterium am Ende die wenigenausgeschriebenen Daten, zumeist aus den 80er und 90erJahren des vergangenen Jahrhunderts, Anhaltspunkte bietensowie manifest auftretende Hinweise zu Inhalten aus Tages-resten und Verweise auf andere Realit�ten wie Sujets imWerkzusammenhang.

Heiner M�ller soll mit den hier exponierten Traumnotizenund Traumprotokollen aus demNachlaß nicht auf die Couchgelegt und nachtr�glich ausgelegt werden nach allen Regelnder von Freud entwickelten Traumdeutungskunst. Deshalbwird auch, im Gegensatz zum Verfahren im Traumbuch,in diesemKapitel auf die Darstellung biographischer Bez�geweitgehend verzichtet. Mit seinen Traumaufzeichnungen istM�ller ohnehin kein tauglicher Gegenstand f�r die Traum-deutung nach der von Freud entwickelten Maßgabe:

»Wir sehen oft, daß der Tr�umer dem Vergessen seiner Tr�u-me entgegenarbeitet, indem er den Traum unmittelbar nachdem Erwachen schriftlich fixiert. Wir kçnnen ihm sagen,das ist nutzlos, denn der Widerstand, dem er die Erhaltungdes Traumtextes abgewonnen hat, verschiebt sich dann aufdie Assoziationen und macht den manifesten Traum f�r dieDeutung unzug�nglich. Unter diesen Verh�ltnissen brau-chen wir uns nicht zu verwundern, wenn ein weiteres An-steigen des Widerstands �berhaupt die Assoziationen unter-dr�ckt und dadurch die Traumdeutung vereitelt.«[Sigmund Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einf�hrung

in die Psychoanalyse. GW XV, S. 14]

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Die »Traumtexte«, die f�r Freud den manifesten Traum re-pr�sentieren, werden hier nicht auf die hinter dem Traumverborgenen latenten Traumgedanken befragt. Heiner M�l-ler hatte bei der »Erhaltung des Traumtextes« immer nochzu schreibende Texte im Blick. Die Traumproduktion desSchriftstellers ist Teil seiner Textproduktion. Nicht der oftdelikate manifeste Trauminhalt ist von Interesse, sonderndie f�r die literarische Produktion ger�umige Topographieder Traumstruktur. Jenseits der Technik der Psychoanalyselassen sich Prozesse der Verdichtung und Verschiebung vonTr�umen zu jenen Traumtexten verfolgen, die M�ller alsSchriftsteller aus dem Segment seiner Traumaufzeichnungenbewerkstelligt hat. Dementsprechend erscheinen im Kapi-tel Traumtexte dieses Bandes jene Traumprotokolle, dieerkennbar Gedanken und Strukturelemente mit einem Textteilen und offenbar zur Genese dieses Textes beigetragenhaben. Wo immer eine Zuordnung von Traum und Text imWerk Heiner M�llers abzusehen war, ist sie vorgenommenworden. Dabei geht es lediglich um Zuweisungen und Zu-schreibungen, um Hinweise ohne Deutung. Traumaufzeich-nungen, bei denen sich das Element einer solchen Verkn�p-fung nicht verifizieren ließ, erscheinen gesondert in diesemKapitel der Traumprotokolle.

Heiner M�llers fr�hes Interesse an der Psychoanalyse undder von Freud praktizierten Technik der Selbstanalyse ent-spricht dem »Anfangen mit Freud« nach dem Kriege, vondem der Religionswissenschaftler Klaus Heinrich berich-tet hat. F�r Heinrich, Jahrgang 1927, mit demHeiner M�llernicht nur �ber Selbstzerstçrungsw�nsche der Nibelungenlange Gespr�che gef�hrt hat, war der Aufkl�rungsanspruchder Psychoanalyse zentral bei der Bew�ltigung der Vergan-

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genheit im Nachkriegsdeutschland, um den Schleier kollek-tiver Verdr�ngung zu durchdringen.

Das »Zeichensystem der Psychoanalyse« ist f�r den Schrift-steller Heiner M�ller ein »Material f�r Kunst«, genau wieder Marxismus:

»Das sind zwei Ordnungsprinzipien, die ein Instrumenta-rium entwickelt haben f�r den Umgang mit Material odermit Realit�ten.«[Kein Text ist gegen das Theater gefeit. HeinerM�ller und Oli-

vier Ortolani. Berlin, 18. 2. 1990. HMW 11. Gespr�che 2, S. 570]

»Psychoanalyse ist das Gegenteil von Kunst. Kunst kann alsFlucht vor der Selbstanalyse beschrieben werden. Wenn ichweiß, wer ich bin, habe ich keinen Grund mehr, zu existie-ren,weiterzumachen, zu schreiben oder sonst etwas zu tun.«[Das Bçse ist die Zukunft. Heiner M�ller und Frank M. Rad-

datz. Berlin, Februar 1991. HMW 11. Gespr�che 2, S. 825]

Die in den Traumprotokollen auftretenden Protagonisten,Lebensmenschen und Werksmenschen, sind Nebenfiguren,Statisten der Trauminszenierung im Leben und im WerkHeiner M�llers; ihre Abbreviatur in den Tr�umen kann aus-geschrieben oder das Geheimnis ihres Abk�rzungsinkogni-tos kann gel�ftet werden durch Nachschlagen im Registerseiner Autobiographie [Krieg ohne Schlacht, S. 499-505. HMW

9. Eine Autobiographie, S. 505-519] und Biographie [Hauschild,

S. 594-609]. Die Bedeutung der Satzzeichen im Abdruck derTranskriptionenwird in der EditorischenNotiz unter »Quel-len« erl�utert.

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Die dritte Sektion: Autorentraum

Das Kapitel Autorentraum ist eine Collage aus Ge-spr�chsfragmenten, in denen Heiner M�ller �ber die Verfer-tigung von Texten nach dem Prinzip des Traums spricht. Da-bei geht es ihm nicht darum, daß er bestimmte Elemente ausseinenTr�umenzu einemText verdichtet, sondernprinzipiellum die �bertragung der Traumstruktur auf die Struktur vonTexten. Schreiben wie Tr�umen bleibt das nie zu erreichendeZiel des Dichters. Die Umschrift der Traumrealit�t auf dieTextrealit�t. Das f�hrt am Ende zu dem Wunsch, auch dasDenken synchron im Schreibprozeß abbilden zu kçnnen.

Dergleichen Experimente hatten die Surrealisten in ihrerSchreibpraxis schon erprobt. Die f�r die Manifestationendes Unbewußten erdachte »�criture automatique« wurdeals »unmittelbarer schriftlicher Ausdruck des Denkens« be-griffen. Breton spricht in seinem ersten Manifest weiter-hin von einer dadurch erzeugten »Art absoluter Realit�t«,in welcher die »scheinbar so gegens�tzlichen Zust�nde vonTraum und Wirklichkeit« aufgehoben werden oder in »Auf-lçsung« verschmelzen, in Korrespondenz zum Projekt derRomantik, das in dem Satz des Novalis gipfelte, der vonHei-ner M�ller wiederholt zitiert wurde: »Die Poesie ist das echtabsolut Reelle.«

F�r Heiner M�ller ist diese poetische Kernschmelze vonTraum und Wirklichkeit das Kraftwerk der Kunst:

»Ich glaube, das ist die wesentliche Funktion vonKunst �ber-haupt, Wert- und Denksysteme in Frage zu stellen, sie un-ter Umst�nden auch zu sprengen. Ganz simpel formuliert:

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Die Funktion von Kunst ist es, die Wirklichkeit unmçglichzu machen.«[Ich muss mich ver�ndern, statt mich zu interpretieren. Aus-

k�nfte des Autors Heiner M�ller. Heiner M�ller und Teil-

nehmer des Kolloquiums. Berlin/Ost, 27. 1. 1981. HMW 10. Ge-

spr�che 1, S. 156]

Das w�re dann der politische Beitrag der Kunst, der Traumim Traume:

»Darum geht es bei der Trennung der Kommunisten vonder Macht – um die Emigration in den Traum. Dadurch wirdeine Idee wieder eineMacht. Den Traum hat es gegeben, undTr�ume, die einmal entstanden sind, hçren nicht auf zu exi-stieren. Realit�t kann aufhçren zu existieren, kann durcheine neue Realit�t ausgelçscht werden. Aber Tr�ume kannman nicht auslçschen, sie existieren in einer anderen Zeit.Das ist keine Zeit, die man in Vergangenheit, Gegenwartund Zukunft einteilen kann. Aber je mehr Technik es gibt,um so wichtiger wird die Kunst. Um so wichtiger wird dieBehauptung des Traums als Realit�t; die grçßte Gefahr liegtin der beschleunigten Realisierung von W�nschen durchTechnik. In dieser Dimension wirkt die Konfrontation vonKapitalismus und Kommunismus vçllig l�cherlich. Der Kom-munismus existiert in der Traumzeit, und die ist nicht ab-h�ngig von Sieg oder Niederlage. Der Rest ist Politik, in-teressiert eigentlich nur die Macher, die davon leben. Undder Raum dieser Macher muß durch die Mobilisierung vonPhantasien und Utopien immer weiter verkleinert werden.Nur d�rfen solche Utopien nicht realisierbar sein, daherkommt ihre Kraft. Die Utopie des Christentums bleibt exi-stent, weil man sie in der Realit�t nicht �berpr�fen kann.«[Nekrophilie ist Liebe zur Zukunft. Heiner M�ller und Frank

M. Raddatz. Berlin, M�rz 1990. HMW 11. Gespr�che 2, S. 609]

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