Suhrkamp Verlag fileErste Auflage 2007 ISBN 978-3-518-22411 ... Unterhalten sie sich? Schweifen sie...

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Leseprobe Bayen, Bruno Die Verärgerten Roman Aus dem Französischen von Peter Handke © Suhrkamp Verlag Bibliothek Suhrkamp 1411 978-3-518-22411-3 Suhrkamp Verlag

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Leseprobe

Bayen, Bruno

Die Verärgerten

Roman

Aus dem Französischen von Peter Handke

© Suhrkamp Verlag

Bibliothek Suhrkamp 1411

978-3-518-22411-3

Suhrkamp Verlag

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SV

Band 1411 der Bibliothek Suhrkamp

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Bruno BayenDie Ver�rgerten

Roman

Aus dem Franzçsischen

von Peter Handke

Suhrkamp Verlag

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Titel der 1998 in Paris erschienenen Originalausgabe: Les exc�d�s

� der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2007� 1998 Editions Mercure de France

Die �bersetzung erscheint mit freundlicher Genehmigungdes Residenz Verlags Salzburg und Wien, derDie Ver�rgerten 2000 zuerst verçffentlichteAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das

des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.

Satz: H�mmer GmbH,Waldb�ttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Printed in GermanyErste Auflage 2007

ISBN 978-3-518-22 411-3

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Die Ver�rgerten

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Osmer findet keine Spur eines Tiers am Gesicht Jeans, Jeanfindet nichts davon am Gesicht Osmers, weder Kalbsgestaltnoch Schweinsmaske. In der Form des Kiefers, im Weißenim Auge, in der F�rbung der Haut, deren Markierungenund Verwerfungen: keinmal entdecken sie daran das kleinstetierische �berbleibsel. Ein Ende ihrer Freundschaft ist nichtmehr vorstellbar.Vergessen der allererste gemeinsame Schluck Schnaps, daserste Mal, daß sie voneinander tr�umten, Jean von Osmer,Osmer von Jean. H�tten sie die Anf�nge nicht vergessen,w�re es weniger eine Freundschaft als die Liebe.W�re es Lie-be gewesen, so h�tten sie, der eine wie der andere, aneinanderden Blick des Tiers gesehen, der sich dem Tode çffnet, w�h-rend sie so, w�hrend sie zusammen sind, umso mehr Spaßmit ihm treiben, was im �brigen ihr Ziel ist. Ihre Unterhal-tungen haben nicht die schlechte Gesetztheit der Diskussio-nen zwischen f�nf bis sieben Studenten in Princeton. Sieerz�hlen einander eineGeschichte, doch kaum ist diese ange-fangen, st�rzen sie sich, der eine oder der andre, und manch-mal alle beide (den einen verl�ßt das Ged�chtnis, der andreunterbricht ihn) in eine Zwischengeschichte. Unterhaltensie sich? Schweifen sie ab? Was die H�ufigkeit ihrer Treffenangeht, so gehorcht die nicht dem gezwungenen Rhythmusder Heimatlosen-Abende, in Kyoto, Madras oder Cordoba,einfçrmig undohne�berraschung.Es vergehenMonate,ohnedaß sie einander sehen, so als erwarteten sie gleichg�ltig, daßan ihrer Stelle der Zufall sich erinnere; nicht immer, seienwirgerecht.

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Eines Herbstdonnerstags taucht Osmer am Abend auf, ineinem Leinenanzug, frisch rasiert, k�mpferisch. In der Jah-reszeit zuvor zog er bei Einfall der Nacht den Hals ein, w�h-rend er vor einem dunklen Getr�nk hockte und �ber die�hnlichkeit der Tage witzelte. Er nahm Platz, schlug seinHeft auf – und verschwand im Kellergeschoß, �berließ Jeandie weiteren Bestellungen.Vielleicht w�re es schçn, vielleicht katastrophal – vielleichtk�me sie, vielleicht nicht. Ihr Name? Suzanne. Begegnetwo? Im Kino, am Montag. Besonderes Kennzeichen? Kon-versation fl�ssig, fl�ssig. Zustand Osmers? Habe ich zuvielgetrunken? Nein, vorderhand ist alles wunderbar, bedeutetihm Suzanne, wie sie jetzt hereinfegt, die Haare zerzaust.Nach f�nf Minuten hatten Osmer und Suzanne – Augennur f�r Osmer, Lippen nur f�r Osmer, Hand nur f�r Os-mer – Jean ausradiert und sahen nicht einmal, daß er seine Be-stellung r�ckg�ngig machte. Sie tr�umten von sich zu zweit:sie waren’s schon. Der andere vergaß seinen Hut im Tisch-winkel und glaubte, indem er allein heimging, er habe sichin Luft aufgelçst: Eindruck dann noch gewaltsamer in einerlangen Straße, so eng, daß sie konkav schien.Stell dich nur tot – wir finden einander doch wieder!, sagtesich ein jeder von ihnen in der Folgezeit.Dann, an einem sehr fr�hen Morgen, einem n�chtlichenMorgen, imWinter, das Fleisch noch aus einem derben Stoff,riechtOsmer unten in derM�tro Boissi�re jenen ziemlich ra-ren Duft, den Duft Claires. Osmer hat die Nase eines Wein-kosters, und er hat Claire geliebt, und mit ihr ihren Duft. Erschließt daraus, daß er, indem er den Waggon durchquerte,auf Jean tr�fe: und da sitzt er, auf einem Klappsitz, starrenBlicks wie all die Passagiere dieser ersten Z�ge.Jean fingert munter Osmers Plastiksack auf, in dem verhut-

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zeltes Schuhzeug liegt. Er l�chelt. Ein jeder kommt geradeaus dem Bett, einem ehelichen im Fall Osmers, was Jean,derZçlibat�r, nicht weiß. Jean, kurz gesagt, hat ausw�rts �ber-nachtet, alle zwei sind sie m�de und f�hlen sich vage als Ille-gale,wie wohl nicht wenige zu dieser Stunde. Und siewerdeneinander nun nicht etwa fragen: Was ist aus dir geworden?,vielmehr zusammen spazierengehen. Sie steigen aus an derStation Passy und gehen die Stufen zwischen dem SquareAl-boni und dem Square Dickens hinauf, in der Domestiken-und Lehrjungenkohorte der Antillesen und Pakistani. Wieauf Verabredung nehmen sie auf der Place de Costa Ricaden Weg nach links, bis zur Chauss�e de la Muette und wei-ter bis zum Boulevard de Beaus�jour: Osmer kennt da einenSchuster, der schon im ersten Morgend�mmern arbeitet; nurfr�h, beim Aufstehen, findet er die Kraft, zur Schuhrepa-ratur zu gehen. Und Jean kennt da einen Baum, in dem dieVçgel konzertieren.Ohne Osmer h�tte Jean nie gelernt, den Vçgeln zuzuhçren.Osmer beobachtet sie seit der Begegnung mit Jean. Sie sinddabei keine Vogelkenner oder Musiker geworden. Lang istdas her. Osmer erschien �lter, als er war; seine Jahre stimm-ten noch nicht mit ihm �berein. Jean, fast gleichaltrig, derdie feinen Brillen, mit geklebter Fassung, eines slawischenDenkers trug und nie, auch nicht beim Essen, ohne seineHahnentrittmusterkappe blieb, betrachtete ihn als seinenAltvorderen. Doch an diesem Morgen zeigt Osmer sich alsein Osmer in der Gewalt Osmers, und Jean, mit seinemneu-en, breitkrempigen Hut, wirkt gesetzter. Sie blieben stehenbeim Schusterladen, einem kl�glichen Flachbau an der PetiteCeinture, wo damals, zu Beginn der achtziger Jahre, nochZ�ge verkehren. Der Mann im blauen Schurz dreht das Paarzwischen seinen Fingern, mit dem Gehabe eines Chirurgen,

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der zu sp�t gerufenwurde, aber f�r dieses Mal noch ein Ein-sehen hat: vielleicht das letzteMal, daß Absatz und Sohle be-wahrt werden vor dem Schlimmsten.Und da,w�hrend sie an den Schienen entlanggehen, kreuzensich Osmers und Jeans Blicke, so als sei der eine ein Spionund der andere in Lebensgefahr.– Wer von uns beiden wird als erster sterben?Hat er zugehçrt? Selbst wenn er, nach einem Schimmer in sei-nen Augen zu schließen, die Frage verstanden hat, dr�ngt esOsmer nur nach einem: Jean in seine Schranken zu weisen.Ihrer beider Antworten zu dieser Episode gehen auseinan-der. Weder der eine noch der andre gibt sich mit einer einzi-gen zufrieden. Je nach Rollentausch f�hlt sich einer jetzt alsder Spion des andern, jetzt als der sterblichere von ihnen bei-den. Und die Antwort wechselt noch leichter w�hrend derPerioden, da sie einander am wenigsten sehen – wenn eineFrau im Spiel ist,wenn sie zusammenmit ihr jene Pr�fung er-leben, wo, bei aufgehobenem Alter, der Tod sichtbar, unmit-telbar und s�ß wird. Diese Erfahrungen erleichtern sie, bisdaß der Tod verschwunden scheint vomHorizont der Liebe.Sein Verschwinden bezeichnet in der Regel den Anfang vomEnde der Erfahrung. Wenn die Passion oder das Abenteuerausklingt, sehen sie sich çfter, kehren zu ihrer Freundschaftzur�ck wie in einen stillen Winkel.Der Himmel am Boulevard de Beaus�jour rçtet sich. Sie hal-ten inne unter Jeans Baum. Der Ring an Osmers Finger ver-r�t seine Heirat mit Suzanne. Ohne daß Jean es sagt, weißOsmer, daß er N�chte mit Claire verbringt. Und in einer j�-hen Erleuchtung – ja, das ist mçglich – ahnt ein jeder voraus,was er von seinem Alter ego sagen wird, wenn dieses tot ist(wie man in der Folge noch sehen wird).Indessen haben die Vçgel beim Nahen der Menschen ihre

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Schn�bel geschlossen. Jean verscheucht sie, indem er seinenHut in den Wipfel schleudert, wo sich welkes Laub anklam-mert.– Ab zum Himmelaufr�umen?– Schçn, kçnnte man sich das sagen, w�rde Osmer gern ant-worten.

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Jean, Version Osmer

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Jean und seine Aventuren? Im nachhinein sein unb�ndigerDrang, sie zu begreifen, in der Angst, er habe nicht oft genuggeliebt.

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Auf der Straße schienen sie verkleidet als Pr�fekturangestell-te oder als Einberufene, sie alle an diesemM�rzmorgen �ber-beansprucht davon, daß einer von ihnen einen Geldscheinwiederf�nde. Jean mußte freilich nur den Weg zur�ckgehen,die Augen gesenkt auf Gehsteig und Trottoir, sp�hend nachden hundert Francs, die ihm gegen sieben Uhr vierzig ausder Tasche gefallen waren.Als er sich aufrichtete, mit dem schmutzigen Schein in derHand, den ein Autoreifen ger�dert hatte, kam Claire auseinemNachbarhaus, als falle sie aus dem Bett; als verwechslesie die Abszisse mit der Ordinate. Keine Reaktion demnachauf sein L�cheln, nachdem sie ihn beinah gerempelt und er,statt ihr auszuweichen, die Arme ausgebreitet hatte.Zwischen Wade und Ferse ein Schmetterling: die Schlaufeam Knçchel. Er machte kehrt. Sie stolperte, blieb stehen,betrachtete sich ausf�hrlich in einem Schaufenster undsagte:– Es ist nicht hier.Die Wachsbr�ute, von ihr gebannt betrachtet, hatten grund-los aufgerissene M�nder. Als Jean sich zwischen die Puppenund sie schob, musterte Claire ihn wie einen Artikel aufeinem Fließband.Er wandte sich um und fragte nach der Uhrzeit. Sie sagte:Acht Uhr f�nf, so als antworte sie auf eine Frage um Lebenund Tod, und Jean beunruhigte sich:– Sind Sie versp�tet?– Nein, ich habe Lust umzuziehen.Lust umzuziehen?Diese Lust war ihr gekommen mitten in einem Film, nacheinem kurzen Schlaf. Claire erinnerte sich an Schwarzweiß-

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filme immer in Farbe. Sonst, vertraute siemir an, erinnere ichmich �berhaupt nicht.Es war im �brigen beschlossene Sache.– Ah!Ja, und zwar an dem Tag, da der Anblick ihrer Nachbarn imFenster ihr das Gef�hl gegeben hatte, sie sei nur auf Besuch,sie f�hre bloß einen Kunden durch die Wohnung, so wie amVortag. Ihr Entschluß war weder hypothetisch noch einePhantasterei: Claire ist »Immobilienmaklerin«.Ein Hinkender �berholte sie, ein junges M�dchen auf Roll-schuhen kreuzte den Hinkenden, welcher, indem er auf seinBein zeigte, bedeutete: Das Wetter hat umgeschlagen. Imn�chsten Moment gingen sie einen Kaffee trinken.Jean r�hrte nervçs denLçffel in der Tasse, und so erz�hlte sieihm von dem Strudel des abfließenden Wassers in der Ba-dewanne, weihte ihn ein ins geostrophische Gesetz derCoriolis-Kraft, wonach die Richtung der Wasserabfl�sse,als Ergebnis der Erdumdrehung, sich �ndert von einer He-misph�re zur andern.– Coriolis?– Ja, der Autor einer Billardtheorie.– Und die Beziehung zwischen einem Abfluß und dem Bil-lard?– Ist doch klar: beides dreht sich nicht im Kreis.H�tte er bei den englischen Philosophen nachgeschaut, sow�ßte Jean, daß sich mit dem Billard alles erkl�ren l�ßt, dieFreiheit, das Vorherwissen, der Ehebruch und etliches mehr.Sie tratenwieder ins Freie, unterGekicher,undwie geblendetvon wissenschaftlicher Gestik, unwiderstehlicher, die, sooder so, auf der Straße, um neun am Morgen, alle hatten.Und sie brachen auf, um die nach Coriolis benannte Straßezu suchen: die konnte nur wunderbar sein.

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Jean hatte sie nicht nach ihremVornamen gefragt. Doch dannsagte sie beil�ufig: Ich habe solche Angst im Flugzeug, daßich denke, hm, Claire . . .Es war wohl auf halbem Wege, daß sie einen Teppichfetzenmit einer Schlange verwechselte. Sie stieß einen kleinenSchrei aus: in der Note H. Folgte ein Gespr�ch, worin, zu-sammengefaßt, die Vçgel, glorifizierte Reptilien, die GlorieGottes sangen, indes die toten Schlangen auf den Wegenund den Straßen einem jeden Heranwachsenden die Gewiß-heit seiner Nichtexistenz verschaffen.– Die Rue Coriolis, bitte?– Es gibt so viele, wissen Sie.Und der Mann hielt sich die Leber, als habe die große Zahlihn krank gemacht. Dann schlug er vor, sich an einenDrittenzu wenden. Der holte weit aus, um die Richtung anzuzeigen,dann folgte ein kleiner Fingerzeig f�r die zu nehmende Stra-ße, und er entfernte sich, von einem Bein aufs andere h�p-fend, zugleich bem�ht, das zu verstecken.Claire warf sich in eine Geschichte mit einer Fenstert�r,einer Markise, einem Paar da ersp�hter Tennisschuhe. Jeanstellte sich vor, das spiele sich ab am Ufer des Meeres. Abersie erz�hlte mit gar zu vielen Details. Unversehens erw�hntesie den Namen einer Stadt im Binnenland, und er verlor alleBez�ge.(Eine ihrer Freundinnen hatte gerade die Verlobung miteinem Orientalen gelçst, auf die Entdeckung hin, daß die-ser die Perle zu dem Ring in einem Duty-free gekauft hatte:davon handelte so ungef�hr die ihm unverst�ndliche Ge-schichte.)Der Schatten der langsamen Waggons von der Eisenbahnli-nie zog �ber die Fassaden der Rue Coriolis; jener der Pufferhatte nicht einmal Fenstergrçße. Das Licht war lind, kein

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Wind regte sich. Und jetzt lçste sich eine eigelbe Armband-uhr von einem Balkon und fiel Claire auf den Kopf. Sie nahmdas klaglos hin; wartete lange, daß der Eigent�mer, ein Kind,auf die Straße k�me, sie zu holen; schob sie sich schließlich�bers Gelenk:– Es ist kein Zufall, sondern gehçrt zu meinemWesen.Bevor sie ihren Begleiter verließ, um ihre k�nftige Wohnungzu betreten, blies sie sich auf die Finger. Jean sagte sich, erwerde Claire wiedersehen, und er sah Claire wieder, in derRue Hall�.

*

Sowie ich Claires Familiennamen gemurmelt hçrte, sp�rteich, was kommen w�rde. Es begann an jenem Abend, in derRue Hall�, wo sie nebeneinander saßen, still und gr�mlicham Marmorkamin. Aber zugleich erwartete ich ein bloßesStrohfeuer. So hatte ich schon auf Anhieb, als ich am Tele-phon die Bekanntschaft Clairesmachte, gewußt,wir w�rdenN�chte zusammenbleiben: wegen ihrer genießerischen Into-nierung, wegen eines verborgenen slawischen Akzents, denich seit jenem erstenMal nie mehr gehçrt habe. Claire w�rdealso die Geliebte Jeans sein. Am Ende ging mir auf, daß sieJean geliebt hat, um nie mehr zu lieben.Mit Claire tr�umte ich, alle Hotels Bristol auf dem Planetenkennenzulernen.Stiller,wie fl�ssigerMoment: sie im Spiegel,w�hrend ich, mitBlick auf den fl�chtigen Schatten ihrer F�ße im Lichtspaltunter der T�r, auf demBett lag mit einem seltsamen Leerege-f�hl im Bauch und, die Finger an der Nase, denGeruch ihrerScham einatmete.Dann wieder ihre Wirbels�ule unter meinen H�nden. DerLauf des Sambesi, dachte ich im Streicheln.

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In der Zwischenzeit liebe ich das Alleinsein, sagte sie mirund wollte damit sagen: Wenn ich neben einem Mann auchnoch einen Geliebten habe.Ichwar sozusagen das zweitere. Das Alleinsein hieß: sie fuhrzwischen uns beiden ziellos Taxi. Bald w�re ich gern dort imTaxi, neben ihr, gewesen.–Du und deine Kan�le, ich undmeine B�che, sagte sie zumirim Caf�.Nochmehr zog ich es vor,wenn sie zumir redete imTraum:– Aber du weißt doch, sagte sie, daß das alles nichts Wirk-liches ist.

Als ich daran dachte,mit ihr zubrechen, nahm ich sie auf Rei-sen. Neben ihr liegend in einem Zimmer in Neapel, probteich die ganzeNacht den endg�ltigen Satz,wie um ihn inmei-nemMund zu w�rmen. Im Augenblick und am Ort der gro-ßenAussprache umklammerte ichClaire, die auf einemStuhlsaß. Es war Mittag. Der Stuhl brach. Aus Neapel zur�ckge-kehrt, folgte sie ihremMann nach Afrika, wo sie eines Mor-gens, nachdem sie drei Stunden auf einer staubigen Treppeneben einem Amulettverk�ufer gehockt hatte, die Dinge ge-lassener sah. Gelassener, sagte sie mir bei der R�ckkehr, alswir den Pont Marie �berquerten.Gibt es einen pr�chtigeren Ort als eine Flußbr�cke, gegen-seitig Eide zu schwçren? Nach dem Bruch: und ein Satz aufder Br�cke gen�gte – immer ist ein Hauch von Verr�cktheitin den Gespr�chen auf einer Br�cke, warum auch immer –,und ganze Tage mit dem Gewicht ihrer Zunge auf der mei-nen, bis in die hinterste Mundhçhlung.In jener Periode begegnete sie mir in meinen Tr�umen zwarmit mehr und mehr Gleichg�ltigkeit, aber kehrte da dochimmer h�ufiger wieder. Meine Liebe war immer noch so

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groß, daß ich ahnte, sie werde schwanger werden vomandern(dem Ehemann).

Jahre sp�ter, nach meiner Hochzeit, als Suzanne umziehenwollte, fandClairemir dieWohnung, und da diese noch nichtausgemalt war, �berließ sie mir f�r zwei Wochen die ihre. Siegab mir den Schl�ssel. Bei ihr um die Ecke; im Schlosserla-den, je l�nger der Handwerker, mit dem R�cken zu mir, dieForm einspannte und den Bart des Zweitschl�ssels polierte,sah ich ihr Gesicht kleiner werdenund schließlich verschwin-den. An seiner Stelle schwammige oder blitzartige Details:ausladende H�ften, Kurzhaar, schmaler, gewundener Hals,Haare von einem weißen Fell auf einem entblçßten Kçrperund der gelbliche Nabel einer Schlaflosen. Der Blick desSchlossers, dessen Emsigkeit meinen Streifzug in die Arche»Frau« abk�rzte, erinnertemich daran, daß es eine Zeit gege-ben hatte, da man, vergn�gt und in dem stolzen Begehreneines sp�ten Vormittags, die Straße dahinging, hellentschlos-sen, dem freien Lauf zu lassen. Ich habe von der Wohnungnichts gehabt, und Claires Gesicht ist auf immer entschwun-den.

*

Als ich dein Gesicht verlor, hatte der Schlaf etwas von einemmeinen Kopf umblasenden Nordwind.Im Traum kammir die Erinnerung an ein Zimmer in Dover,wo ich, wie mir klar wurde im Erwachen, noch nie gewesenwar.

Seit ich dein Gesicht verloren habe, bleiben mir von denTr�umen bloße Spuren, heute von B�ndern, gestern vonWegen.

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