Suhrkamp Verlag · Enthusiasmen und zwei Diderot-Fragen »Man kann mit mir machen, was man will«...

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Suhrkamp Verlag Leseprobe Gumbrecht, Hans Ulrich »Prosa der Welt« Denis Diderot und die Peripherie der Aufklärung Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Mit zahlreichen Abbildungen © Suhrkamp Verlag 978-3-518-58757-7

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Suhrkamp VerlagLeseprobe

Gumbrecht, Hans Ulrich»Prosa der Welt«

Denis Diderot und die Peripherie der AufklärungAus dem Englischen von Michael Bischoff. Mit zahlreichen Abbildungen

© Suhrkamp Verlag978-3-518-58757-7

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Hans Ulrich Gumbrecht

»Prosa der Welt«Denis Diderot und die Peripherie

der Aufklärung

Aus dem Englischen von Michael Bischoff

Suhrkamp

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Inhalt

Enthusiasmen und zwei Diderot-Fragen

»Man kann mit mir machen, was man will«Ein glücklicher Tag in Diderots Leben

»Prosa der Welt«Gibt es einen Platz für Diderot in Hegels System?

»Ich bin auf dieser Welt, und hier bleibe ich«Ontologie der Existenz in Le Neveu de Rameau

»Sonderbare Dinge, die auf der großen Rollegeschrieben stehen«

Kräfte der Kontingenz in Jacques le fataliste et son maître

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»Das Wunder – das ist das Leben«Metabolisierender Materialismus in Le Rêve de d’Alembert

»Was für Gemälde!«Urteile und die Singularität der Phänomene in

Les Salons

»Prosa der Welt«Wer ist Denis Diderot (und was ist die Encyclopédie)?

»Ich tue gar nichts«Die letzten drei Jahre in Diderots Leben

Ich bin dankbar

Bildnachweise

Namenregister

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Karl Heinz Bohrer gewidmet –für wen sonst hätte ich nochmal ein Buchmit Fußnoten geschrieben?

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Enthusiasmen und zwei Diderot-Fragen

Das Jahr hat nichts Emblematisches, doch sein affekti-ves und intellektuelles Klima war voll von Zukunft. EtwasGroßes schien am Horizont heraufzuziehen, von dem wirhofften, es werde eine »Revolution« sein, und meine Gene-ration brauchte dann eineWeile, bis sie sich eingestand, dassder »Mai in Paris« keine Revolution gewesen war. Na-türlich trat ich in den SDS ein (den Sozialistischen Deut-schen Studentenbund), und zwar am Morgen jenes TagesMitte Oktober (das genaue Datum ist mir entfallen), andem ich mich für mein erstes Semester an der UniversitätMünchen einschrieb. »Germanistik« und »Romanistik« (indieser Reihenfolge) lauteten die zwei Fachgebiete oder The-menbereiche, für die ich mich entschied, mit weit wenigerÜberzeugung und Begeisterung hinsichtlich der »Literatur«,als ich vorgab. Mein Vater, der durch und durch Chirurgwar, hatte mich davon überzeugt, dass es in der Medizin kei-nen Platz für die Psychiatrie gab, von der ich für meine be-rufliche Laufbahn träumte. Mich mit romanischer Literaturzu beschäftigen (was in diesen deutschen Jahren französi-sche Literatur mit Anhängseln im Italienischen und Spani-schen bedeutete) schenkte mir außerdem die unbestimmteIllusion, weiterhin in Paris zu leben, wo ichmein letztes Gym-nasialjahr am Lycée Henri IV verbracht hatte, ohne mirder großen Tradition bewusst zu sein, für die dieser Namestand.Was ich über mein Studium in diesem allerersten Au-genblick wusste und fühlte, war sehr vage, vor allem im Ver-

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gleich zu dem Formular, das der SDS mich unterschreibenließ und in dem ich ganz buchstäblich erklärte, dass ich anden Marxismus als das »einzig wissenschaftliche und wahreWeltbild« glaube. Tatsächlich sollte sich dieser Herbst als äu-ßerst enttäuschend erweisen. In all den Kursen zu »linken«Themen, das kann ich heute sagen, blieben Begeisterung undInspiration auf der Strecke oder wollten sich erst gar nichteinstellen, während die Veranstaltungen, die sich als politischneutral gaben (damals eine aussterbende Spezies), nur die ab-genutzten Konzepte eines konturenlosen Kanon-Lobs unend-lich wiederholten, das ich vom Gymnasium her zur Genügekannte. Die einzige überraschende Ausnahme war ein vonDr. Ursula Schick gehaltenes Proseminar über »Diderots äs-thetische Schriften«, an dem ich gemeinsam mit drei odervier anderen Studenten teilnahm und für das ich mich wahr-scheinlich entschieden hatte, weil ich auf dem täglichen Schul-weg in Paris so oft an der Diderot-Statue auf dem BoulevardSaint-Germain vorbeigegangen war. Mir gefiel das Lächelnauf dem grünlich schimmernden Bronzegesicht dieses Au-tors aus dem . Jahrhundert. Im Januar hielt ich einReferat über die »Éloge de Richardson«, Diderots enthusias-tische Lobrede auf den zeitgenössischen englischen Roman-cier, und obwohl sein Ton mir »typisch bürgerlich« vorkam,wie ich kritisch anmerkte, hatte Denis Diderotmich zu beein-drucken begonnen. Ich könnte nicht sagen, warum, aber ermuss den entscheidenden Anstoß zu meinem Entschluss ge-geben haben, nach dem ersten Semester nicht von der Lite-ratur zur Rechtswissenschaft zu wechseln, wie ich es auspraktischen und spirituellen Gründen eigentlich hätte tunsollen, sondern die Romanistik statt der Germanistik sogarzumeinemHauptfach zumachen. Seit damals – und seit ichdie SDS-Ideale zunehmend auf einem selbstironischen Ho-rizont zurückließ – sind Diderot und seine Prosa mir in ei-

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ner Sympathie verbunden, die zugleich tief und peripher, be-dingungslos und willkürlich ist – und das seit nun mehr alsfünfzig meistens glücklichen Jahren intellektuellen und be-ruflichen Lebens. Als mein Freund Karl Heinz Bohrer mirvor etwa einem Jahrzehnt sagte, er erwarte statt so vieler kur-zer Aufsätze mindestens ein weiteres ernsthaftes wissenschaft-liches Buch von mir, wusste ich gleich, dass es sich mit Di-derot befassen musste oder genauer mit den unbekanntenGründen für diese tiefe und dennoch periphere Sympathie.Das war die erste Diderot-Frage, die ich mir stellte. Schonbald wurde mir klar, dass ich die Ungewissheit hinsichtlichder Gründe für meine Sympathie mit den größten (und auchmit einigen nicht so großen) Diderot-Experten teilte. DennDiderots Prosa weckt bei vielen Lesern Sympathie – undscheint sich doch jedem Versuch einer umfassenden Beschrei-bung zu entziehen. Angesichts dieses Problems stand ichmehrfach kurz davor, die Arbeit an einem Buch aufzugeben,das niemand brauchte und zu dem mich (außer Bohrer) auchniemand drängte. In einem dieser Momente von Unschlüs-sigkeit bemerkte der berühmte Pianist Alfred Brendel wäh-rend eines gemeinsamen Fellowships in Berlin nebenher undin der Öffentlichkeit, dass ich ihn an Diderot erinnere. Daswar natürlich zu viel des Guten, aber ich stellte fest – undzwar nicht nur stillschweigend –, dass Brendel etwas explizitgemacht hatte, was ich über viele Jahre nicht einmal zu träu-men gewagt hatte. Die Mischung aus Verlegenheit und Stolz,die mich in dieser Situation befiel, verwandelte sich in einezweite Diderot-Frage: ob meine über Jahrzehnte empfunde-ne Affinität inzwischen nicht zu einem Hinweis auf Dide-rots wachsende Attraktivität für Intellektuelle im . Jahr-hundert geworden war.

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»Man kann mit mir machen, was man will«1

Ein glücklicher Tag in Diderots Leben

Denis Diderot mag inmancherlei Hinsicht frühreif gewesensein, als Schüler etwa oder zuweilen in seiner Art des Den-kens und Schreibens – aber wie es scheint, war er nie in Hast.Der Fluss der Zeit und die Versprechen der Zukunft lenktenihn nicht von den vielenGegenständen, Problemen und Per-sonen ab, für die er sich interessierte. So erschien er seinenZeitgenossen als aktiv, produktiv und großzügig und warkaum darauf bedacht, die Ereignisse und Bedingungen sei-nes Lebens in unabänderliche Bahnen zu lenken oder zu klarumrissenen Lebenslagen auszuformen.

Es ist nicht klar, wann genau er seine Geburtsstadt Langresin der Champagne verließ, eine Stadt von ein paar TausendEinwohnern, in der Diderots Vater als wohlhabender Mes-serschmied tätig war und sein Onkel der höheren Geistlich-keit angehörte, und wann er die provinzielle Welt seinerKindheit und Jugend, die ihm auch weiterhin ohne jede Zwei-deutigkeit am Herzen lag, hinter sich ließ, um sein Studiumin Paris fortzusetzen. Es muss oder gewesen sein,als Diderot zwischen fünfzehn und sechzehn Jahren alt war,und für die folgenden anderthalb Jahrzehnte wissen wir nur

Denis Diderot, »Brief an Sophie Volland, . September «, in:ders., Briefe an Sophie, Frankfurt/M. , S. .»On fait de moi ce qu’on veut« (Denis Diderot, Correspondance, Bde., hg. von G. Roth und J. Varloot, Paris -, Bd. I,S. ).

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von einigen akademischen Institutionen, von häufig wech-selnden intellektuellen Interessen und existenziellen Orien-tierungen, mit denen er die Geduld seines Vaters überstrapa-zierte, und – als die finanzielle Unterstützung aus Langresdeshalb ausblieb – von vielfältigen Aktivitäten zur Bestrei-tung seines Lebensunterhalts in einem Lebensrhythmus, denseine Biographen recht anachronistisch als den eines »Bohe-miens« beschreiben. heiratete Denis Diderot – ohnedie gesetzlich erforderliche Erlaubnis seiner Familie, die erernsthaft zu erlangen versucht hatte – die drei Jahre ältereStickerin Anne-Toinette Champion, die ohne Vermögen, vongeringem gesellschaftlichem Stand, tief religiös und nachmehreren Quellen sehr schön war. Angélique, die einzigeüberlebende und überaus geliebte Tochter ihrer Eltern, dieschlussendlich mehr als vier Jahrzehnte zusammenlebten,die meiste Zeit unglücklich, aber nie sichtbar getrennt oderin Distanz zueinander, wurde ihrer dreiundvierzigjährigenMutter und ihrem vierzigjährigen Vater geboren.

Erst um , weit jenseits der Mitte der durchschnitt-lichen Lebenserwartung im . Jahrhundert, begann Dide-rot, sich in der intellektuellen Welt von Paris zu etablieren,nicht als geistige Autorität, sondern eher als eine Kraftquelleund eine anziehende Figur innerhalb einer neuen, geradeerst entstehenden Form von Geselligkeit. Schon früh hattedie staatliche Zensur ihn als »un garçon très dangereux«, alseinen »sehr gefährlichen Kerl«, identifiziert, und inhaf-tierte man ihn dreieinhalbMonate lang imDonjon von Vin-cennes. Der erste Band der Encyclopédie ou Dictionnaire rai-sonné des arts, des sciences et des métiers, des allumfassendenBuchprojekts, dessen Herausgabe Diderot zusammenmit dem Mathematiker Jean le Rond d’Alembert übernom-men hatte, erschien drei Jahre später und fand sogleich gro-ßen Anklang in Europa und sogar in Nordamerika, wäh-

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rend unter seinen eigenen Schriften eine erschieneneAbhandlung über erkenntnistheoretische Fragen mit demTitel Lettre sur les aveugles (Brief über die Blinden) nicht nurden Grund für seine Inhaftierung bildete, sondern auch be-sonders intensive Diskussionen auslöste.

In diesen Jahren lernte Diderot einige der namhaftestenund einflussreichsten Figuren der Pariser Aufklärungskrei-se persönlich kennen, etwa Voltaire und Rousseau, aberauch FriedrichMelchior Baron von Grimmund Paul-HenriThiry Baron d’Holbach, zwei wohlhabende Immigranten ausDeutschland, die beide zehn Jahre jünger waren als er und invielfältiger Weise den materiellen Rahmen für Gespräche undBegegnungen bereitstellten, in deren Klima er zu brillierenvermochte. In diesem Kontext dürfte Diderot auch irgend-wann nach Louise-Henriette Volland begegnet sein, dieer »Sophie« nennen sollte und der er bis , dem Jahr, indem beide starben, mit einer Heiterkeit und Zärtlichkeit zu-getan blieb, die er weder bei seiner Frau noch bei Madeleinede Puisieux gefunden hatte, einer kampfeslustigen Schrift-stellerin und Philosophin, deren leidenschaftlicher Geliebterer wurde.

»Sophie« war die unverheiratete Tochter einer angesehe-nen bürgerlichen Familie und schon um die vierzig Jahrealt, als ihr Verhältnis mit Diderot begann. Sie lebte bei ihrerverwitweten Mutter und über lange Zeiten auch bei ihrerverheirateten Schwester, auf die Diderot oft eifersüchtig war.Die sehr belesene Sophie teilte die intellektuellen Neigun-gen ihres Freundes. Sie muss gesundheitlich labil gewesensein, trug eine Brille und hatte, wie Diderot einmal in einemBrief berichtete, »trockene Hände«. Wir besitzen kein Por-trät von Sophie und auch nicht die Briefe, die sie an ihrenFreund schrieb. Dennoch ist sie für uns sehr lebendig prä-sent in den hundertsiebenundachtzig (von wahrscheinlich

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mehr als fünfhundert) Briefen, die Diderot an sie schriebund die erhalten geblieben sind. Wir können diese Briefeals Tagebuch in Briefform begreifen, aber eher noch als Aus-druck seines dauerhaften Wunsches, die unmittelbaren Er-lebnisse seines alltäglichen Lebens in all ihren sozialen, intel-lektuellen und sogar sinnlichen Verwicklungen mit Sophiezu teilen.Wir wissen nicht sicher, ob auch eine erotische Be-ziehung Teil ihrer Liebe war, wahrscheinlich fand jedoch So-phie Vollands und Denis Diderots Begehren schon bald seineangemessenste und reizvollste Form im Schreiben und Le-sen dieser Briefe und vielleicht sogar im ungeduldigen War-ten darauf – denn obwohl sie ihre Beziehung nicht streng ge-heim hielten und die Pariser Wohnung der Vollands nichtweit von d’Holbachs Wohnsitz entfernt lag, wo Diderot vielZeit verbrachte, fanden sie doch recht selten Gelegenheit zuphysischem Zusammensein. Als Sophie Volland – fünfMonate vor Denis Diderot – starb, hinterließ sie ihm einenRing und eine in rotes Maroquin gebundene Ausgabe vonMontaignes Briefen.

Den Sommer verbrachte Diderot – wie so oft fernvon Sophie Volland – in La Chevrette, einem bei Paris gele-genen Schloss, das sich im Besitz von Louise d’Épinay be-fand, der reichenund gebildetenGeliebten desBaronsGrimm.Der seit als Ausländer in Paris lebende Grimm hattesich einen Namen und ein Vermögen gemacht mit der Her-ausgabe der Correspondance littéraire, philosophique et cri-tique, einer regelmäßig und in Briefform verbreiteten Samm-lung von Berichten über neue Publikationen, Debatten,Theateraufführungen und Ausstellungen in der französischenHauptstadt, deren handgeschriebene Exemplare von einerkleinen Zahl europäischer Aristokraten abonniert wordenwar, darunter die russische Zarin Katharina die Große, Leo-pold II., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, und Gustav

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III. von Schweden.Wenn Grimm –meist aus geschäftlichenGründen – auf Reisen war, sorgte Madame d’Épinay für dieKontinuität der Correspondance, während Diderot regelmä-ßig Beiträge beisteuerte, da er auf dieses Einkommen ange-wiesen war, wenngleich er sich ansonsten offenbar nicht son-derlich um seine finanziellen Interessen scherte.

So waren Aufenthalte in La Chevrette und gelegentlichauch auf d’Holbachs Landgut in Grandval zu einem festenBestandteil in Diderots Leben geworden. Ansonsten wech-selte er in Paris zwischen derWohnung, in der er gemeinsammit Frau und Tochter lebte, und einem Arbeitsraum, den erfür seine Arbeit an der Encyclopédie gemietet hatte. So war esihmmöglich, in mehreren Salons zu verkehren, vor allem indenen der Barone von Grimm und d’Holbach. Die Briefe,die er an Sophie Volland und viele seiner Philosophenkolle-gen2 schrieb, oft besorgt hinsichtlich des Status ihrer Zustel-lung, decktenbeideDimensionen seiner intellektuellenGesel-ligkeit ab. Die enge räumliche Begrenztheit des Lebens einesMannes, dessen Interessen buchstäblich keinerlei Grenzenkannten, wurde, von seltenen Besuchen in Langres abgesehen,nur ein einziges Mal gesprengt, als Diderot auf Einladungder Zarin und nach jahrelangem Zögern im Juni nachSankt Petersburg reiste – und im Herbst des folgenden Jah-res nach Paris zurückkehrte.Verglichen mit Freunden wie Voltaire, Rousseau oder

Grimm, war der Horizont seines Lebens in der Tat ausge-sprochen begrenzt, aber wie das noch extremere Beispiel Im-manuel Kants nahelegt, erschien das damals wohl nicht alsungewöhnlich oder gar als unvereinbar mit der Rolle einesIntellektuellen.Was Diderot von Kant unterschied, war in-

Im . Jahrhundert hatte der Ausdruck eine ähnliche Bedeutungwie heute der Ausdruck »Intellektueller«.

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dessen das Fehlen eines strengen Arbeitsplans, und das isttatsächlich erstaunlich, wenn man bedenkt, wie viele Texteer schrieb, und erst recht angesichts der wahrhaft heroischenLeistung, die Arbeit an der Herausgabe der Encyclopédie,nach D’Alemberts Ausscheiden sogar allein, bis abzuschließen – einWerk, das insgesamt siebzehn Textbändeund zusätzlich elf Bände mit Bildtafeln umfasste. Diderotsbesondere Stärke – eine durchaus paradoxe Stärke, da sieauf einer Veranlagung beruhte, die eigentlich als verheerendfür jeglichen Erfolg gilt – bestand möglicherweise in einerderart radikalen Offenheit für die Welt, dass sie ständigdas Risiko heraufbeschwor, sich in den für ihn so faszinie-renden Details zu verlieren, wie auch in einer wahrhaft un-gewöhnlichen Intensität der Reaktionen auf Erlebnisse undWahrnehmungen jeglicher Art (in der Sprache des . Jahr-hunderts lautete der Ausdruck für solche Intensität »Enthu-siasmus«). Statt sich in eine einzigartige Stärke zu verwan-deln, hätte diese Verbindung aus Offenheit und Intensitätfür ein räumlich weniger begrenztes Leben durchaus zu ei-nem Problem werden können.Auch wenn Diderots Freunde und Bewunderer ihn als

eine belebende Gestalt in ihren Zirkeln stets gerne willkom-men hießen, hielt er selbst sich nicht für einen Salonlöwen,sondern für einen von Natur aus scheuen Menschen. Soschrieb er unter dem Datum »Montag, den . September« aus Madame d’Épinays Schloss La Chevrette an So-phie Volland, er habe das Wochenende eigentlich in Parisverbringen wollen, da am Sonntag im Dorf Jahrmarkt gewe-sen sei.3 Er habe die dort übliche Menschenmenge gefürch-tet, mit all den jungen Bauernfrauen und den herausgeputz-

Mein verstorbener Freund Henning Ritter machte mich zuerst aufdiesen Brief aufmerksam.

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ten Damen aus Paris, die sich von der vorgeblichen Un-schuld hätten anziehen lassen: »Ich fürchte die lärmendeMenge. Also hatte ich beschlossen, nach Paris zu fahren undden Tag dort zu verbringen […]; es war eine buntgemischteMenge von sauber herausgeputzten jungen Bäuerinnen undvornehmen Damen aus der Stadt, mit Wangenrouge undSchminkpflästerchen, mit Schilfrohrstöckchen in derHand,einem Strohhut auf dem Kopf und einem Kavalier amArm.« Es kam indessen anders: »Aber Grimm undMadamed’Epinay hielten mich zurück. Sehe ich, daß sich der Blickmeiner Freunde umwölkt und ihre Gesichter immer längerwerden, so weicht jeder Widerstand in mir, und man kannmit mir machen, was man will.«4

In gewisser Weise hätte dieser Sonntag Mitte September für den selbsterklärten Umfaller Denis Diderot alsokaum schlechter beginnen können. Doch statt mit Ärger oderschlechter Laune zu reagieren, vergaß er seine ursprünglicheAbsicht und die Enttäuschung über sich selbst, als er denBlick auf die im Schloss versammelten Leute richtete: »Wirhielten uns gerade, auf unterschiedliche Weise beschäftigt,in dem traurig-prachtvollen Salon auf und gaben ein sehr an-genehmes Bild ab.«5 Selbst in der zwanglosen Situation des

Diderot, »Brief an Sophie Volland, . September «, in: ders.,Briefe an Sophie, S. -.»Je crains la cohue. J’avais résolu d’aller à Paris passer la journée […].C’étoit une foule melée de jeunes paysannes proprement atournées, et degrandes dames de la ville avec du rouge et des mouches, la canne de ro-seau à la main, le chapeau de paille sur la tête et l’écuyer sur le bras.[…] mais Grim [sic] et Mme d’Epinai m’arrêtèrent. Lorsque je voisles yeux de mes amis se couvrir et leurs visages s’allonger, il n’y a répu-gnance qui tienne et l’on fait de moi ce qu’on veut« (Diderot, Corres-pondance, Bd. I, S. ).

Diderot, Briefe an Sophie, S. .

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Schreibens eines Briefs an Sophie ist Diderots Sprache prä-zise und scheut in ihrer Präzision nicht vor scheinbar unbe-deutenden Details und den dadurch entstehenden Wider-sprüchen zurück. Er empfand den Raum, in dem Madamed’Épinay, Melchior Grimm und ihre Gäste sich »auf unter-schiedliche Weise« beschäftigten, als zugleich »traurig« und»prachtvoll«, und obwohl die verschiedenen Gruppen »einsehr angenehmes Bild« abgaben, beschrieb er deren Aktivitä-ten jeweils einzeln, wie eine Folge von einfachen, mit star-ken Konturen gezeichneten Skizzen. Die erste dieser Zeich-nungen in Diderots Prosa zeigt die beiden Gastgeber, diesich von zwei Künstlern porträtieren lassen:

Am Fenster, das auf die Gärten geht, ließ sich Grimm malen,undMadame d’Epinay stützte sich auf die Stuhllehne desMan-nes, der ihnmalte. Ein Zeichner, der etwas tiefer saß, zeichneteihr Profil mit einem Bleistift. Es ist entzückend, dieses Profil.Eine jede Frau wäre versucht nachzuprüfen, ob es ihr wirklichähnlich sei.6

Während Madame d’Épinay beobachtet, wie ein MalerGrimm porträtiert, wird sie selbst zum Gegenstand einerZeichnung, die der dort anwesende Diderot betrachtet. Ihn

»Nous étions alors dans le triste et magnifique salon, et nous y formions,diversement occupés, un tableau très agréable« (Diderot, Correspon-dance, Bd. I, S. ).

Diderot, Briefe an Sophie, S. .»Vers la fenêtre qui donne sur les jardins, Grim se faisoit peindre etMme d’Epinai étoit appuyé sur le dos de la chaise de la personne quile peignoit. Un dessinateur, assis plus bas, sur un placet, faisoit son pro-fil au crayon. Il est charmant, ce profil; il n’y a pas de femme qui ne fûttentée de voir s’il ressemble« (Diderot, Correspondance, Bd. I,S. f.).