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Leseprobe Griesecke, Birgit / Krause, Markus / Pethes, Nicolas Kulturgeschichte des Menschenversuchs im 20. Jahrhundert Herausgegeben von Birgit Griesecke, Marcus Krause, Nicolas Pethes und Katja Sabisch © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1936 978-3-518-29536-6 Suhrkamp Verlag

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Leseprobe

Griesecke, Birgit / Krause, Markus / Pethes, Nicolas

Kulturgeschichte des Menschenversuchs im 20. Jahrhundert

Herausgegeben von Birgit Griesecke, Marcus Krause, Nicolas Pethes und

Katja Sabisch

© Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1936

978-3-518-29536-6

Suhrkamp Verlag

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suhrkamp taschenbuchwissenschaft 1936

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Koloniale Humanexperimente in Togo, medizinische Versuche in den NS-Konzentrationslagern, Drogenexperimente im kalten Krieg: Menschenex-perimente sind ethisch brisant und kein beliebiges wissenschaftliches Ver-fahren unter anderen. In Menschenexperimenten fallen Subjekt und Objektdes Wissens zusammen und werden Forschungsinteressen nicht selten vonideologisch motivierten Interaktionsformen überlagert. Das betrifft die So-zialstrukturen innerhalb eines Labors ebenso wie die anthropologischenVorannahmen sowie die populärkulturellen Phantasmen, die die Geschichtedes Menschenversuchs prägen. Die Beiträge dieses Bandes befragen die viel-fältigen und nicht selten tödlichen Menschenversuche in Medizin, Psycho-logie und Gesellschaftswissenschaften des 20. Jahrhunderts auf solche kul-turellen Kontexte und beleuchten die fundamentale Bedeutung, die demexperimentellen Blick für das Menschenbild der Moderne zukommt.

Birgit Griesecke ist Philosophin und Japanologin sowie wissenschaftlicheMitarbeiterin am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin.

Marcus Krause ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaft-lichen Forschungskolleg »Medien und kulturelle Kommunikation« an derUniversität zu Köln.

Nicolas Pethes ist Professor für Neugermanistik an der Ruhr-UniversitätBochum.

Katja Sabisch ist Juniorprofessorin für Gender Studies an der Ruhr-Uni-versität Bochum.

Im Suhrkamp Verlag haben sie herausgegeben: Menschenversuche. EineAnthologie 1750-2000 (stw 1850).

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Kulturgeschichtedes Menschenversuchs

im 20. JahrhundertHerausgegeben von

Birgit Griesecke, Marcus Krause,Nicolas Pethes

und Katja Sabisch

Suhrkamp

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

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suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1936Erste Auflage 2009

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag nach Entwürfenvon Willy Fleckhaus und Rolf StaudtSatz: TypoForum GmbH, Seelbach

Druck: Druckhaus Nomos, SinzheimPrinted in Germany

ISBN 978-3-518-29536-6

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Volker RoelckeTiermodell und Menschenbild. Konfigurationen derepistemologischen und ethischen Mensch-Tier-Grenzziehungin der Humanmedizin zwischen 1880 und 1945 . . . . . . . . . . . 16

Petra GehringBiologische Politik um 1900.Reform, Therapie, Experiment? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

Marcus KrauseMit Dr. Benn im »Laboratorium der Worte«.Zur Experimentalität moderner Subjekte . . . . . . . . . . . . . . . . 78

Margarete VöhringerExperimente zum Verhalten von Tier und Mensch.Ivan Pavlovs Reflexe im Kino . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 10

Christoph HoffmannGebilde des Protokollierens. Schreibverfahrenin Kurt Lewins Psychologie der Selbstbeobachtung . . . . . . . . 1 29

Ramon ReichertMedienkultur und Experimentalpsychologie. Filme,Diagramme und Texte des Sozialpsychologen Kurt Lewin . . . 1 56

Stefan Rieger›Bipersonalität‹.Menschenversuche an den Rändern des Sozialen . . . . . . . . . . 1 8 1

Wolfgang U. EckartDie Kolonie als Laboratorium.Schlafkrankheitsbekämpfung und Humanexperimente inden deutschen Kolonien Togo und Kamerun, 1908-1914 . . . . 199

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Keiichi TsuneishiDie von der japanischen Armeedurchgeführten Menschenversuche (1932-1945) . . . . . . . . . . . 228

Birgit GrieseckeFolter ohne Schmerz?Am Beispiel von Anästhesie und Menschenexperiment inDeutschland und Japan während des Zweiten Weltkriegs . . . 269

Katja Sabisch»Die Katastrophe, krank zu werden«.Medizinische Experimente in den Krankenrevierender nationalsozialistischen Konzentrationslager . . . . . . . . . . . 297

Nicolas PethesDokumentationsversuche.Menschenexperimente in den Konzentrationslagernzwischen Archiv und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320

Jakob Tanner›Doors of perception‹ versus ›Mind control‹.Experimente mit Drogen zwischen kaltem Krieg und 1968 . . 340

Christina Brandt»In his Image«. Klonexperimentezwischen Biowissenschaft und Science-fiction . . . . . . . . . . . . 373

Hans-Jörg RheinbergerExperimentalsysteme, In-vitro-Kulturen,Modellorganismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . 405

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Vorwort 1

1 Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung der DFG-Forschungsgruppe»Kulturgeschichte des Menschenversuchs« im Mai 2006 an der Universität Bonnzurück. Er versteht sich als exemplarische Vertiefung und Fortführung der histori-schen Grundlegung, die die Herausgeber mit der an gleicher Stelle publiziertenQuellensammlung Menschenversuche. Eine Anthologie 1750-2000, vorgelegt haben.Hier, vor allem im ausführlichen Vorwort zu dieser Edition, finden sich auch zen-trale Nachweise und Forschungspositionen zur Geschichte des Humanexperiments.Die wichtigsten Vorarbeiten zur Wissenschaftsgeschichte des Menschenversuchs,die beiden Bänden zugrunde liegen, sind die Dokumentationen von Alexander Mit-scherlich/Fred Mielke (Hg.), Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnber-ger Ärzteprozesses [1948], Frankfurt am Main 1978, und Jay Katz, Experimentationwith Human Beings. The Authority of the Investigator, Subject, Professions, and State inthe Human Experimentation Process, New York 1972; die Sammelbände von Han-fried Helmchen/Rolf Winau (Hg.), Versuche mit Menschen in Medizin, Humanwis-senschaften und Politik, Berlin, New York 1986, und Hans-Jörg Rheinberger/MichaelHagner (Hg.), Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biolo-gischen Wissenschaften 1850/1950, Berlin 1993; die Monographien von Susan Lederer,Subjected to Science. Human Experimentation in America before the Second WorldWar, Baltimore, London 1995, und Barbara Elkeles, Der moralische Diskurs über dasmedizinische Menschenexperiment im 19. Jahrhundert, Stuttgart, Jena, New York1996; die Enthüllungen zur US-Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg von Jona-than D. Moreno, Undue Risk. Secret State Experiments on Humans, New York, Lon-don 1999, und Andrew Goliszek, In the Name of Science. A History of Secret Programs,Medical Research, and Human Experimentation, New York 2003, sowie insgesamtJordann Goodman/Anthony McElligott/Lara Marks (Hg.), Useful Bodies. Humansin the Service of Medical Science in Twentieth Century, Baltimore, London 2003, au-ßerdem Volker Roelcke/Giovanni Maio (Hg.), Twentieth Century Ethics of HumanSubjects Research. Historical Perspectives on Values, Practices, and Regulations, Stutt-gart 2004.

Das 20. Jahrhundert ist neben allen anderen Superlativen, die es her-vorgebracht hat, auch das Jahrhundert der Perfektion und Perver-sion wissenschaftlicher Versuche am lebenden Menschen gewesen.Zwar stützten sich Medizin und Psychologie bereits seit der zweitenHälfte des 19. Jahrhunderts auf experimentelle Beobachtungen, unddiese wurden auch schon von Debatten über die Legitimität undGrenzen derartiger Eingriffe begleitet. Was hier aber noch Erfolgs-oder Skandalgeschichte einzelner wissenschaftlicher Pionierleistun-gen war, etabliert sich um die Jahrhundertwende als breite klinischePraxis, die nicht nur im quantitativen Sinne alltäglich, sondern auchim epistemologischen Sinne normal geworden ist: Das Wissen über

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Organismus und Psyche des Menschen muß nun, will es wissen-schaftlichen Anspruch erheben, experimentell begründet sein. Dieethischen Probleme, die mit derartigen ›Vivisektionen‹ einhergehen,sind zwar ebenfalls schon seit den 1860er Jahren Anlaß wütenderProteste, werden aber ihrerseits in die geordneten Bahnen von Ver-waltungsvorschriften gelenkt: Wenn das Ministerium der geistlichen,Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten 1901 im Centralblatt fürdie gesamte Unterrichts-Verwaltung in Preußen die erste »Anweisung andie Vorsteher der Kliniken und sonstigen Krankenanstalten« zurRegelung »medicinische[r] Eingriffe zu anderen als diagnostischen,Heil- und Immunisierungszwecken« vorlegt – eine Anweisung, derin den folgenden Jahrzehnten noch viele Richtlinien und Deklara-tionen folgen werden –, so läutet es das 20. Jahrhundert auch als das-jenige des regulierten Menschenexperiments ein.

Neben dieser – sowohl klinischen wie rechtlichen – ›Normalisie-rung‹ ist das 20. Jahrhundert zugleich Schauplatz vielfältiger Exzessedes Menschenversuchs. Auch hierfür – für grausame Versuchsanord-nungen und letale Versuchsverläufe – kennt das 19. Jahrhunderteinschlägige Vorgeschichten, die Gegenstand der erwähnten Vivi-sektionsdebatte sind. Aber erst in den Laboren und vor allem denLagern des 20. Jahrhunderts werden Menschenversuche zu demjeni-gen Instrument der Demütigung, Instrumentalisierung und Ver-nichtung von Menschen, das im Rückblick als zentrales Symbol fürdie Abgründe totaler Herrschaft einzustehen vermag.

Diese Radikalisierung von Menschenversuchen, die aus ihrer Nor-malisierung eher erwächst als im Gegensatz zu ihr steht, hat dazugeführt, daß seither stets eine fehlgehende, monströse sowie phy-sisch wie psychisch gewaltsame Wissenschaft assoziiert wird, wennvon Humanexperimenten die Rede ist. Gerade in Deutschland, woder Herrschaftsapparat der Nationalsozialisten es ermöglichte, inden Konzentrations- und Vernichtungslagern Menschen in einemunfaßbaren Ausmaß zu experimentellem Material herabzuwürdi-gen, kann man von Menschenversuchen nicht sprechen, ohne auchvon Folterungen und Morden zu reden, die im Zeichen wissenschaft-licher Versuchsanordnungen verübt worden sind. Die Frage, ob dieGeschichte des Menschenversuchs vor 1933 in Kontinuität zu diesenim Namen der Medizin vollzogenen Verbrechen steht oder nichtund ob man die andernorts ebenfalls nachweisbaren humanexpe-rimentellen Grausamkeiten mit den Geschehnissen in Auschwitz

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oder Ravensbrück vergleichen könne, ist dabei eine wissenschafts-historisch, politisch und ethisch gleichermaßen offene Frage.

Wenn der vorliegende Band beansprucht, eine Kulturgeschichtedes Menschenversuchs im 20. Jahrhundert zu rekonstruieren, so gehtes um solche und weitere Kontexte von Experimentalanordnungen.Von einer Kulturgeschichte des Menschenversuchs zu sprechen be-deutet, die Tatsache ernst zu nehmen, daß die fragliche Wissen-schaftspraxis seit der Vivisektionsdebatte des 19. Jahrhunderts nichtals wissenschaftsimmanente Frage allein diskutiert wurde. Ebenso-wenig kann eine historische Rekonstruktion aber von vornhereindie ethische Dimension in den Vordergrund stellen: Gerade weildie ethische Verurteilung der Instrumentalisierung von Menschenso fraglos ist (bzw. sein müßte), fragt eine Kulturgeschichte desMenschenversuchs nach der trotzdem allenthalben zu beobachten-den Konjunktur humanexperimentellen Denkens und Handelns im20. Jahrhundert. Die Genealogie dieser Konjunktur erschließt sicherst einer interdisziplinären Aufdeckung sämtlicher Voraussetzun-gen und Kontexte, die den Menschenversuch als Normalität undExzeß der Wissenschaften vom Leben im 20. Jahrhundert ermög-licht haben.

Das bedeutet, daß das Augenmerk nicht auf die Archive der Me-dizin- und Psychologiegeschichte beschränkt ist, sondern der gene-rellen Aufwertung einer spezifischen – explorativen, spielerischen,kreativen – Semantik des Experimentierens auf dem Feld anthropo-logischen Wissens gilt. Möglicherweise beginnt das 20. Jahrhundertmit jenem frivol-ambigen Aphorismus 501 aus Friedrich NietzschesMorgenröthe, in dessen »Wir dürfen mit uns selbst experimentieren.Die größten Opfer sind der Erkenntniss noch nicht gebracht wor-den« die immensen Möglichkeitsräume modernen Wissens ebensoanklingen wie die Katastrophen, die im Verlauf des 20.Jahrhundertsden Menschenversuch von einer tollkühnen epistemologischen Pra-xis zu einem kriminellen Tatbestand haben werden lassen.

Welche konkreten ›Kulturen‹ des Menschenversuchs entfalten vordiesem Hintergrund die Beiträge des vorliegenden Sammelbands ineinem historischen Durchgang durch das zurückliegende Jahrhun-dert? Eine einheitliche Definition des Kulturbegriffs kann hierweder vorausgesetzt noch geleistet werden. Wohl aber bietet die jün-gere Wissenschaftsgeschichtsschreibung, insbesondere der sogenann-te ›Neue Experimentalismus‹, für den Namen wie Peter Galison, Ian

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Hacking, Timothy Lenoir, Andrew Pickering und Hans-Jörg Rhein-berger einstehen, Vorschläge, was unter der ›Kultur‹ wissenschaft-licher Praktiken verstanden werden könnte.2

2 In diesem Sinne überträgt der vorliegende Band den Ansatz von Henning Schmid-gen/Peter Geimer/Sven Dierig (Hg.), Kultur im Experiment, Berlin 2004, auf denspeziellen Fall des Menschenversuchs.

Das betrifft zunächstdie materielle und institutionelle Dimension der Forschung, also alldasjenige, was das abstrakte und verallgemeinerbare Forschungser-gebnis unsichtbar machen soll, obwohl es ihm zugrunde liegt: appa-rative Messungen, Labortopographien, soziale Interaktion zwischenForschern sowie die Medien der Dokumentation, Auswertung undPublikation der Versuche. Es impliziert aber auch die Frage nach derRelevanz eines Begriffs von Kultur im engeren Sinne, desjenigenalso, der dem rationalistischen Weltbild der empirischen Wissen-schaften gemeinhin entgegengesetzt wird – sei es als Domäne desVerstehens in der Tradition der geistesgeschichtlichen Hermeneutik,sei es als Sphäre der Kunst in der expliziten Unterscheidung von TwoCultures. Gerade im Fall des Menschenversuchs, in dem Subjekt undObjekt des Experimentierens zusammenfallen und der Prozeß derempirischen Forschung unweigerlich vom Projekt der Selbstdeu-tung begleitet wird, stellt sich die Frage, ob das Experiment eineklare Demarkationslinie zwischen ›hartem‹ und ›weichem‹ Wissensein kann. Denn hypothetische Gedankenexperimente und spekta-kuläre Fallgeschichten prägen nicht nur die Literatur und Populär-kultur des 20. Jahrhunderts, sondern gleichermaßen die konkreteLaborpraxis und die Vermittlungsweisen anthropologischen Wis-sens.

Ausgehend von dieser Grundintuition, beschreiben die nachfol-genden Beiträge nicht nur markante oder wissenschaftshistorischeinschlägige Fallbeispiele humanexperimenteller Forschung der ver-gangenen einhundert Jahre. Sie beanspruchen vielmehr, am Gerüsteiner exemplarischen Entwicklungsgeschichte die Interaktion vonWissenschaftstheorie und politischer Ideologie, Sozialstruktur undkommunikativer Kultur, Medientechnik und anthropologischer Se-mantik sowie Gesellschaftsutopie und ästhetischen Formbildungenaufzuzeigen, wie sie sich anhand der Voraussetzungen, Durchfüh-rungen und Vermittlungsformen konkreter Versuchsanordnungenin ihrer Vernetztheit nachweisen läßt.

Mit Blick auf die Epistemologie ist dabei zu fragen, inwieweit im

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Fall eines Menschenversuchs die Vorstellung vom Modellcharakterexperimenteller Simulationen aufrechterhalten werden kann: Wäh-rend Chemiker und Physiker natürliche Prozesse nachstellen, umderen Gesetzmäßigkeit in der Wirklichkeit außerhalb der Laborestudieren zu können, bringt jede menschliche Versuchsperson ihreLebenswirklichkeit mit in das Labor hinein und lebt unter Versuchs-bedingungen keineswegs nur eine revidierbare Version ihrer je ei-genen Existenz. Daran schließt hinsichtlich der Sozialdimension dieFrage an, ob die Absonderung bestimmter Versuchsanordnungennicht verschleiert, daß man den gesamten Evolutionsprozeß bzw.historische Gesellschaften oder politische Ordnungen als Realexpe-rimente begreifen kann, innerhalb deren Variationen erprobt undReaktionen provoziert werden? Aus der Perspektive der Anthropo-logie fragt sich entsprechend, ob überhaupt von Isolation des einzel-nen Menschen als Versuchsobjekt die Rede sein kann, wenn jedesExperiment zumindest die Kommunikation zwischen Versuchslei-ter und Versuchsperson voraussetzt und mithin niemals so isoliertund objektiv vonstatten geht, wie Versuchsprotokolle dies zu sugge-rieren versuchen. Ebenso fraglich ist das komplementäre Problem,ob angesichts der faktischen Partikularisierung der Versuchsperso-nen in ihre jeweils der experimentellen Untersuchung unterliegen-den physiologischen Bestandteile bzw. psychologischen Vermögenüberhaupt je der Mensch als Ganzes in den Blick einer experimen-tellen Untersuchung gerät? Die Rede vom Blick einer experimen-tellen Untersuchung verweist zugleich auf den Einsatz von Medienin Versuchsanordnungen, die eine Vielzahl wissenschaftlicher Beob-achtungen allererst technisch ermöglichen und durch die Entschei-dung über die Speicherform der Versuchsdaten die – sprachliche,visuelle, akustische – Erscheinungs- und Rezeptionsform der Expe-rimente (sowie das ihnen zugrundeliegende bzw. von ihnen begrün-dete Menschenbild) prägen. Auf der Ebene einer solchen medialenFormgebung erhellt die Dimension der Ästhetik die Funktion spezi-fischer Topoi für das Bild der Wissenschaft, Annahmen über ihrezukünftige Entwicklung sowie den Stellenwert fiktionaler Szenarienin ihrer Relation zur Dokumentation empirischer Fakten.

Diese wissenschafts-, gesellschafts-, anthropologie-, medien- undkunsttheoretischen Kontexte fügen sich dabei keineswegs zu einerSystematik einer Kulturgeschichte des Menschenversuchs, sondernillustrieren lediglich die Vielfalt ihrer Kontexte. Aus diesem Grund

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verzichtet der vorliegende Band auch auf eine Einteilung in Sektio-nen und ordnet die Analysen der verschiedenen Versuchsanordnun-gen und -umstände entlang ihrer chronologischen Abfolge innerhalbdes titelgebenden 20. Jahrhunderts an.3

3 Den Vorschlag für eine solche, nicht mit Disziplinengrenzen zusammenfallende,sondern experimentelle Basisoperationen unterscheidende Systematik haben dieHerausgeber in der oben genannten Anthologie unterbreitet. Im Unterschied dazubzw. als exemplarische Vertiefung dieses Vorschlags verfolgt der vorliegende Bandeine historische Entwicklungslinie. Um dabei aktuellen ForschungsperspektivenRaum zu geben, wurden bei den Beispielstudien nicht sämtliche ›klassischen‹ Hu-manexperimente des 20.Jahrhunderts – etwa Watson/Raynors Konditionierung des»Infant Albert«, die Syphilis-Studie von Tuskegee oder Stanley Milgrams Obedience-Experimente – berücksichtigt. Alle diese Versuche finden sich jedoch in der Antho-logie Menschenversuche abgedruckt und kommentiert.

Den Weg der medizinischen Experimentalpraxis in dieses Jahr-hundert rekonstruiert dabei Volker Roelcke anhand einer verglei-chenden Analyse von Robert Kochs Suche nach einem Tuberkulose-Heilmittel und den Sulfonamid-Versuchen der NS-Medizin. BeideVersuchsreihen zeigen, wie die Mißachtung basaler ethischer Stan-dards in Humanexperimenten anhand der Übertragung des in derexperimentellen Physiologie etablierten Tiermodells auf mensch-liche Versuchspersonen möglich war und in der Folge auch und ge-rade die sadistischen Praktiken in den Konzentrationslagern in dermethodischen Tradition der Vorkriegsmedizin verortet werden kön-nen. Deren diskursiven Gesamtrahmen umreißt im Anschluß PetraGehring anhand der verschiedenen Modelle einer an biologischerRegelung orientierten Politik um 1900, in der sich die Auswirkun-gen der Darwinschen Deszendenztheorie auf konkrete Projekte derBevölkerungsplanung nachweisen lassen. Ob dies allerdings aus-reicht, um die sozialdarwinistische Biopolitik selbst als Großexperi-ment am gesamten Gesellschaftskörper zu betrachten, wird dabeiaufgrund der eher ökonomisch-statistischen als naturgesetzlich ar-gumentierenden biopolitischen Positionen bezweifelt.

Komplementär zu diesem medizinischen Versuchsfeld ist die ex-perimentelle Psychologie positioniert, die trotz ihres emphatischenBekenntnisses zu empirischen Methoden die geistesgeschichtlicheTradition des philosophischen und literarischen Subjektdenkensnicht ablegen kann. So fragt Marcus Krause danach, in welchem Ver-hältnis der ›Menschenversuch‹ und die Experimentalität modernerLiteratur stehen. In der Auseinandersetzung mit programmatischen

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Schriften Gottfried Benns und der Rönne-Novelle »Gehirne« wird er-kennbar, wie Literatur auf physiologische Erkenntnisse und psycho-logische Versuchsanordnungen nicht nur inhaltlich Bezug nimmt,sondern diese auch für das Experimentieren mit neuen Schreibwei-sen nutzt und auf diese Weise selbst Funktions- und Ausdruckswei-sen der menschlichen Psyche erforscht.

Dieser engen Verknüpfung zwischen experimenteller Psychologieund Aufschreibesystemen gehen die folgenden Beiträge mit Blickauf weitere Medientechnologien nach: Margarete Vöhringer zeigt,wie die Theorie des physiologischen Reflexes, die Pavlovs Kondi-tionierungsstudien zugrunde lag, als Bindeglied zwischen Tieren undMenschen, Dokumentarfilm und Labor sowie Gesellschaftstheorieund Kino betrachtet werden kann: Filme über die ›Mechanik desGehirns‹ bilden letztere in Gestalt ihrer eigenen Montagetechnikselbst ab und verstehen sich im Rahmen der jungen Sowjetunionüberdies als unmittelbar volkspädagogische Aufklärung. Komple-mentär dazu identifiziert Christoph Hoffmann die schriftlichen Pro-tokolle Kurt Lewins nicht nur als Dokumentation von Forschungs-ergebnissen, sondern selbst als unmittelbare Forschungspraxis. DerAkt der Aufzeichnung ist dabei Teil von Lewins interventionisti-schem Objektivitätsmodell, insofern es als Teil des Prozesses einertätigen Beobachtung stets mit Blick auf seinen künftigen Gebrauchals Dokument erstellt wird. Wie Ramon Reichert im unmittelbarenAnschluß ausführt, wird das Protokoll aber auch bei Lewin zuneh-mend durch die Kamera ersetzt, da nur das filmische Protokoll demAnspruch einer ganzheitlichen Beobachtung des Menschen gerechtzu werden scheint. Gerade dieser Anspruch, im Rahmen eines ›Le-bensexperiments‹ im offenen Milieu die unverstellte Wirklichkeitsichtbar zu machen, produziert aber auffällige theatrale Effekte. Daßschließlich die Versuchspersonen selbst zu Medien füreinander wer-den können, belegt Stefan Rieger anhand seiner Analyse der psycho-physischen Arbeitsforschung zu kooperativen Handlungen: Psycho-technische Experimente schlagen hier zwangsläufig in Sozialtheorieum, und die Dyade der Versuchspersonen verschmilzt in den zeitge-nössischen Theorien zu einer organischen Einheit.

Solchen Gesellschaftsentwürfen der psychologischen Experimen-talpraxis stehen die Versuchsanordnungen der Kolonial- und Kriegs-medizin gegenüber: Im neuerlichen Rückgriff auf die Immunisie-rungsforschung von Robert Koch rekonstruiert Wolfgang U. Eckart

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die Medikamentenerprobung in den Internierungslagern der Kolo-nialgebiete, innerhalb deren die Schlafkrankheit als Problem iden-tifiziert und unter Heranziehung der indigenen Bevölkerung be-kämpft werden sollte. Das Humanexperiment wird auf diese Weiseals unmittelbarer Bestandteil einer instrumentalisierenden kolonia-len Praxis kenntlich. Keiichi Tsuneishi beschreibt die experimentel-len Netzwerke der berüchtigten japanischen Einheit 731, in denenAngehörige bzw. Beauftragte der Armee auf dem chinesischen Fest-land Menschenversuche u.a. zur Erprobung der Möglichkeiten bio-logischer Kriegführung durchführten – Arbeiten, mit denen – nachunaufwendiger Umschreibung der Versuchspersonen von Menschenin Affen – nicht nur im Nachkriegsjapan akademische Karrierengemacht werden konnten, sondern deren Ergebnisse auch sofort dieBegehrlichkeiten der amerikanischen Besatzungsmacht weckten. An-hand von Materialien zu japanischen und deutschen Menschenex-perimenten vor und während des Zweiten Weltkriegs befragt Bir-git Griesecke den üblicherweise enggeknüpften Zusammenhang vonFolter und Schmerz und zeigt, wie problematisch es ist, den Verlet-zungen, die unter Anästhesie in medizinischer Kontrolle zugefügtwurden, aufgrund des (mutmaßlich) fehlenden Schmerzkriteriumsdie Bezeichnung der Folter abzuerkennen. Sie plädiert in Auseinan-dersetzung mit dem Konzept der crimes against humanity dafür, dasKriterium des Schmerzes im Rahmen einer Legaldefinition von Fol-ter dahingehend zu revisionieren, daß die kontrollierte Systematizi-tät der Gewaltakte, denen Menschen, z.B. in Menschenexperimen-ten, ausgesetzt sind, als begriffskonstitutiver Aspekt gilt, dem dieFrage nach aktualem Schmerz untergeordnet ist.

Den Menschenversuchen in den deutschen Konzentrationslagernwidmen sich die folgenden beiden Beiträge: Katja Sabisch sieht inder Konzeption des Lagersystems selbst als Experiment einen meta-phorischen Diskurs am Werk und stellt diesem in ihrem BeitragÜberlebendenautobiographien und deren Referenz auf konkrete ex-perimentelle Fakten gegenüber. Analog hierzu untersucht NicolasPethes, wie die Problematik des fehlenden Zeugnisses der ermorde-ten Opfer in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur zur Tendenzeines dokumentarischen Realismus führte, der bei Peter Weiss undAlexander Kluge auch ausdrücklich die Menschenversuche in denLagern zum Gegenstand machte. Insbesondere Kluges »Liebesver-such« weist dabei auf die prekäre Verschmelzung der Positionen des

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Versuchsbeobachters und des Lesers einer Versuchsdokumentationhin und problematisiert anhand dieses strukturellen Voyeurismusdie Möglichkeit einer nicht instrumentalisierenden Erzählung überMenschenversuche überhaupt.

Die Forschungen deutscher Ärzte fanden nach dem Zweiten Welt-krieg unter gänzlich veränderten Vorzeichen ihre Fortsetzung in denUSA. Jakob Tanner untersucht die LSD-Experimente amerikanischerGeheimdienste und Forschungsinstitutionen im Kontext des kaltenKrieges einerseits, der New-Age-Bewegung andererseits. Dabei wirddeutlich, daß die militärischen und die gesellschaftskritischen Ver-suchsanordnungen trotz ihrer diametral entgegengesetzten ideologi-schen Standorte vom identischen Modell eines in seinen Möglich-keiten erweiterbaren Bewußtseins geprägt sind. Ein vergleichbaresPhantasma stellt der Diskurs über das Klonen von Menschen dar, denChristina Brandt als fiktives Experimentierfeld für biotechnologischeZukunftsszenarien rekonstruiert. Hierfür ist die Science-fiction-Lite-ratur der 1970er Jahre ebenso zuständig wie die Biowissenschaften,wenngleich die Literatur eher ein vortechnisches Humanum affir-miert, als daß sie das posthumane Zeitalter vorwegnähme. Den Ab-schluß des Bandes bilden Hans-Jörg Rheinbergers Überlegungen zurAnwendung seines Theorems der Experimentalsysteme auf die Kul-turgeschichte des Menschenversuchs: Nicht zuletzt deswegen, weilauch in der biologischen Forschung von experimentellen ›Kultu-ren‹ die Rede ist, zeigen gegenwärtige Manipulationen menschlicherZellen im Reagenzglas, wie der Begriff des Menschen auch und ge-rade in der Mikrobiologie immer wieder aufs neue zur Dispositiongestellt und zur Rekonfiguration aufgegeben wird – einer Rekonfi-guration, die angesichts der Erforschung von Phänomenen des Le-bens unter Bedingungen des Labors stets gleichbedeutend mit einerNeujustierung der Grenze zwischen Natur und Kultur ist.

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Volker RoelckeTiermodell und Menschenbild

Konfigurationen der epistemologischen undethischen Mensch-Tier-Grenzziehung in der Humanmedizin

zwischen 1880 und 1945

In der Humanmedizin wird in vielfacher Weise Wissen nutzbar ge-macht, was im Tierexperiment gewonnen wurde. Zwar lassen sichBeispiele dafür finden, daß seit der Antike Beobachtungen undTheorien über Bau und Funktion des Körpers und auch über die»Natur« von Krankheitsprozessen vom Tier auf den Menschen über-tragen wurden, jedoch wird erst mit der Experimentalisierung vonBiologie und Medizin seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das Tier-modell zu einem zentralen, systematisch genutzten und privilegier-ten Bestandteil der Erforschung von Krankheiten und Heilmetho-den.1

1 Zur Experimentalisierung von Biologie und Medizin seit der Mitte des 19. Jahrhun-derts vgl. exemplarisch Andrew Cunningham/Perry Williams (Hg.), The LaboratoryRevolution in Medicine, Cambridge 1992; Hans-Jörg Rheinberger/Michael Hagner(Hg.), Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischenWissenschaften 1850/1950, Berlin 1993; einen eher skizzenhaften Überblick über dieVerwendung von Tiermodellen in der Medizin bietet William F. Bynum, »›C’estun malade‹: Animal Models and Concepts of Human Diseases«, in: Journal of theHistory of Medicine and Allied Sciences 45 (1990), S. 397-413; zur veränderten Ein-stellung gegenüber dem Tierversuch seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts vgl.Gerda Opitz, Tierversuche und Versuchstiere in der Geschichte der Biologie und Medi-zin, Jena 1968.

Ein anschaulicher Indikator hierfür ist der rasante Anstieg desVerbrauchs von Tieren in den diversen medizinischen Disziplinen:In Großbritannien findet sich für den Zeitraum von 1887 bis 1907 inder Physiologie eine Zunahme von ca. 250 auf etwa 2000 Versuchs-tiere im Jahr, in der Pharmakologie von etwa 300 auf 7500 Tiere,und in der Pathologie (die zu dieser Zeit noch die Bakteriologie undImmunologie umfaßte) von etwa 700 auf 64 000 Tiere.2

2 Seit Einführung des Cruelty to Animals Act im Jahr 1876 mußten alle Forscher, dieTierversuche durchführten, lizenziert werden und einen jährlichen Bericht an dasbritische Innenministerium abliefern; vgl. dazu Roger French, Antivivisection andMedical Science in Victorian Society, Princeton 1975, S. 392-399.

In jeder der genannten medizinischen Disziplinen stellte sich beiVerwendung des Tiermodells allerdings regelmäßig eine fundamen-

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tale Frage: Ist das im Tierexperiment gewonnene neue Wissen tat-sächlich und ohne Einschränkungen auf den Menschen übertrag-bar, oder muß dieses Wissen in einem zweiten Schritt im Hinblickauf seine Geltung überdies am Menschen überprüft und bestätigtwerden? Und wenn letzteres der Fall sein sollte, wann genau ist imProzeß der Forschung derjenige Punkt erreicht, an dem der Schrittvom Tier zum Menschen stattfinden sollte? Für den Historiker stelltsich die Frage so: Wo und mit welchen Argumenten wurde und wirdin der biomedizinischen Forschung die Grenze zwischen Tier undMensch gezogen? Welche Bedingungen mußten für historische Ak-teure erfüllt sein, um neu gewonnenes Wissen vom Tier auf denMenschen transferieren zu können?3

3 Der vorliegende Aufsatz ist Teil eines umfassenderen Projekts zur Geschichte derGrenzziehungen zwischen Tier und Mensch in der Humanmedizin des späten 19.und des 20. Jahrhunderts. Dieses Projekt fügt sich in breitere Debatten zum Ver-hältnis zwischen Tier und Mensch, und der Bestimmung des Menschen über dasTier in der Kultur der Moderne ein; vgl. dazu etwa Hartmut Böhme/Franz-TheoGottwald/Christian Holtorf/Thomas Macho u.a. (Hg.), Tiere. Eine andere Anthro-pologie, Köln 2004; darin insbesondere Thomas Macho, »Ordnung, Wissen, Ler-nen. Wie hängt das Weltbild der Menschen von den Tieren ab? Einführung«,S.73-78.

1. Die Tier-Mensch-Grenze bei Canguilhem

Zur vorläufigen Strukturierung des Themenfeldes seien hier zu-nächst einige Sondierungen des Wissenschaftstheoretikers GeorgesCanguilhem vorangestellt. Canguilhem thematisierte im Kontextseiner theoretischen Überlegungen zum Experimentieren in der Bio-logie die Tier-Mensch-Grenze in zweierlei Hinsicht: Einerseits inbezug auf »methodologische Vorsichtsmaßnahmen« im experimen-tellen Vorgehen, andererseits in bezug auf »humanistische Vorbe-halte«.4

4 Die Ausführungen von Canguilhem zum Experimentieren in der Biologie findensich in Georges Canguilhem, La connaissance de la vie, 2., verbesserte und erweiter-te Ausgabe, 9. Aufl. Paris 1992, S. 17-39; deutsche Übersetzung durch HenningSchmidgen als: Das Experimentieren in der Tierbiologie, Berlin 2001, Zitate S. 10,S. 19.

Bei den methodologischen Vorsichtsmaßnahmen sei auf dieSpezifität der lebenden Formen, die Diversität der Individuen, dieTotalität des Organismus und die Irreversibilität der lebendigen Er-

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scheinungen zu achten. Die Spezifität des Experimentalobjekts hatnun nach Canguilhem zur Folge, daß »keine Erkenntnis experimen-tellen Charakters [. . .] ohne ausdrückliche Vorbehalte von einerVarietät auf eine andere innerhalb derselben Art, von einer Art aufeine andere oder vom Tier auf den Menschen verallgemeinert wer-den kann«.5

5 Ebd., S. 10 f.

Der Erkenntnisgewinn aus dem Tierexperiment mußalso auf seine Geltung am Menschen hin nochmals überprüft wer-den. Dies geschieht durch die probeweise Übertragung der im Tier-experiment gewonnenen Ergebnisse in eine Versuchsanordnung amMenschen.6

6 Canguilhem illustriert dies am Beispiel der Heilung des Knochenbruchs, wo dieErgebnisse vom Hund gerade nicht auf den Menschen übertragen werden können:ebd., S. 11.

Die von Canguilhem in diesem Sinne angesprocheneFrage nach der Zulässigkeit des Übergangs vom Tier zum Menschensoll im folgenden als epistemologische Dimension der Tier-Mensch-Grenzziehung bezeichnet werden.

Die »humanistischen Vorbehalte« erörtert Canguilhem in Ab-grenzung zu der Position, die der Physiologe Claude Bernard in sei-ner Einführung in das Studium der experimentellen Medizin (1865)formuliert hatte – über Jahrzehnte ein ›Klassiker‹ und Referenzwerkzur Theorie und Methode des Experimentierens in der Medizin.Bernard hielt medizinische Versuche am Menschen für erlaubt, so-lange nach dem Urteil des Forschers das Experiment wissenschaft-lich sinnvoll ist und der Versuchsperson kein Leid zugefügt wird.7

7 Claude Bernard, Einführung in das Studium der experimentellen Medizin (1865), insDeutsche übertragen von Paul Szendrö, Leipzig 1961, S. 146-148.

Dem hielt Canguilhem entgegen, daß diese Rechtfertigung ganzvon der sehr variablen Definition des Leides bzw. seines Gegenbe-griffs, des Guten, abhängig sei – »und von der Kraft, mit der manglaubt, es [das Gute] durchsetzen zu dürfen«.8

8 Canguilhem, La connaissance de la vie (wie Anm. 4), S. 19 f.

Extreme Formen solchunangemessen positiver Überzeugung der Forscher vom eigenenHandeln sieht Canguilhem in den »massiven Beispielen aus der jün-geren Vergangenheit« – gemeint sind Humanexperimente im Kon-text des Nationalsozialismus.9

9 Ebd., S. 20. Diese etwas vage Formulierung wird in ihrem Bezug zum Nationalso-zialismus klarer, wenn Canguilhem auf Situationen hinweist, »in denen mensch-liche Wesen, die durch den Gesetzgeber sozial deklassiert oder als physiologischminderwertig eingestuft werden, als experimentelles Material Verwendung finden«.

Als mögliches Korrektiv gelte »übli-

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Solche »schrecklichen Praktiken« würden »vielleicht zu ausschließlich der Techno-kratie oder dem rassistischen Wahn zugeschrieben« (ebd., S.21, dort im Haupttextsowie in Anmerkung 42).

cherweise« die Einwilligung des Patienten, zur Versuchsperson zuwerden.10

10 Ebd., S. 20 f. Auch der Wert einer solchen Einwilligung wird von Canguilhem andieser Stelle kritisch diskutiert.

– Für Canguilhem gilt es also, beim Überschreiten derGrenze vom Tier- zum Humanexperiment nicht nur die epistemo-logische, sondern noch eine zweite Dimension zu beachten: Nebendie Frage nach der wissenschaftlichen Sinnhaftigkeit stellt er die nacheiner außerwissenschaftlichen Bewertung, die unabhängig von denwissenschaftlichen Maßstäben des Forschers möglichst unter Betei-ligung der Versuchsperson getroffen werden sollte. Dieser Aspektsoll im weiteren als ethische Dimension der Tier-Mensch-Grenzzie-hung bezeichnet werden.

Bei der Frage, wo bei einem konkreten medizinischen Forschungs-vorhaben der genaue Zeitpunkt des Übergangs vom Tier- zum Hu-manexperiment liegen sollte, und mit welchen Argumenten dieserPunkt als legitimer Übergang begründet werden kann, erscheint unsheute die von Canguilhem vorgenommene Differenzierung zwi-schen einer epistemologischen und einer ethischen Dimension alsevident und selbstverständlich. Im folgenden soll demgegenübergezeigt werden, daß diese Unterscheidung keineswegs immer soselbstverständlich war, sondern daß sie vielmehr das Resultat histori-scher Prozesse ist, genauer: das Resultat von Irritationen und Debat-ten über Ziele, Wert und Grenzen von medizinischer Forschung amMenschen sowie vor allem über den angemessenen Weg von derInnovation im Reagenzglas zur Anwendung am Menschen.

Hierzu sollen zunächst zwei historische Konstellationen rekon-struiert werden, mit deren Hilfe Unterschiede im Verhältnis zwi-schen der epistemologischen und der ethischen Dimension dieserGrenzziehung sichtbar gemacht werden können: Im ersten Fall han-delt es sich um den Stellenwert des Tiermodells und den Übergangvom Tier- zum Menschenexperiment in der medizinischen Bakte-riologie zwischen etwa 1880 und 1900. Die zweite Konstellation isthistorisch im Zeitraum zwischen 1932 und 1945 situiert und betrifftdie Arbeitsfelder der Pharmakologie sowie diverser klinischer Diszi-plinen mit dem Schwerpunkt in der Chirurgie. In diesem Kontextwird auch die bisherige Interpretation der kriegschirurgischen Expe-

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rimente in verschiedenen Konzentrationslagern einer kritischenRevision unterzogen, die in eine neue Bewertung mündet.

2. Bakteriologie zwischen 1880 und 1900:Das Tuberkulin

Das im ausgehenden 19. Jahrhundert neue Arbeitsgebiet der Bakte-riologie bzw. Mikrobiologie wurde rasch zum Paradigma für die Ver-knüpfung von experimenteller Forschung im Labor und praktischerAnwendung in Klinik und Prävention.11

1 1 Vgl. dazu Bruno Latour, The Pasteurization of France, Cambridge, Mass. 1988;Gerald Geison, The Private Science of Louis Pasteur, Princeton 1995; ThomasSchlich, »Die Kontrolle notwendiger Krankheitsursachen als Strategie der Krank-heitsbeherrschung im 19. und 20.Jahrhundert«, in: Christoph Gradmann/ThomasSchlich (Hg.), Strategien der Kausalität. Konzepte der Krankheitsverursachung im19. und 20. Jahrhundert, Pfaffenweiler 1999, S. 3-28; Christoph Gradmann, Krank-heit im Labor. Robert Koch und die medizinische Bakteriologie, Göttingen 2005.

Die Gestalt Robert Kochsverkörpert – neben seinem französischen Rivalen Louis Pasteur –gewissermaßen die Essenz des bakteriologischen Krankheitsmodellsund der zugehörigen Methodik. Mit der Entscheidung, »nicht mitdem Menschen, sondern mit dem Parasiten für sich in seinen Rein-kulturen« zu experimentieren,12

12 Robert Koch, »Über bakteriologische Forschung« (1890), in: ders., GesammelteWerke, Bd. 1, hg. von Julius Schwalbe, Leipzig 1912, S. 650-660, hier S. 659.

war – wie Christoph Gradmann ge-zeigt hat – mehr als nur eine räumliche Umorientierung vom Kran-kenbett zum Labor verbunden: nämlich ein Wechsel des Untersu-chungsgegenstandes.13

13 Dies und das folgende in enger Anlehnung an Gradmann, Krankheit im Labor (wieAnm. 11), S. 171-211.

An die Stelle der Krankheitserscheinungenam Patienten traten die pathologischen Prozesse am Versuchstier.Die Krankheit wurde nun über die vom Bakterium im Versuchs-tier verursachten Abläufe und Symptome definiert. Auch wenn derKranke als Ausgangs- und Endpunkt solcher Forschung unverzicht-bar war, verschwand er doch für den zentralen Schritt der Forschungaus dem experimentellen Prozeß.

Dieses Krankheitsmodell ermöglichte Koch die Identifizierung desMilzbrand-Erregers in den 1870er Jahren und ebenso – das mach-te ihn berühmt – die Beschreibung des Tuberkelbazillus als Erregerder Tuberkulose. Koch bestätigte damit nicht nur die Verallgemei-

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