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Susan Hubbard Das Jahr der Vampire

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Susan HubbardDas Jahr der Vampire

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DIE AUTORIN

Susan Hubbard lebt in Florida und unter-richtet englische Literatur an der University of Central Florida. Ihre ersten Bücher, zwei Sammlungen mit Kurzgeschichten, wurden ebenso hoch gelobt wie »Das Zeichen des Vampirs«, ihr erster Jugendroman.

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Susan Hubbard

Das Jahr der VampireAus dem Amerikanischen von Anja Galic

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1. AuflageDeutsche Erstausgabe Oktober 2011Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform© cbj/cbt-Verlag, München 2011Alle Rechte dieser Ausgabe bei cbt/cbj Verlag, Münchenin der Verlagsgruppe Random House GmbH© 2008 by Blue Garage Co.Dieses Buch ist ein belletristisches Werk. Namen, Personen, Schauplätze und Ereignisse sind frei erfunden oder fiktiv gebraucht. Jede Ähnlichkeit mit aktuellen Ereignissen, Orten oder Personen ist rein zufällig.Erstmals erschienen 2008 unter dem Titel »The Year of Disappearances« bei Simon & Schuster, New York Aus dem Amerikanischen von Anja GalicUmschlaggestaltung: Geviert – Büro für Kommunikationsdesign, München,unter Verwendung folgender Fotos: Federn: plain-picture/C&P, Gesicht: plainpicture/AbleimagesKK · Herstellung: Sabine KittelSatz: Uhl + Massopust, AalenDruck: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 978-3-570-40088-3Printed in Germany

www.cbj-verlag.de

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Für die, die nie zurückkehren

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Es hat eben etwas Furchtbares an sich, dass der Mensch auch eine Schat-tenseite hat, welche nicht nur etwa aus kleinen Schwächen und Schönheits-fehlern besteht, sondern aus einer geradezu dämonischen Dynamik. Der einzelne Mensch weiß selten davon; denn ihm, als Einzelmenschen, kommt es unglaubwürdig vor, dass er irgendwo oder irgendwie über sich selber hinausragen sollte. Lassen wir diese harmlosen Wesen aber Masse bilden, so entsteht daraus gegebenenfalls ein delirierendes Ungeheuer, und jeder Ein-zelne ist nur noch kleinste Zelle im Leibe des Monstrums, wo er wohl oder übel schon gar nicht mehr anders kann, als den Blutrausch der Bestie mitzu-machen und sogar nach Kräften zu unterstützen. Aus dumpfer Ahnung von diesen Möglichkeiten der menschlichen Schattenseite verweigert man dieser

die Anerkennung.Carl Jung, über die Psychologie des Unbewussten

So viel Natur ist zerstört worden. Die Geister der Bäume und Gesteine wurden ihres Lebensraums beraubt und suchen die Menschen heim, weil sie keinen anderen Ort haben, an den sie gehen können. Kein Wunder, dass das

Land im Chaos versinkt.Kim Myung-Soon, loreanische Mudang (Schamanin),

Zitat aus der NEW YORK TIMES vom 7. Juli 2007

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Prolog

Jemand steht an meiner Zimmertür und beobachtet mich im Schlaf, beobachtet, wie ich die Augen öffne. Das Licht ist zu dämmrig, ich kann nicht erkennen, wer es

ist.Im nächsten Moment jedoch folge ich dem Beobachter in

den Flur hinaus und schließe die Tür. Wir gehen am Zimmer meines Vaters vorbei, wir wissen, dass er dort drin ist und schläft.

Wir riechen den Rauch. Als wir uns der Küche nähern, nimmt er Gestalt an, eine schieferfarbene Masse, die den Flur entlangwabert. Fahles Licht dringt aus der Küche, und jetzt sehen wir das Feuer – weiße Flammen, die durch dicke graue Schwaden schießen – und die schattenhaften Umrisse zweier Männer. Im ersten Moment wirkt es so, als würden sie sich umarmen, doch in Wirklichkeit kämpfen sie miteinander. Sie kämpfen um etwas, das wir nicht sehen können.

Dann bin ich wieder ich selbst.Der Beobachter geht, gefolgt von einem der Männer. Sie

schließen die Wohnungstür von außen ab. Ich höre, wie das Schloss einrastet, weiche taumelnd zurück und versuche, nicht zu atmen. Auf allen vieren krieche ich vor dem Feuer

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davon. Ich presse die Lippen zusammen, aber der Rauch brennt schon in meiner Lunge. Ein Wort versucht sich seinen Weg zu bahnen – Hilfe –, wird aber in meiner Kehle gefangen und erstickt, bevor es ausgesprochen werden kann.

Als ich aus dem Traum erwache, höre ich einen kehligen Laut. Ich habe ihn von mir gegeben – ein urtümliches Ge-räusch, das älter als die Sprache ist.

Die Stimme meiner Mutter dringt aus dem Dunkel zu mir. »Ariella? Was hast du?«

Sie sitzt an meinem Bett und zieht mich in ihre Arme. »Erzähl es mir.«

Warum erzählen wir unsere Träume denen, die wir lieben? Wo sie doch selbst für den Träumenden unverständlich sind. Sie sind der vergebliche Versuch, das Unentschlüsselbare zu entschlüsseln, einem Ereignis eine Bedeutung einzuhauchen, das wohl keine Bedeutung hat.

Ich erzähle meiner Mutter den Traum.»Du warst wieder in Sarasota«, sagt sie. Ihre Stimme ist

besonnen und ruhig. »In der Nacht, als das Feuer ausbrach.«»Wer waren sie?«, frage ich.Ihr ist klar, dass ich die schattenhaften Gestalten meine.

»Ich weiß es nicht.«»Wer hat die Tür abgeschlossen?«»Ich weiß es nicht.« Meine Mutter drückt mich noch ein

bisschen fester an sich. »Es war nur ein böser Traum, Ariella. Jetzt ist er vorbei.«

War es nur ein Traum?, frage ich mich. Ist er vorbei?

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Ein paar Tage vor meinem vierzehnten Geburtstag wachte ich in einer Art durchsichtigem zylindrischen Sarg auf – eine Druckkammer zur Sauerstofftherapie bei einer Rauchvergif-tung. Mein Vater lag auf einem anderen Stockwerk des Kran-kenhauses in einer ähnlichen Apparatur.

Die dritte Person, die von der Sarasota Feuerwehr geret-tet worden war, war Malcolm Lynch, ein alter Freund mei-nes Vaters. Die Rettungssanitäter hatten einen Führerschein in seiner Brieftasche gefunden, der ihn auswies. Aber als der Rettungswagen im Krankenhaus ankam, war die Trage leer.

Laut polizeilicher Ermittlungen war das Feuer durch Ethanol, eine hochentzündliche Flüssigkeit, ausgelöst wor-den. In der Küche hatte man einen leeren Kanister gefunden, dessen Herkunft jedoch nicht zurückverfolgt werden konnte.

Das sind die Fakten, die mir mitgeteilt wurden. Meine eigenen Erinnerungen an das Feuer sind verschwommen. Ich weiß noch, wie ich im Krankenhaus aufgewacht bin. Und ich erinnere mich an den Tag vor dem Feuer  – Malcolm, ein blonder Mann im maßgeschneiderten Anzug, stand im Wohnzimmer und erzählte meinem Vater ohne jede Reue, dass er meine beste Freundin umgebracht hatte.

Was das Feuer selbst betrifft, so weiß ich nicht, ob das, woran ich mich entsinnen kann, eine Erinnerung ist oder nur ein böser Traum.

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* E I N S *

Im Haus meiner Mutter

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Erstes Kapitel

Es war das Jahr der unfreiwilligen Abschiede. Die Ho-nigbienen verschwanden als Erste.

Die Bienenstöcke neben dem Kräutergarten, die wie alte weiße Aktenschränke aussehen, waren gespenstisch still. Normalerweise vibrierte die Luft um sie herum von Hunderten emsig zwischen den Stöcken und den Blumen hin- und herschwirrender Bienen. Und wenn ich näher kam, flogen für gewöhnlich ein oder zwei Späher zu mir heraus und umkreisten mich kaum hörbar inmitten des kollektiven Gesumme der anderen. Die Bienen kannten mich, sie spür-ten, dass ich keine Angst hatte. Manchmal schloss ich die Augen, streckte die Hände aus und fühlte, wie die Luft von den Schwingungen der winzigen Flügel pulsierte, die ab und zu die feinen Härchen an meinen Unterarmen streiften. Ich wurde nie gestochen.

Aber an diesem Augusttag kamen keine Späher zu mir he-raus. Bis auf das leise Rascheln der Palmblätter unten am Fluss war kein Laut zu hören. Als ich noch näher an die Bie-nenstöcke heranging, sah ich ungefähr ein Dutzend Bienen orientierungslos im Kreis herumirren. Andere lagen tot auf dem Boden.

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Ich hob den Deckel eines Bienenstocks an und zog eines der Rähmchen heraus. Statt zielstrebig über goldene Waben zu krabbeln, krochen die verbliebenen Bienen die Zellen ent-lang, als würde jede Bewegung ihnen Schmerzen bereiten. Ein paar von ihnen fehlten die Flügel. Der Honig war dunkel und verströmte einen beißenden Geruch. Von der Königin war nichts zu sehen.

Im Juli hatte ein Hurrikan im Citrus County von Florida gewütet und umgeknickte Bäume und beschädigte Häuser hinterlassen. Wie viele andere Häuser in Homosassa Springs hatte auch das Haus meiner Mutter danach kein Dach mehr. Anschließend zerstörte ein Tornado die verbliebenen Mauern und Fenster, die Stallungen, ein Gästehaus und den Großteil des Gartens. Wir verloren Möbel, Kleider und Bücher. Nur die Küche überlebte den Sturm wie durch ein Wunder fast völlig unversehrt. Und auch wir kamen heil davon.

Eine blaue Plane lag jetzt über den Resten unseres Zu-hauses. Wenn ich morgens aufwachte und an die Zimmer-decke aus zerknittertem blauen Plastik blickte, war mein ers-ter Gedanke Wo bin ich?, gefolgt von dem Gefühl, eingelagert zu sein, verhüllt, darauf wartend, dass das Leben von Neuem beginnt.

Jeder Morgen wurde vom ohrenbetäubenden Lärm der Wiederaufbaumaßnahmen begleitet. Meine Mutter räumte mit einem angeheuerten Arbeitertrupp den Schutt beiseite und kümmerte sich um die notwendigen Reparaturen am Haus. Zum Bohren, Sägen und Hämmern gesellte sich das Dudeln eines tragbaren Radios, das den Arbeitern gehörte.

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Am liebsten hörten sie einen Oldie-Sender, der Pop und Heavy Metal spielte, und so wachte ich regelmäßig zu den Songs von Iron Maiden, Steely Dan oder Led Zeppelin (und dann immer »Stairway to Heaven«) auf.

An dem Morgen, an dem ich die sterbenden Bienen fand, sprach der Moderator über Iron Butterfly (»Die Soul- Daddys der weltweiten Heavy-Metal-Fan-Gemeinde!«), als ich zum Haus zurückkehrte. Auf dem Küchentisch lagen Entwürfe und Blaupausen und an einer Schale mit Hafer-flocken lehnte eine Nachricht von meiner Mutter: »Ari, im Kühlschrank sind Blaubeeren. Wir gießen Beton hinterm Haus! M.«

Ich musste ihr von den Bienen erzählen, zögerte aber. Ich wollte ihr nicht noch mehr schlechte Neuigkeiten überbrin-gen.

Die Handschrift meiner Mutter neigte sich nach rechts, war groß und geschwungen und vermittelte puren Optimis-mus – ganz im Gegensatz zu der meines Vaters, die klein, senkrecht und in ihrer Gleichmäßigkeit fast schon kalligra-fisch war. Die beiden miteinander zu vergleichen, lag nahe – unter einem der Entwürfe lugte ein Brief meines Vaters her-vor. Der Umschlag war mit der für meine Mutter typischen Ungeduld aufgerissen worden und der Poststempel lautete Ballinskelligs, Irland.

Ist es falsch, die Post von jemand anderem zu lesen? Ich fand, ja. Es war eine Verletzung der Privatsphäre. Trotzdem war die Versuchung groß. Hätte Mãe (so wollte sie von mir ge-nannt werden; es war das portugiesische Wort für »Mutter«) überhaupt etwas dagegen? Schließlich hatte sie den Brief deutlich sichtbar liegen gelassen.

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Sie wusste, wie sehr ich meinen Vater vermisste. Er war erst zehn Tage fort, aber ohne ihn fühlte ich mich verlo-ren. Wohin gehörte ich? Zu ihm oder zu ihr? Sie lebten seit meiner Geburt getrennt und für einen kurzen Augenblick hatte ich sie wieder zusammengeführt. Dann war der Hur-rikan gekommen und das Feuer, das meinen Vater und mich beinahe umgebracht hätte. Seitdem habe ich manchmal das Gefühl, nirgendwohin zu gehören.

Nachdem mein Vater sich von seinen Verletzungen erholt hatte, hatte er es kaum erwarten können, sein sorgfältig kons-truiertes Leben hinter sich zu lassen und sich ein völlig neues aufzubauen.

Ich las den Brief nicht. Stattdessen schüttete ich Blaubee-ren auf meine lauwarmen Haferflocken und streute Sang-froid darüber, das gefriergetrocknete Tonikum, das ich drei-mal am Tag zu mir nahm, genau wie meine Eltern.

Mir fehlte das Talent meines Vaters, mich mühelos auf Veränderungen einzustellen. Ich genoss die kurzen Phasen, in denen alles so zu bleiben schien, wie es war, auch wenn mir klar war, dass die Dinge um uns herum einem perma-nenten Wandel unterlagen und sämtliche Lebewesen sich un-ausweichlich auf ihr eigenes Ende oder ihre Wiedergeburt zu-bewegten.

Meine langer, geflochtener Zopf fiel in die Müsli-Schale. Seufzend trug ich die Schale zum Spülbecken, wusch sie aus und säuberte mein Haar. Dann machte ich mich auf die Suche nach meiner Mutter.

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Mãe stand im Schatten eines Mangrovenbaums und sprach mit zwei Handwerkern. Sie trug einen breitkrempigen Stoff-hut, unter dem ein paar Strähnen ihrer langen kastanienbrau-nen Haare hervorschauten, eine große dunkle Sonnenbrille, eine verwaschene blaue Bluse und Jeans mit Löchern an den Knien.

Für mich war sie der Inbegriff von Eleganz. Die beiden Männer starrten sie wie hypnotisiert an.

Die Betonung liegt auf wie, also hypnotisiert im übertra-genen Sinne, sie wäre nämlich durchaus in der Lage gewesen, sie tatsächlich zu hypnotisieren. Meine Eltern und ich ver-fügen über besondere Gaben. Sie setzen ihre allerdings sehr sparsam ein.

Mãe unterbrach das Gespräch und drehte sich zu mir um. »Ich dachte, du wärst unten bei den Bienenstöcken.«

»Da war ich«, sagte ich. »Aber das solltest du dir lieber selbst ansehen.«

Sie warf mir einen besorgten Blick zu, dann entschuldigte sie sich bei den beiden Männern und folgte mir den Weg zu den Bienenstöcken hinunter. Sie waren zum Schutz vor dem Hurrikan umgesiedelt und erst vor einer Woche an ihren ur-sprünglichen Platz zurückgebracht worden.

Meine Mutter nahm die Sonnenbrille ab und ging von einem Bienenstock zum nächsten, hob die Deckel an und zog die Rähmchen heraus. »Die armen kleinen Dinger«, mur-melte sie immer wieder. »Die armen kleinen Dinger.«

»Letzte Woche ging es ihnen noch gut.« Ich hatte gehol-fen, die Bienenstöcke von den Transportern zu laden und an ihren alten Platz zu bringen.

»Ich habe mich nicht genügend um sie gekümmert.« Mãe

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blickte auf das Rähmchen in ihrer Hand. Die sechseckigen Zellen waren mit dunklem Honig und unbefruchteten Eiern gefüllt, die wie kleine Reiskörner aussahen. Aber es war keine einzige Biene in Sicht. »Ich war so mit dem Haus beschäf-tigt.« Vorsichtig schob sie den Rahmen in den Stock zurück und sah mich an. Ihre Augen waren von dem gleichen Dun-kelblau wie meine. »Wir haben schon früher Bienen verloren, aber noch nie so viele.«

»Vielleicht hat der Hurrikan sie krank gemacht?«»Möglich.« Sie klang nicht überzeugt. »Ich werde heute

Abend ein bisschen herumtelefonieren und mich bei den an-deren Bienenzüchtern erkundigen.« Ihr Kiefer spannte sich an, wie meistens, wenn sie sich Sorgen machte. »Jetzt muss ich erst mal zurück, die Handwerker haben einen straffen Zeitplan.«

»Kann ich irgendetwas tun?«»Du könntest ein bisschen im Internet recherchieren. Such

nach toten Bienen«, schlug sie mit einem schiefen Lächeln vor. »Finde heraus, ob es auch noch woanders passiert ist«, fügte sie hinzu und setzte ihre Sonnenbrille wieder auf.

Als wir zum Haus zurückschlenderten, legte sie mir plötz-lich einen Arm um die Schultern und drückte mich an sich.

»Das wird schon«, versuchte ich sie unbeholfen zu trösten. »Wir bringen alles wieder in Ordnung.«

Ich löse gerne Probleme. Mein Vater hat mir die Kunst des analytischen Denkens beigebracht – ein Problem zu definie-ren, seinen Ursprung und die Umstände zu ergründen, es dann noch einmal von allen Seiten zu betrachten und diese

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Schritte solange zu wiederholen, bis sich der wahre Kern des Problems herauskristallisiert und man ihm auf kreative und systematische Weise begegnen kann. Hat man alle möglichen Lösungen in Betracht gezogen, wird einem häufig bewusst, dass das eigentliche Problem ein anderes ist, als ursprünglich angenommen. Oft liegt es ganz woanders – manchmal ver-steckt, manchmal direkt vor einem.

Probleme lassen sich allerdings einfacher lösen, wenn der Internetzugang funktioniert, und an diesem Tag gab es mal wieder keine Verbindung.

»Ich setze mich an einen der Rechner in der Bibliothek und recherchiere dort ein bisschen im Netz«, gab ich Mãe Bescheid. »Vielleicht gehe ich auf dem Rückweg noch eine Runde schwimmen.« Ich packte ein Handtuch in meinen Rucksack.

»Bei der Hitze heute ist das ein ganz schön langer Weg.« Sie betrachtete meine abgeschnittene Jeans und das Tanktop und fragte sich, ob ich mich genügend eingecremt hatte.

Ich holte die Sonnenmilch aus dem Rucksack und ver-teilte sie zum zweiten Mal an diesem Tag auf meinem Ge-sicht, meinem Hals und auf meinen Armen und Beinen. Wie immer sah ich mich verschwommen, als ich anschließend in den Spiegel schaute. Ich musste mich extrem konzentrieren, um mein Spiegelbild scharf sehen zu können, und auch dann klappte es nur für ein paar Sekunden. Aber die reichten, um meine langen Haare, mein entschlossenes Kinn und einen weißen Sonnenmilchfleck auf meiner Nase auszumachen. Ich rieb ihn in die Haut ein.

»Um eins gibt es Mittagessen«, sagte Mãe. »Ich mache Gazpacho.«

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Grace, die blaugraue Katze, die meine Mutter vor Jah-ren aufgenommen hatte, folgte mir den staubigen Pfad zum Tor hinunter, das wir immer verschlossen hielten. Ich öffnete es und schloss anschließend wieder sorgfältig hinter mir ab. Grace blieb wie üblich davor stehen. Ich warf ihr zum Ab-schied eine Kusshand zu.

An der Kreuzung, wo der Schotterweg in eine befestigte Straße überging, machte ich kurz halt und beobachtete zwei Libellen – eine saß mitten auf der Straße, die andere schwebte ein paar Meter über ihr. Sie hatten beide durchscheinende Flügel. Die auf dem Boden hatte winzige hellblaue Kleckse auf dem Kopf und der Brust, wohingegen die in der Luft bis auf die strahlend blaue Spitze ihres Hinterleibs schwarz war. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf die Libelle auf der Straße und studierte die komplizierte und filigrane Äde-rung ihrer Flügel, als die andere sich plötzlich auf sie stürzte. Verwirrt beobachtete ich, wie die Libelle auf dem Boden sich nicht von der Stelle rührte, sondern sich seltsamerweise ein-fach attackieren ließ.

»Schschsch!« Ich wedelte mit der Hand und verscheuchte die Angreiferin. Die andere, von der ich eigentlich gedacht hatte, sie müsste verletzt sein, flog ihr eine Sekunde später hinterher.

Ich setzte meinen Weg in die Stadt fort und fragte mich, ob sie Feinde oder Freunde waren.

Homosassa Springs war ein verschlafener kleiner Ort an der Golfküste von Florida, gleich neben der Stadt Homosassa. Ich habe nie herausfinden können, wo Homosassa Springs

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endete und Homosassa anfing. Die meisten Einheimischen bezeichneten beides als »Sassa«. Die Gegend war beliebt bei Fischern, Manati-Liebhabern und Vampiren. Einige von uns fühlten sich in gleichem Maß von den Mineralquellen der Region angezogen wie von der Anonymität, die sie versprach.

Ich fuhr am Supermarkt und an der Tankstelle vorbei, dann am Murray’s, einem Restaurant, in das wir nie gingen, und schließlich an Flo’s Place, das besonders gern von Vam-piren besucht wurde. Ich winkte Richtung Postamt für den Fall, dass die Postvorsteherin gerade aus einem der getönten Fenster schaute. Sie war eine von uns.

In der Bibliothek – einem kleinen, von mit Louisianamoos bewachsenen Lebenseichen beschatteten Backsteingebäude – angekommen, setzte ich mich an einen der Computer und suchte nach Einträgen zu Libellen. Dabei lernte ich etwas äußerst Verblüffendes: Libellen sind in der Lage, sich so zu bewegen, dass ihre Beute – die sowohl Nahrung als auch zu-künftiger Paarungspartner sein kann – glaubt, ein regungs-loses Objekt vor sich zu haben. Die Tarnung funktioniert so lange, wie die Libelle an einem bestimmten Punkt zwi-schen Landschaft und ihrem Angriffsziel verharrt und für die Beute somit mit dem Hintergrund verschmilzt – bis zu dem Moment, in dem sie zuschlägt.

Das Konzept faszinierte mich. Wenn Libellen sich durch die Art, wie sie sich bewegen, tarnen konnten, konnten wir das vielleicht auch?

Dann fiel mir wieder ein, warum ich hergekommen war, und ich gab Honigbienen verschwinden in die Suchmaske ein. (Ich glaubte nicht, dass ich mit tote Bienen besonders erfolgreich sein würde.)

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Susan Hubbard

Das Jahr der Vampire

DEUTSCHE ERSTAUSGABE

Taschenbuch, Broschur, 416 Seiten, 12,5 x 18,3 cmISBN: 978-3-570-40088-3

cbj

Erscheinungstermin: September 2011

Gefährlich, mysteriös und spannend – ein Vampirthriller der besonderen Art Nachdem letztes Jahr ihre beste Freundin Kathleen ermordet wurde, versucht die HalbvampirinAriella bei ihrer Mutter in Florida ein neues Leben anzufangen – sie sehnt sich danach, alsnormaler Mensch zu leben. So freundet sie sich mit zwei Mädchen an, Misty und Autumn, undhat ihre erste Verabredung mit einem Jungen. Aber auch hier häufen sich die mysteriösenVorfälle: Ihre beiden Freundinnen verschwinden, zuerst Misty, dann Autumn. Und ständig ist dadieser unheimliche Mann mit den Augen ohne Pupillen. Ist sie die Nächste auf seiner Liste? IhreFlucht vor dem unheimlichen Unbekannten führt sie zu einem Geheimnis, das dunkler nicht seinkönnte. Nicht nur Ari ist in Gefahr. Sondern die gesamte Menschheit …