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Schwein, Sage deine geSchichte her!” tierdarstellungen in der Kinder- und Jugendliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts sebastian schmideler Für Frau Professor Dr. Ulla Fix 43 Schmideler TierdarsTellungen im 18. und 19. Jhd. Doch bald wird’s still und alles lauscht, Wies mit dem Kinde war, Das träumend durch ein Land gestreift, Gar neu und wunderbar, Und freundlich mit den Tieren sprach – Am Ende ist es wahr? (Lewis Carroll, Alice im Wunderland) Die Art und Weise, wie Tiere in litera- rischen Texten dargestellt werden, lässt sich semantisch unter dem nutz- bringenden Fachterminus der Anthro- pomorphisierung kategorisieren. 1 Der Begriff kann das semiotische Verhält- nis der jeweiligen Tierdarstellung zum menschlichen Denken und Reden über das Tier zu verstehen helfen: Jede Form unseres sprachlich-literarischen Nachdenkens über Tiere ist deshalb insofern anthropomorphisiert, als das an die Sprache gebundene Reden und Denken über Tiere im Hinblick auf das Sein des Tieres nicht für sich stehen kann. Wir nehmen das Tier gerade nicht für sich wahr, sondern stets als etwas. Unser Reden ist demgemäß immer ein Zeichen für etwas, das über das Tier gedacht und gesagt wird (vgl. zu diesem semiotisch-semantischen Zusammenhang detailliert Schmideler). Um ein spezifisches System von Kategorien derartiger literarischer An- thropomorphisierungen idealtypisch im Modell wissenschaftlich für die weitere Forschung erschließen zu kön- nen, lohnt insbesondere ein Blick auf die Popularkultur des 18. und 19. Jahr- hunderts. 2 In vielfach und langanhal- tend rezipierten literarischen Tierdar- stellungen wie dem Illustri[e]rten Thierleben des „Tiervaters“ Alfred Ed- mund Brehm werden solche Muster der verschiedenen Formen der litera- rischen Präsentation von Wissen über Tiere in all ihrer Gebundenheit an das menschliche Reden und Denken über

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„Schwein, Sage deine geSchichte her!”

tierdarstellungen in der Kinder- und Jugendliteratur

des 18. und 19. Jahrhunderts

sebastian schmideler

Für Frau Professor Dr. Ulla Fix

43

Schmideler TierdarsTellungen im 18. und 19. Jhd.

Doch bald wird’s still und alles lauscht,

Wies mit dem Kinde war,

Das träumend durch ein Land gestreift,

Gar neu und wunderbar,

Und freundlich mit den Tieren sprach –

Am Ende ist es wahr?

(Lewis Carroll, Alice im Wunderland)

Die Art und Weise, wie Tiere in litera-rischen Texten dargestellt werden,lässt sich semantisch unter dem nutz-bringenden Fachterminus der Anthro-pomorphisierung kategorisieren.1 DerBegriff kann das semiotische Verhält-nis der jeweiligen Tierdarstellung zummenschlichen Denken und Redenüber das Tier zu verstehen helfen: JedeForm unseres sprachlich-literarischenNachdenkens über Tiere ist deshalbinsofern anthropomorphisiert, als dasan die Sprache gebundene Reden undDenken über Tiere im Hinblick auf dasSein des Tieres nicht für sich stehen

kann. Wir nehmen das Tier geradenicht für sich wahr, sondern stets als

etwas. Unser Reden ist demgemäßimmer ein Zeichen für etwas, das über

das Tier gedacht und gesagt wird (vgl.zu diesem semiotisch-semantischenZusammenhang detailliert Schmideler).

Um ein spezifisches System vonKategorien derartiger literarischer An-thropomorphisierungen idealtypischim Modell wissenschaftlich für dieweitere Forschung erschließen zu kön-nen, lohnt insbesondere ein Blick aufdie Popularkultur des 18. und 19. Jahr-hunderts.2 In vielfach und langanhal-tend rezipierten literarischen Tierdar-stellungen wie dem Illustri[e]rten

Thierleben des „Tiervaters“ Alfred Ed-mund Brehm werden solche Musterder verschiedenen Formen der litera-rischen Präsentation von Wissen überTiere in all ihrer Gebundenheit an dasmenschliche Reden und Denken über

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das Animalische in nuce erkennbar.Doch diese Muster finden sich inebenso herausragender Formenvielfaltin der Kinder- und Jugendliteratur(KJL)3 dieses Zeitraums, die ein unver-zichtbar bedeutsamer Teil dieser po-pularkulturellen Tierdarstellungen ist.Dies wurde von der einschlägigenForschung bislang noch zu wenigwahrgenommen.

Im Folgenden soll die Entwicklungvon Tierdarstellungen in der KJL des18. und 19. Jahrhunderts in Hinsichtauf ein derartiges Kategoriensystemtypischer Formen der Anthropomor-phisierung im Überblick entwickeltund an einzelnen Beispielen demons-triert werden. Meine Hauptthese isthierbei, dass sich die Art und Weiseder literarischen Präsentation vonWissen über das Sein des Tieres inner-halb der Wissenskultur dieses Zeitrau-mes im Prinzip auf fünf idealtypischeKategorien anthropomorphisierenderDarstellungsformen zurückführen lässt,die zwar in den konkreten Textquellenzumeist in Mischformen auftreten4, aberim Folgenden systematisch abstrahiertals Grundkategorien des Phänomensder Anthropomorphisierung vorgestelltwerden sollen. Diese Entwicklungeiner spezifisch kinder- und jugendli-terarischen Form anthropomorphisie-render Tierdarstellung beginnt mitdem Stilmittel, sprechende Tiere in

sacherzählenden bzw. informations-orientierten Kinder- und Jugendschrif-ten zu inszenieren.

„Schwein, sage deine ge-

schichte her!“ n

Die ersten sprechenden Tiere in einersacherzählenden Darstellung für jungeLeser lassen sich in einem ungewöhn-lichen naturhistorischen Kinderbuchdes 18. Jahrhunderts nachweisen. Dortwird im Abschnitt zu den „Säugethie-ren“ sogar ein Schwein mit ziemlichdeutlichen Worten dazu aufgefordert,seine Geschichte zu erzählen:

Schwein, sage deine Geschichteher! […] Du solst und must siehersagen, du wüste garstige Sau!Kanst du dich immer im Koth undMist herumwälzen, und Aekkerund Wiesen und Gärten durch-wühlen, und sonst noch allerhandUnfug treiben, so kanst du auchdas thun. Rede also, oder dukriegst Schläge. (Raff, 579)

Die derart grob Angesprochene erwi-dert daraufhin ausgesucht höflich, ge-witzt und ganz im Stil eines zeittypi-schen Modekavaliers von Stand mitbelehrender Intention:

So! Sie wollen mich also zwingen?Nun, das ist lustig! Wissen Siedenn aber auch, daß die Peitschedurch meine groben Borsten, harteHaut und dikken Speck nichtdurchgeht, und ich sie also nichtsonderlich fühle und fürchte?

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Oder wollen Sie mich prügeln,und mir Kopf und Füsse entzweischlagen? Ich dächte, Sie soltenBeides bleiben lassen, wenn SieNuzen von mir haben wollen.(Raff, 579)

Diese Szene, die trotz ihrer ziemlichderben Komik im Hinblick auf ihre li-terarische Struktur so bestechend mo-dern anmutet, dass sie durchaus auchaus Max Kruses Urmel-Büchern stam-men könnte, in der Wutz, die Sau, be-kanntlich eine Sprachschule unterhält,findet sich in der originellen und bisheute lesenswert gebliebenen Naturge-

schichte für Kinder aus dem Jahr 1778von Georg Christian Raff.

Sprechende Tiere kannten auch dieKinder dieser Zeit bereits, allerdingsbegegneten die jungen Leser des 18.Jahrhunderts derart redegewandtenanimalischen Zeitgenossen damalsausschließlich nur in den zahlreichenFabelbüchern und in den gedrucktnoch kaum verbreiteten Tiermärchen.Dass der Verfasser der Naturge-schichte, von Beruf Pädagoge in derFunktion eines Konrektors in Göttin-gen, sogar ein Schwein in einen nütz-lichen und belehrenden Dialog mitseinen jungen Schülern in der Natur-geschichte von Stand treten lässt, andie das Lese- und Lehrbuch primärgerichtet war, ist deshalb durchausungewöhnlich – und nicht ohne eingewisses Quantum an Ironie. Denn

das sokratische Lehrgespräch, also derzu jener Zeit zumeist in einem geho-benen bürgerlichen oder auch adligenMilieu von einem dazu speziell ausge-bildeten Mentor geleitete und mit vielGelehrsamkeit betriebene Diskurszwischen Lehrer und Zögling, war diebeliebteste und in der zweiten Hälftedes 18. Jahrhunderts modernste päda-gogische Form der Wissensvermitt-lung für die „gebildeten Stände“. Derdafür einst viel gerühmte Kinder- undJugendschriftenverfasser JoachimHeinrich Campe hatte diese Dialog-struktur in seinen Büchern für jungeLeser bis zur Perfektion forciert5 – undnicht zuletzt Raff selbst war Meistereiner ebenso eleganten wie anschauli-chen Dialogführung, der die Kunstdieser Darstellungsweise entschei-dend vorangebracht hatte6 undCampe dabei an Witz und Verstandbei weitem übertraf. Doch wenn Raffsich hier ausgerechnet im Gesprächmit einer „wüsten garstigen Sau“ die-ser Methode bediente, wurde dieTragweite dieser damals insbesondereim wohlsituierten Bürgertum geachte-ten Erzählpraxis auf ziemlich despek-tierliche Weise bewusst auf dasviehisch Animalische ausgedehnt.Dies ging bis über die Grenzen derstets um Fortschritt der Zivilisation,Verfeinerung der Sitten, Perfektibilität,Bildung und um strenge Mäßigung

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bemühten Schicklichkeit des 18.Jahrhunderts hinaus.

Das sprechende Tier in einemhauptsächlich trockene Fakten zurNaturgeschichte vermittelnden Kin-derbuch dokumentiert jedoch fernabseiner komischen Qualitäten und derbis heute vergnüglichen Tendenz zurSelbstironisierung der sokratischenLehrmethode primär ein gewachsenesliterarisches Bewusstsein des Verfas-sers für die Fiktionalität im sacherzäh-lenden und informationsorientiertenBuch für junge Leser – ein ästhetischesFeingespür, das für das 18. Jahrhun-dert kaum hoch genug veranschlagtwerden kann. Bis heute ist Raffs Werkdeshalb ein höchst ungewöhnlichesadressatenspezifisches Sachbuch ge-blieben. Die, gemäß der Poetik desHoraz, ebenso unterhaltsame wienutzbringende Methode, die Tiere imInteresse der Aufmerksamkeit der jun-gen Leser trotz der nach wie vor imFokus stehenden Wissensvermittlungselbst sprechen zu lassen, ist zu Leb-zeiten Raffs noch ein überaus gewag-tes, ja riskantes Unterfangen gewesen,obwohl die in hohem Ansehen ste-hende Fabeltradition ein solchesVerfahren prinzipiell auch in der Wis-sensdarstellung nahegelegt hätte.Demgemäß ließ auch harsche Kritiknicht lange auf sich warten, zumal esin Raffs Naturgeschichte nicht nur

sprechende Schweine gab. Der geist-reiche Epigrammatiker und SatirikerAbraham Gotthelf Kästner urteilte mitspitzer Feder:

Hier sind die Tiere sprechend an-gekommen, / Allein der Esel aus-genommen, / Die Rolle hat derAutor übernommen. (zitiert nachBrunken, 1027)

So zeigt sich an entscheidenden epo-chengeschichtlich innovativen Gestalt-wandelphänomenen wie diesemeinmal mehr paradigmatisch, wiestark Tierdarstellungen in der Ge-schichte der Kinder- und Jugendlitera-tur (vgl. allgemein einführend Haas)von jeweils zeitspezifischen Tenden-zen geprägt und semantisch konno-tiert worden sind – seien sie nunpädagogisch, sozialhistorisch, kultur-geschichtlich oder literarisch-gat-tungsspezifisch intendiert. Die litera-rische Rede über das Tier ist deshalbin allen denkbaren Spielarten und Fa-cettierungen immer primär Rede überden Menschen.

Dies vorausgesetzt, lässt sich einSystem der Formen derartiger Anthro-pomorphisierungen entwickeln, umdie verschiedenen Erscheinungen desPhänomens ordnen zu können. Insbe-sondere im Werk des „Tiervaters“ Al-fred Edmund Brehm, dem vielseitigversierten Erfinder und Vollender des„Illustri[e]rten Thierlebens“, das im 19.

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Jahrhundert gleichsam zu seinem eige-nen literarischen Gattungsmusteravancierte, finden sich entscheidendeDarstellungsformen des Anthropomor-phen in der literarischen Tiergestaltungin nuce vereint.7 Aus der Analyse sei-nes Werks (vgl. Schmideler8) lassen sichim Modell fünf von mir herausgearbei-tete idealtypische Kategorien der Tier-darstellung gewinnen, die imFolgenden exemplarisch anhand derKinder- und Jugendliteratur des 18.und 19. Jahrhunderts entwickelt wer-den sollen, sodass ein möglichst diffe-renzierender Überblick über dieverschiedenen Formen der Anthropo-morphisierung entstehen kann.

die scientiamorphe dar-

stellungsweise d

Die Beschreibung und Schilderungvon Tieren war in der sacherzählen-den oder vielmehr informationsorien-tierten Kinder- und Jugendliteraturdes 18. und 19. Jahrhunderts, die pri-mär der Wissensvermittlung diente,Hauptaufgabe der sogenannten „Na-turgeschichte“.9 Diese Darstellungenorientierten sich streng an den fach-wissenschaftlichen Klassifikationen,Systemen und Nomenklaturen, dievon professionellen „Naturhistori-kern“ für spezialisierte Fachkollegenetabliert worden waren. Sie dientenzumeist einer systematisch belehren-

den, naturwissenschaftlich orientier-ten Vermittlung von naturgesetzmä-ßig dargestelltem Fachwissen. Weil siedie vorurteilsfreie Rationalisierungder Bildung der Jugend intendierten,kamen sie den aufklärerischen Ten-denzen zu einer verstärkten Hinwen-dung zur Natur und der Erforschungder in ihr wirkenden Gesetze sehr ent-gegen. Viele dieser umfassenden undnicht selten mehrteiligen und dicklei-bigen Bände sind überaus komplexeKompendien, die sich außerordentlichnah an die professionellen wissen-schaftlichen Darstellungen anlehnen.Sie wurden deshalb nicht selten alsLehrbücher verwendet. Beispiele hierfürsind Johann Jacob Eberts mit Kupfernillustrierte und in Briefen verfassteNaturlehre für die Jugend (1776-1778)in drei Bänden sowie Johann PeterVoits Unterhaltungen für junge Leute

aus der Naturgeschichte (1786) und

Abb. 1: Frontispiz zu Brehms Thierleben

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Carl Philipp Funkes Naturgeschichte

für die Jugend (zuerst 1804 unter demTitel Vorbereitung zur Naturgeschichte),die noch 1864 in elfter Auflageerschien.

Die Rede von den Tieren in diesenadressatenorientierten Naturhistorienist wissenschaftsspezifisch und folgtstreng den Gesetzen der Klassifikationund dem Beschreibungsinstrumenta-rium der Naturwissenschaft; sie istscientiamorph. Eine besonders typi-sche, vorrangig an der Darstellung mitMaß und Zahl interessierte systemati-sche Beschreibung findet sich bei-spielsweise in dem dreibändigenHandbuch der Naturgeschichte für die Ju-

gend und ihre Lehrer (1821) von Fried-rich Philipp Wilmsen, die mehr alsdreitausend (!) Druckseiten im Quart-format umfasst und zudem mit einemaufwändig gestalteten und prachtvollvon Hand illuminierten Atlas mitKupfertafeln ausgestattet wurde, dienaturwissenschaftlich abgesicherteTierdarstellungen zeigen. Diese denhöchsten Ansprüchen genügendeAusgabe war primär für Zöglinge „ge-bildeter Stände“ bestimmt, deren El-tern sich das ebenso umfangreiche wiekostbare Werk leisten konnten undderen Erzieher diese Verfeinerung dernaturwissenschaftlichen Bildung biszu diesem hohen Grad der Spezialisie-rung forcierten. Ein Beispiel für die

darin vorherrschende wissenschaftli-che Rede über das Tier möge genügen,um das Prinzip der Anthropomorphi-sierung zu veranschaulichen. Überden „Meeraal“ heißt es im Abschnittzu den „Fischen“ in scientiamorpherDarstellungsweise zur wissenschaftli-chen Kennzeichnung dieses Tieres mitMaß und Zahl:

Die weiße Seitenlinie und die ver-wachsene After-Rücken- undSchwanz-Flosse dienen zum Kenn-zeichen dieses Fisches. In der Kie-menhaut zählt man zehn, in derBrustflosse 19, und in der ver-wachsenen After- Schwanz- undRückenflosse 306 Strahlen. (Wilm-sen, 226)

Diese derart um exakte numerischeAngaben bemühten scientiamorphenDarstellungen waren jedoch nicht nur,wie man zunächst annehmen könnte,

Abb. 2: Friedrich Philipp Wilmsen Handbuchder Naturgeschichte für die Jugend und ihre Lehrer

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für die Knabenlektüre bestimmt, son-dern auch als Lesestoff für Mädchenbeliebt, obgleich ihnen im Gegensatzzu den jungen Männern der Zugangzur Universität, auf den diese stattli-chen Bände nicht zuletzt vorbereitensollten, noch lange versagt blieb. Einweiteres Beispiel für diese geschlechts-spezifische Doppeladressierung istFelix Martins Naturgeschichte für die Ju-

gend beiderlei Geschlechts (zuerst 1844),die 1869 bereits in sechster, um 1891 inzwölfter Auflage erschien und nochum 1905 auf dem Jugendbuchmarktgreifbar war.10

die zoomorphe darstel-

lungsweise l

Eine innerhalb der adressatenorien-tierten Tierbücher des 18. und 19. Jahr-hunderts insgesamt verstärkt auftre-tende Form der Anthropomorphisie-rung ist die zoomorphe Darstellungs-weise. Hierunter sind Tierdarstellung-en zu verstehen, die jenseits der aus-schließlich wissenschaftssprachlich-fachterminologischen, naturgeschicht-lich orientierten wissenschaftlichenKlassifikation in den Lehr- und Hand-büchern für junge Leserinnen undLeser eine betrachtende, auch derUnterhaltung dienende spannendeSchilderung von Leben und Verhaltendes Tiers innerhalb seiner Umwelt be-absichtigten. Mit den wachsenden

Ansprüchen an die anschaulich erzäh-lende Zurichtung von Wissen überNatur, Tiere und Umwelt tritt dieseDarstellungsform, trotz vieler Vorläu-fer, vermehrt seit der zweiten Hälftedes 19. Jahrhunderts in Erscheinung,als populäre Tierschilderungen wieAlfred Brehms Betrachtungen, die u.a.in der vielfach rezipierten Familien-zeitschrift Die Gartenlaube veröffent-licht wurden, zu einer beliebten Frei-zeitlektüre aller Stände wurden.

Nicht wissenschaftlich exakte Be-schreibung, sondern spannungsvolleSchilderung des Tierlebens, die episo-denhafte Veranschaulichung der Le-bensbedingungen und die literarischavancierte Darbietung von charakte-ristischen Szenen, die gleichsam, je-doch stets auf naturwissenschaftlichgestützter Grundlage, das „Wesen“des Tieres demonstrieren sollen, sinddas Ziel dieser Form der Anthropo-morphisierung. Die jungen Leserin-nen und Leser sollen hier durchGeschichten, Begebenheiten undspannende Schilderungen die Eigen-arten, Verhaltensweisen und Beson-derheiten von Tieren verstehen undsich gleichsam von dem natürlichen„Charakter“ der jeweiligen Tiere empa-thisch ein eigenes Bild machen können.Die zoomorphen Tierschilderungendienen demgemäß der inneren Vor-stellungsbildung im Kontext einer

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naturwissenschaftlich orientierten äs-thetischen Wissensvermittlung. Zielist nicht die klassifikatorische Refle-xion über Themen wie den Körperbauder Tiere, sondern die vitalistischeund animistische Veranschaulichungvon Tiercharakteren in ihrer Umweltund in ihren Verhaltensweisen. Diesgeschieht zumeist durch Visualisie-rungen in Illustrationen und spezielleFormen des anschaulichen Erzählens.Diese visualisierende Komponentewird in der Form der „Studie“, die be-wusst Nähe zur Genremalerei inten-diert, beispielsweise in den Natur-

studien. Skizzen aus der Pflanzen- und

Thierwelt (2 Bde. 1856f.), von HermannMasius deutlich. Hier werden Tierpor-träts in Verbindung mit exotischenund europäisch-einheimischen Land-schaftsbildern geschildert, jedoch auchHaustiere in visualisierendem Kontextcharakterisiert. So heißt es über dieHauskatze und ihre Welt in charakte-ristischer Korrelation der erzählendenProsa zu Techniken der Malerei:

Es gibt Stillleben, Idyllen im Stüb-chen der Großmutter, die man nievergißt. Vor den Fenstern des lie-ben Hauses blüht der Kirschbaumund die Bienen summen undwühlen in den Kelchen. Innen, imGemach tickt die Uhr, duftet einVeilchenstrauß, liegt stummer,goldener Sonnenschein; aber aufden Polstern des Armstuhls

streckt sich die Katze. Sie ruht imHalbschlaf und schnurrt. Wenhätte solch ein Bild nicht irgendeinmal schon traulich angespro-chen? (Masius, 246)

Auch Hermann Wagners Naturgemälde

der ganzen Welt. Abbildungen aus dem

Thier- und Pflanzenreich aller Zonen für

die Jugend (1870) sind für diese Ten-denz lebensvoller Schilderungen in-nerhalb der zoomorphen Darstell-ungsform sehr charakteristisch. InAdolf Hammers Europas Tierwelt in

Bildern (1891) werden hingegen kurze,spannende Auszüge aus den Werkenvon bekannten und damals vielgelese-nen Tierschriftstellern wie AlfredBrehm und anderen beobachtendenWeltreisenden sowie Aufsätze überTiere aus Jugendzeitschriften und-schriften zu einer Reihe derartiger an-schaulicher Bilder des Tierlebens ver-sammelt. Ein typisches Beispiel für

Abb. 3: „Hauskatze”, aus: Hermann Masius’ Natur-studien: Skizzen aus der Pflanzen- und Thierwelt

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eine derartige zoomorphe Darstel-lungsweise ist auch Das Buch der Tier-

welt. Lebensbilder und Charakterzeich-

nungen aus dem gesamten Tierreich

(1892) von Wilhelm Lackowitz. Die an-schauliche und umfassende Inkorpo-ration der Beschreibung des Tierlebensin Landschaftsbilder und Naturszenenwird hier – nur ein Beispiel unter vie-len ähnlichen – im Lebensbild der Gi-raffe deutlich, das wiederum die Nähezur Malerei in der Darstellungsformunterstreicht:

Das ganze Innerafrika, von Nu-bien bis zum Kapland ist die Hei-mat der Giraffe. Hier lebt sie nichtin der Wüste, auch nicht in dem ei-gentlichen Walde, sondern in derbuschigen Steppe, wo die schirm-förmigen, mit Schlingpflanzen undFlechten behangenen Mimosenge-büsche ihre Lieblingsweideplätzebilden. Mit der langen, wurmförmi-gen Zunge pflückt sie Blätter undZweige; das Weiden auf der Erdeist ihr mühevoll, denn um mit demMaul die Erde zu erreichen, ist siegenötigt, die Vorderbeine weit aus-einander zu spreizen. In den lichtenMimosengebüschen verschmelzendie Tiere infolge ihrer Färbungund ihrer Höhe so völlig mit derLandschaft, daß sie aus einiger Ent-fernung nur schwer zu unterschei-den sind. (Lackowitz, 289)

Im Bereich des Bilderbuches doku-mentieren bereits Buchtitel wie Der

Tierfreund. Reichhaltiges und belehrendes

Bilderbuch mit naturwahren, farbenpräch-

tigen Bildern (um 1900) von Albert Kullmit spannenden Schilderungen von A.Schwarz die zoomorphe Dimensionder Tierdarstellung. Eine Besonderheitbilden dabei die Zoobücher, die dashauptsächlich städtische Bedürfnisnach Tierbeobachtung auch adressa-tenorientiert bedienen, da die Zoologi-schen Gärten im 19. Jahrhundert diealten Tiermenagerien auf Jahrmärktenablösten und auch zu einem neuenZentrum des Unterhaltungsbedürfnis-ses der Jugend avancierten. Tierbücherwie Die kleine Menagerie. Schaulust für

das zarte Jugendalter in Abbildungen der

merkwürdigsten Säugethiere in 8 colorir-

ten Stahlstichen (1854) deuten nochdiese Tradition der Tiermenagerien an,während ein nur wenig später erschie-nenes Bilderbuch wie Der Zoologische

Abb. 4: Wilhelm Lackowitz: Das Buch der Tierwelt:Lebensbilder und Charakterzeichnungen aus demgesamten Tierreich

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Garten mit Thieren aller Arten in Bildern

und Gedichten und vielerlei Geschichten

(1863) von Julius Zähler bereits dasdem Unterhaltungsbedürfnis und derpopulären Bildung dienende gleich-sam „moderne“ Tierleben im Zoologi-schen Garten des 19. Jahrhunderts inBild, Wort und Vers schildert. Auf un-terhaltsame Weise soll Wissen über dasTierleben im stimmungsvollen Bilder-buch erlernt werden, um den Besuchim Zoologischen Garten zu einem grö-ßeren Vergnügen werden zu lassen:

Größ’re Freude wird erwarten /Euch im zoolog’schen Garten, /Wenn ihr fleißig erst gelesen / Vonder Thiere Art und Wesen, / Wo siewohnen, wie sie leben, / WelchenNutzen sie uns geben, / Ob siegrimmig sind und heiter, / Ob sieschaden und so weiter. / DarumKinder, groß und klein, / Guckt insBuch mit Fleiß hinein! / Und treff’ich euch bei den Thieren, / Werd’ich euch examinieren. (Zähler,Vorwort)

In Der Thiergarten zu Lilienthal. Ein un-

terhaltendes naturgeschichtliches Bilder-

und Lesebuch für Knaben und Mädchen

(1817) hat hingegen der Verleger CarlFriedrich Amelang sogar Bilder fürden Verfasser Heinrich Rockstroh vor-gegeben, die jeweils heimische Tierar-ten in kolorierten Kupfertafeln desvielfach für diesen Verlag arbeitendenIllustrators Meno Haas zeigen, zu

denen sich Rockstroh derartige kleineBegebenheiten erfand, die, in Dialog-form vermittelt, dem Zweck dienen,das Verständnis für das zoomorphe„Wesen“ des jeweils dargestellten Tie-res anschaulich zu fördern.11

Doch insbesondere in der Kinderli-teratur, die zumindest im 19. Jahrhun-dert zumeist nach dem Grundsatzverfuhr, vom Naheliegenden zum All-gemeinen zu didaktisieren, sind nichtprimär Studien der exotischen Tiere,sondern zunächst zoomorphe Bilder-bücher zum Leben der Haustiere vonherausragender Bedeutung gewesen,wie beispielsweise das Kinderbuch Bil-

derbuch aus dem Leben der Hausthiere vonFriedrich Lossow (1870) belegen kann.Auch in Kinderalmanachen wie Theklavon Gumperts Herzblättchens Zeitver-

treib sind innerhalb der dort enthalte-nen Tiergeschichten Darstellungen vonHaustieren auffallend häufig. Teilweiseist der Anspruch dieser Tiererzählun-gen bereits relativ hoch. In der Erzäh-lung Fritz und sein Kätzchen (1863) vonGräfin Thekla von Baudissin wird denKindern ein sehr verantwortungsbe-wusster Umgang mit Haustieren ver-mittelt.12 Sogar zoomorphe Reflexionenüber den Unterschied des Verstands voneinem kleinen Jungen zu demjenigeneiner Katze werden in die Erzählungintegriert.13 Ähnliches gilt für die ineinem Heftchen der Jugendbibliothek

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des Verfassers erschienene Jugender-zählung Fedor und Luise, oder: Die Sünde

der Thierquälerei (1843) von Gustav Nie-ritz, einem vielgelesenen Jugend-schriftsteller des 19. Jahrhunderts. Hierwird in anschaulichen Szenen und Epi-soden innerhalb einer zusammenhän-genden und dramatisch entwickeltenGeschichte vorbildliches und abschre-ckendes Verhalten gegenüber Tierengeschildert. Das Spektrum dieser fürbiedermeierliche Verhältnisse ausge-sprochen innovativ wirkenden Verhal-tenslehre über den Umgang mit Tierenin Gestalt einer längeren moralischenJugenderzählung reicht von der War-nung vor übertriebener Tierliebe undvor der Misshandlung von Tierenüber die Ermahnung zu gewissenhaf-ter Pflege von Heimtieren bis hin zueiner ausführlichen Schilderung vonTierquälerei während der Jagd.

die poetomorphe darstel-

lungsweise

Die poetomorphe Form der Anthropo-morphisierung von Tierdarstellungenist dadurch gekennzeichnet, dass siedie Literarisierung der Tierschilde-rung über zoomorphe Details der Be-schreibungen hinaus bezweckt undTierbilder in einer verstärkt literari-schen Form vermittelt. Dies ist nichtnur in den zahlreichen Tierfabeln des18. Jahrhunderts der Fall, die sich in-

nerhalb der Kinder- und Jugendlitera-tur großer Beliebtheit erfreuten. Über-all dort, wo adressatenorientierte Tier-darstellungen verstärkt unterhaltendeFunktionen erfüllen, ist ein zuneh-mender literarischer Anspruch er-kennbar, der durch poetomorphe For-men gekennzeichnet ist. Dies beginntbereits bei Jugendschriften wie derUnterhaltenden Naturgeschichte für die

Jugend (1824), die der Erlanger huge-nottische Schriftsteller Johann Hein-rich Meynier unter dem PseudonymL. R. Iselin veröffentlichte und die die-sen gewachsenen literarischen poeto-morphen Anspruch zumindest imTitel führt. Auffälliger ist diese Dar-stellungsweise in den Erzählungen aus

dem Leben der Thiere (um 1865) vonFriedrich Wilhelm Brendel akzentu-iert, in denen eine große Anzahl vonAnekdoten, zumeist kurzen Begeben-heiten, kleinen Episoden und Ge-schichten über Tiere unterhaltsam er-zählt versammelt ist.14 Idealtypisch istdie poetomorphe Darstellungsweisejedoch in Wilhelm Ahlers Die Notabili-

täten der Thierwelt (1869), dargestellt insechs „Bilderkränzen“, umgesetzt, indenen diese literarisch anspruchs-volle, poetische Vermittlungsform ex-pressis verbis als ästhetisches Ziel derTierschilderung hervorgehoben wird:

Es giebt eine Reihe meist liebli-cher, theilweise aber auch düsterer

Schmideler TierdarsTellungen im 18. und 19. Jhd.

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Bilder, worin wir Thiere aus ältes-ter und neuerer Zeit dargestelltsehen, die durch gewisse, meis-tentheils gemüthliche Beziehun-gen zu einzelnen, und besonderszu hervorragenden Menschen inein solches Verhältniß getretensind, oder solchen Einfluß aufderen Schicksal gehabt haben, daßsie dadurch deren und der Mit-und Nachwelt unvergänglicheDankbarkeit und Anerkennungsich erworben […] haben, daß siemehr oder weniger eine bleibendeAufmerksamkeit erregten und aufsolche Weise nicht selten sogar imGewande des Sprichworts erschei-nen. So ist es gekommen, daß siegleichsam als Prototypen ihrerGattung in einem gewissenRuhme leben und durch die Poe-sie, Malerei, Sculptur, sowie durchden Mund des Volks, ja theilweiseselbst in der Geschichte gepriesenund verherrlicht sind. (Ahlers, 5)

Die gleichsam poetisch nobilitiertenTierindividuen wie der sprichwörtli-che Bary, der menschenrettende Bern-hardiner im schweizerischen St. Ber-nard, der lebendige, später zu literari-schem Weltruhm gelangte Kater Murrvon E.T.A. Hoffmann oder selbst dergegenwärtig weitaus weniger be-rühmte Papagei Kaiser Karls V. sinddemnach Repräsentanten ihrer Gat-tung und damit Gegenstand ästheti-scher Reflexionen, die Tiere poetischebenso wie die Heldentaten gefeierterHeroen der Weltgeschichte überhöhen

und wegen ihrer Berühmtheit als „No-tabiltäten“ bei den jungen Rezipientenfür den hier individualisierten Wertdes Tieres als Mitgeschöpf sensibilisie-ren sollen. Nicht zufällig entstammtdiese Jugendschrift dem Umfeld derTierschutzbewegung, die sich für all-gemeine und spezifische Tierrechteeinsetzte.

Typisch für poetomorphe Formensind im Kontext der Konjunktur derKultur- und Sittengeschichte insbe-sondere in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts überdies alltagspoeti-sche Reflexionen wie diejenige überDie Kuh im Sprichwort von Tobias Kuh-mann, die sich in dem JugendbuchEuropas Tierwelt in Bildern findet (vgl.Hammer, 124). Neben derartigen Rei-men und Sprüchen, „geflügelten Wor-ten“ und geistvollen Zitatenberühmter Dichter sind es insbeson-dere tierspezifische Gedichte und Bal-laden aus allen Epochen derLiteraturgeschichte oder Auszüge da-raus, die der ästhetischen Bildung derJugend dienen sollen und denen inden adressatenorientierten Tierdar-stellungen als Teil der literarischen Bil-dung ein nicht unerheblicher Platzzugestanden wird. Sie reichen bis hinzu ausführlichen Zitaten hochpoeti-scher lyrischer Bauformen vonGedichten Friedrich Hölderlins (vgl.hierzu den Artikel von Hermann Ma-

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sius in Hammer, 179). Diese poeti-schen Annäherungen an das Tier sindTeil einer ästhetischen Erziehung, inder ein Bildungsverständnis verfolgtwird, in der die Natur und ihre Er-scheinungen in harmonischer Ganz-heit nicht nur wissenschaftlich-exakt,sondern auch literarisch-reflektierendwahrgenommen werden sollten.

die mythomorphe darstel-

lungsweise

Literarische Tierdarstellungen sindseit jeher stark von Einflüssen ausMythos und Religion geprägt. Ob dieTiermetaphorik in der Bibel, derenSpektrum von der sündhaftenSchlange im Buch Genesis des AltenTestaments bis hin zum Lamm Gottes(Agnus Dei) als Symbol der Gottes-knechtschaft Christi reicht, die allesLeiden in der Welt überwindet, in derOffenbarung des Johannes im NeuenTestament, oder auch die Tiercharak-tere der antiken Mythologie wie derStier Europas oder Ledas Schwan –sie alle sind mythologischen Ur-sprungs. Ebenso wie die im 18. und19. Jahrhundert vermehrt auftreten-den pantheistischen Tierdarstellun-gen sind sie Ausdruck einer dominantmythomorphen Darstellungsweisedes Tieres.

Der Einfluss mythologischer Ur-sprünge lässt sich selbst in naturkund-

lich orientierten Tierbüchern für jungeLeser nachweisen. Besonders das ausder Bibel bekannte desavouierendeBild der verführerischen, falschen,sündhaften und gefährlichen Schlangeals diabolisches Tier wird gern in der-artigen Darstellungen weitertradiert.Im Buch der Tierwelt von WilhelmLackowitz heißt es im Rekurs aufdiese altbiblisch-mythologische Di-mension der Tierschilderung:

Gegenstand der Furcht sind dieSchlangen alle, auch diejenigen,welche als ganz harmlose Tiere be-trachtet werden müssen. Aber dieeinen flößen durch ihre gewaltigeGröße und Kraft, die anderndurch den tückischen Giftsaft, alleaber eine so berechtigte Scheu ein,daß es kein Wunder ist, wennauch die ungefährlichen infolgeverborgenen, schleichenden Le-bens gemieden werden. (Lack-owitz, 640)

Neben adressatenorientierten Tier-schilderungen, die mythologischeTiere und Tiersymbole entweder un-gefiltert oder adressatenorientiert anjunge Leser, z.B. in spezifischen Sagen-bearbeitungen oder Bibeln für die Ju-gend, vermitteln oder innerhalb derDarstellungen die mythomorphe Tra-ditionen, die mit der jeweiligen Tierartverquickt sind, weiterführen, sindes speziell Beschreibungen, die denMythos der Jagd in Verbindung mit

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geographischer Wissensvermittlungverherrlichen, von denen insbeson-dere im 19. Jahrhundert ein bedeu-tender Einfluss auf die Kinder- undJugendliteratur ausgeht. Dramatisch-fesselnd geschildert, mit Abenteuernund spannenden Szenen mannigfachverquickt, geht von diesen Jagddar-stellungen offenbar eine besondersgroße Faszination aus, da sie sichhäufig nachweisen lassen. W. Hoff-manns Charakterbilder aus der Thier-

welt verschiedener Welttheile zur

Belehrung und Unterhaltung der Jugend

(1862) ist weniger eine geographisch-naturwissenschaftliche Tierkunde inder Tradition der naturgeschichtli-chen Darstellungen als vielmehr eineVerherrlichung der verschiedenenFormen der Jagd in allen Erdteilen.Das Spektrum reicht von der Eisbä-renjagd am Nordpolarmeer über dieLöwenjagd in Äquatorialafrika bishin zur Wildschweinjagd im westeu-ropäischen Frankreich. Der Mythosder Jagd und die mit ihm verbundeneIndienstnahme des Tiers für die Zwe-cke des Menschen werden in Hein-rich Eduard Maukischs mit 55kolorierten Abbildungen ausgestatte-ten Bilder- und Lesebuch „zur ange-nehmen Unterhaltung und Belehr-ung“ Das Jagen, Fangen, Zähmen und

Abrichten der Thiere (1837) mit einergeradezu enzyklopädischen Systematik

exemplifiziert. Hier dienen mytho-morphe Tierdarstellungen dazu, Na-turgeschichte und Völkerkundespannungsvoll und mit dem Ziel derVermittlung abenteuerreicher Schil-derungen zu amalgamieren. Der My-thos der Jagd wird hierbei gleichsamals ein konstantes anthropologischesGrundbedürfnis des Menschen be-schrieben und mit Nützlichkeitser-wägungen korreliert, die bereitstypisch für die Literatur des 18. Jahr-hunderts waren:

Das Jagen, Fangen, Zähmen, Ab-richten und überhaupt das Be-nutzen der Thiere ist daher eineBeschäftigung des Menschen zuseinem Unterhalte, seiner Be-quemlichkeit, in vielen Fällenauch seines erlaubten Vergnü-gens, welche ihm die Natur selbstan die Hand gegeben hat, undwir werden sehen, daß wir dieseBeschäftigung sowohl bei den ro-hesten als bei den gesittetstenVölkern finden. (Maukisch, III)

Systematisch werden Jagd- und Ab-richtungsformen von Tieren in allenWeltregionen und aus allen Tierklas-sen, bis hin zur Bienenjagd, beschrie-ben. Die Elemente des Abenteuer-lichen in derartigen mythomorphenTierdarstellungen werden im Verlaufdes 19. Jahrhunderts, wie beispielswei-se im Werk von Theodor Dielitz, starkdifferenziert und mit besonderem

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Interesse der Jugendschriftenverfasserauf gesteigerte dramatische Span-nungsmomente episch ausge-schmückt.

die soziomorphe darstel-

lungsweise

Kennzeichen für die soziomorpheForm der Anthropomorphisierungvon Tieren ist es, dass das Tier hier alsMaske und Chiffre für den Menschendargestellt wird. Die klassischen Pro-totypen der soziomorphen Darstel-lung sind die Charaktere der Tierfabel,in denen menschliche Temperamenteund Eigenschaften mit idealtypischemtierischen Verhalten und sozialenKontexten verbunden werden. DieTierfabel als Tugendschule der Verhal-tenslehren fand nicht nur im 18. Jahr-hundert weite Verbreitung in der Kin-der- und Jugendliteratur, sondern warauch noch im 19. Jahrhundert derartigbeliebt, dass umfangreiche Antholo-gien wie beispielsweise die von Fried-rich Hoffmann herausgegebene, miteinhundert Bildern illustrierte Lebens-

weisheit in Fabeln für die Jugend (1840)erschienen.

Häufig birgt diese Form der An-thropomorphisierung spezifisches Po-tenzial für Komik und Satire imKinder- und Jugendbuch. In der au-ßerordentlich soziomorph orientiertenJugendschrift Heinrich Rebaus Die

merkwürdigsten Säugethiere nach ihren

Ordnungen, ihrem Naturell, ihrer Lebens-

weise, nebst ausgewählten Erzählungen

ihres Charakters und ihrer geistigen Fä-

higkeiten (1846) wird von dem Äffcheneines Priesters berichtet, das aus sei-nem Käfig ausgebrochen und wäh-rend der Predigt des Paters in derKirche unbemerkt auf den Schallde-ckel der Kanzel geflüchtet war:

Dann kroch es um den Rand derKanzel, beobachtete die Handlun-gen des Predigers genau, undmachte dieselben alle auf eine sopossirliche Art nach, daß dieganze Gemeinde zu lachen anfing.[…] Als er [der Pater] aber sah,daß sich dasselbe nicht vermin-derte, sondern vielmehr noch aus-gelassener wurde, so gerieth er ineinen heiligen Eifer, und fing anüber ihren Mangel an Ehrfurchtgegen Gott zu schmähen. Die un-gewöhnlichen heftigen Bewegun-gen, die der Priester machte,verfielfältigten des Affen Geber-den und possirliche Stellungen,und vermehrten das Gelächter derVersammlung noch um Vieles. […]Kaum hatte der Pater die Stellungseines Affen bemerkt, so war erselbst genöthigt, mit zu lachen.(Rebau, 52)

In der im Zweispaltendruck sowohl indeutscher als auch französischer Spra-che erschienenen soziomorphen Ju-gendschrift Der Affe als Hofmeister

(1836) von Alida de Savignac ist von

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Komik allerdings kaum die Rede. Hin-ter der Maske des Affen Basil und sei-ner animalischen Zöglinge – demKaterchen, den jungen Herrn Mumu,und dem Papageien, Fräulein Coco –verbirgt sich ein strenger biedermeier-licher Lehrer in aller unverhüllter Tu-gend. Dies wird schnell deutlich:

Man muß hier sagen, daß unserAffe nicht mehr jung war; er hatteviel nachgedacht und einsehen ge-lernt, was in der Welt Glück macht;denn er hatte bemerkt, daß man imAllgemeinen nur durch sanftes Be-tragen gefällt. (Salignac, 3)

So zeigt sich, dass die soziomorpheDarstellungsweise mitunter auch ledig-lich nur dazu diente, die zu vermitteln-den allgemeinen Grundsätze derTugend- und Sittenlehre durch die In-dienstnahme der Tiergestalt gefälligerzu maskieren.

Grotesk wirkt es hingegen, wennsoziomorphe Darstellungen dazu die-nen, Tiere darzustellen, die menschli-ches Verhalten imitieren. In derErzählung „Der Affe” aus TheodorDielitz’ Zonenbildern (zuerst 1854) be-schreibt der Erzähler, wie er den imUrwald lebenden Affen Peter, mit demer sich angefreundet hat, dazu erzieht,höfliche Komplimente zu machen:

Als es Zeit zum Zurückkehrenwar, machte ich mir den Spaß, denHut vor ihm zu ziehen und ein tie-

fes Kompliment zu machen. An-fangs schien er darüber bestürzt;aber seine Klugheit fand baldeinen Ausweg. Er riß einige großePisanblätter ab, verfertigte ausihnen mit bewunderungswürdigerSchnelligkeit und Gewandtheiteine Art Hut, setzte ihn auf seinenKopf und machte mir nun seiner-seits mit lächerlichem Ernst einetiefe Verbeugung. (Dielitz, 188)

Ähnlich soziomorph motiviert sindDarstellungen, in denen menschlicheEigenschaften auf Tiere übertragenwerden, wenn beispielsweise im An-hang von Heinrich Eduard MaukischsDas Jagen, Fangen, Zähmen und Abrich-

ten der Thiere von der „Menschen-freundlichkeit des Elephanten“, vonder „Großmuth und Zärtlichkeit einesLöwen“, der „Treue“ eines Wolfes, der„Freundschaft zwischen einer Gansund einem Hunde“ oder sogar vonder „Klugheit“ einer Spinne die Redeist (Maukisch, 56-60).

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Abb. 5: „Der Affe“ aus Theodor Dielitz’ Zonen-bildern. Illustration von Theodor Hosemann

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Weitaus differenzierter ist die so-ziomorphe Tiergestaltung im Werkvon Julius Lohmeyer und dem Illus-trator Fedor Flinzer umgesetzt, derenBilderbücher in der zweiten Hälftedes 19. Jahrhunderts große Bekannt-heit erlangten. Lohmeyers Verse inseinem Bilderbuch Komische Thiere

(1880) sind satirisch-bissige Tableausdes gesellschaftlichen Lebens im Kai-serreich. So hält ein weiser betulicherUhu namens Doktor Stryx-Bubo eine„Armen-Sprechstunde“, in der Kam-merdiener Fuchs eine Patientin, einearme kleine Maus, als „Trinkgeld“auffrisst (Lohmeyer, 11f.). Hinterihrer soziomorphen Maske zeigt sichin origineller Weise das Triebhafteder Tiere – eine Gestaltungstechnik,die, in der Tradition des TiereposReineke Fuchs, die besondere Komikdieser Darstellungsweise erzeugt.Unerziehbare Tiere, die ihre viehi-schen Verhaltensweisen nicht ablegenwollen und sich weigern, zivilisiertund sozialisiert zu werden, werdeneigens auf Anraten des Königs Nobel,der wiederum expressis verbis aufdas literarische Vorbild von Reineke

Fuchs verweist, in eine „Besserungs-Schule“ geschickt (vgl. Lohmeyer,13f.). In der zweiteiligen Darstellung„Die gestörte Affenkomödie“ wirdsogar mit allen Details einer dramati-schen Aufführung der Großbrand

eines Affentheaters geschildert (Loh-meyer, 23-26).

Eine Besonderheit stellt am Endedes 19. Jahrhunderts das Werk desSchweizer Künstlers Ernst Kreidolfdar, das in äußerst anspruchsvollerForm den Übergang zu anthropomor-phen Spielformen des Jugendstils do-kumentiert. Obwohl Kreidolf primärfür Erwachsene arbeitete, wurde seinWerk speziell als Kinder- und Jugend-literatur rezipiert. In den Bildkompo-sitionen vieler graphischer Erzähl-ungen Kreidolfs betont der ästhetischversierte Künstler soziomorphe For-men, die jedoch ausdrücklich nichtTieren, sondern – der Programmatikdes Jugendstils gemäß – zarte Pflan-zen betreffen. Vermittelst dieser sozio-morphen Gestaltungsweise werdeninnerhalb der Anthropomorphisie-rung von Pflanzen insbesondere Rittermit Eigenschaften dargestellt, dieihnen traditionell in der Gesellschaftdes Mittelalters als historische Rollenzugeschrieben worden sind. Bereits inKreidolfs erstem Bilderbuch Blumen-

Märchen von 1898 sind derartige Ta-bleaus als soziomorphe Ritterdar-stellungen inszeniert. Auf vier Tafelnwird das Hochzeitsfest des Ritters Ei-senhut dargestellt, wobei Kreidolfdurch die Assoziation des Blumenna-mens Eisenhut mit einer Ritterrüstunggeschickt den Kontext von Blumenwelt

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und historischem Gesellschaftsbildevoziert. Die Folge dieser vier Tafelnbildet als graphische Erzählung eineEinheit. Im ersten Bild „Der Empfangder Hochzeitsgäste” (Abb. 6) wirdgleichsam ein Tableau der höfischenGesellschaft entworfen. Der Ritter inGestalt eines anthropomorphisiertenEisenhuts hält Hof und empfängt eineSchar auserlesener Gäste. Dass in die-sem Tableau soziomorphe Elementedominieren, die Spezifika des Gesell-schaftslebens der Jahrhundertwendedarstellen sollen, zeigt sich nicht zu-letzt in den antisemitischen Ressenti-ments, die in diesem Gesellschaftsbilddeutlich werden.15 Im darauffolgen-den Bild „Die Hochzeit” wird RitterEisenhut mit einer Rose von einem Ka-puziner (in Gestalt der Kapuziner-kresse) getraut. Auch an dieser Stelleüberwiegt die Schilderung feierlicherRituale einer höfischen Gesellschaft.16

Zur Unterhaltung der Hochzeitsgäste

wird zudem ein ritterliches Turnierveranstaltet, das Kreidolf im drittenBild „Das Kampfspiel” schildert.Kreidolf komponiert eine schlüssigesoziomorphe Gestaltungsweise: DieDornen der Strauchpflanzen Schwarz-dorn und Weißdorn assoziieren Ab-wehr; sie figurieren gleichsam deren„Waffen“. Folgerichtig sind beidePflanzen für die Rolle der ritterlichenKämpfer in Kreidolfs anthropomor-phisierter Pflanzenwelt geradezu prä-destiniert: „Ritter Schwarzdorn undWeissdorn geben den Gästen / Eingrosses Spießgefecht zum besten.“(Kreidolf, o. P.) Dass Kreidolf an dieserStelle unverkennbar auf das mittelal-terliche Ritterritual des Turniers alsTeil eines höfischen Zeremoniells refe-riert, wird aus dem spezifischen Ar-rangement der Szene als Gesell-schaftsbild deutlich. Die Anwesenheitder hochrangigen Gäste, der Kampfnach festgelegten Regeln, der Aspekt

der Bewährung imKampf, die Propagie-rung der ritterlichenTugend der Tapfer-keit sowie die Beloh-nung des Siegersdurch eine Dame be-weisen dies nach-drücklich. Sogar dasjugendstiltypischeSpiel mit exotistischen

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Abb. 6: Ernst Kreidolf „Der Empfang der Hochzeitsgäste“ aus Blumen-Märchen

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Elementen ist in dieses Bildintegriert17:

Ritter Türkenbund, Ritter Bären-klau, / Mit seiner schönen, jungenFrau. / Sie sehen den Kämpfendenzu mit Lust; / Die rennen dieSpiesse sich gegen die Brust, / Undfechten mit Mut und vieler List, /Bis einer besiegt und geschlagenist. / Der Sieger empfängt zu sei-nem Ruhme / Von der schönstenDame die schönste Blume. (Krei-dolf, o.P.)

So wird auch in den verhalten kriegs-kritischen Details dieser Darstellungdeutlich, dass soziomorph gestalteteAnthropomorphisierungen hier in derkünstlerisch anspruchsvollen Ästhetikdes Jugendstils und in der Ausweitungauf das Pflanzenreich eine neue ästhe-tische Qualitätsstufe erreicht haben.

Zukünftige Aufgabe der weiterenErforschung von Tierdarstellungen in-nerhalb der Popularkultur und insbe-sondere der KJL sollte es sein, diesehier exemplarisch anhand des 18. und19. Jahrhunderts aufgezeigte histori-sche Dimension der literarischen Tier-bilder verstärkt zu reflektieren.Deutlicher als bislang erkennbar solltehierbei berücksichtigt werden, dassdie gegenwärtige, überaus facettenrei-che Vielfalt von literarischen Tierge-stalten in diesem Bereich (vgl.Druve/Thies) ein historisch gewachse-nes Phänomen von langen Linien der

Entwicklung der KJL und der Popu-larkultur insgesamt darstellt. Dabeikönnten die hier prototypisch von mirentwickelten Kategorien der Anthro-pomorphisierung dazu beitragen, Ge-meinsamkeiten und Unterschiedeinnerhalb der diachronen Rekonstruk-tion und Kontextualisierung von Ge-staltwandelprozessen des Phänomensmit Blick auf die dominierende semio-tisch-semantische Struktur bewussterzu reflektieren, um auf diese Weise dieKonturen von spezifisch kinder- undjugendliterarischen Entwicklungsli-

nien stärker herausarbeiten zu können.

Sebastian Schmideler

(*1979) studierte Ger-

manistik, Mittlere und

Neuere Geschichte und

Erziehungswissenschaf-

ten und promovierte

2011 an der Universität Leipzig mit einer

Arbeit über die Mittelalterrezeption in der

KJL vom 18. Jahrhundert bis 1945. Er ist

wissenschaftlicher Mitarbeiter des DFG-

Projektes „Edition der sämtlichen Briefe

Felix Mendelssohn Bartholdys”. Seine

Forschungsschwerpunkte sind KJL, Ge-

schichte der Popularkultur und Literatur-

geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts.

Schmideler TierdarsTellungen im 18. und 19. Jhd.

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Anmerkungen

1 „Anthropomorphismus, hat Campe [Joachim Heinrich Campe (1746–1818) Wörterbuch

zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke

(1801, 2. Aufl. 1813), d.Verf.] sehr treffend mit Vermenschlichung übersetzt; anthropo-

morphisiren, vermenschlichen“ (Gruber, 287). Zur Tierdarstellung vgl. aktuell insbeson-

dere Dinzelbacher, vgl. auch das ausführliche Literaturverzeichnis in Dinzelbacher,

617-648. Zu der von Dinzelbacher in Bezug auf den europäischen Kontext von Tierdar-

stellungen völlig zurecht hervorgehobenen Bedeutung der Tierwelt der Antike vgl. ins-

besondere Toynbee.2 Zur Bedeutung von Tieren innerhalb der gegenwärtigen Popularkultur, deren Entste-

hung ausdrücklich auf den Entwicklungen des 18. und 19. Jahrhunderts beruht, vgl. ak-

tuell das ebenso unterhaltende wie systematisch über gegenwärtige Entwicklungen der

Tierdarstellung in diesem Bereich informierende Lexikon der berühmten Tiere von

Druve/Thies.3 Zur Anthropomorphisierung in der KJL vgl. allgemein einführend Morgenstern.4 Vgl. hierzu mit Blick auf die Tierdarstellungen in der KJL von 1918 bis 1945 Nassen, 95:

„Es handelt sich selbstverständlich zumeist um Mischformen“.5 Große Popularität erlangten Campes Dialoge nach dem Vorbild der Mäeutik des So-

krates in der Defoe-Bearbeitung Robinson der Jüngere (1779), jedoch auch in der Trilogie

Die Entdeckung von Amerika (1781/82). Einen dialogischen Gesprächscharakter hatte be-

reits ebenso Campes Sittenbüchlein für Kinder aus gesitteten Ständen (1777).6 Einer dialogischen Struktur waren insbesondere Raffs Geographie für Kinder (1776) sowie

die Dialoge für Kinder (1779) verpflichtet.7 Dass Brehms Tierdarstellungen für die Kinder- und Jugendliteratur durchaus zentrale

Referenzen waren, belegt neben den zahlreichen adressatenorientierten Bearbeitungen

beispielsweise das „Lebensbild“ Dr. Alfred Edmund Brehm von V. Popper, das 1886 im 32.

Band von Isabella Brauns Jugendblättern für Unterhaltung und Belehrung erschien. Auszüge

aus Brehms Werken wurden überdies häufig in Kinderbüchern wie Europas Tierwelt in

Bildern (1891) abgedruckt (vgl. Hammer, 56ff., 62ff., 104ff., 180ff., 190ff., 199ff., 217ff.,

229ff., 290ff., 295ff.).8 An dieser Stelle auch weiterführende Sekundärliteratur aufgelistet und ausgewertet.9 Unter „Naturgeschichte“ verstand man, wie es im sechsten Band der vierten Auflage

von Brockhaus’ Conversations-Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete

Stände in der Ausgabe von 1817, S. 752, heißt, „diejenige Naturwissenschaft, welche die

Schilderung aller Naturkörper zum Gegenstand hat.“

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10 Ein drittes Beispiel ist Rebau.11 Vgl. Rockstroh, 212: „Dem Verfasser dieses kleinen Buches waren, als er dasselbe

schrieb, Titel und Bilder dazu vorgegeben.“12 „Mietzchen hatte von jetzt an die besten Tage, Fritz war ein guter Knabe, der ein Thier

nicht wie ein Spielzeug betrachtete, welches man heute liebt und morgen vernachlässigt;

er sorgte für seine Katze, vergaß nie, sie zu bestimmten Stunden regelmäßig zu füttern,

[…] [er] verzichtete eher selbst auf sein Frühstück, als daß er versäumt hätte, Mietzchen

zu füttern.“ (Baudissin, 42f.)13 Zu diesem Zweck wird ein Dialog zwischen der Mutter und Fritz wiedergegeben:

„,Mietzchen hat ja keine Ueberlegung, sie folgt in allem nur dem Triebe, den ihr die Natur

gegeben hat; wenn sie sanft, anhänglich, folgsam wäre, wie ein Hund, so würde man das

wie eine Ausnahme von der Regel betrachten müssen. […]‘ ,Ich habe mir aber doch al-

lerlei angewöhnt, was mir von Natur nicht eigen war‘, sagte Fritz, ,die Ordnungsliebe

z.B. […]‘ ,Du bist allerdings jetzt ordentlicher, als Du es sonst warst, weil Du Verstand

genug hast, um einzusehen, daß Du selbst dadurch gewinnst, so bist Du aus Ueberlegung

das geworden, was Du von Natur aus nicht sein würdest. Nun aber, weil, wie ich vorhin

gesagt, den Thieren diese Ueberlegung fehlt, wie sollten sie das aufgeben, was ihnen Ver-

gnügen macht?‘“ (Baudissin, 43f.) – Derartige Reflexionen finden sich allerdings bereits

im ersten Teil des Moralischen Elementarbuchs (2. verb. Ausgabe von 1785) von Christian

Gotthilf Salzmann, S. 365ff.14 Eine derartige Begebenheit ist z.B. die folgende, mit Elementen des realistischen Er-

zählens, die sich primär in der zeiträumlichen Verortung des erzählten Geschehens zei-

gen, poetisch überhöhte sowie mit Anklängen an den Pantheismus vermittelte Anekdote

über eine Schwalbe: „Als die Tochter des Rathsherrn Happel in Brieg am 9. Juni 1828 in

einer Stube, welche die Aussicht auf den Garten hat, bei offenem Fenster auf dem Flügel

spielte, flog eine Schwalbe in die Stube, setzte sich auf das Instrument, hörte dem Spiele

aufmerksam zu und gab ihr Wohlgefallen besonders beim Spiel munterer Stückchen

durch die Bewegungen ihres Köpfchens zu erkennen. Die Schwalbe wurde so kirr, daß

sie nach dem Aufhören des Spiels sich streicheln, liebkosen und aus der Hand mit einer

Fliege füttern ließ, worauf sie dann mit gewohntem Gezwitscher wieder zum Fenster hi-

nausflog.“ (Brendel, 251)15 „Herr Aronstab führt Frau Bilsenkraut, / Das ist auch eine giftige Haut.“ Vgl. Kreidolf,

o. P.16 Das Brautpaar wird mit den Worten eingeführt: „Eisenhut, der Ritter, und die Rose /

Stehen als Brautpaar im festlichen Glanz.“ Außerdem wird die Szene mit folgenden so-

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ziomorphen Details illustriert: „Bräutchen im Flor und luftigen Bändern, / Ritter in Waf-

fen, die blinken so hell.“ Vgl. Kreidolf, o. P.17 So ist „Ritter Türkenbund“ als erlesener Gast im orientalischen Habit mit einem Turban

und mit phänotypischen Stilisierungen dargestellt („Hakennase“, orientalischer Bart).

LiterAturAngAben

PRIMÄRLITERATUR

Ahlers, Wilhelm. Die Notabilitäten der Thierwelt dargestellt in sechs Bilderkränzen. Berlin:

Wiegandt & Hempel, 1869.

Baudissin, Thekla von. „Fritz und sein Kätzchen“. In: Thekla von Gumpert (Hg.): Herz-

blättchens Zeitvertreib. Achter Band. Glogau: Carl Flemming, 1863, S. 41-48.

Brendel, Friedrich Wilhelm. Erzählungen aus dem Leben der Thiere. Glogau: Carl Flemming,

[um 1865].

Dielitz, Theodor. Zonenbilder. Vierte Auflage. Berlin: Winckelmann und Söhne, 1879.

Hammer, Adolf. Europas Tierwelt in Bildern. Für die reifere Jugend zusammengestellt. Leipzig;

Berlin; Wien: Julius Klinkhardt, 1891.

Kreidolf, Ernst. Blumen-Märchen. Köln: Hermann Schaffstein, 1898.

Lackowitz, Wilhelm. Das Buch der Tierwelt. Lebensbilder und Charakterzeichnungen aus dem

gesamten Tierreich. Ausgabe in einem Band. Berlin: Urania, 1896.

Lohmeyer, Julius. Komische Thiere. Ein lustiges Bilderbuch. Glogau: Carl Flemming, 1880.

Masius, Hermann. Naturstudien. Skizzen aus der Pflanzen- und Thierwelt. 3. Aufl. Leipzig:

Friedrich Brandstetter, 1857.

Maukisch, Heinrich Eduard. Das Jagen, Fangen, Zähmen und Abrichten der Thiere. Ein Bil-

der- und Lesebuch zur angenehmen Unterhaltung und Belehrung in einzelnen Zweigen

der Naturgeschichte und Völkerkunde. Nürnberg: Friedrich Campe, 1837.

Raff, Georg Christian. Naturgeschichte für Kinder. Göttingen: Dieterich, 1778.

Rebau, Heinrich. Die merkwürdigsten Säugethiere nach ihren Ordnungen, ihrem Naturell, ihrer

Lebensweise, nebst ausgewählten Erzählungen ihres Charakters und ihrer geistigen Fä-

higkeiten. Belehrendes und unterhaltendes Lesebuch für die Jugend beiderlei Geschlechts.

Zweite Aufl. Stuttgart: J. F. Castsche Buchhandlung, 1846.

Rockstroh, Heinrich. Der Thiergarten zu Lilienthal. Ein unterhaltendes naturgeschichtliches

Bilder- und Lesebuch für Knaben und Mädchen. Berlin: C. F. Amelang, 1817.

Salignac, Alida de. Der Affe als Hofmeister. Ergötzliche Scenen aus der Erziehungsgeschichte

des jungen Herrn Mumu und des kleinen Fräuleins Coco. Mit deutschem und franzö-

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