Tagungsdokumentation 1+1=3

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Mehr als 250 Besucherinnen und Besucher diskutierten zwei Tage lang u. a. darüber, welche Bedeutung Kreativität in Lernprozessen zukommt, welche Qualität das ko-kreative Kunstschaffen in Kooperationen zwischen Kunst-, Bildungs- und Jugendeinrichtungen birgt und wie diese Erkenntnisse im jeweiligen Arbeitsfeld nutzbar gemacht werden können.

Transcript of Tagungsdokumentation 1+1=3

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Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

>>Die Tagung 1 + 1 = 3 richtete den Fokus auf die Kooperationen zwischen Akteuren aus den Berei-

chen Kunst und Bildungs- bzw. Jugendarbeit. Grundsätzliche Beobachtungen und Erfahrungen über

die ko-kreative Natur künstlerischer Arbeit und das Lernen als schöpferischen Prozess waren Aus-

gangspunkte für einen zweitägigen Arbeitsprozess der insgesamt 250 TagungsteilnehmerInnen, der

auf eine Formulierung relevanter Fragen und Vorschläge an die Politik zielte. Im Folgenden können

Sie Vorträge der ReferenntInnen und das abschließende Gespräch der Podiumsgäste nachlesen.<<

Lernen als kreativer Prozess

Vortrag von Dr. Gerhard Huhn und Sebastian Hirsch………………………………………………….…S.3

Kunstschaffen als ko-kreativer Prozess

Gespräch mit Andrea Thilo, Feridun Zaimoglu und Günter Senkel….………………..……………….S.16

Rede & Antwort

mit VertreterInnen aus der Politik,

Renate Breitig und Matthias Lilienthal, Moderation: Andrea Thilo………….………..………………....S.25

Impressum…………………………………………………………………………………..……………….S.41

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Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

17. Februar, 14:15 – 15 Uhr. Vortrag: Lernen als kreativer Prozess

Dr. Gerhard Huhn und Sebastian Hirsch

Dr. Gerhard Huhn:

Es bedurfte einiger Ermunterung zu

meinem heutigen Auftritt, da ich mich

vor zwei Jahren recht resigniert aus

diesem Thema zurückgezogen habe.

Ich komme mir vor wie der betagte

Cowboy Lee Marvin in dem Film „Cat

Ballou“, der mobilisiert wird und in

den Kampf geht, um noch einmal für

Recht und Ordnung zu sorgen. Einige

von ihnen wissen, dass ich Jurist bin

und mein Bezug zum Thema Lernen

auch mit meiner Juristerei zu tun hat. Dr. Gerhard Huhn Foto: M.Nittel

In den sieben Jahren meiner Doktorandenphase ging es darum, eine verfassungsrechtliche Arbeit

über die Verfassungswidrigkeit der Schulrichtlinien für die künstlerischen Fächer in Deutschland zu

schreiben. Es ist mir gelungen, diese nachzuweisen, doch sehr viel weiter bin ich damit nicht gekom-

men. Ich hatte etliche Talkshow-Auftritte und Kamingespräche mit Kultusministern und Schulministern.

Ich war bei der Quandt-Stiftung, wo wir überlegt haben, wie wir die Wirtschaft, das Schul- und das

Bildungssystem reformieren können. Mit Herrn Holzapfel, dem damaligen Kultusminister aus Hessen,

habe ich bei einer dieser Gelegenheiten über meine Doktorarbeit und die fehlenden Fortschritte ge-

sprochen. Herr Holzapfel sagte, es gäbe nicht nur ihn, sondern Staatssekretäre und Beamte und Teile

von Bürokratie, gegen die er nicht ankäme. Da habe ich gefragt, wieso er das als Chef des Ganzen

nicht in Bewegung setzen könnte. Er antwortete, ich hätte eine sehr naive Vorstellung von Politik.

Damals habe ich noch nicht resigniert, sondern weitergemacht. Wenn ich aber heute von der Seite

des Cowboys auf die der Indianer wechsle, denke ich an eine Weisheit der Dakota-Indianer: „Wenn du

entdeckst, dass du ein totes Pferd reitest, steig ab.“

Das hört sich simpel an. Aber statt vom toten Pferd abzusteigen, wurden in unserem beruflichen Le-

ben und gerade auch in der Bildungspolitik viele Methoden und Strategien z.T. bis zur Perfektion ent-

wickelt, um dem Unausweichlichen doch ausweichen zu können. Vielleicht kommt Ihnen die eine oder

andere Strategie bekannt vor: Wir besorgen uns eine stärkere Peitsche. Oder: So haben wir das Pferd

schon immer geritten. Wir gründen einen Arbeitskreis, um das Pferd zu analysieren. Wir besuchen

andere Orte, um zu sehen, wie man dort tote Pferde reitet. Wir erhöhen den Qualitätsstandard für den

Beritt toter Pferde. Wir bilden eine Task Force, um das Pferd wiederzubeleben. Wenn das nicht funkti-

oniert, kann man immer noch ein Motivationsprogramm für tote Pferde entwickeln. Und schließlich

kann man erklären, dass kein Pferd so tot sein kann, dass man es nicht mehr reiten könnte.

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Ich frage mich: Ist das, was wir Bildungspolitik nennen, was wir Schulsystem nennen, ist das nicht ein

totes Pferd? Ich bin nicht der erste, der das denkt und laut ausspricht. Meinen Beitrag heute möchte

ich einem Mann widmen, der bereits vor über dreißig Jahren ein grundlegendes und aufrüttelndes

Buch zu diesem Thema verfasst hat: Ivan Illich. Er hat damals über die Entschulung der Gesellschaft

nachgedacht. Seine Schrift, so denke ich, ist aktueller denn je.

Ich denke, dass die Herangehensweise an die Frage „Wie lernt der Mensch?“ auf Basis der wissen-

schaftlichen Erkenntnisse der letzten dreißig Jahre auf eine ganz neue Grundlage gestellt werden

muss, dass man dort nicht so weitermachen kann wie bisher und dass die vielen Reformen (die ich

eine Zeitlang begleitet und mit einem gewissen Enthusiasmus unterstützt habe) und ihre Ansätze

Grundgedanken haben, denen ich zustimmen würde – aber die sich immer wieder in ein System ein-

zufügen haben, das auf völlig falschen Paradigmen des Lernens beruht.

An zwei Grundelementen möchte ich das deutlich machen. Sie kennen vielleicht diesen Text, den ich

Ihnen hier zeige, und können ihn durchaus lesen, obwohl die Buchstaben in der falschen Reihenfolge

geschrieben sind (und wir mühsam in der Schule gelernt haben, die Buchstaben in der richtigen Rei-

henfolge zu schreiben):

Sie können sich auch ein Blatt Papier nehmen und es so halten, dass Sie nur die Hälfte der Buchsta-

ben lesen können. Trotzdem könnten Sie den Text perfekt lesen.

Ich denke, an dieser Stelle macht es Sinn, ins Gehirn hineinzuschauen und die Erkenntnisse der Ge-

hirnforschung in den Alltag umzusetzen.

Hier sehen Sie das ursprüngliche Annahmemodell, wie Lernen und Wahrnehmung funktionieren:

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Links ein Pfeil, dann das Auge, dann

ein Modul im Gehirn, der sogenann-

te Kniehöcker, dann die Sehrinde

des rechten Gehirns und dann den

Pfeil.

Man hat jahrzehntelang angenom-

men, so funktioniere die Verarbei-

tung von Informationen. Maturana

und Varela, zwei Neurobiologen aus Chile, haben herausgefunden, dass es nicht stimmt. Weiter unten

auf dem Bild (unter b) sehen Sie, wie es nach der heutigen Annahme tatsächlich ist:

Ein Impuls, also ein Stück Wirklichkeit, kommt

von draußen, trifft auf die Netzhaut, mobilisiert

die Vernetzungen im Kniehöcker und dann

beginnen vier Bereiche des Gehirns zurück zu

feuern. In den Kniehöcker hinein. Auch die

Sehrinde, einer der vier Bereiche, feuert so-

fort zurück. Aus dem Gemisch der verschie-

denen Elemente bildet dann das rechte Ge-

hirn schlussendlich den Pfeil.

Und wenn man die Menge der Impulse und

die Laufrichtung der Signale betrachtet, sind

von dem Pfeil, den wir sehen, 80 % in unse-

rem Kopf produziert und nur 20% induziert

durch das, was von draußen kommt. Das

heißt, wir müssen uns von dem Repräsentati-

onsmodell von Wirklichkeit verabschieden.

Und wenn Sie angenommen haben, Sie se-

hen mich außerhalb Ihres Kopfes hier vor sich stehen, ist das eine große Illusion. Sie sehen nichts

anderes als ein Bild in Ihrem Kopf, in dem ich auftauche und das möglicherweise eine gewisse Ähn-

lichkeit mit mir hat, der hier steht. Aber Sie werden es nie genau wissen.

Genau so, als ob Sie Herrn Hirsch sehen und denken, Sie sehen ihn außerhalb Ihres Kopfes – doch

Sie sehen ihn nur als Bild in Ihrem Kopf. Von diesem Bild sind 80% von Ihrem Kopf erzeugt, gemischt

mit Vorerfahrungen, Wünschen, Hoffnungen, Ängsten, Befürchtungen. All das muss uns Abschied

nehmen lassen von der Vorstellung, dass man in das Gehirn etwas hineintun kann.

Ein deutscher Physiker namens Hermann Haken hat diese Dinge sehr gründlich erforscht:

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Sie sehen hier eine Glasschale voller Silikonöl, die

von oben fotografiert wurde. Das Muster kommt

dadurch zustande, dass das Silikon-Öl von unten

erhitzt wird. Alle kennen die Aufwärts-Abwärts-

Bewegung. Haken hat dies zunächst an Laserstrah-

len, die auch eine eigene Ordnung finden, wenn

man die Spiegel in dem System ein wenig verän-

dert, erklärt. Dann stabilisieren sich die Strahlen

neu. Stoßen Sie die Schale mit Silikon-Öl an, wird

die Oberfläche wieder glatt und nach einer gewis-

sen Zeit bildet sich wieder diese schöne, waben-

mäßige Ordnung.

Das lässt sich heute in mathematischen Formeln und durch genaue Beschreibung der Prozesse dar-

stellen. Es finden also Phasenübergänge bzw. es findet eine Orientierung der kleinen Teilchen statt,

die nach oben streben, zuerst durcheinanderwirbeln und dann einen optimalen Weg finden. Sobald

eine Optimierung stattfindet und sich an dieser einen Stelle das System stabilisiert, werden Schranken

und Ordner eingerichtet. Diese Stabilisierung führt dazu, dass das Teilsystem eine Attraktivität für das

übrige System entwickelt. Aufgrund dieser Installation von Attraktoren wird das übrige System „ver-

sklavt“. Das heißt, diese Ordnung wird auf das gesamte System ausgedehnt. So organisiert sich –

ohne Gehirn, ohne Nervensystem, ohne Lehrer oder Professoren – eine Silikon-Öl-Schale in eine

wunderbare Ordnung hinein.

Unser Gehirn macht das bei den bekannten Kippbildern: Da

gibt es auch zwei verschiedene Wirklichkeiten, z.B. bei dem

Bild, auf dem eine junge Frau verschämt nach rechts guckt

und gleichzeitig eine alte Frau den Betrachter anzustarren

scheint.

Oder Sie sehen unten eine Zahlenreihenfolge – 2,3,4 – und

wenn Sie das gleiche Bild von der Seite anschauen, sehen

Sie Buchstaben – A, B, C. Das bedeutet, unser Gehirn be-

müht sich genau wie die Silikon-Öl-Schale um das Etablieren

von Ordnungen auf Basis einer vorangegangenen Situation

des Durcheinanders bzw. des Wirbelns von Teilchen bzw.

von Prozessanteilen. Und wir empfinden das Entstehen von

Ordnung stets als schön.

Das ist der eine Aspekt: Wirklichkeit wird immer erzeugt.

Deshalb ist jeder Lernprozess an sich ein Kreationsvorgang.

Lernen und Kreativität lassen sich, wenn wirklich gelernt

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wird, überhaupt nicht trennen. Jede Form von Lernen ist Kreativität und jede Form von Kreativität ist,

da es eine Veränderung ist, Lernen.

Der zweite Aspekt, auf den ich eingehen möchte, ist ein Satz des Philosophen Peter Sloterdijk, mit

dem er 1994 auf einer Medienkonferenz, als Internet und Multimedia aufkamen, gewarnt hat: Man

möge nun, da sich die neuen technischen Möglichkeiten entfalten, nicht den grundsätzlichen Fehler

der herkömmlichen Pädagogik erneut begehen und das Gehirn als ein Speicherorgan ansehen, in das

man mit Kunstfertigkeit der Didaktik irgendwelche Inhalte hineintransportieren kann. Sloterdijk hat

damals gesagt, das Gehirn sei auch Speicherorgan, aber in erster Linie sei es ein Organismus zur

Abwehr unwillkommener Neuerfahrungen. Das heißt, das Gehirn ist nicht dazu da, möglichst viele

Informationen aufzunehmen, sondern sie draußen vorzulassen, wie ein Filtersystem.

Nur die Inhalte, die von allen Filtern als willkommene Neuerfahrung durchgelassen werden, werden

schließlich gespeichert. Die Entscheidung allerdings, ob eine solche Information verarbeitet wird, trifft

nicht das Gehirn des Lehrenden, sondern das Gehirn des Lernenden. Das ist das tragische Dilemma

aller Personen (zu denen ich mich auch zähle), die anderen Menschen etwas vermitteln wollen.

Machen wir uns deutlich, dass dies auch heißen kann, dass man dies nutzen kann – aber dass es

wenig Sinn macht, dagegen an zu arbeiten. Die Evolution hat so lange daran gearbeitet, es so einzu-

richten, dass ein einzelner Lehrer oder eine einzelne Lehrerin diesen Aspekt in den Köpfen der Kinder

nicht verändern kann.

Was passiert mit Kindern bis zum Alter von 6

oder 7 Jahren?

Jede Information, die hineinkommt und auf die

das Kind neugierig ist, erweitert seine Komple-

xität, seine Kenntnisse, sein Umgehen in und

mit der Welt und macht Freude. Kinder sind

unendlich neugierig, lernen unendlich schnell

und alles Mögliche. Dann kommt das Kind in

die Schule und freut sich darauf, Antworten auf

seine Fragen zu erhalten und das Lesen zu

lernen, um seine Neugier zu befriedigen.

Ein paar Dinge machen ja auch am Anfang richtig Spaß. Ordnung etabliert sich zur Freude des Kindes

im Gehirn. Doch dann kommt der Lehrer oder die Lehrerin mit dem Lehrplan. Es müssen nun zu einer

bestimmten Zeit bestimmte Informationen in die Köpfe hineintransportiert werden, auf die die einzel-

nen Kinder in dem Moment gerade nicht neugierig sind.

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Vielleicht waren sie es drei Wochen vorher,

vielleicht wären sie sechs Monate später da-

rauf neugierig, aber gerade jetzt sind sie es

nicht. Und dann beginnt der Ringkampf zwi-

schen einem über Jahrtausende entwickelten

Nervensystem, das der Abwehr unwillkom-

mener Neuerfahrungen dient, und der Absicht

des Lehrers, genau jetzt diese Neuerfahrung

für alle Zeiten in das Kindergehirn hinein zu

transportieren. Die Folgen: Die ursprüngliche

Neugier geht nach und nach verloren, die

Unterscheidungsfähigkeit zwischen persönlich willkommener und persönlich unwillkommener Neuer-

fahrung wird eingebüßt und mangels bewusster Entscheidung für das Wichtige kommt es verstärkt zu

unbewussten Entscheidungen für das Unwichtige. Die Folgen sind ein Sieg des Banalen über das

Elementare sowie Langeweile und Lernunlust.

All dies lässt sich auch grafisch durch die Verarbeitungsprozesse im Gehirn darstellen:

Unsere Sinnesorgane können 107 Bit pro Sekunde wahrnehmen.

Unser Ultrakurzzeitgedächtnis dagegen, die erste Verarbeitungsstation, die entscheidet, ob eine In-

formation willkommen ist, kann gerade mal 16 Bit pro Sekunde verarbeiten. Und das Kurzzeitgedächt-

nis kann gerade noch 0,5 – 0,75 Bit pro Sekunde verarbeiten. Im Langzeitgedächtnis landen nur noch

0,05 Bit pro Sekunde. Also ist ein ungeheurer Aufwand dafür erforderlich, einen Inhalt langfristig ge-

speichert in das Gehirn hinein zu transportieren. Und es passiert nicht durch die Anstrengung von

außen, sondern dadurch, dass Attraktoren im Gehirn des Kindes begierig die Informationen aufsau-

gen.

Insofern brauchen wir uns um die emotional eingefärbten Informationen nicht groß zu kümmern, denn

diese passieren die Filter, weil es der Freude oder der Abwehr von Gefahren dient. Wir können uns

ganz auf die nicht emotional eingefärbten Emotionen konzentrieren. Und die werden nur weiterverar-

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beitet, wenn sie Sinn machen. Das Gehirn fragt bei nicht emotional eingefärbten Inhalten: Ist die In-

formation sinnvoll?

Und das ist die wesentliche Frage, die sich alle Menschen, die etwas mit Erziehung, Bildung, Kreativi-

tät und Kunst zu tun haben, ständig stellen müssen, ebenso im Unterricht oder im Umgang mit Kin-

dern. Und das im Minutentakt, da der Geist sich jeden Moment fragt: Ist das, was ich hier gerade tue,

sinnvoll? Wenn nicht, schaltet er ab und wehrt eine unwillkommene Information ab. Lernen wird fast

unmöglich, auf jeden Fall sehr schwierig, wenn man für sich nicht geklärt hat, was das Wichtige ist und

was Sinn macht.

Zum Thema Kreativität herrschen viele Mythen und eigenartige Vorstellungen vor. Meine Kreativitäts-

lehrerin, Marilee Zdenek, hat zu Beginn ihrer Workshops immer eine schöne Geschichte über den

Umgang mit der Kreativität des Menschen erzählt:

Vor vielen hundert Jahren hat in Rom einer kleiner Junge auf einer Mauer gesessen und zugesehen,

wie ein Mann wie verrückt mit Hammer und Meißel auf einen Felsblock eingeschlagen hat. Der Junge

war geduldig und gut erzogen, doch seine Neugier wurde so stark, dass er fragte: „Onkel, was machst

du denn da, warum machst du den Stein kaputt?“

Da drehte Michelangelo sich um und sagte: „Ich habe dich schon länger bemerkt. Ich mache keinen

Stein kaputt. Wenn du noch etwas Geduld hast, wirst du sehen, dass in diesem Stein ein Engel ver-

steckt ist. Ich schlage nur den Teil des Steins weg, der den Engel verbirgt.“

Das ist der Kern der Kreativität. Wir haben alle so einen Engel des Schöpferischen in uns, der jedoch

bei vielen Menschen zugedeckt worden und damit nicht mehr direkt zugänglich ist.

In der Lebenspraxis befinden wir uns oft in der Situation, aus einer bestehenden Ist- Situation eine

neue herstellen zu wollen. Wir setzen uns Ziele, wir haben ein Projekt, das wir verwirklichen wollen,

und das wir durch Aktivitäten, Mittelbeschaffung, Hinzuziehen von Personen und Informationsbeschaf-

fung bewältigen können.

An der Stelle gibt es immer zwei Möglichkeiten. Entweder wir haben den Denkprozess vollzogen, alle

Mittel sind klar und verfügbar, die Aufgabe ist mit dem vorhandenen Wissen, den Regeln, dem Know-

how lösbar. Das ist die Bewältigung von Aufgaben. Wenn wir aber merken, dass wir nicht weiterkom-

men und uns etwas Neues einfallen lassen müssen, brauchen wir Kreativität. Wir müssen etwas Neu-

es wagen und dafür Risiken eingehen, weil wir nicht wissen, wie es ausgeht. Wir können die Regeln

nicht anwenden, sondern müssen sie brechen. Zur Kreativität gehört ungeheuer viel Mut, denn in der

Gesellschaft bewähren sich als sicherer Weg Regeln. Insofern ist es leicht, zu fordern, Lernen und

Kreativität zu vereinen aber fast unmöglich, es zu realisieren. Das schulische Lernen ist sehr starkes

Regellernen, sehr viel exaktes Behaltenlernen. Mut zur Kreativität lernt man in der Regel nicht. Wie

ein Klassenkamerad von mir es bei der Abiturfeier sehr drastisch gesagt hat: „Uns ist das kreative

Rückgrat in der Schule gebrochen worden.“

Und das ist nach wie vor an vielen Schulen trotz vieler Bemühungen der Fall. Insofern frage ich mich:

Reiten wir da nicht ein totes Pferd, wenn wir immer mehr Regeln und Qualitätsstandards und Mess-

größen und PISA-Untersuchungen zum Maßstab von Bildungsarbeit machen? So sehe ich dann die

Impulse, die Sebastian in mein Leben hineingebracht hat, und die sich alle toll und nett anhören. Ein

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kleiner Spielkasten, an dem einige Leute Freude haben, aber in der Gesellschaft und im System wird

es nichts ändern. Überzeug mich vom Gegenteil, Sebastian.

Sebastian Hirsch:

Ich muss dir widersprechen. Auf

meinen Bildungsexpeditionen habe

ich Schulen besucht, die ganz an-

ders funktionieren. In denen man

nicht nur Regeln lernt, sondern auch

das Kreative. Wo das Schöpferische

bewahrt bleibt. Als ich Gerhard und

seine Doktorarbeit kennengelernt

habe, fand ich es spannend und

klasse, die Verfassungswidrigkeit

deutscher Rahmenlehrpläne nach-

zuweisen, da er sagte, dass Schule Sebastian Hirsch Foto: M.Nittel

auch für die Entfaltung der ganzen Persönlichkeit der Kinder da ist. Viel zu oft ist jedoch Lernunlust

vorhanden.

Ich glaube, dass einige der Schulen, die ich besucht habe, Beispiele dafür sind, dass es auch anders

sein kann. Die Mitglieder der Blue Man Group beispielsweise sind nicht nur weltweit erfolgreiche

Künstler, sondern mehr. Sie sind Schulgründer. In New York gibt es „The Blue School“, die von den

Gründern der Blue Man Group gegründet worden ist, als sie eine kreative Schule für ihre eigenen

Kinder suchten. Bei der Überlegung zur Gestaltung einer solchen Schule merkten sie, dass ihre eige-

ne Arbeit für ihre Künstler und ihr Bühnenprogramm und das Schöpferische daran sich auch teilweise

auf Schule übertragen lässt. In der Show interagieren die drei Protagonisten bei jeder Vorstellung neu

miteinander und sind auf der Bühne schöpferisch tätig. Im erwähnten Kindergarten und in der Grund-

schule bis zur 5. Klasse finden Lernprozesse statt, bei denen kein Lehrer eine Information vorgibt,

sondern die Kinder denken sich etwas aus. Z.B. ist eine Schülerin aus der dritten Klasse nach Austra-

lien gegangen und hat mit ihren Klassenkameraden in New York Briefkontakt gehalten. Dabei fragten

sich die Kinder in New York, wie der Brief eigentlich von ihnen zu dem Mädchen nach Australien ge-

langt.

Anstatt dass der Lehrer es erklärt, sollten die Kinder nach dem Prinzip der Blue School auf eine solche

Frage selbst Antworten finden (z.B., ob der Transport mit einem Fesselballon möglich wäre oder ob

man den Brief auch durch die Toilette nach Australien spülen könne). Sie sind neugierig und haben

eine persönliche, emotionale Beziehung zu der Frage.

Jetzt sagen Sie vielleicht, für die Grundschule ist das in Ordnung, da darf es auch Raum zum Spielen

und für falsche Antworten geben. Die Sekundarstufe dagegen soll die Kinder auf das Berufsleben

vorbereiten. Dafür, dass es auch hier anders sein kann, gibt es ebenso Beispiele, für die Frage: Wie

können wir Schule so verändern, dass wir auch dort mit bald erwachsenen Menschen arbeiten kön-

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nen?

Ein aktuelles Beispiel aus Ohio stammt von einer großen Konferenz, bei der es um Lerntechnologien

ging. Dort haben sie sich etwas Neues ausgedacht und diejenigen gefragt, für die Schule anders ge-

macht werden soll.

Also haben sie Schülerinnen und Schüler aus 11. und 12. Klassen auf die Konferenz eingeladen, bei

der sich über 600 Lehrer und Schulleiter über Lerntechnologien informiert haben. Sie haben die Schü-

ler zum „Prototype-Camp“ eingeladen und gefragt, wie ihre Wünsche und Probleme im Schulalltag

aussehen und wie sie Schule anders gestalten würden. Der Prozess der Beteiligung war künstlerisch

und sehr spannend. Die Jugendlichen wurden gehört. Ähnliches ist bei den Projekten in der Offensive

Kulturelle Bildung geschehen. Schule verändert sich.

Ich bin optimistisch, da ich überall solche Beispiele dafür sehe, auch in Berlin. Nicht weit von hier, am

Märkischen Museum, gibt es die Evangelische Schule Berlin Zentrum, die wir auf unserer Bildungsex-

pedition 2009 besucht haben und die inzwischen eine tolle Presse bekommt. Das Lernen funktioniert

dort anders. Dort gibt es Lernbüros. Die Schüler können sich selbst entscheiden, welche Inhalte sie an

diesem Tag oder in dieser Woche lernen möchten, z.B. Englischvokabeln oder etwas ganz Anderes.

Dort herrscht selbstgesteuertes statt fremdgesteuertes Lernen. Letzteres löst im Gehirn die erwähnte

Abwehrbewegung aus.

Darüber hinaus gibt es auch das Projekt Verantwortung. In diesem übernehmen Kinder und Jugendli-

che Verantwortung für andere Menschen in ihrem Umfeld, z.B. indem sie im Kindergarten vorlesen

oder als Sprachbotschafter in Schulen im Brennpunkt gehen.

Es geht somit über das hinaus, was Schule falsch macht: Die Annahme, wir wissen schon etwas und

geben das Wissen dann an euch weiter, damit ihr in der Welt zurechtkommt. Ich denke, wir müssen

die Jugendlichen viel stärker dazu befähigen, Veränderungen auszulösen. Eine Bewegung, die auch

in der Evangelischen Schule Berlin Zentrum stattfindet und von der Schule unterstützt wird, ist die

Schülerinitiative „Plant-for-the-Planet“. 14- und 15-jährige Jugendliche fragen sich, was sie gegen den

Klimawandel tun können. Wir könnten uns z.B. dafür einsetzen, dass mehr Bäume gepflanzt werden.

So wurde eine Aktion gestartet, durch die in Deutschland 1 Million Bäume gepflanzt werden sollen. Es

klingt erst einmal so, als sei es unmöglich oder auch zu idealistisch, zu naiv, doch sie haben es ge-

schafft und im Norden von Berlin einen Wald mit 100.000 Bäumen gepflanzt.

Schulen wie diese sagen: Es ist möglich, wir können die alten Regeln soweit brechen. Insofern bin ich

sehr optimistisch, was die Veränderungen im Schulsystem angeht, da wir überall auf der Welt so viele

Beispiele haben, die zeigen, dass es anders geht.

Dr. Gerhard Huhn:

Ich bin nach wie vor skeptisch. Ich will nicht über die einzelnen Modelle sprechen, die haben sicher

etwas bewegt und verändert und neue Geist hineingebracht. Doch wenn ich an die beiden chileni-

schen Neurobiologen Maturana und Varela erinnern darf, die sich sehr stark damit beschäftigt haben,

wie überhaupt eine Veränderung eines Systems passiert, dann ist es nicht damit getan, dass an ein-

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zelnen Stellen, gewissermaßen in die Eisschicht, kleine Löcher gehackt werden, damit man dort fri-

sche Fische angeln kann. So kommen mir diese Reformprojekte immer vor. Und so lange es Fischer

gibt, die das Wasser flüssig halten und die die Fische herausholen, funktioniert es. Doch wenn der

Fischer alt wird, weggeht oder keine Lust mehr hat, friert es schnell wieder zu.

Ich habe sehr viele Reformprojekte gesehen, die an einzelnen Personen/ Initiatoren hingen und dann,

wenn die Person wegging oder versuchte, das Projekt auszudehnen, daran scheiterten, dass das

System es nicht zugelassen hat.

Sebastian Hirsch:

Wenn ich dein Modell zu den Attraktoren aufgreife und wir das Beispiel der Evangelischen Schule

Berlin Zentrum heranziehen, denke ich, dass diese Schule inzwischen ein Attraktor geworden ist. Die

Schüler dort machen selbst Lehrerfortbildungen, da viele Lehrer von anderen Schulen darauf auf-

merksam wurden und wissen wollten, wie dieses Schulmodell funktioniert.

Die Schüler berichten aus eigener Erfahrung von den Lernbüros und von ihren Lerntagebüchern. In-

zwischen haben sich über 1000 Lehrer fortgebildet. Also eindeutig ein Attraktor in der Silikon-Öl-

Schale.

Dr. Gerhard Huhn:

Das sieht ja obenauf auch schön aus, wenn es gelingt. Aber da muss ein Bunsenbrenner angelassen

werden, sonst entsteht oben keine schöne Form. Das Ganze muss zum Kochen gebracht werden.

Wenn man ein Loch ins Eis hackt, hat es auf das übrige Eis keinerlei Wirkung. Die ganze Überlegung,

worüber wir in diesen zwei Tagen sprechen sollten, ist: Wie bringen wir das Eis zum Schmelzen?

Ich habe kurz in die Dokumentation und Evaluation hineinschauen können. Auf den ersten Seiten ist

von Niklas Luhmann und von struktureller Kopplung die Rede. Das hat auch etwas mit der Erkenntnis-

theorie des Konstruktivismus zu tun, aber ich habe bisher an keiner Stelle das Wort „Perturbación“

gelesen. Die beiden Autoren Maturana und Varela haben darauf bestanden, dass dieses Wort in ih-

rem weltweit übersetzten Buch „Der Baum der Erkenntnis“ nicht übersetzt wird, sondern in jeder Spra-

che „Perturbación“ heißt und sich durch das ganze Buch zieht. Die „Perturbaciòn“ ist die Vorausset-

zung dafür, dass sich Attraktoren bilden können. Das System muss erst einmal durcheinander ge-

bracht werden, die Teilchen müssen wirbeln. Eine chaotische Situation muss geschaffen werden, in

der keine Ordnung und keine Regeln mehr dafür sorgen, dass sich die alten Attraktoren wieder durch-

setzen können, die ja so eine wunderbare bequeme Sicherheit bieten. Das ist das, worüber wir nach-

denken sollen. Natürlich bieten diese Reformmodelle Beweise dafür, dass es anders geht. Das ist das

Tolle, das habe ich ja auch stets unterstützt.

Aber ich denke, heute sind wir soweit, dass wir einen großen, entscheidenden Schritt weitergehen

müssen. Wir können uns nicht darüber freuen, dass an ein paar kleinen Stellen etwas Nettes passiert.

Das ist zu wenig und die Gefahr, dass alles immer wieder in das alte, starre System zurückfällt, ist zu

groß. Das können wir uns nicht mehr leisten. Gerade in unserem Land, wo wir keine Rohstoffe haben,

wo wir nur auf den geistigen Qualitäten der Mitmenschen aufbauen können. Wenn 20 - 30% der Men-

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schen große Schwierigkeiten haben, überhaupt Lesen und Schreiben zu lernen, geschweige denn

Rechnen, dann haben wir ganz massive Probleme in unserem Land. Aber ich denke auch nach wie

vor, man sollte keine Schreckensbilder nutzen, sondern eher die Freude, die möglich ist. Insofern sind

wir uns in diesem Punkt einig, aber wir dürfen damit nicht zufrieden sein.

Sebastian Hirsch:

Ich muss an dieser Stelle nachfragen. Ich bin vielleicht jung und naiv, aber ich bin begeistert. Ich den-

ke, es breitet sich aus. Vielleicht friert es tatsächlich wieder ein, vielleicht sind es nur diese Löcher.

Der Begriff „Perturbación“ ist für mich nicht ganz klar. Was bedeutet das?

Dr. Gerhard Huhn:

„Perturbación“ heißt, ein System ist total durcheinander, es weiß nicht mehr, wo oben und unten, wo

rechts und links ist. Die Teilnehmer des Systems müssen eine neue Ordnung schaffen.

Sebastian Hirsch:

Dann sehe ich die Offensive Kulturelle Bildung so: Dass der Widerspruch zwischen den starren Re-

geln des Schulsystems und dem Künstlerischen, dem Regelbrechenden oder Schöpferischen zwar da

ist, aber die Schule gewinnt, weil die Regeln stärker sind. Vielleicht ist die Offensive nach der Prüfung

vorbei, der nächste Kultursenat zahlt für keine vergleichbare Initiative und alles friert wieder ein.

Dr. Gerhard Huhn:

Genau.

Sebastian Hirsch:

Wir haben hier nun über 50 Patenschaften, elf davon, die begleitet wurden. Es gibt eine Evaluation,

die sagt, dass es grundsätzlich sinnvoll ist. Ich habe einige Beispiele genannt, die Schule anders ma-

chen. Aber wenn wir das ganze System durcheinanderbringen wollen, sollten wir uns auf der Tagung

vielleicht fragen: Können wir das schaffen, wenn wir ein halbes Jahr lang nur Kunstprojekte bzw. sol-

che Beteiligungen mit Jugendlichen machen, um Schule zu verändern? Also gar keinen normalen

Unterricht mehr?

Dr. Gerhard Huhn:

Das ist schon fast größenwahnsinnig. Aber an der Stelle fange ich an, Spaß in mir zu spüren. Das

könnte mich möglicherweise reizen, das Korsett noch mal stramm zu ziehen. Ein halbes Jahr, in dem

alle Schulen in ganz Berlin Kunst machen. Das würde Bewegung auslösen.

Vor allem die ganzen Diskussionen vorher: Das geht nicht, Bayern überholt uns endgültig, der nächste

PISA-Text geht den Bach runter …

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Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

Das nenne ich Kochen! Das ist mehr als Eislöcher! Jetzt werden Sie vielleicht sagen, naja, drei Mona-

te reichen auch. Seien Sie mutig. Vielleicht darf ich kurz aufzeigen, was passieren kann, wenn Sie und

wir und die ganze Stadt diesen Mut entwickeln würden.

Ich bin so nett als „Flow Doc“ betitelt worden. Flow ist ein Zustand außerordentlichen Glückempfin-

dens, der sich bis zur Ekstase steigern kann. Menschen erleben das in unserer Gesellschaft relativ

selten, eher durch Zufall.

Es gibt einen Psychologieprofessor in Amerika, der aus Ungarn stammt: Mihály Csíkszentmihályi. Er

hat sein Leben und seine Forschung der Frage gewidmet, wie man diese extremen, wunderbaren

Momente in sein Leben hereinholen kann. Er hat erforscht, dass die Fähigkeit zu diesem Glücksemp-

finden in jedem Menschen steckt, genauso wie die Fähigkeit zur Kreativität. Untersucht hat er es an

Schachspielern, Bergsteigern, Chirurgen und Tänzern, die regelmäßig solche Glückserfahrungen

haben. Sie alle haben immer klare Zielsetzungen (der Bergsteiger will auf den Berg, der Schachspieler

will gewinnen). Dann gibt es kontinuierliches Feedback (der Bergsteiger kann abrutschen, der

Schachspieler sieht an den Figuren auf dem Brett, die er gewinnt oder verliert). Wir haben im Alltag

diese Möglichkeiten nicht, es sei denn, wir schaffen sie uns selbst.

Kernpunkt seiner Erkenntnis war eine hohe Aufmerksamkeitsfokussierung, die eine unbedingte Vo-

raussetzung bildet. Wenn Sie sich an den Film “Rhythm is it!“ erinnern, taucht an mehreren Stellen der

Choreograph Royston Maldoom auf und fordert die Kinder auf, Fokus einzunehmen. Doch es wird

nicht gezeigt, was damit gemeint ist. Fokus einzunehmen heißt für die Kinder in dieser Situation (wie

es ganz am Anfang des Prozesses gemacht wird):

Sich ganz ruhig hinzustellen, die Augen zu schließen und sich einen Ort vorzustellen, an dem sie sich

richtig sicher und glücklich gefühlt haben. Und wann immer es kritisch wird im Prozess und zu viel

Unruhe auftaucht, ruft Maldoom: „Fokus!“ Dann stellen sich die Kinder diesen Ort der Sicherheit und

der Geborgenheit vor.

Denn wenn man etwas Neues wagt, wenn man kreativ sein will, braucht man immer einen Ort, an dem

man sich sicher fühlt. Den schafft man sich am besten selbst. Diese Fokussierung ermöglicht die Fo-

kussierung auf das gegenwärtige Tun, was ein weiteres Element des Glücklichseins ist: Dass man

sich auf die Präsenz des Gegenwärtigen konzentriert.

Der Kern seiner Erkenntnis ist, dass es ein Spannungsverhältnis geben muss, das der einzelne

Mensch ausbalanciert zwischen den Herausforderungen, die er sich oder die das Leben ihm stellt, und

den Fähigkeiten, sie zu bewältigen. Da kann man Glück fast mathematisch ausdrücken: eine Senk-

rechte, auf der die Herausforderungen wachsen, je höher es geht, und eine Waagerechte, auf der die

Fähigkeiten wachsen, je höher es geht. Die Balance zwischen den Herausforderungen und den Fä-

higkeiten ist die Voraussetzung dafür, glücklich zu sein. Und die Glücksmomente entstehen ab einer

gewissen Höhe von Herausforderung und einer gewissen Entwicklung von Fähigkeiten.

15 | S e i t e

Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

In der Mitte ist der Flowkanal, wenn sich

Herausforderungen und Fähigkeiten tref-

fen. Bei niedrigen Fähigkeiten und Her-

ausforderungen haben wir keine Flow-

Erfahrung.

Das gefällt mir an der Idee von diesen

sechs Monaten: Das ist eine große Her-

ausforderung, an der wir unsere Fähigkei-

ten erweitern können, in der wir eine mas-

sive Flow-Erfahrung haben, die den Men-

schen auch zeigt, wie man durch das

Bewältigen einer unmöglichen Situation

doch in das Mögliche hineinkommt und sich am Gelingen der Handlung freuen kann.

Was hältst du davon? Ist das völlig verrückt? Die ganze Stadt Berlin könnte angesteckt werden. Viel-

leicht gibt es mehrere Hunderttausend Menschen, die Flow-Erfahrungen machen wollen. Das hätte

eine Ausstrahlung auf das System. Das könnte das Eis zum Schmelzen bringen.

Sebastian Hirsch:

Das denke ich auch. Wenn sehr viele Menschen sehr viele Flow-Erlebnisse haben, können wir die

Bildung verändern. Das kann ich nur unterstützen.

16 | S e i t e

Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

17. Februar 2011, 15:00 Uhr: Gespräch. Kunstschaffen als ko-kreativer Prozess

Feridun Zaimoglu und Günter Senkel, Moderation: Andrea Thilo

Feridun Zaimoglu:Foto: M.Nittel

Feridun Zaimoglu:

Lange galt der Künstler als das brütende Genie hinter einer Schutzumwandung – der Schmutz der

Straße und des Tages sollten nichts angehen. Der Künstler war ein Mann, die Muse eine Frau, und

das Werk ein neutral bestimmtes, gefälliges Ding. Sein starkes Herz hörte auf zu schlagen, sobald er

die Verkeimung durch den Zeitgeist riskierte. Er schuf an einer göttlich klirrenden Kunst, der sich die

Menschen wie Pilger einem Heiligengrab zu näher hatten. Das Genie übertrug die Idee in den Stoff,

die Idee nahm Gestalt an. Der Pöbel sollte nur staunen und stöhnen – indem er den Künstler feierte,

huldigte er dem fleischgewordenen Wesen. Kriege und Volkes Erhebung erklärten den Held der Ab-

schottung für tot. Der begabte Mann und die begabte Frau sollten sich in den Dienst einer Sache stel-

len, sie sollten durchlässig werden. Die Künstler strömten aus den Dachkammern und Werkstätten,

hinaus auf die öffentlichen Plätze. Sie lauschten den Säufern das Kneipengespräch ab und schrieben

es nieder. Sie fanden im Schutt ein Urinbecken und stellten es aus. Sie merkten auf beim Geheul der

wilden Hunde auf den Straßen der Stadt, sie erstarrten, da ein Taubstummer Hack- und Winsellaute

ausstieß; also verfassten sie Lautgedichte. Das Definitive ersetzte das Definierte, die Norm wurde

zum Teufel gejagt. Die neue ordnende Macht war das Bürgertum, die Bürger empörten sich über den

Skandal und honorierten doch bald die halb wahnsinnigen, ruppigen Künstler. Die Moderne und die

Postmoderne gebaren aber andere Ästheten – das Unverständliche und Komplizierte schloss die

Menge aus und war allein schon deshalb gut und teuer. Die Masse taugte nur zum Applaudieren.

Nun wollten die neuen Künstler Lebenswirklichkeit abbilden, sie wurden von den Experten, den Kriti-

kern und den Kunstsinnigen dazu ermuntert. Ein Werk hieß man wertvoll, wenn es von einem Eigen-

sinnigen der Realität abgetrotzt wurde. Dieser Realismus hat heute Bestand, er ist weder Kunst noch

Literatur, er ist Sozialreportage und Nippesjournalismus. Was aber hat sich, trotz der Moden der Sai-

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Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

son, erhalten? Kunst wird von einem Künstler gemacht. Oft haben einzeln Schaffende den Originali-

tätswahn und den Genialitätskult karikiert: Sie übergaben die Abrisszeichnung ihrer Idee einem ano-

nym zuarbeitenden Kollektiv und nannten das fertige Produkt ihr Eigen. Es gibt Ghostwriter, die Auto-

biografien von Prominenten verfassen; sie werden mit einem halbwegs anständigen Honorar für den

Dienst belohnt. In der Kultur unserer Tage gelten sowohl das Doppeltalent sowie das an einem Werk

arbeitende Doppel als zwielichtig. Künstlerkollegen im Gespann hält man eher im Theaterbetrieb aus;

hier werden Kulturtechniken, bevor sie Gemeingut werden, vor der Zeit angewandt.

Der Regisseur hält oft herzlich wenig von Originaltreue: Er streicht ganze Szenen, er tilgt den Anfang

und das Ende, er konzentriert und aktualisiert. Er reicht den Szenenablauf an Schreiber und sie über-

nehmen die den Angaben gemäße Sprachgestaltung. Die Zuständigkeitsbereiche sind markiert, doch

auch Drillinge könnten Regie führen oder an einem Stück arbeiten.

Konservative Ästheten befehden in den letzten Jahren immer heftiger das Regietheater: Es ist in ih-

ren Augen von mulattenhaftem Charakter. Die Überführung des heiligen Textes in das Schauspiel

bedarf höchstens des technischen Personals, fremde Einflüsse sind jedoch ein Gräuel. Die Vielzahl

der Mitwirkenden, so sie sich denn nicht an die festgesetzten Rollen halten, erschreckt sie. Bei diesen

empörten Ästheten handelt es sich fast ausnahmslos um Männer, die der Vorstellung vom klassisch

Schönen anhängen. Die Kunst hat im Deutschen zwar einen weiblichen Artikel, aber ein männliches

Wesen. Die heroische Maschine Mann trotzt Wetter und Witterung, sie rostet nicht. Die Konservativen

sind Ideologen, sie halten an dem Glauben fest, dass der Geistesmensch das Flüssige und das sich

Verflüssigende zu meiden habe. Zwei Kunst Schaffende, die zusammenarbeiten, setzen klare Gren-

zen, sie nutzen aber den Vorteil fließender Übergänge. Statt auf die Weltkennzeichnung setzen sie

auf Welterklärung. Die gegenseitige Verunreinigung lässt jeden an der eigenen Person krank werden,

also treten sie aus sich heraus.

Aufgepumpte Egomanen ersticken am eigenen Muff, ihr eigener Schatten wird zum Nebenbuhler. Das

Doppel ist ein poröses Ganzes, es versteht die Welt nicht aus dem hohlen Panzer heraus, in dem ein

gefangenes Ich glotzt und stottert. Wenn die gestrengen Kunstrichter böse knurren, fürchten sie ei-

gentlich die Auflösung des Mannes als verhärteten Künstler: Sie verdammen alles, was ihn feminisiert.

Zwei fröhliche Partisanen, die dem Spieltrieb nachgeben, dürfen nicht auf Gnade im Urteil hoffen.

Sehr oft geschieht es, dass man sie für Einbrecher im Weinberg des Herrn ansieht. Tatsächlich erle-

ben wir heute einen Rückgriff auf alte Muster, die Orthodoxen sprechen der Idee einer sinnmachen-

den Welt das Wort. Sie wollen bewahren und beschränken – in der senkrecht aufgerichteten Ordnung

hat jeder seinen Platz einzunehmen und zu halten. Jede in den Kanon aufgenommene Schrift, jede

musealisierte Kunstwerk ist ein Teil des Ganzen, das die Priester für die Laien erklären. Wer sich aber

nicht an die Verbote und Gebote hält, wird als verrückter Schwärmer beschimpft. Der Argwohn gegen

Grenzüberschreitungen, gegen die Verdoppelung des schaffenden Ichs, gegen das feminin Flüssige,

ist der Kampf jener Männer, die über die uralte Tradition wachen. Amen. Danke.

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Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

Andrea Thilo:

Vielen Dank, Feridun. Der zweite Zwielichtige im Geiste mit der porösen Struktur, wie ich gelernt habe,

ist Günter Senkel. Es gibt sehr viel Weibliches und viel Flüssiges in Ihrer Konstruktion. Es ist zerset-

zend und gefährlich für andere im Gedanken. Wie muss ich mir Ihr gemeinsames Schreiben vorstel-

len? Der eine denkt, der andere lenkt? Oder ist einer die Muse für den anderen? Wie geht das bei

Ihnen beim Schreiben?

Günter Senkel:

Wir wechseln uns beim Schreiben

immer ab. Wir sitzen äußerst selten

zusammen vor dem Computer, da wir

uns nicht gern gegenseitig in den

Schaffungsprozess hineinreden. Aber

wir reden viel, wir schauen, in wessen

Feld der Ball liegt, wir recherchieren

(mal der eine, mal der andere), wir

treffen uns, wir streiten uns, und so

entsteht auf die Dauer das, was unser

gemeinschaftliches jeweiliges Projekt

ist. Günter Senkel Foto: M.Nittel

Feridun Zaimoglu:

Wobei natürlich, da wir zwei unterschiedliche Menschen sind, wir zwar zusammenarbeiten und wir uns

streiten, ich derjenige bin, der die Tür zuschlägt und ihn der Inkompetenz und Ignoranz beschimpft.

Ich mache die Zicke. Aber wir sind beste Kumpel, auch im richtigen Leben. Jeder führt sein eigenes

Leben. Immer in Betrachtung der eigenen Arbeit läuft man Gefahr, die Dinge zu idealisieren. Die Ar-

beit besteht aus vielen Brüchen, aus Unvermögen, aus Verzweiflung. Auch darüber, dass das Fertige

noch nicht da ist. So dass ich z.B. Alpträume bekomme, dass man versucht, in einzelne Figuren hin-

einzuschlüpfen und sich die genannte Verzweiflung einstellt. Die große Illusion ist: Am Ende haben wir

ein Skript, ein Theaterstück, ein Kulturprodukt. Wir sind Zuarbeiter. Wir sind diejenigen, die eine Auf-

tragsarbeit bekommen und dann kommen wir zusammen. Für das fertige Produkt (ein Buch, ein

Skript) kriegen wir im besten Falle das Lob: Gut gemacht! Aber es heißt dann immer, die beiden kön-

nen gut miteinander arbeiten. Stimmt schon, aber es gibt auch viele Tage, an denen wir nicht gut mit-

einander arbeiten, uns streiten, ich eine Woche nicht mit ihm spreche, weil ich denke, er hat mich

beleidigt. Hat er nicht. Er hat nur das Richtige gesagt, das Logische.

Andrea Thilo:

Aber im Sinne des kreativen Prozesses, den Sie miteinander betreiben, erleiden, sich beglücken –

verstehe ich das richtig, dass Ihre gegenseitige Ent- oder Verunsicherung, dieses Anrotzen, dieses In-

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Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

den-Boden-Stampfen ein wesentlicher Prozess im kreativen Schaffen ist? Dass Sie im Sinne von „1 +

1 = 3“ glücklicher sind, da Sie sich nicht im Nachhinein der Kritik aussetzen, sondern schon vorher,

weil Sie das schon als inneres Korrektiv mit in den Prozess einbeziehen?

Feridun Zaimoglu:

Die harte Kritik. Er schont mich nicht. Und ich kann auch ein Liedchen von ätzender Kritik von meiner

Warte singen. Wir sind gewissermaßen keine zwei Einzeller, die dahinkrabbeln und den Weg zuei-

nander finden. Es hat viel damit zu tun, dass wir einander nicht schonen. Es ist nicht möglich. Sonst

würden wir die Arbeit nach unserem Empfinden nicht gut genug machen.

Andrea Thilo:

Und wie definiert sich diese Kritik? Können Sie das noch etwas praktischer machen? Wie schaffen Sie

es, dass die Kritik fußt und es weiter in Richtung eines Ziels geht, das Sie vielleicht noch nicht ken-

nen? Ist es eher ein amorpher kreativer Prozess?

Günter Senkel:

Wir sprechen zu Beginn darüber. Dann sind wir einer Meinung, was das Ergebnis irgendwann sein

sollte. Auf dem Weg dahin kriegen wir uns mehr oder weniger oft oder gar nicht in die Wolle, denn wir

haben eine gemeinsame Vision. Und stellen doch fest, dass der eine es ein bisschen anders sieht als

der nächste. Wir raufen uns dann wieder zusammen. Wir sind ja Individuen. Wir tragen das, was so-

wohl jeder für sich als auch wir als gemeinsame Idee haben, zusammen. Dann ist es fertig. Bisher war

es noch nie so, dass wir auf dem Weg gescheitert sind.

Andrea Thilo:

Noch mal praktischer gefragt: Wie geht der kreative Schaffensprozess an sich?

Feridun Zaimoglu:

Wir sind ein Teil des arbeitenden Gewühls. Es gibt den Regisseur/ die Regisseurin. Den Dramatur-

gen/die Dramaturgin. Es gibt uns beide. Mal geht es darum, einen Klassiker neu zu adaptieren. Das

heißt aber auch, komplett eine andere Gesichte mit einer anderen Sprache zu schreiben. Das heißt,

manchmal kriegen wir einen Szenenablauf, manchmal kriegen wir eine Strichfassung, manchmal

schreiben wir ein Stück zur Stadt. Dann gehen wir und recherchieren wir. Wir sind unterschiedlich. Ich

bin ja in eine fremde Sprache und Kultur hineingetragen worden, die jetzt meine Sprache und meine

Kultur ist. Ich bin der zuständige Sprachhygieniker, auch wenn es um Wucht geht, um Liebe, um Ge-

fühle, um Aufbrüche. Ich bin, wie er auch sagt, für die Sprache zuständig, für verschiedene Ebenen

der Sprache. Die Geschichte ist festgeklopft. Wir sind uns einig. Wir wollen z.B. eine archaische Ge-

schichte in München erzählen. In was für einer Sprache? Ich komme gern vom Weg ab, die Begeiste-

rung geht mit mir durch. Günter Senkel ist derjenige, der dann genau weiß, wenn wir eine Figur in der

1. Szene einbauen, was in der 30. Szene mit der Figur passiert.

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Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

Wir wohnen auch im selben Haus, im selben Stock, Tür an Tür. Die Papierwirtschaft reichen wir hin

und her, ganz wortwörtlich. Wir vermeiden Büroarbeit. In der ersten Zeit sprechen wir im Auto, wäh-

rend wir fahren, im Café, am Strand, am Robbenbecken, wir essen was, wir reden darüber.

In dieser ersten Zeit darf sich keine Arbeitssituation einstellen, mit Büchern, wohltemperiert und wohl-

klimatisiert. Das ist Gift für mich.

Andrea Thilo:

Wie sehr ist die Verbindung mit dem äußeren Leben bzw. den Realitäten von außen, in dieser Zeit, in

der Sie so miteinander umgehen, auf das, was Sie tun, zu übertragen? Sie haben z.B. „Romeo und

Julia unplugged“ für die Kampnagel-Fabrik in Hamburg gemacht und in eine andere Wirklichkeit über-

tragen. Wie wichtig ist für Sie das Andocken an Wirklichkeit, z.B. mit den Jugendlichen, mit denen Sie

ein Stück machen? Im Sinne der Methode von Lee Strasberg, so wie: Wenn du mit Obdachlosen spie-

len willst, musst du dich nachts nach draußen legen, damit du weißt, wie kalt es ist. Wie weit gehen

Sie da in die Auflösung Ihrer selbst in die Realitäten hinein, die Sie danach beschreiben müssen?

Günter Senkel:

Da müssen wir zwei Sachen auseinanderhalten. Wir haben einmal zusammen eine Überarbeitung von

„Romeo und Julia“ für das Kieler Schauspielhaus gemacht. Und dann hatten wir auf der Kampnagel-

Fabrik das Projekt, in dem wir mit einer Gruppe von 12 Jugendlichen aus Hamburg-Wilhelmsburg

„Romeo und Julia unplugged“ erarbeitet haben. Sie haben mit uns, für sich und auch mit ihren eige-

nen Ideen „Romeo und Julia“ selbst übersetzt. Sie haben es auf Englisch gelesen, sie haben es auf

Deutsch gehabt und sollten dann eine Fassung schreiben, die mehr zur heutigen Zeit und zu ihrer

Lebenswirklichkeit passt. Den Bühnenarbeitsprozess haben wir begleitet. Wir haben sie sehr viel ma-

chen lassen, aber auch dafür gesorgt, dass die Sprache funktioniert und dass die Logik eingehalten

wird.

Feridun Zaimoglu:

Und dann ging es ja weiter. Es war nicht nur Skripterarbeitung. Sie mussten in die Rollen schlüpfen.

Dieses Stück kam ja zur Aufführung und somit nicht das, was sonst voneinander geschieden wird: Es

gibt den Skriptwriter, und der gibt das Skript dann weiter. Wir waren eine Art Hebamme, haben ihnen

geholfen und auch Regie geführt. Dabei haben wir festgestellt, dass wir uns nicht einfach da hinstellen

und ihnen erzählen, was sie zu schreiben oder zu machen haben. Sehr vieles konnten sie aus ihren

eigenen Lebenswirklichkeiten herausschöpfen. Sie verstanden es. Worum ging es? Es geht in

„Romeo und Julia“ um obsessives Verlangen, um wirklich große Liebe.

Andrea Thilo:

Sie haben uns vorhin einen Einblick in Ihre Definition der Geschichte des Künstlers gegeben. Sie wer-

den ja nun zum Ermöglicher. Die Jugendlichen können ihre eigenen Realitäten, Gefühle etc. einbrin-

gen. Wo kommen Sie ins Spiel, so wie Sie mit der Machete, also auch mit Sprache, umgehen, wie ein

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Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

Sprachschneider? Verraten Sie, wo Sie auch zum Korrektiv werden, zum Lenker? Wo ist der Künstler

unkompromittierbar zu sagen: „Das ist schlecht.“? Wie viel Freiheit gibt es, wo gehen Sie im Sinne von

„1+1=3“ dagegen an? Wie sieht da genau Ihrer beider Rolle aus?

Feridun Zaimoglu:

Es gibt in der deutschen Sprache so etwas wie Grammatik, es gibt Artikel. Es gibt Regeln. Es bringt

nichts, sprachexperimentell zu sein. Wenn eine Schülerin in einem Projekt Lust hat, eine Szene in

dadaistischen Lautgedichten zu schreiben, sehr gerne! Aber es gibt Regeln. Ich finde, wir sind weder

hippiesk noch yuppiesk. Das bedeutet, es gibt Regeln und es gibt das Gebot der Geländegängigkeit.

Wir sind in einer besonderen Szene, der Liebesanbahnung. Romeo und Julia sehen sich zum ersten

Mal. Da wissen die, dass es schlecht ist, wenn gebrüllt wird. Es braucht eines gewissen Gespürs für

die Szene. Wie kommt die Sprache in Deckung mit der Szene, die wir nicht etwa einfach so wie zwei

Diktatoren da hinknallen. Es gibt Regeln der Sprache und der Ziemlichkeit, es gibt Regeln, was die

Szene verlangt, was die Emotion verlangt. Die Schüler haben zu der Premiere ihre Eltern eingeladen.

Sie wollten Erfolg haben, sie wollten, dass ihre Eltern denken, das ist ein anständiges Stück. Wir

mussten also auch darauf achten, dass die jungen Männer und Frauen darauf bestanden haben, dass

nicht geküsst wird. Nicht auf die Wange und nicht auf den Mund. Da hätten wir uns noch so hinstellen

können. Das wäre komisch gewesen: Zwei alte Typen, die sagen: Es geht doch um Inbrunst, um Feu-

er. Nee! Sie wollten sich nicht vor ihren Eltern blamieren. Es gab also Bedingungen, die die SchülerIn-

nen vorgegeben haben. An die haben wir uns gehalten.

Andrea Thilo:

Heute Morgen haben wir von einer Win-Win-Situation gesprochen: Schule und Künstler oder Künstler

und Jugendlicher oder Künstler und Institution, in der sie täglich sind. Wie intensiv erleben Sie das bei

jedem Projekt, dass Sie sich selbst bereichern und nicht nur die anderen? Wo gibt es Erfahrungen von

Ihnen beiden in solchen Grenzüberschreitungen, z.B. mit Jugendlichen, in denen das auch mal nicht

der Fall ist? Wenn ja, woran lag es dann?

Günter Senkel:

Bereichert hat es eigentlich immer, auch wenn es mal nicht geklappt hat. Ich hatte noch nie das Ge-

fühl, dass ich nach Abschluss oder Abbruch eines Projekts keinen Zuwachs an Erfahrungen gehabt

hätte.

Andrea Thilo:

Was waren denn bei Ihnen die Bedingungen für einen Abbruch?

Günter Senkel:

Wir haben z.B. mal an einem Liederabend gearbeitet, da gab es einen Komponisten und das Theater.

Dann war der Komponist plötzlich verschwunden, dann wieder da, dann hat es ihm nicht gefallen –

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Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

man dreht sich im Kreise. Das sind so Projekte, bei denen alle Seiten auf die Idee kommen: OK, las-

sen wir’s vielleicht. Das kommt selten vor. Projekte fallen nicht vom Himmel. Jemand ruft uns an, es

gibt ein Theater, einen Regisseur, einen Chef-Dramaturgen. Und wenn man dann zusammensitzt und

feststellt, dass man eine gemeinsame Vision hat, dass unsere Vision ein Teil einer größeren gemein-

samen Idee ist, dann sind wir bei der Arbeit. Eigentlich merkt man sehr schnell, wenn es nicht geht.

Man trifft sich einmal und merkt dann schon, dass man sich nicht wiedertrifft.

Andrea Thilo:

Anknüpfend an das, was wir von Dr. Huhn und Sebastian Hirsch gehört haben: Zu welcher Weltwahr-

nehmung neigen Sie denn? Wenn Sie sich die Kinder, Eltern und Institutionen ansehen, oder auch die

Welt, in der wir leben: Wo sind wir denn?

Feridun Zaimoglu:

Schwierig. Ich habe eine alte Schule genossen, eine alte und strenge Erziehung. Ich habe am eigenen

Leib erfahren, was es heißt, wenn die Mutter gewissermaßen aus dem Sohn ein Wunderkind machen

will. Was hinter diesen ganzen Begriffen bei mir an biografischem Material steckt! Einerseits ist es

hammerhart. Andererseits – hätte sie es nicht gemacht… Es hat mir damals nicht geschmeckt. Sie hat

sogar für mich den Umgang mit anderen Kindern bestimmt. Das heißt, ich durfte mit Türkenjungs

nichts zu tun haben. Es ging um die Sprache. Also nur mit deutschen Kids. Heute sage ich: großartig.

Diese Strenge war großartig, sonst wäre ich nicht weiter gekommen. Wenn man mir gesagt hätte,

dass Kunst in mir steckt, und dass ich es schaffe… Ich war das beschleunigte Arbeiterkind in einer

Gesellschaft und in einer Schule, die in mir das nicht Ebenbürtige gesehen hat. Klar. Aber das lag am

Arbeiterkind. Nur deswegen bin ich der Meinung, dass in den meisten Schulen trotz Auflockerung und

schönerer, besserer Projektwochen (und ich bin hier nicht objektiv) das Strenge und das Regulierende

in Maßen etwas bewirken können. Da finde ich es nicht besonders schade, dass das Eis nicht gebro-

chen ist.

Andrea Thilo:

Das ist sehr spannend. Haben Sie Kinder? Nein? Wenn ja, würden Sie die durch die gleiche Knute

schicken oder weicher in Ihren Armen dadurch schicken oder ganz anders?

Feridun Zaimoglu:

Bei einem Mädchen würde ich sehr weich sein. Bei einem Jungen aber würde ich dasselbe Programm

empfehlen.

Andrea Thilo:

Da kommt der Türke durch! Der Türke, der mir von den Eltern meiner Mitschüler her vertraut ist. Im

Sinne der Grenzüberschreitung. Hier treffen sich zwei verschiedene Wasser, zwei Farben. Wie oft

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Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

sind solche kulturellen Begegnungen zwischen Ihnen, was Werte angeht? Ergeben sich Kollisionen?

Führen diese Kollisionen immer zu einem Ergebnis in der Mitte, ohne dass etwas verweichlicht wird?

Günter Senkel:

Das kommt auf das Thema an. Das ist sehr unterschiedlich. Bei einigen kollidiert es ständig, z.B. Reli-

giosität oder Benimmregeln. Es geht um Kleinigkeiten, aber an denen entspinnt sich schon mal ein

größerer Konflikt. Bei anderen Dingen, die einen größeren Wert haben, sind wir uns dagegen völlig

einig. Aber an den Punkten, wo wir Meinungsverschiedenheiten haben, gibt es Auseinandersetzun-

gen, aber es führt selten dazu, dass einer von uns seinen Standpunkt ändert. Auch mit verschiedenen

Standpunkten, so stellen wir fest, können wir uns zusammenraufen.

Andrea Thilo:

Sie können ja auch flüchten, Sie haben verschiedene Rollen, die Sie schreiben.

Feridun Zaimoglu:

Ich bin derjenige, der bei bestimmten Sachen, z.B. bei Neuadaptionen von Klassikern, auf den Plan

tritt. Bei Shakespeare z.B. wimmelt es von Benimmregeln. Ich als Arbeiter- bzw. Kleinbürgerfamilien-

kind hatte es ja nur mit Benimmregeln zu tun, einer Liste von Verboten und Geboten. Wenn ich auf die

viktorianische Empfindsamkeit der jungen Damen stoße, da weiß ich sofort, was es bedeutet. Das

Erröten muss man mir nicht erklären. Ich habe ja auch einige Jahre Medizin studiert. Ich weiß, diese

Sittlichkeitsröte hat natürlich ein körperliches Äquivalent. Ich jongliere damit. Über die Sprache denke

ich nicht nach, das kommt. Bei Religiosität sprechen wir auch drüber und von der Magie haben wir

beide eine Ahnung. Wenn es um Überschwang oder um das Böse geht, dachte ich, ich sei derjenige –

aber er ist mir über! Was Entspannung angeht, da ist er entspannter als ich. Umgekehrt bin ich für ihn

oft zu schnell und zu hektisch. Das sind aber alles nur ein paar Momente, idealisiert und überspitzt

dargestellt, aber Sie können sie sich vorstellen, die gegensätzlichen Potentiale, die komplett anderen

Setzungen (wenn Günter z.B. stundenlang in einem Café hockt und ich unruhig werde), die Logiken

des anderen. In manchen Punkten ist Günter viel weiter als ich, wenn wir an einem Stück arbeiten.

Andrea Thilo:

Ich würde gern den Bogen zu heute Morgen spannen. Da haben wir über Veränderungen an Syste-

men gesprochen und von 5-Jahres-Plänen oder gar 10-Jahres-Plänen, um etwas zu verändern, wenn

es nicht gerade an einer einzigen Person hängt.

In den jahrelangen Erfahrungen, die Sie mit Institutionen, Verlagen etc. gemacht haben, können Sie

uns Tipps, Impulse oder Ideen geben, was für eine erfolgreiche Veränderung in einem längeren Zeit-

raum wesentlich ist? Das eine, was Sie mir im Vorgespräch bereits sagten, war: Ich darf den anderen

nicht verändern wollen. Gemeinsam sind wir mehr. Was aber noch, im Hinblick auf Institutionen, Schu-

len, Partner?

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Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

Feridun Zaimoglu:

Knallharte Arbeit. Anlauf. Immer und immer wieder. Ich kenne es nur so. Meist bin ich gut gelaunt,

sogar schon morgens. Dann brenne ich durch. Das bedeutet, es liegt mir, immer wieder zu arbeiten,

einzuwirken. Ich schreibe Bücher und male, zusammen schreiben wir Theaterstücke und Drehbücher.

Aber ich schrecke davor zurück, Ratschläge zu geben. Ich kann nur von harter Arbeit und der großen

Freude sprechen, wenn ich abends ins Bett falle. Es wird nicht morgen kommen, nicht in unserer Zeit.

Aber das Strenge, im Sinne von starr, muss ja früher oder später brechen. Und zwar von innen. Wie

das Phänomen der inneren Blutung. Bei mir ging es nie über die Kraft von außen, sondern über innere

Blutungen.

Andrea Thilo:

Zum Schluss ziehe ich den Bogen zu Brokdorf und zur Kraftzersetzung. Da steckt ja auch etwas vom

Glauben, etwas zu verändern, drin. Ich will keinen politischen Diskurs aus dem Zusammenhang zie-

hen. Aber Jemen, Tunesien, Ägypten – ist es so, dass eine Kraft zurückkommt von dem, was draußen

im Moment passiert? Von der wir uns etwas abschneiden können?

Günter Senkel:

Wenn man glaubt, dass Veränderung möglich ist, sollte man dafür kämpfen. Aber das Problem an den

derzeitigen Veränderungen ist ja, dass sie in Nordafrika stattfinden – nicht hier.

Andrea Thilo:

Ich danke Ihnen ganz herzlich.

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Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

18. Februar 2011, 12:00 – 13:30 Uhr: Rede & Antwort

Teilnehmer:

Alice Ströver, MdA (Kultur- und medienpolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Grüne;

Vorsitzende des Ausschusses für kulturelle Angelegenheiten im Berliner Abgeordnetenhaus)

Brigitte Lange, MdA (Kulturpolitische Sprecherin der SPD Fraktion)

Mari Weiß, MdA (Jugendpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke)

Mieke Senftleben, MdA (Sprecherin für Bildung, Familie, Religionsgemeinschaften und Sozia-

les der FDP Fraktion)

Michael Braun, MdA (Kulturpolitischer Sprecher der CDU Fraktion)

Renate Breitig (Gründerin von TUSCH Berlin und TanzZeit, bis 2009 Referentin in der Se-

natsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung)

Matthias Lilienthal (Intendant des Theaters Hebbel am Ufer in Berlin, Mitbegründer der Paten-

schaftsidee Künste & Schule)

Andrea Thilo (Moderation)

v.l.n.r. Mari Weiß, Mieke Senftleben, Andrea Thilo Foto: M.Nittel

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Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

Ausgangspunkt des abschließenden Plenums „Rede & Antwort“ waren folgende Fragestellungen, die

durch TagungsteilnehmerInnen in insgesamt 5 Foren erarbeitet wurden:

1. Wie muss kulturelle Bildung strukturiert sein, damit strukturelle Veränderung passiert? 2. Wie muss Schule strukturiert sein, damit kulturelle Bildung stattfinden kann?Woher kommt das

Geld und woher kommen die Ressourcen im Bereich der Kulturbeauftragten und Lehrkräfte?

3. Gibt es überhaupt Gründe, Zensuren beizubehalten, insbesondere in künstlerischen Fächern, wo uns doch eigentlich diese Bereiche (Kunst, Kultur, Sport) ein Leben lang bereichern, wo-hingegen uns andere (sozusagen die Hauptfächer) nicht alle immer im gleichen Maße weiter-hin begleiten?

4. Wie können künstlerische/ musische Methoden in alle Fächer eingebaut werden, von Beginn

der Lehrer-Ausbildung bis in den Alltag hinein, fächer- und fachübergreifend?

5. Wie können Schulen und gemeinnützige Einrichtungen von Urheberrechtsabgaben befreit werden, ohne die Künstler zu schädigen?

6. Wie können Prozesse kultureller Bildung in den Institutionen begleitet werden, wie können sie

abgesichert werden und von wem, von wo aus soll es stattfinden und in welchem Umfang soll es stattfinden?

7. Wie und von wem können Fort-, Weiter- und Ausbildungen für freischaffende KünstlerInnen,

LehrerInnen und ErzieherInnen entwickelt und finanziert werden?

8. Wie kann Kommunikation zwischen den Bereichen Kultur, Jugend und Bildung von politischer Ebene eingefordert und unterstützt werden; wie kann „die Basis für die Basis“ geschaffen werden, damit Kommunikation und Arbeit vor Ort möglich sind?

9. Können diese Stunden ermöglicht werden und zwar auf eine solche Art, dass sie auch direkt

in die Projekte fließen?

10. Für eine Teilnahme am Programm der Kulturagenten müssen von den teilnehmenden Schulen knapp 7.000 € pro Jahr zur Verfügung gestellt werden. Kann diese Summe vom Senat getra-gen werden, da die Schulen ihre PKB-Mittel für die Abdeckung des Unterrichts einsetzen müssen?

11. Wie kann man diese Projekte, die über Projektmittel laufen, langfristig und nachhaltig machen,

sowohl von den Finanzen als auch von der Zeit her?

12. Wie schaffen wir den Quantensprung von den kleinen zu den großen Projekten?

13. Wer definiert und evaluiert eigentlich die künstlerische Qualität von den Projekten, die die Kul-turagenten mit den Schulen planen?

14. Wie können Schüler mitbestimmen?

15. Dem Konzept nach ist ein Kulturagent für drei Schulen zuständig, aber Jugendzentren und

ähnliche Einrichtungen fallen heraus, eine lokale Vernetzung fehlt also. Wie können Orte der Jugendarbeit mit einbezogen werden?

16. Warum müssen nur in Berlin, in keinem anderen Bundesland, die Schulen so ein Projekt ko-

finanzieren?

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Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

Andrea Thilo:

Wir steigen ein mit der Frage: Wie kann die Politik mit den gegebenen finanziellen Mitteln langfristige,

nachhaltige Strukturen für kulturelle Bildung schaffen? Diese Frage richten wir an die Regierungsver-

antwortung.

Brigitte Lange:

Wir haben seit vier Jahren 2 Millionen jährlich in den Projektfonds Kulturelle Bildung gesteckt. Wenn

es nach der SPD geht, wird der Fonds weiter existieren, die finanziellen Grundlagen dafür sind gesi-

chert. Aber auch innerhalb der Projekte muss eine Evaluation stattfinden in Bezug auf Nachhaltigkeit

bei Schülerinnen und Schülern, Kindern und Jugendlichen und auch bei den Institutionen und den

Schulen. Wie hat sich z. B. Schule durch die künstlerischen Projekte verändert? Relevant ist auch,

dass sichergestellt wird, dass diese Projekte den Projektestatus verlassen können und verlässlich

angeboten werden.

Andrea Thilo:

Was kann die Politik dazu tun, dass Nachhaltigkeit gesichert werden kann, wenn z. B. Projektmittel

von Stiftungen oder Fonds auslaufen? Evaluationen sind ja auch sehr teuer.

Brigitte Lange:

Der Berliner Haushalt ist natürlich nicht unendlich. Die besagten Millionen haben wir eingestellt. Ich

kann als Parlamentarierin dafür sorgen, dass diese Mittel im Haushalt weiter zur Verfügung stehen.

Unser Bestreben wird sein, den Topf für diese erfolgreichen Projekte eventuell auch aufzustocken.

Das kann ich aber jetzt noch nicht sagen, bevor nicht der Ausgang der Wahlen im Herbst feststeht.

Andrea Thilo:

Könnte das ein Wahlversprechen sein, dass der Projektfonds Kulturelle Bildung aufgestockt wird?

Brigitte Lange:

Ja, das wird bei uns im Moment diskutiert, aber unser Wahlprogramm ist noch nicht vollständig abge-

schlossen.

Matthias Lilienthal:

Zunächst, auch wenn es ein bisschen unpopulär ist, ein Dank an die Politik, dass diese arme Stadt

dem Kulturressort Mittel zur Verfügung gestellt hat, um den Projektfonds Kulturelle Bildung zu ermög-

lichen. Ich bin sicher, dass sich die Politik im Vorfeld der Wahl gerade darum schlagen wird, die Mittel

nach der Wahl zu verdoppeln.

„Das Projekt soll in Nachhaltigkeit verwandelt werden“ - das geht mir allerdings auf den Wecker. Ich

will eine Schule entern, den Direktor absetzen, das Ding in die Hand nehmen, ein paar Wochen lang

28 | S e i t e

Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

was Anderes initiieren. Das hat an der Hector-Peterson-Schule super geklappt. Der Direktor möchte

auch gar nicht mehr zurückkommen…. Aber irgendwann will ich es doch auch wieder loswerden.

Alice Ströver:

Es gibt den Projektfonds und es gibt die Schule. Für mich beschränkt sich die Gesamtfrage zu Kunst-

entwicklung und kultureller Bildung nicht allein auf die Schule, sondern wir müssen bei frühkindlicher

Lern- und Partizipationserfahrung ansetzen. Das heißt für mich von der Kita an, von der Grundschule,

also schulische und außerschulische Projekte, Kooperationen mit Musikschulen, Jugendkunstschulen.

Aus meiner Sicht sind 2 Millionen im Projektfonds Kultureller Bildung gut. Aber es ist nur ein Anfang

für die Beantwortung der Frage zur Nachhaltigkeit. Für mich bedeutet es in erster Linie Veränderung

in Schule und Vorschule, z. B. Ganztagsunterricht. Es bedeutet eine andere Art von Unterricht, ein

anderer Ansatz von Lernen, Vermittlung, Teilhabe und Menschenbildung. Auch mit noch so viel Millio-

nen schaffen wir aber nichts, wenn es von den Bildungseinrichtungen nicht verinnerlicht wird. Und jetzt

muss ich uns KulturpolitikerInnen mal loben: Auf Initiative der gesamten Stadt haben wir es auf Berli-

ner Ebene geschafft, es gemeinsam so weit zu bringen. Aber in den Bildungsbereich muss all dies

noch viel stärker hinein kommuniziert werden. Ich bin sehr froh, dass so viele Lehrer- und Lehrerin-

nenvertreter diese Punkte hier bereits thematisieren. Das ist der zentrale Punkt: stärkere Öffnung von

Schule für Künstler und eben auch das Hinausgehen aus der Schule in alle Bereiche der Gesellschaft.

Andrea Thilo:

Als Mutter, die eine Ganztagsschule erlebt, möchte ich eine Frage aufgreifen. Theoretisch haben wir

eine rhythmisierte Ganztagsschule, doch die ErzieherInnen sind de facto dafür überhaupt nicht aus-

gebildet. Sie sind hoch engagiert, doch sie können es oft genug nicht und ich kann es ihnen nicht vor-

werfen: der Gesangsunterricht, der Kunstunterricht, vom Tanzen gar nicht zu reden. Daher meine

Frage an die Bildungspolitiker, wie ist es mit Finanzierung und Bereitstellung von Ressourcen für Aus-

und Weiterbildung?

Mieke Senftleben:

Veränderung der Schule ist genau das, was wir wollen. Kooperationen mit anderen Trägern. Es geht

nicht nur um die ErzieherInnen, die überfordert sind, weil sie die entsprechende Ausbildung nicht ge-

nossen haben. Wir wollen Veränderungen in Schule zu schaffen, aber wie mache ich das? Indem ich

dem Senator sage, er soll darüber bestimmen? Oder, indem ich die Schule frage: Wie willst du dich

verändern? Der Senat muss den Rahmen setzen, die Möglichkeit geben, dass Schule sich in größerer

Eigenverantwortung verändern kann. Nur so kann ich wirklich Veränderungen an der einzelnen Schu-

le schaffen. Jeder Anspruch, alle Schulen gleichermaßen in eine bestimmte Richtung verändern zu

wollen, schlägt fehl – Kreativität entsteht vor Ort.

Auch zum Thema Nachhaltigkeit versus Projekt müssen wir hier ehrlich und deutlich sagen, dass ein

Projekt einen bestimmten Charme hat, den wir nicht vergessen dürfen. Und andererseits, wenn wir ein

Projekt vier Jahre lang durchführen, heißt es, dass ein Schüler während der gesamten Sekundarstu-

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Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

fen-Laufbahn, von der 7. Klasse bis zum Schulabschluss, so ein Projekt durchläuft. Das ist nachhaltig.

Ich finde es wunderbar, wenn Sie, Herr Lilienthal, als Experte an die Schulen gehen. Das verstehe ich

unter Kooperation. Sie bringen Ihre Dynamik für ein bestimmtes Projekt ein. Aber wenn ich von Ihnen

verlange, dass Sie das mehrere Jahre machen sollen, lässt auch Ihre Dynamik nach. Das geht uns

allen so. Das ist das Charmante an dem Thema Projekt. Mein Plädoyer geht klar für die eigenverant-

wortliche, wirklich rhythmisierte Ganztagsschule.

Mari Weiß:

Zur Frage: Wie schaffen wir Nachhaltigkeit? Bereits vor sechs Jahren hat sich meine Fraktion dieser

Frage gewidmet, woraus sich unsere Forderung nach einem Rahmenkonzept Kulturelle Bildung

ergab, das dafür Sorge tragen sollte, dass die Vielfalt in der Stadt und die Mittel aus den verschiede-

nen Bereichen zusammengefasst werden.

Ich finde es sehr gut, dass eine Frage aus den Arbeitsgruppen lautet: Wie können wir Politiker dafür

sorgen, dass diese Kommunikation zwischen Bildung, Jugend und Kultur endlich funktioniert? In mei-

nen damaligen Parlamentsreden zum Rahmenkonzept habe ich unsere Ziele benannt: dass sich die

Verwaltungen von Bildung, Jugend und Kultur an einen Tisch setzen mögen. Das war zu diesem Zeit-

punkt noch nicht gegeben. Das ist das große Werk, das wir mit dem Rahmenkonzept Kulturelle Bil-

dung geschafft haben. In anderen Fragen stehen wir dagegen noch am Anfang. Da muss man ehrlich

sein und sagen, dass wir den Projektfonds durchgesetzt haben, weil er zufällig in den Haushaltsbera-

tungen Thema war. Aber eigentlich sollten durch das Konzept erst konkrete, nachhaltige Projekte

geschaffen werden, so wie wir es nun mit dem Programm der Kulturagenten ausprobieren. Der Fonds

sollte als Anschubfinanzierung dazu dienen, auch Drittmittel einzuwerben, um diese Stadt zum Leben

zu erwecken.

Wir haben damit sehr viele Impulse in die Stadt gegeben. Wie oft habe ich Künstler gehört, die gesagt

haben: „Wir sind es leid, ein Einjahresprojekt an einer Schule zu machen und den Kindern dann zu

sagen, dass wir nicht wiederkommen. Wir würden auch weniger Projekte machen und dafür länger zur

Verfügung stehen. Wir sind bereit, andere Schwerpunkte zu setzen.“

Anders, als Frau Lange es gerade gesagt hat, glaube ich zwar auch, dass der Projektfonds aufge-

stockt gehört, aber nicht durch Landesmittel. Sondern durch Mittel von Stiftungen, von anderen Akteu-

ren aus der Stadt – man denke an Simon Rattle und die Deutsche-Bank-Stiftung. Nehmen Sie als

Beispiel das Projekt der Kinderoper „Sternzeit F:A:S“ in Lichtenberg. Es wurde aus dem Projektfonds

anteilig mit nur 9.000 € finanziert. Alle anderen der insgesamt 130.000 € für das Projekt sind Drittmit-

tel, die wir angeworben haben, wofür der Grundstock aus dem Projektfonds wiederum wichtig gewe-

sen ist. Aber es ist nicht der Fonds, der die Nachhaltigkeit in der Stadt sichern kann. Das müssen wir

anders schaffen. Voriges Jahr haben wir TUSCH und TanzZeit in den Haushalt geholt, jetzt müssen

andere Projekte ähnlich unterstützt werden. Und dafür müssen sich Kultur-, Jugend- und Bildungsver-

waltung wieder an einen Tisch setzen, denn langfristige Projekte müssen auch ressortübergreifend

finanziert werden. Und wenn wir uns als Jugend- und Bildungsvertreter für bestimmte Projekte einset-

zen, müssen wir überprüfen, ob wir Einschnitte in unseren Haushalt an anderen Punkten hinnehmen

30 | S e i t e

Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

können oder nicht. Es wäre z. B. unfair den Schulen gegenüber, wenn wir Projekte der kulturellen

Bildung auf Kosten der Schulfinanzierung in den Haushalt übernehmen.

Renate Breitig:

Ich komme mit dem Begriff Projekt, wie er hier formuliert wird, nicht klar. Er wird so unterschiedlich

definiert, dass er vage und diffus ist und nichts mit dem zu tun hat, was wir unter nachhaltiger kulturel-

ler Bildung verstehen. Wenn wir hier „1 + 1 = 3“ sagen, geht es uns um Kontinuität, um Tiefe und Brei-

te. Das ist es, was wir schaffen müssen. Nicht nur punktuelle, kleine Projekte. Wir müssen Strukturen

schaffen. Das Berliner Schulgesetz lässt durchaus viele Möglichkeiten zu, hat eine große Autonomie

geschaffen, aber was damit gemacht wird, bedarf wichtiger Unterstützungssysteme. Doch an denen

hapert es. Das sind Dinge, die nicht gratis erfolgen können. Nicht umsonst ist das Kulturagentenpro-

jekt in diese Stadt gekommen, da es ein Unterstützungssystem ist, um Schulen langfristig zu vermit-

teln, dass kulturelle Bildung eben nicht nur in einem, sondern in vielen Fächern stattfindet und dass es

eine Unterrichtskultur insgesamt verändern muss. Wir müssen auch die Methoden verändern, uns auf

offene Prozesse einlassen. Das ist eine Veränderung von Schulen und von Lernen, wie es auch Herr

Dr. Huhn mit Neugier und Offenheit zu Beginn der Tagung formuliert hat. Das geht nicht mit punktuel-

len Projekten, sondern das ist ein langes, kontinuierliches, in allen Fächern zu verankerndes Anliegen.

Ohne Unterstützungssystem und ohne Kulturbeauftragte an Schulen geht es nicht.

Andrea Thilo:

Von welchen Unterstützungssystemen reden wir konkret? Wie können sie realistisch hergestellt und

von der Politik unterfüttert werden?

Michael Braun:

Mich stört an dieser Diskussion das Suchen nach immer neuen, teuren Strukturen. Wir überlegen zu

wenig, wie die Mittel, die in dieser armen Stadt eingestellt sind, tatsächlich auch bei der Kultur und an

den Schulen bleiben. Strukturen und Evaluation kosten viel Geld, das der eigentlichen Kulturarbeit an

den Schulen und den Projekten verloren geht. Da bin ich eher Frau Senftlebens Meinung, dass wir

aufpassen müssen, kein bürokratisches Monstrum zu schaffen, in dem dann für die Kultur immer we-

niger übrig bleibt.

Wir sollten nicht so tun, als hätte Kultur an den Schulen nicht schon vorher stattgefunden. Worüber wir

hier reden ist eine ergänzende Maßnahme zu dem, was auch schon vorher stattgefunden hat; auch

wenn dies viel zu wenig gewesen sein mag. Es geht doch darum, Kulturorte und Produktionen insbe-

sondere dann zu besuchen, wenn sie Bestandteile von Unterrichtsfächern sind, wie z. B. Deutsch oder

Kunst, so dass die Schüler einen Bezug dazu herstellen können. Wir müssen uns fragen, wie man

das, was normalerweise in der Schule stattfindet, mit Kultur verbinden kann, ohne dass man neue

Strukturen fordert.

Die Künstler bemängeln, von den Schulen selbst komme zu wenig Anregung, was man im kulturellen

Bereich machen könnte. Sie, die Künstler, gehen in die Schulen und schlagen Projekte vor, im Regel-

31 | S e i t e

Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

fall mit positivem Ergebnis. Wir müssen uns überlegen, wie man solche Anstrengungen besser hono-

rieren kann.

Andrea Thilo:

Dr. Huhn hat hier gestern eine Vision gesponnen, die von allen beklatscht wurde: Ein halbes Jahr die

Schulen schließen, stattdessen nur noch Kunst in der Schule machen und dafür den Rahmenplan mal

kurz außer Kraft setzen. Herr Lilienthal?

Matthias Lilienthal:

Damals, als der Projektfonds eingerichtet wurde, kamen die Mittel für die kulturelle Bildung aus der

Kultur. Zwei Millionen sind für die Kultur sehr viel Geld. Aber in Relation zum gesamten Schulbudget

ein Witz. Der entscheidende Schritt ist, dass man schlicht über ein halbes Prozent der schulischen

Mittel nachdenken muss. In dem Moment, wo man das erreicht, schafft man eine Konsolidierung. Das

ist harte Arbeit, die seit ein paar Jahren erfolgreich begonnen hat. Die Schulverwaltung muss akzep-

tieren, dass es ihr Projekt ist und es sich zu Eigen machen. Das sind im Moment die wichtigsten

Schritte.

Herr Braun, Sie haben gesagt, es hätte schon immer Kultur an den Schulen gegeben. Die kulturellen

Fächer sind aber sehr reduziert, sozusagen vertrieben worden. Kulturelle Bildung sollte dann mal

schnell ersetzen, was aus dem Stundenplan gestrichen wurde. Und dazu ist man mit 2 Millionen Euro

einfach nicht in der Lage. Auch Künstler sind es nicht. Aber ich finde es gut, dass die Künstler sich die

Projekte ausdenken müssen. Denn auch die Kunst muss sich über einen partizipativen Prozess per-

manent neu erfinden. Die Künstler vom HAU benötigen die Schulen hauptsächlich dafür, um künstleri-

sche Anregungen für sich selbst zu finden. Und um es nochmal zu unterstreichen: von zwei Millionen

auf vier Millionen im Projektfonds zu gehen, ist in Relation zum gesamten Schulbudget ein Witz.

Publikumsmeldung/ Detlef David, LISUM (Landesinstitut für Schule und Medien Brandenburg):

Mir scheint in manchen Diskussionen die Kenntnis über diese wunderbaren Kulturprojekte wegzurut-

schen. Einer der Siege ist doch, das Gegenüberstellen von Künstlern und Schule zu vermeiden. Einer

der zentralen Punkte in der kulturellen Bildung ist doch, dass sich KünstlerInnen, kulturelle Einrichtun-

gen und Schulen gemeinsam vorher Gedanken machen und dann Geld bekommen. Und dann fragt

es sich wie die Erfahrung dieser beiden Protagonisten verstetigt werden kann in Richtung Entwicklung

von Schule. Und vielleicht auch in Richtung von Entwicklung von Anregung für KünstlerInnen. Wie

kann man das für die nächsten Jahre mit politischer Unterstützung verstetigen?

Andrea Thilo:

Frau Lange, wie können wir politisch und systemisch unterfüttert die Kommunikation zwischen den

verschiedenen Akteuren Jugendbildung, Kulturpolitik und Schule einbeziehen und befördern?

32 | S e i t e

Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

Brigitte Lange:

Das ist ein dickes Brett. Ich bin seit 2001 im Berliner Parlament. Es ist uns erst vor vier Jahren gelun-

gen, die Zusammenarbeit im kulturellen Bereich zwischen Schule, Jugend und Kultur herzustellen. Die

funktioniert jetzt recht gut, wie ich finde. Aber man kann auch von den SchulpolitikerInnen erwarten,

dass sie das ihre dazu tun. Wir arbeiten weiter daran.

Zum Beitrag von Herr Lilienthal: der Projektfonds ist seinerzeit auf Initiative des Rates für die Künste

entstanden. Viele Akteure der kulturellen Bildung haben dazu beigetragen. Es war nie so gedacht,

dass dieser Fonds die künstlerischen Fächer an den Schulen ersetzen, sondern zusätzlich zu ihnen

angeboten werden sollte.

Der zweite Punkt ist natürlich sehr misslich: die Reduktion der künstlerischen Fächer. Wir arbeiten

daran, das jetzt wieder in normale Bahnen zu bringen. Auch in unserem Wahlprogramm wird zu finden

sein, dass Musikunterricht und bildender Kunstunterricht wieder kulant ausgeweitet werden.

Mieke Senftleben:

Das Problem der Kunsterzieher und -lehrer ist virulent in dieser Stadt, und das nicht erst seit gestern.

Von den Pädagogen an den Musikschulen wird seit Jahren moniert, dass kein Musikunterricht mehr

stattfindet. Der Senator selbst hat gesagt, in der Sekundarschule brauchen wir das eigentlich nicht

mehr. Ich finde aber, wir brauchen das. Was nicht sein darf, ist, dass wir die Projekte der kulturellen

Bildung dafür nutzen, den Basisunterricht von Musik, Kunst und Sport zu ersetzen.

Renate Breitig:

Frau Lange, Sie haben mit Recht gesagt, dass es uns gelungen ist, die drei Ressorts zusammenzu-

bringen. Es ist uns auch gelungen, ein großartiges Rahmenkonzept zu schreiben, eine senatsüber-

greifende Arbeitsgruppe zu gründen und daraus fünf konkrete Handlungsbereiche ins Leben zu rufen.

Wir wissen, was gemacht werden muss, wir haben Prioritäten gesetzt. Dennoch konnten nur zwei

dieser Handlungsfelder bislang umgesetzt werden. Eines davon sind die Kulturagenten, weil wir Gel-

der von Stiftungen akquirieren konnten. Doch auch die anderen Projekte bedürfen dringend der ziel-

gerichteten Umsetzung. Wir können nicht an dieser Stelle stehen bleiben, nachdem wir so weit ge-

kommen sind. Wir müssen überlegen, ist der Projektfonds das Rahmenkonzept – oder sind das zwei

getrennte Bereiche? Kann er dazu dienen, die Zielsetzung aus den Arbeitsgruppen umzusetzen? Der

Fonds hat sehr viel inspiriert und geöffnet für Dinge, die längst in der Stadt hätten verstetigt werden

sollen. Wir können aber nicht jedes Jahr neue Projekte anfangen, sondern wir müssen sehen, welche

davon wir kontinuierlich fortsetzen. Wie Frau Weiß es bereits formuliert hat: Nicht nur Einjahresprojek-

te machen, sondern lieber erst mal Schwerpunkte setzen. Eine Verzahnung des Projektfonds mit lang-

fristigen Zielen ist nötig.

33 | S e i t e

Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

Alice Ströver:

Ich sehe die Schwierigkeit, dass wir

alle aus der parlamentarischen Arbeit

heraus einerseits sehr zufrieden sind

mit dem, was als Handlungsoptionen

im Rahmenkonzept steht; andererseits

befinden sich aber nur wenige Berei-

che bisher in der Umsetzung. Wir ha-

ben einen jährlichen Fortschritts-

bericht eingefordert, der aber immer

dünner wird. Das Ganze droht zu zer-

fasern. Zukünftig müssen die Dinge

viel tiefer in den Ablauf von Bildungs- v.l.n.r. Alice Ströver, Brigitte Lange

einrichtungen hinein gehen, müssen massiver in die Struktur eingreifen.

Damit sind wir bei der Perspektivfrage. Ich behelfe mir mit einem Wortspiel: Wir brauchen kulturelle

Bildung, aber im Sinne einer Kultur der Bildung. Das Bildungssystem selbst ist die größte Barriere

dessen, was wir mit kultureller Bildung als Bestandteil von Schule sehen. Hinzu kommt, dass Lehre-

rInnen Projekte von außen oft als eine Art Konkurrenz sehen. Daher ist die vorher beschriebene Art

von gemeinsamer konzeptioneller Arbeit absolut wichtig und zwar nicht nur im Bereich ästhetischer

Erziehung, sondern für den ganzen Bereich der Kunst und der Bildung. Wir geben zwar mehr Rechte

in die einzelnen Schulen, doch die vorliegenden Strukturen verdichten sich weiter. Ein Beispiel: Meine

Partei ist keine Freundin des Sonderfachs Ethik. Wertefragen, genauso wie ästhetische Fragen gehö-

ren in kein Extra-Fach, sondern sollten überall behandelt werden. Aber die gegenwärtige Kultur der

Bildung beantwortet diese Notwendigkeit nicht. Und jetzt stockt es. Wir lassen den Projektfonds wei-

terlaufen. Doch er ist im Grunde doch nur eine Zwischenphase. Wenn wir nicht dahin kommen, die

Schule insgesamt auf das Individuum und die Entwicklung einer ästhetischen Erziehung auszurichten,

kommen wir mit dem ganzen Konzept nicht weiter.

Andrea Thilo:

Das ist ja die Frage: Wie muss sich die Schule verändern? Sind Projektfonds etc. nicht Möglichkeiten

im Sinne von Best-Practice-Modellen und Best-Practice-Strukturen, damit Schule erkennen kann, was

sich dadurch verändern kann? Oder wie stellen Sie sich vor, wie diese Systemveränderung passieren

soll, im Sinne der Kultur der Bildung?

Alice Ströver:

Manche Projekte, die auch evaluiert sind, werden allgemein akzeptiert. Doch in der gesamten Schul-

struktur finden sie dennoch keinen Eingang. Das muss durch die Öffnung von Schule und Ganztags-

schule passieren. Es wird eine ganze Generation dauern, weil wir eine ganz andere Erzieher- und

Lehrerausbildung brauchen. Und zwar brauchen wir eine Öffnung in jedem Fach: Ich kann doch auch

34 | S e i t e

Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

mit Mathematik im Mathematikunterricht bestimmte kulturelle Projekte machen, wieso nicht? Das ist

eine Bewusstseinsveränderung, die sich durch konkrete Maßnahmen realisiert. Die haben wir im

Rahmenkonzept wenigstens ein Stück weit formuliert bekommen.

Publikumsmeldung:

Ich bin Grundschullehrerin und immer ganz froh, wenn ich einen Künstler an Land ziehen kann, es ist

immer eine Bereicherung. Viele Kollegen sehen das auch so. Beim TUSCH-Projekt war es auch unse-

re große Vision, uns nicht nur einen Künstler für ein Projekt zu angeln. Doch meine Vision geht weiter:

Ich hoffe, dass ich es bis zur Rente erleben werde, dass wir zumindest in den künstlerischen Fächern

und im Sport keine Noten mehr geben müssen. Damit Kinder freier sind und wir lockerer damit umge-

hen können. Das ist mein Wunsch. Dann klappt es mit Kunst, Kultur und Schule hervorragend.

Renate Breitig:

Ich kann Ihr Anliegen sehr wohl verstehen, aber dann sind die Fächer sofort weg. Wenn wir Fächer

ohne Noten haben, und das bei geringer angesehenen Fächern, sind diese sofort verschwunden.

Überall in der Kunstszene werden ja auch Theaterstücke bewertet und kuratiert. Ich sehe nicht ein,

wieso wir Prozesse nicht bewerten sollen. Es sollen ja nicht die Ergebnisse des Kulturprojekts bewer-

tet werden, sondern die Prozesse, die Veränderungen mit den Jugendlichen, die Kompetenzzuwäch-

se. Das halte ich für eine sehr gefährliche Diskussion im Sinne der Etablierung der Fächer in den

Schulen.

Matthias Lilienthal:

Die Lehrer haben recht: Gibt es die Kulturagenten an den Schulen, muss es im Stundendeputat ange-

rechnet werden. Es muss Freistunden dafür geben, keine Ausfallstunden. Das künstlerische Projekt

„X-Schulen“ hat an der Hector-Peterson-Schule den Unterricht ersetzt und ist auch so bewertet wor-

den. Ich bin skeptisch, was das Schaffen von mehreren Projekten angeht, die über fünf oder zehn

Jahre laufen und in eine Art von Angestelltenhaftigkeit übersetzt werden. Seit das Projekt vor vier

Jahren startete, gibt es wieder eine neue Generation von 25-jährigen, die einen anderen künstleri-

schen Blick haben, einen anderen Lehrerblick, einen anderen Theaterpädagogenblick.

Was beim HKF (Hauptstadtkulturfonds) und bei der Kulturstiftung richtig ist, nämlich ein Wettbewerb

der Ideen, muss auch im Projektfonds Kulturelle Bildung stattfinden. Und dieser arbeitet im Moment

mit einer ganz schmalen Besetzung. Fast alles Geld kommt in den künstlerischen Projekten an. Des-

wegen bin ich für den Wettbewerb der Ideen. Da wir im Vorwahlkampf sind, bitte ich die politischen

Parteien, die Verdopplung der Mittel in ihre Forderungen aufzunehmen.

Andrea Thilo:

Die Frage nach Freistunden und der Leistungsanerkennung stellt sich. Wie realistisch ist es unter den

Bedingungen von G8, also z.B. der Verknappung der Zeit, von den politischen Rahmenbedingungen

her?

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Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

Mari Weiß:

Hier sind wir tatsächlich bei Visionen. Es ist kein Geheimnis, dass meine Partei für die Entschlackung

des Lehrplans steht. Das ist das Problem von G8. Meine Partei versucht weiter, Noten abzuschaffen

und wir liegen da auch recht nah an dem, was Frau Breitig gerade sagte. Aber das hat mit kultureller

Bildung erst einmal nicht so viel zu tun, sondern mit allen Lebensbereichen, mit Persönlichkeitsent-

wicklung von Kindern und Jugendlichen.

Ich freue mich immer, an solchen Podien teilzunehmen, weil ich dann merke, wie sehr man in Berlin in

Parallelwelten lebt. Der Hauptausschuss, in dem ich saß, hat nämlich etwas anderes beschlossen als

das, was Matthias Lilienthal jetzt sagt. Das Rahmenkonzept, das ich kenne, sagt auch etwas anderes.

Es war immer klar, dass der Projektfonds Kulturelle Bildung aufgestockt werden muss, aber durch

Drittmittel. Die Idee war immer, dass der Fonds in der Stadt einen Impuls liefert, der dazu beiträgt alle

Ressourcen in dieser Stadt zu bündeln. Das Rahmenkonzept muss mit aller Kraft umgesetzt werden.

Es findet sich darin auch ein sehr interessanter Satz: Die Projekte und die Maßnahmen, die im Rah-

menkonzept umgesetzt werden, sind aus beiden Häusern aus den eigenen Haushalten zu finanzieren.

Damals bin ich dagegen Sturm gelaufen. Aber beide Häuser, Kultur und Bildung, haben gesagt, dass

sie dies leisten werden. Nun warte ich darauf, dass sich beide Häuser zusammensetzen und mir zei-

gen, wie sie es finanzieren wollen. Die 2 Millionen im Projektfonds kommen nämlich nicht aus dem

Kulturetat, sondern aus der Nettoneuverschuldung. Aber wir können nicht noch mehr Nettoneuver-

schuldung obendrauf legen, jetzt muss es wirklich aus diesen beiden Häusern kommen.

Die Information, dass die Kulturbeauftragten die Ermäßigungsstunden nicht bekommen, ist mir neu.

Voriges Jahr habe ich mit Frau Zinke darüber gesprochen. Sie sagte, sie wisse nicht, ob sie dafür

zusätzliche Mittel bekäme, aber sie gehe davon aus, dass sie für zehn Kooperationsprojekte, also

dreißig Schulen in Berlin, zwei Ermäßigungsstunden zur Verfügung stellen kann. Wenn dies nicht

passiert, werden wir politisch damit umgehen. Das finde ich viel spannender, als ins Wahlprogramm

zu schreiben, dass wir aus Landesmitteln den Projektfonds aufstocken, wo wir doch gerade gelernt

haben, dass es vielmehr strukturelle Verankerung als Projektgelder braucht.

Publikumsmeldung/ Dorothea Kolland:

Ich bin Kulturamtsleiterin in Neukölln und finde es deprimierend, wie nach vier Jahren kultureller Bil-

dung immer noch so viel durcheinander geht, auch bei den Termini. Deshalb kommen wir hier nicht

richtig auf den Punkt. Als eine der Mit-Initiatorinnen im Rat für die Künste möchte ich einige Sachen

klarstellen.

Es ist falsch, wenn man das Rahmenkonzept gegen den Projektfonds ausspielt. Dieser ist ein essenti-

eller Teil des Rahmenkonzepts. Uns war immer klar, dass solch ein Fonds ohne ein Rahmenkonzept

keinen Sinn macht. Frau Lange hat uns ja etwas über den Hintergrund erzählt. Aber es ist von sehr

großer Bedeutung, dass Sie vom politischen Feld darauf drängen, mit dem Konzept weiter zu kom-

men. Uns wurde damals vor vier Jahren gesagt, dass es ein Anfang sei und sich entwickeln würde.

Natürlich haben wir uns dazu verpflichtet, Drittmittel an Bord zu holen, z.B. die PwC-Stiftung, die die

ZOOM-Patenschaften gefördert hat. Das war enorm wichtig. Worauf man auch aufpassen muss, ist,

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Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

dass wir eine Vielfalt von Instrumenten im Bereich der kulturellen Bildung haben. Wir haben die Pa-

tenschaften, die ZOOM-Patenschaften als besonders geförderte. Die Kulturbeauftragten der Schulen

spielen in diesem ganzen Konzept eine riesige Rolle. Bitte dies nicht zu verwechseln mit den paar

Einzelnen, die in diesen elf oder zwölf Kulturagentenkonzepten eine Rolle spielen werden. Es soll an

jeder Schule einen Kulturbeauftragten geben, der eine kleine Stundenbefreiung hat. Man ist ja schon

froh, wenn es überhaupt jemanden gibt, der etwas in der Schule organisiert. Diese Leute vor Ort in

den Schulen fehlen. Das ist nicht mit dem Kulturagenten-Programm erledigt. Leute, lasst euch nicht

täuschen! Die Bundeskulturstiftung finanziert dieses Programm nur auf Zeit und das Land Berlin ko-

finanziert es ein bisschen. Die Kulturagenten laufen wie die kulturelle Bildungsinitiative „JeKi“ (Jedem

Kind ein Instrument). In anderen Bundesländern hat die Kulturstiftung gesagt, wir geben nur Impulse

und dann müsst ihr sehen, wie ihr weiterkommt. Das wird mit den Kulturagenten genauso sein, wenn

dieses nicht Teil des Systems ist. Wir müssen sehen, ob sie es dem Land Berlin wert sind, es geht ja

gerade erst los. Ich plädiere dafür, zu schauen, dass jede Schule in die Lage versetzt wird (es sei

denn, sie will nicht) das auch umzusetzen. Und dann sollte man schauen (und nach vier Jahren ist es

an der Zeit): Wo sind die großen Defizite der kulturellen Bildung? Eins hat sich deutlich gezeigt: Kultu-

relle Bildung wird von Anfang an völlig unzureichend bestückt. Was passiert vor der Schule? Man

muss ganz früh damit anfangen. Hier in Berlin ist eine große Katastrophe angesagt. Es gibt wunderba-

re einzelne Projekte, aber keine Struktur dafür. Wenn wir schauen, wie es weitergehen soll, muss man

an die Stellen herangehen, wo noch nichts ist.

Andrea Thilo:

Gestern haben wir im Pressegespräch mit der Staatssekretärin für Bildung, Jugend und Familie, Frau

Zinke, zusammengesessen. Als sie ging, gab es das Postulat von vehementer Wichtigkeit von kultu-

reller Bildung für jede Schule. Sie sagte: „Wissen Sie was? Die einen wollen, dass Mathe gestärkt

wird. Die nächsten, dass Sport gestärkt wird. Wir haben wohl immer noch ein Konkurrenzprinzip. Es

ist offensichtlich immer noch nicht durch das Rückgrat der Gesellschaft eingesunken, dass kulturelle

Bildung auf alles einzahlt. Auf den Menschen als Ganzes. Nicht fächerspezifisch.“ Da scheinen immer

noch Erklärungsnöte mit Hilfe von Projektfonds, des kulturellen Rahmenkonzepts etc. und der ZOOM-

Studie zu sein.

Publikumsmeldung/ Ursula Rogg:

Ich arbeite an einer Oberschule im Wedding und nehme Teil an ‚Kontext Schule‘, einem kleinen Team,

das in einem Pilotprojekt nun im zweiten Jahr Lehrer und Künstler gemeinsam fortbildet. Ich möchte

eine Anregung für ein neues Handlungsfeld geben, nämlich das der Lehrerausbildung. Vorhin wurde

gesagt, dass Lehrer Künstler mitunter als Konkurrenten empfinden. Das halte ich für Unsinn. Es ist

durchaus so, dass es zwischen diesen beiden Berufsgruppen große Verständigungsschwierigkeiten

gibt. Wie kann es anders sein? In diesem verkürzten Lehrerstudium mit Credit Points, Zeitmangel,

enormem Druck von allen Seiten und der unheimlichen Komprimierung. Diese neuen Lehrer kommen

an die Schulen mit dem Abitur nach zwölf Jahren. Der Druck setzt sich also fort. Jeder muss versu-

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Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

chen, seine Pfründe zu sichern. Wie wäre es, über etwas nachzudenken, das sich als kulturelle Bil-

dung, als Studienseminar oder -anteil in jedes Lehrerstudium implementieren lässt? Damit die Vertre-

ter der künstlerischen Fächer nicht immer die „Anderen“ bleiben, die auch noch was wollen, so viel

fordern und so komische Ideen formulieren und damit die der Kernfächer nicht immer was abgeben

müssen. Dort müsste man ansetzen, um eine andere Verständigung und einen anderen Zusammen-

halt zu schaffen. Dort, wo es losgeht: in der Ausbildung nämlich.

Andrea Thilo:

Also: Was kann die Politik konkret dafür tun, dass die Voraussetzungen für bessere Kommunikation

geschaffen und eine bessere Vorbereitung auf den Lehrerberuf erfolgen kann?

Mari Weiß:

Genau so ein Modellprojekt steht im Rahmenkonzept. Es wird gerade begonnen. Bei den Kooperatio-

nen, die wir schon lange haben, passiert es ja auch schon. Wir haben das Rahmenkonzept deshalb

entwickelt, weil wir nicht innerhalb von zwei Jahren die ganze Berliner Landschaft verändern wollten.

Wir haben mit den Kulturagenten ein Modell angefangen, das wir verstetigen wollen. Und meines Er-

achtens haben wir die ersten 80 Kombinationen von Fortbildungen, die Lehrer mit Künstlern machen,

um genau solche Verständigungsprozesse anzuregen. Das wird nicht von einen Tag auf den anderen

in die Fläche gehen. Man kann so etwas nicht in die Breite tragen, ohne die Menschen mitzunehmen.

Es beruht auf Freiwilligkeit. Ich werde einem Lehrer nicht verordnen, dass er jetzt kulturelle Bildung

machen muss. Denn das schadet dem Kind.

Renate Breitig:

Frau Rogg hat etwas anderes gemeint. Nämlich, dass alle Fächer und dass alle Lehrer aus allen Be-

reichen beteiligt sind. Das ist wichtig, damit die Selektion der Fächer nicht fortschreitet. Aber soweit

ich weiß, gibt es das in der zweiten Lehrerphase bereits relativ regelmäßig. Es ist sicherlich zu spät,

aber es funktioniert schon, dass Mathematik- und Biologielehrer mit kreativen Methoden in Berührung

kommen, um diese später im Unterricht umzusetzen.

Mieke Senftleben:

Es funktioniert übrigens auch in München in der School of Education. Dort werden Didaktik und Me-

thodik jeweils fächerübergreifend zusammengefasst. Weg von der reinen Fachwissenschaft. Das wäre

auch ein Weg für Berlin. Aber es ist auch die Frage des Anschubs aus der Senatsverwaltung in Rich-

tung der Universitäten.

Alice Ströver:

Auch die Erzieherinnenausbildung ist verbessert und qualifiziert worden. Man hat diesen Beruf allge-

mein aufgewertet. Der Ausbildungsgang ist allgemein auf den kreativen Bereich ausgeweitet worden.

Wichtiger ist die Frage nach der aktuellen Lehrerschaft und Erzieherschaft. Dort müssen viel mehr

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Fort- und Weiterbildungsangebote kommen. Sonst dauert es tatsächlich anderthalb Generationen, bis

das in die Schulen und in die Bildungseinrichtungen diffundiert. Es muss über das, was es bereits an

Angebot gibt, z.B. an der UdK, hinausgehen. Da braucht es dann wohl doch etwas Geld, um das qua-

litativ aufzuwerten.

Matthias Lilienthal:

Es braucht aber bei dem nächsten Schulsenator auch einen politischen Willen.

Andrea Thilo:

Wir haben das Thema Qualitätsevaluation noch nicht richtig gestreift. Wie können wir eigentlich künst-

lerische Prozesse evaluieren? Eine andere Frage war die Partizipation von Jugendlichen an diesen

strukturellen Veränderungen. Wie können wir Jugendliche an einem solchen Prozess stärker beteili-

gen? Inwieweit ist das Rahmenprogramm in dieser Hinsicht explizit?

Mari Weiß:

Das ist genau mein Problem. Im Zuge der Entwicklung des Rahmenkonzepts und des Projektfonds

haben wir es geschafft, einen „jungen Rat“ aufzubauen. Damit hat in diesem Programm erstmals Ju-

gendbeteiligung stattgefunden. Doch wenn Jugendliche hier im Rahmen der Tagung auftauchen, dann

als Künstler. Es sind nicht die Jugendlichen, die hier sitzen. Wir reden hier als Eltern, als Lehrer, als

Künstler. Aber wir müssen aus der Kinderperspektive denken und uns fragen: Wie müssen wir unser

Verhalten ändern? Was wollen Kinder und Jugendliche? Wir müssen sie fragen! Es ist ein Armuts-

zeugnis, wenn im Kinder- und Jugendhilfegesetz steht, dass sie an allen sie betreffenden Entschei-

dungen beteiligt werden sollen. Und wenn dann eine Senatsverwaltung entsteht, wo genau das 1.) im

Konzept keine Rolle spielt und 2.) auch in der Konzeptentwicklung nicht. Jugendbeteiligung ist einer

der acht Schwerpunkte, die mit kultureller Bildung in Verbindung gebracht werden sollen.

Wir hatten die Vision, ein Gremium mit allen Experten dieser Stadt einzurichten, um genau diese Ver-

ständigungsprobleme aufzubrechen. Kinder und Jugendliche hätten dort mitspielen müssen. Wir sind

in dieser Hinsicht noch nicht sehr weit.

Renate Breitig:

Das ist eine völlig berechtigte Kritik. Ich habe das Rahmenkonzept mitgeschrieben und es ist ein Un-

ding, dass wir die Kinder und Jugendlichen da nicht mit einbezogen haben. Aber es wird höchste Zeit,

dass wir es von nun an tun. Wir können dazulernen. Ich hoffe, dass bei den Kulturagenten möglichst

viele Jugendliche einbezogen werden. Bei TUSCH machen wir es so, dass wir uns darum bemühen,

dass peer-to-peer-groups von Jugendlichen geschaffen werden. Es ist ein wichtiger von insgesamt

siebzehn als Empfehlungen genannten Punkten im Evaluationsbericht. Wir müssen im Vorfeld Ju-

gendliche mit einbeziehen, damit sie kreative Impulse auch an uns weitergeben können und wir mit

ihnen zusammenarbeiten können.

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Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

Andrea Thilo:

Hier sind sich fast alle einig. Zum Abschluss bitte ich Sie noch um ein kurzes zusammenfassendes

Statement, was ist ihre Version für die Zukunft?

Alice Ströver:

Zur Evaluation: Ich möchte als Politikerin keine kulturellen Projekte evaluieren, sondern es an Dritte

geben. Es kann nicht unsere Aufgabe sein. Ich fühle mich nicht kompetent. Dafür müsste es Fach-

gremien geben, die die Evaluation vornehmen.

Brigitte Lange:

Wenn KünstlerInnen an Schulen gehen, hätte ich einerseits gern, dass sie anständig bezahlt werden

und auf der anderen Seite wünsche ich mir, dass Kinder und Jugendliche in der Schule über den

Kunstunterricht lernen, dass es in der Kunst kein Richtig und kein Falsch, dass es keine Grenzen gibt.

Michael Braun:

Mein Interesse als Kulturpolitiker ist, dass sich möglichst viel Kultur in der Schule ereignet. Wie das

organisiert wird, liegt außerhalb meiner beruflichen Kenntnis. Hier muss ich anderen vertrauen.

Matthias Lilienthal:

Evaluationen halte für überflüssigen Unsinn. Es gibt eine Jury, die immer wieder Projekte beschließt

oder nicht beschließt. Wenn dann in den Projekten Mist passiert, werden die neuen Anträge nicht

bewilligt. Ich würde die 2% Mittel, die für Evaluationen vorgesehen sind, lieber in den kulturellen Pro-

jekten belassen. Meine Vision: Der Fonds für kulturelle Bildung ist dazu da, von Zeit zu Zeit Schulen

zu hijacken.

Alice Ströver:

Wir müssen erstens dazu kommen, dass es überhaupt eine Gleichwertigkeit der ästhetischen Bildung

mit allen anderen Bildungsaufgaben gibt. Das ist eine sehr weite Vision. Und zweitens müssen wir

neben dem Projektfonds eigenverantwortlich variable Mittel in die Schulen bringen. Das ist für mich

das A und O.

Mieke Senftleben:

Das ist genau das, was wir bedenken müssen. Wir müssen die Schulen in die Freiheit entlassen. Sie

brauchen ein Budget und müssen eigenverantwortlich damit arbeiten. Es muss weg von der Verwal-

tung. Frau Breitig sagte eben, wir hätten eine breite Form von Autonomie im Schulgesetz. In der Reali-

tät kommt davon nichts an. Beispiel PKB (Personalkostenbudgetierung). Plötzlich sagt der Senator: so

geht das nicht mehr. Wir aber brauchen diesen Weg, wir brauchen das Budget. Wie es ausgestattet

wird? Da gibt es Experten, die das berechnen können und müssen. Politiker haben die Aufgabe, zu

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Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

überlegen, was in das Budget hinein gehört. Wir haben die Profilbildung der Schulen, das gehört mit in

die Eigenverantwortung. Aber wenn wir das, was Frau Ströver so schön ästhetische Erziehung oder

Bildung nennt, in das Schulleben implementieren wollen, müssen wir in der Tat bei der Ausbildung von

Erziehern und Lehrern anfangen. Bei Lehrern ist dort zu wenig passiert. Wir müssen weg von der

einen fachwissenschaftlichen Ausbildung.

Mari Weiß:

Ich sehe ein Kind, das in einer Bildungslandschaft und mit einem Bildungsbegriff aufwächst, der nicht

nur die Schule umfasst, sondern auch eine Persönlichkeitsentwicklung. Wo der Jugendclub mit dabei

ist, die Musikschule oder auch einfach nur die Clique. Das ist für mich selbstbestimmtes, demokrati-

sches Aufwachsen in einer Bildungslandschaft. Meine kleine Vision: Wir müssen zu einem Miteinan-

der kommen. Das heißt, es soll nicht mehr ungewöhnlich sein, dass ein Kulturpolitiker über kulturelle

Bildung spricht und zugleich weiß, wie eine Schule funktioniert. Die beiden Häuser sollen sich nicht

mehr um Finanzen streiten. Ich wünsche mir, dass wir zum Wohle der Kinder mit dem Kind im Mittel-

punkt dieses Miteinander schaffen.

Renate Breitig:

Ich bin bekannt als ein eher pragmatisch denkender Mensch. Ich wünsche mir das, was ich vorhin

bereits gesagt habe: die Umsetzung der Ziele des Rahmenkonzepts. Vor 13 Jahren haben wir TUSCH

gegründet. Seitdem hat sich so viel verändert. Z.B. hat jedes Theater einen Kulturvermittler und einen

Jugendclub. Es hat sich schon unglaublich viel verändert und ich freue mich, dass unsere Idee Schule

gemacht hat und dass es viele weitere Kooperationen gibt. Wie die Patenschaften, wie ZOOM, wie

TUSCH, wie TanzZeit. Das ist ein positiver Ausblick. Ich hoffe, mit etwas Optimismus werden wir das

Ganze zu stemmen wissen.

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Dokumentation der Tagung 1+1=3 Zum Mehrwert kreativer Kooperationen

Foto: M.Nittel

Impressum: Kulturprojekte Berlin GmbH Klosterstr. 68 10179 Berlin Geschäftsführung: Moritz van Dülmen Aufsichtsratvorsitzender: Volker Heller Amtsgericht Charlottenburg, HRB 41312 Ust.-ID-Nr.: DE 137180214

Fotos: Michael Nittel

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