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  • 1 Den hier untersuchten Kompositionen gehen, wie schon kurz erwhnt, zwei Vokalzyklenvoraus, die Messiaen noch als Student im Jahr 1930 schrieb: In Trois Mlodies fr Sopranund Klavier vertont er zwei eigene Gedichte sowie (im Zentrum) ein Gedicht seiner Mutter,der Dichterin Ccile Sauvage; die kleine Kantate fr Sopran, Tenor, Violine und Klavier LaMort du nombre, ganz auf eigenen Texten basierend, nimmt in ihrem Dialog zweier Seelendas Thema Tod oder Hoffnung voraus, das er in seiner Tristan-Trilogie wieder aufgreift. 2 Robert Sherlaw Johnson, Messiaen, London, Dent, 1976, 1989, S. 56.3 Die Urauffhrung mit Marcelle Bunlet und Olivier Messiaen fand am 28. April 1937 statt.Die Noten wurden bei 1937 bzw. 1939 bei Durand verlegt. Whrend die rhythmische Kom-plexitt, mit der Messiaen in diesem Zyklus experimentiert, fr einen Pianisten relativ leichtzu meistern ist, waren fr die Orchestrierung wesentlich Vernderungen der Notation ntig.So sind dort die langen, metrisch freien Takte durch jeweils mehrere krzere Takte mit genauspezifizierten Rhythmen ersetzt. Die in der folgenden Analyse erwhnten Taktzahlenbeziehen sich auf die Originalfassung mit Klavier.

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    Teil II

    Der allgegenwrtige Gott

    Pomes pour Mi

    Die Liebe zu einer Frau und die Liebe zu Gott

    Die ersten beiden der groen Liedzyklen Messiaens,1 Pomes pour Miund Chants de terre et de ciel, werden oft zu undifferenziert als Liebeslie-der fr seine Frau bezeichnet. Robert Sherlaw Johnson kommt der Wahrheitnher, indem er ihren Inhalt als verschiedene Aspekte des Ehesakramentsund der daraus fr den Ehemann erwachsenden unterschiedlichen spiritu-ellen Haltungen beschreibt.2

    Der Zyklus Pomes pour Mi, konzipiert fr dramatischen Sopran undKlavier, geht auf den Sommer 1936 zurck; ein Jahr spter entsteht dannzudem eine Orchesterfassung.3 Der Zyklus umfasst neun Lieder, die auf

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    zwei Bcher verteilt sind. Sherlaw Johnson ordnet die vier Lieder desersten Buches der Verlobungszeit zu und glaubt zu erkennen, dass Messiaenhier die Gedanken und Gefhle des Ehemannes in spe in Bezug auf seinebaldige Hochzeit erkundet. Im letzten dieser Lieder, pouvante, durchlebtdas lyrische Ich eine Schreckensvision, die vom Verlust der Liebe der Ge-fhrtin zum Verlust der Liebe Gottes und damit in die Hlle fhrt. Die fnfLieder des zweiten Buches reflektieren dieser Auffassung zufolge die innereVerfassung des Mannes whrend der ersten Zeit der Ehe. Sie handeln vonAspekten wie der Berufung zur Ehe, der sakramentalen Bedeutung des Ehe-gelbdes sowie der symbolischen Analogie der Verbindung zwischen Mannund Frau mit der zwischen Christus und seiner Kirche. Als Ganzes genom-men legen diese Lieder laut Sherlaw Johnson nahe, dass die Freude desEhestandes diejenige des Auferstehungstages vorwegnimmt, an dem GottesKreaturen endlich fr immer mit ihrem Schpfer vereint sein werden.

    Diese Einschtzung durch einen ehemaligen Messiaen-Schler folgt denvom Komponisten selbst niedergelegten und von den meisten Messiaen-forschern noch bis Anfang des 21. Jahrhunderts respektierten Regeln, denenzufolge alle seine musikalischen und verbalen Aussagen in dem Sinne zuverstehen sind, in dem sie niedergeschrieben wurden und in seinen Kom-mentaren erlutert sind. Abgesehen von den wtenden Gegnern der 1940erJahre, die allerdings gegen diese frhen Liedzyklen nichts vorgebracht zuhaben scheinen, gibt es nur einen ernst zu nehmenden frhen Kritiker, derden Wunsch des Komponisten ignoriert und die Texte auf das hin analysiert,was sich seiner Meinung nach hinter der erklrten frommen Absicht verbirgt.Der Musikwissenschaftler und Pariser Musikkritiker Antoine Gola publi-zierte schon 1961 eine Serie von Interviews mit Messiaen, in der er dieeinzelnen Werke unter anderem auch in Hinblick auf die ihm im jeweiligenKontext wesentlich erscheinenden biografischen Details kommentierte. Indem Kapitel, das die Pomes pour Mi behandelt, uert er Besorgnis bereinige wichtige Aspekte. Zwar liegt die Wahrheit darber, was diese Lied-texte aussagen, sicherlich irgendwo zwischen den diametralen Positioneneiner respektvollen Orientierung an den erklrten Absichten des Autors unddieser unabhngigen psychologischen Deutung, doch sind Golas Beobach-tungen relevant genug, um hier Gehr zu verdienen.

    Der erste Liedtext des Zyklus erscheint auf den ersten Blick einfach. DieTatsache, dass Messiaen die verschiedenen Gottesgaben in Halbstzenaufzhlt, die jeweils mit und verbunden sind, mag Hrer so weit einlullen,dass sie die eine problematische Zeile unter den vielen strukturell hnlichgebauten nicht wahrnehmen. Im zentralen Abschnitt dankt Messiaen Gott

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    4 Gola, S. 128. Dies wre wirklich unerhrt, wenn es sich dabei um die Haltung des zuknf-tigen Ehemanns zum Krper seiner Braut handeln wrde. Dies ist jedoch glcklicherweisenicht der Fall. Doch selbst wenn sich bei genauem Lesen herausstellt, dass der Ehemann inspe Gott dafr dankt, dass er (unter anderem) einen Krper bekommen hat, kann man dochbesorgt sein angesichts solcher Geringschtzung der physischen Existenz des Menschen.

    fr die ihm gegebene Gefhrtin, indem er ihre Augen, ihre Gedanken undihr Mitgefhl erwhnt. Dass er ihre Fe hinter statt neben den seinen gehensieht, ist ein bedauerlich patriarchalisches Bild. Doch weit problematischerist Messiaens Wahrnehmung des Krpers, den er beschreibt als ein Kleidaus Fleisch und Knochen, das zur Auferstehung keimen wird. Gola, derhierin keine zufllige Verdrehung des gemeinten Bildes, sondern vielmehrein Symptom fr eine bei diesem allzu frommen Komponisten beunruhigen-de Tendenz zu erkennen meint, schreibt dazu: Es ist ganz charakteristisch fr die Haltung, die dieser Ehemann

    zeigt, dass er das Kleid aus Fleisch und Knochen lediglich als Keimfr die einstmalige Auferstehung ansieht, als materia prima eines Kr-pers, der einst zu Geist werden soll. Der Krper als autonom herrlichund Quelle der Freude wird hier betont vernachlssigt und ignoriert.4

    Das im zweiten Lied beschworene stumme Leiden des zuknftigen Ehe-

    mannes, die Strae voll Gram und Schlammlchern, meine Fe wankendim Staub, knnte, so meint Gola, der Grund fr den Versuch des lyrischenIch sein, der Wirklichkeit zu entfliehen. Daher berrascht es kaum, wenn dieMusik im dritten Lied, das von zwei Arten temporrer Hlle spricht demHaus des Paares und ihren zwei Krpern erst in dem Augenblick jubiliert,da die Erde zugunsten des Himmels zurckgelassen worden ist. Fr diesenEhemann sind irdische Dinge (offenbar einschlielich der rein menschlichenNatur seiner Braut) lediglich Schmerzensbilder. Dies ist, meint Gola, einmystischer Ehemann; das Kleid aus Fleisch und Knochen dient ihm nurals unwesentliches Sprungbrett fr die Erfllung einer Ehe der Seelen.

    Insofern ist es fr den Seelenfrieden des ngstlichen Mannes nicht ohneGefahr, dass der junge Krper tatschlich voll Leben ist und Aufmerksam-keit verlangt. Das Aufwachen aus einem mystischen Traum mag erschreckendsein, und so sollte sich niemand wundern, dass der vierte Text pouvanteberschrieben ist. Gola liest die Zeilen als Ausdruck der Verzweiflung, dassein Leben nach erhabenen Prinzipien nicht gelingt, sondern nur das diaboli-sche Gelchter der Rahmenzeilen hervorruft. Dies wird von einem Mann,der mehr sein wollte als nur ein Mensch, als Versagen empfunden. Golafindet seine Deutung in den Worten fr den Schluss des Liedes besttigt:

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    5 Gola, Rencontres avec Olivier Messiaen, S. 129-130.

    Diese blutigen Fetzen und dieses dreieckig Erbrochene wirken wieunmittelbar einem mittelalterlichen Traktat ber die Hexerei entnom-men, wo man die Wunden, die die physische Liebe dem Krper zufgt,noch fr Zeichen des Teufels, des geielnden Herrschers ber denHllenlrm der Lste, hielt. Und brigens ist, wie zu erwarten war, derTeufel nicht weit: der laute Aufprall der Ringe auf der irreparablenPforte wrde zum Rhythmus deiner Verzweiflung. Die irreparable Pfor-te, das ist das Tor zur ewigen Hlle, das sich nie wieder ffnen wird,wenn es erst einmal vom Schlssel des Teufels verschlossen worden ist,begleitet vom lauten Aufprall der Ringe. Das Fleisch wird hier aufewig verbrannt, weil es Fleisch sein will und sonst nichts.5

    Im zweiten Buch des Zyklus den fnf Liedern, die laut Sherlaw Johnson

    nicht mehr an die Braut, sondern an die junge Ehefrau gerichtet sind findetGola eine Besttigung, dass Friede und Ehre nur in der Entsagung desFleisches zu finden sind. In den Zeilen zwischen dem dreifachen Refraindes fnften Liedes, Keiner kann trennen, was Gott zusammengefgt hat/ Die Gattin ist die Verlngerung des Gatten / Wie die Kirche die Verlnge-rung Christi ist, entdeckt der Kritiker den Rat, die Ehefrau solle eine voll-stndige Entkrperlichung akzeptieren.

    Im folgenden Lied wird dieser Rat zu Aufforderung und Befehl: Kaumhat der Ehemann ihre Gegenwart (in Form ihrer frischen Stimme) wahrge-nommen, da bemerkt er auch schon, dass sie ihm noch schner erscheinenwrde, wenn sie bereits im Reich der Ewigkeit wre. Selbst wenn die christ-liche Doktrin etwas hnliches als Einstellung jedes wahrhaft Glubigennahelegen sollte, erscheint es doch merkwrdig, dass ein frisch verheirateterMann dies so sehr betonen sollte.

    Das siebte Lied beschreibt den ersehnten Aufstieg zur himmlischen Stadtals einen Kampf. Die gerade aus Zweien eins geworden sind, erscheinenhier als sakramentale Krieger, die, um das Tor des neuen Jerusalem errei-chen zu knnen, sich erst von schwarzem Geheul und dem Einstrzenschwefliger Geometrien befreien mssen wobei Letzteres anscheinend alseine Beschreibung des irdischen Lebens zu verstehen ist.

    Das achte Lied, das von einer ungewhnlichen Dreiergruppe schnerHalsketten spricht (einem Morgen-Regenbogen, einer Aufreihung vielfar-biger skurriler Perlen und den Armen der Ehefrau um den Hals ihresMannes), erscheint Gola als die einzige Entspannung in diesem unerwartetproblematischen Zyklus vorgeblicher Liebeslieder. Wie er aus diesem An-lass zugesteht (S. 133),

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    ist dies die endlich erfolgte Einwilligung in den menschlichen Zustand.Es ist wahre Demut von Seiten dessen, der endlich seine Grenzenerkannt zu haben scheint. Zwar ist es sicherlich nicht das hehre Festdes Fleisches, das Geschick der wahrhaft Unschuldigen, die nichtversuchen, sich zu etwas anderem zu machen als dem, wozu Gott siegeschaffen hat. Doch es ist die Akzeptanz der einfachen Freude einerVereinigung.

    Doch kann diese neue Verfassung nicht von Dauer sein; die gttlichen

    Ansprche, die der spirituell aufgewhlte Ehemann zu erspren meint,kehren bald ins Rampenlicht zurck. Seelenfrieden kann nur durch nochmehr Gebet erzielt werden. Bezeichnenderweise geht es hier offenbar nurum den Seelenfrieden des Mannes. Dessen Seele findet sich wieder einmalallein vor Gottes Antlitz; die junge Ehefrau wird hier nicht einmal mehrerwhnt. Gola (S. 134-135) ist schockiert:

    Dieser Abschluss ist furchtbar. In dieser Glockenklang-Musik, diesemAntiphon des Jubilierens kehrt die Freude zurck in dem Augen-blick, da Mi, fr die die Lieder geschrieben sind, verschwindet. Dieersten beiden Verse sollten niemanden tuschen: Wenn der EhemannGott bittet, den einsamen alten Berg der Schmerzen zu erschttern,so offenbar nicht, um wieder mit seiner Frau vereint zu sein, sondernum sich von jenen bitteren Wassern des Herzens frei zu machen, dieunweigerlich aus einer Verbindung entspringen, die auf einer unmg-lichen Basis errichten werden sollte.

    Golas Irritation ist allerdings nur sinnvoll, wenn man glaubt wie viele

    Messiaenforscher es zu tun scheinen , dass die Titel-Widmung diese Liederautomatisch als von Mi handelnd ausweist, dass sie die Entwicklung derLiebe des Komponisten zu ihr nachzeichnen. Dies ist allerdings meinesErachtens durchaus keine notwendige Prmisse, und zwar aus mindestenszwei Grnden. Der eine ist die in den von Hill und Simeone verffentlichtenBriefen belegte biografische Tatsache, dass Messiaen mit Claire Delbosnicht nur eine tiefe Liebe zur Musik, sondern auch den Glauben und dasStreben nach religiser Reinheit und Gottgeflligkeit teilte. Der Liedzykluszeigt ihn im inneren Kampf mit dem, was er als junger Mann offenbar alsAnspruch zweier Arten von potentiell in Konflikt geratender Liebe empfand:die eheliche und die mystische Liebe. Als seelenverwandte Gefhrtin wird diejunge Ehefrau fr seine Unsicherheit Verstndnis gehabt und durch die Bil-dersprache dieser Lieder sogar ein tieferes Verstndnis fr ihren Ehemanngewonnen haben, ohne deshalb die symbolischen Aussagen zu allgemeinenFragen in allzu wrtlicher Weise zu missdeuten.

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    Darber hinaus fragt sich auch, ob Golas (und schon Sherlaw Johnsons)Annahme, die zwei Bcher teilten die Lieder in Darstellungen der Gedankenvor und nach der Eheschlieung, berhaupt zu vertreten ist, da der Zyklushinsichtlich seiner poetischen Struktur und vieler musikalischer Details inperfekter Symmetrie angelegt ist. Das zentrale Lied, Lpouse, artikuliertdas, was ich als Messiaens Hauptanliegen in diesem Werk betrachte: dasBedrfnis nach Klrung der Rolle, die die eheliche Liebe im Verhltnis zurGottesliebe im Leben eines frommen Mannes spielen sollte. Der Text be-handelt beide Seiten der Frage: die Bedingungen, unter denen eine Ehe derchristlichen Doktrin entspricht, und die Hoffnung, dass das unter dem Segendes Ehesakraments lebende Paar vielleicht sogar gottgeflliger ist, als jederEinzelne es sein knnte.

    Die Lieder, die diese zentrale Fragestellung flankieren, malen Bildervon Himmel und Hlle. Bezeichnenderweise zeigt die Furcht vor dem spiri-tuellen Abgrund, in den man aufgrund vergangenen Fehlverhaltens fallenknnte, den Autor allein, whrend in der Szene himmlischer Seligkeit sie imBrennpunkt steht sowie ihre wunderschne wenn auch vogelartige undinsofern quasi von menschlicher Krperlichkeit befreite Stimme. Diebeiderseits anschlieenden Lieder (III und VII) handeln von zwei Arten derEntkrperlichung, in denen der mit der Vereinbarkeit von ehelicher undreligiser Liebe ringende fromme Mann Trost zu suchen scheint. An dieserStelle knnte man bedingt mit Gola bereinstimmen und ein Problemerkennen, obwohl dieses weniger in der Beziehung des berngstlichenMannes zu seiner Frau als in der zu seinem Gott zu liegen scheint, wenigeran seinem Mangel an ehelicher Freude als an seiner Befrchtung, die allzumenschliche Befriedigung knne der ersten Aufgabe des Christenmenschen,der Hingabe an Christus, im Wege stehen. Das zweite und achte Lied behan-deln dieselbe Dichotomie quasi noch einmal aus dem irdischen Blickwinkel:Das Leben in sich ist schn aber schwierig, voll Kummer, berdruss undZwngen. Darf man das Lcheln und die zrtliche Umarmung eines gelieb-ten Menschen ebenso hoch schtzen wie die Juwelen der Natur, Seen undRegenbogen, die unzweifelhaft Gaben Gottes sind? Die Rahmenstcke desZyklus bleiben die Antwort auf die zentrale Frage des Komponisten schul-dig. Zwar sind das erste und das letzte Lied Dankgebete, doch heben sie dieUngewissheit nicht auf. Im einen dankt der Autor fr Gottes Gaben, unteranderem auch seine Lebensgefhrtin; im anderen bittet er instndig um dieErlsung aus der sndhaften menschlichen Existenz.

    Man knnte also argumentieren, dass zumindest einige der Blumen indiesem Liederstrau als Gaben des Komponisten an seine geliebte junge

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    6 Vgl. meine Analyse der Visions de lAmen in Das siebenfache Amen der Beziehung zwi-schen Gott und seinen Geschpfen in S. Bruhn, Messiaens musikalische Sprache desGlaubens, S. 75-138.

    Frau zu verstehen sind. Doch scheint mir, dass sie weniger von ihr oderseiner Liebe zu ihr handeln als vielmehr einen Versuch darstellen, seinespezifischen spirituellen Bedenken mit ihr zu teilen. Eine Untersuchung dermusikalischen Sprache besttigt diese Vermutung.

    Antiphonen sublimierter ehelicher Liebe

    Messiaens musikalische Anlage durchkreuzt die Unterteilung in zweiBcher. Die symmetrischen Entsprechungen nehmen jene voraus, die seinenZyklus fr zwei Klaviere von 1943, Visions de lAmen, charakterisieren.6Wie schon erwhnt, wird Pomes pour Mi von zwei Gebeten umrahmt.Unter den neun Liedtexten des Zyklus sind der erste und letzte die einzigen,die an Gott oder Christus gerichtet sind; musikalisch sind beide als Anti-phonen entworfen. Die Entsprechung des musikalischen Satzes unterstreichtdie poetische Korrespondenz.

    Der Zyklus beginnt mit einem Dankgebet im Stil des um 1224 vonMessiaens liebstem Heiligen, Franz von Assisi, verfassten Sonnengesangs.Ein Vergleich von Vers 2-7 des Sonnengesangs mit den Zeilen 1- 4 + 12 ausMessiaens Gedicht macht dies besonders deutlich: Franziskus:

    Gelobt seist Du, Herr, mit allen Wesen, die Du geschaffen, / der edlenHerrin vor allem, Schwester Sonne, / die uns den Tag herauffhrt undLicht mit ihren Strahlen, / die Schne, spendet; gar prchtig in mchti-gem Glanze: / Dein Gleichnis ist sie, Erhabener.Gelobt seist Du, Herr, / durch Bruder Mond und die Sterne. / DurchDich funkeln sie am Himmelsbogen / und leuchten kstlich und schn.Gelobt seist Du, Herr, / durch Bruder Wind und Luft / und Wolke undWetter, / die sanft oder streng, nach Deinem Willen, / die Wesen leiten,die durch Dich sind.Gelobt seist Du, Herr, / durch Schwester Wasser: / Wie ist sie ntze inihrer Demut, / wie kstlich und keusch!Gelobt seist Du, Herr, / durch Bruder Feuer, / durch den Du zur Nachtuns leuchtest. / Schn und freundlich ist er am wohligen Herde, /mchtig als lodernder Brand.Gelobt seist Du, Herr, / durch unsere Schwester, die Mutter Erde, / diegtig und stark uns trgt / und mancherlei Frucht uns bietet / mit farbi-gen Blumen und Krutern.

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    Messiaen:Den Himmel / Und das Wasser, das den Vernderungen der Wolken folgt,Und die Erde und die ewig wartenden Berge / Und das verwandelnde Licht.[...] All dies hast du mir gegeben.

    Das Gedicht setzt sich in Dankbarkeit fr die Gefhrtin, die eigenen kr-

    perlichen und geistigen Gaben sowie das Geschenk von Christi Kreuzigungund Eucharistie fort. Hier ist der vollstndige Text:

    I Action de grcesLe ciel, Et leau qui suit les variations des nuages,Et la terre, et les montagnes qui attendent toujours,Et la lumire qui transforme. Et un il prs de mon il, une pense prs de ma pense,Et un visage qui sourit et pleure avec le mien,Et deux pieds derrire mes pieds,Comme la vague la vague est unie. Et une me, Invisible, pleine damour et dimmortalit,Et un vtement de chair et dos qui germera pour la rsurrection,Et la Vrit, et lEsprit, et la grce avec son hritage de lumire. Tout cela, vous me lavez donn.Et vous vous tes encore donn vous-mmeDans lobissance et dans le sang de votre Croix,Et dans un Pain plus doux que la fracheur des toiles,Mon Dieu. Alleluia.

    DankgebetDen Himmel / Und das Wasser, das den Vernderungen der Wolken folgt,Und die Erde und die ewig wartenden BergeUnd das verwandelnde Licht. Und ein Auge nahe meinem Auge, einen Gedanken nahe dem meinen,Und ein Gesicht, das mit meinem lchelt und weint,Und zwei Fe hinter meinen Fen, / Wie Woge mit Woge verbunden. Und eine Seele / Unsichtbar, voll Liebe und Unsterblichkeit,Und ein Kleid aus Fleisch und Knochen, das zur Auferstehung keimen wird,Und die Wahrheit, den Geist und die Gnade mit ihrem lichtvollen Erbe, All dies hast du mir gegeben. / Und hast dich dazu noch selbst gegeben Im Gehorsam und Blut deines Kreuzes,Und in einem Brot, das ser ist als die Frische der Sterne,Mein Gott. Halleluja.

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    Der Text des neunten Liedes ist weniger eindeutig. Sein Titel, ErhrtesGebet, scheint eine weitere Danksagung anzukndigen. Viele der Wendun-gen deuten jedoch auf ein verstrtes Herz, betonen die zerknirschte Selbst-einschtzung des Betenden als Snder und erflehen Vergebung. So hrt manein Bittgebet und nicht einen freudigen Dank fr erlebte Vergebung oder inAussicht gestellte Erlsung. Die Anspielungen auf den einsamen altenBerg der Schmerzen und die bitteren Wasser meines Herzens verstrkenden Eindruck, dass sich der Betende trotz seiner abschlieenden Versiche-rung, mit Christi Auferstehung sei die Freude zurckgekehrt, alles andereals sicher und erleichtert fhlt, sondern vielmehr um Gnade fleht. Dies istein unerwarteter Abschluss fr einen Zyklus von Liebesliedern.

    IX Prire exaucebranlez la solitaire, la vieille montagne de douleur,Que le soleil travaille les eaux amres de mon cur !O Jsus, Pain vivant et qui donnez la vie,Ne dites quune seule parole, et mon me sera gurie. branlez la solitaire, la vieille montagne de douleur, Que le soleil travaille les eaux amres de mon cur !Donnez-moi votre grce, Donnez-moi votre grce, Donnez-moi votre grce ! Carillonne, mon cur.Que ta rsonance soit dure, et longue, et profonde !Frappe, tape, choque pour ton roi !Frappe, tape, choque pour ton Dieu !Voici ton jour de gloire et de rsurrection ! La joie est revenue.

    Erhrtes GebetErschttere den einsamen alten Berg der Schmerzen,Auf dass die Sonne die bitteren Wasser meines Herzens bearbeite!Oh, Jesus, lebendiges Brot, der du das Leben gibst,Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.

    Erschttere den einsamen alten Berg der Schmerzen,Auf dass die Sonne die bitteren Wasser meines Herzens bearbeite!||: Schenk mir deine Gnade! :||

    Klinge, mein Herz! / Dein Klang sei hart, lang und tief!Schlag, klopf, sto fr deinen Knig!Schlag, klopf, sto fr deinen Gott!Hier ist der Tag deiner Glorie und Auferstehung!

    Die Freude ist zurckgekehrt.

  • 70 Der allgegenwrtige Gott

    7 Bis auf drei Ausnahmen handelt es sich bei all diesen Akkorden um Durdreiklnge in derzweiten Umkehrung; die mit Sternchen bezeichneten sind enharmonisch notiert: vgl. Des-,C-, A*-, As- und F-Dur in der rechten Hand, A-, Fis*- und Es*-Dur in der Linken. Einzig dieder Wiederholung der Sequenz vorangehenden und der die Fortspinnung beschlieende Akkordsind Umkehrungen von Dreiklngen mit erniedrigter Quinte (in G-Dur, c*-Moll und H*-Dur).

    Das berschwngliche Dankgebet zu Beginn und das fast mutloswirkende Bittgebet um Erlsung vom menschlichen Los am Schluss sindpoetisch durch einige wiederkehrende oder einander ergnzende Ausdrckeund Bilder verbunden. Der erste Text spricht von Dank, dass Christus sicham Kreuz geopfert hat, der letzte von Auferstehung und der damit verbunde-nen menschlichen Hoffnung; der erste erinnert daran, dass Jesus sich imBrot gegeben hat, der letzte zitiert einige der Anrufungen aus der Liturgiezur Feier der Kommunion. Berge werden im ersten Gedicht als neutralerPlural beschworen, ewig wartend und somit scheinbar gelassen, whrendim letzten Gedicht ein einziger, einsamer Berg mit Schmerz erfllt ist. Inhnlicher Weise ist Wasser im ersten Text, wo es lediglich der Ordnung al-ler geschaffenen Dinge gehorcht und den Vernderungen der Wolken folgt,neutral, whrend es im letzten Text individualisiert und bitter auf die Sonnewartet, die es erst zu einer Leben spendenden Substanz bearbeitet.

    Musikalisch enthalten beide Lieder Vokalphrasen in den zwei grundle-genden Gattungen des gregorianischen Gesangs: einerseits lang gezogene,um einen Rezitationston kreisende Psalmodien, andererseits ein ausladendesabschlieendes Melisma. Beide Lieder bestehen aus drei Abschnitten, diesich bzgl. Material, Textur und Struktur deutlich unterscheiden; in beidenfungiert der dritte Abschnitt als eine Art berschwnglicher Coda.

    Der erste Abschnitt in Action de grces (T. 1-28 im Klavier; die Sing-stimme endet erst in T. 291) besteht aus drei anwachsenden Strophen mitakkumulierenden Erweiterungen. Die wiederkehrenden Komponenten sindein akkordischer Kanon im Klavier, in dem die Linke der Rechten im Ab-stand einer Viertel folgt, eine homophone Vorbereitung des Vokaleinsatzessowie eine unbegleitete Rezitation in neoliturgischem Stil. Der Rhythmusder kanonischen Phrase prsentiert eines der von Messiaen geliebten freienPalindrome: Die Notenwertfolge 8-4-2-1-2-2-2-2-2-3-8 ist eine Variantevon 8-7-2-|2|-2-7-8. In Hinblick auf ihre harmonische Organisation sind diebeiden kanonischen Strnge unabhngig voneinander: Die rechte Hand kreistdurch sechs Dreiklnge aus Modus 32, whrend die linke Hand mit vier ausModus 21 gebildeten Dreiklngen spielt. Nach Abschluss des Palindromsverbleiben beide Strnge noch kurz in ihrem Modus: Die Linke hlt ihrenletzten Akkord, whrend die Rechte ihre ersten beiden Dreiklnge wieder-holt und sodann durch einen noch nicht gehrten ergnzt.7

  • Pomes pour Mi 71

    [a] [b]

    Le ciel et leau qui suit les va-ria-tions des nu-a - ges,

    [b] [a] [b]

    et la ter-re, et les mon-ta-gnes qui at-ten-dent tou-jours,

    [a] [b] [c] [d]

    Et la lu-mi-re qui trans-for - - - - - - - - - - - - - - me.

    Die Vorbereitung des Vokaleinsatzes (hier als x1 bezeichnet) bestehtwie der ihr vorausgehende Kanon in beiden Strngen aus Dreiklngen, istaber ansonsten unabhngig. Die Hnde sind rhythmisch durch eine homo-phone Textur und harmonisch durch Modus 61 vereint. Die Vokalpsalmodiemit dem an den Sonnengesang des heiligen Franziskus erinnernden erstenVers des Dankgebetes setzt in den letzten Klang ein und verbleibt auch,nachdem sie das Klavier schon hinter sich gelassen hat, in Modus 61. DieMelodie besteht aus vier Elementen: [a] einer an den liturgischen Rezita-tionston erinnernden Tonwiederholung auf fis, [b] einem der gregorianischenflexa (Halbschluss) entsprechenden chromatischen Abstieg mit anschlieen-der Rckkehr zum Rezitationston, [c] dem unbegleiteten Boris-Motiv und[d] Messiaens chromatisme retourn, der durch Umstellung verschleiertenchromatischen Dreitongruppe, die als gregorianische terminatio oder Schluss-kadenz fungiert. BEISPIEL 5: die Psalmodie im Dankgebet (I: T. 3-5)

    Die zweite Strophe in Abschnitt A vertont den zweiten Vers, in dem daslyrische Ich Gott fr die Gefhrtin dankt. Die vier musikalischen Elementekehren hier mit verschiedenen Erweiterungen wieder. Die Vorbereitung desVokaleinsatzes in Modus 61 wird ergnzt durch ein weiteres homophonesElement aus drei Akkorden in Modus 32 (x2), der Rezitationston steigt ganz-tnig zum as auf und die Pausen der Psalmodie werden im Klavier durchEinwrfe mit x2 oder x1 + x2 berbrckt. In der dritten Strophe, die von derDankbarkeit fr Seele, Krper, Wahrheit, Geist und Gnade singt, erweitertMessiaen sowohl den Kanon und die Vorbereitung des Vokaleinsatzes alsauch die (hier in Modus 63 gehaltene und in c zentrierte) recto tono-Psalmodie.

  • 72 Der allgegenwrtige Gott

    8 Zwei weitere Varianten der homophonen Komponente tauchen nur vorbergehend auf. Diedrei Akkorde von [x4] (vgl. T. 24 und 26) erweisen sich als modale Transposition von [x3],d.h. sie verbinden ebenfalls je einen Vertreter aus Modus 32, 21 und 61. Die Akkorde in [x5](vgl. T. 25 und 27) umgeben und unterstreichen einen einzelnen Modus-21-Akkord mit fnfModus-32-Akkorden. 9 Dank eines zweitnigen Einschubs nach dem Boris-Motiv schliet Messiaen die zweiteStrophe auf demselben Gesangston und mit derselben terminatio wie die erste. In der drittenStrophe fgt er drei Tne ein, landet so ein weiteres Mal auf derselben Tongruppe, fgt dannjedoch ihre transponierte Krebsform hinzu (fis-e-f wird zu cis-c-d).

    Ein diesmal dem Einsatz der Singstimme vorangehendes neues homophonesSegment (x3), das auch deren erste zwei Pausen fllt, besteht aus drei vier-stimmigen Akkorden in Modus 32, 21 bzw. 61 und rekapituliert somit diedrei tonalen Sphren des originalen Materials.8 Die Singstimme, schon inder zweiten Strophe leicht erweitert, verlngert hier jedes ihrer Elemente:Die Grundsequenz [a] + [b] erklingt siebenmal (statt wie ursprnglich nurviermal), das Boris-Motiv verschmilzt mit seiner unmittelbaren Wiederho-lung, und dem chromaticisme retourn folgt eine transponierte Umkehrung.9

    Abschnitt B ist nicht strophisch gegliedert, sondern verkettet vielmehrPassagen unterschiedlichen Tempos und Charakters. Auffallend sind hierder majesttische Hhepunkt beim Vokaleinsatz, ein die neoliturgischeRezitation im trs modr-Tempo des A-Abschnitts aufgreifendes Segmentin der Mitte und drei Zitate des Boris-Motivs. Der dynamische Hhepunkttrifft auf die gewichtigste Textzeile, All dies hast du mir gegeben. Sein aus-ladender Abstieg im Wechsel von Tritoni und Quinten erklingt im Klavierim triumphalen ff eines dreioktavigen, ausschnittweise von der Singstimmeverstrkten Unisono. Nach einem pltzlichen Verstummen nimmt dieStimme ihre frhere Rezitation wieder auf, um der grten Dankbarkeit desBetenden Ausdruck zu verleihen: Und hast dich dazu noch selbst gegeben(Rezitationston d, Modus 33) im Gehorsam und Blut deines Kreuzes(Rezitationston e, Modus 31).

    Das jetzt stets in der mit seiner Wiederholung verschmolzenen Formerklingende Boris-Motiv erffnet den Abschnitt B im Klavier (vgl. T. 29-301). Seine Begleitung, bestehend aus wechselnden Akkorden ber einemwiederholten Basston, entspricht Messiaens effet de vitrail. Dieselbe Kom-bination kehrt in T. 42 in variierter Transposition wieder, wo sie zu Beginndes Melismas auf toile den zweiten ff-Hhepunkt des Liedes unterstreicht.Wenn das Boris-Motiv anschlieend eine kleine Terz abwrts transponiertwird, gesellt sich die Singstimme kurzzeitig dazu. In allen drei Auftrittenentstammen die Tne des vier- bis sechsstimmigen Satzes einer einzigenTransposition von Messiaens Modus 2.

  • Pomes pour Mi 73

    Abschnitt C ist ganz dem abschlieenden Wort Alleluia vorbehalten.Die Melodielinie endet mit einem ausfhrlichen Melisma, einem jubilus aufdem letzten Vokal. Dieser Abschnitt kombiniert somit alle musikalischenSymbole, die in Messiaens Werk mit dem Themenkreis der Gottesliebeverbunden sind: Die Tonart-Vorzeichnung mit sechs Kreuzen deutet auf Fis-Dur, alle Tne sind Modus 21 entnommen, die Basspartie des Klaviersbeschrnkt sich ganz auf den Fis-Dur-Akkord mit sixte ajoute (MessiaensLiebesakkord), und die Stimme ist in ais (Messiaens Liebeston) verankert.Die Musik lsst also keinen Zweifel daran, dass die Gottesgaben, fr die derBetende dankt, ein direkter Ausdruck der Liebe Gottes sind der Liebe frseine verletzlichen Kinder, wie die hufige Kombination des Boris-Motivs mit dem Kirchenfenstereffekt betont. Die sekundren tonalenBereiche des Liedes, die Modi 3 und 6, knnen versuchsweise mit dermenschlichen Seite, der Dankbarkeit gegenber Gott und dem Geschenkseiner Menschwerdung, verbunden werden.

    Der symmetrisch entsprechende Text, der des neunten und letzten Liedesim Zyklus, besteht aus drei Strophen und einer Abschlusszeile. Die beidenersten Verse sind auf zweifache Weise miteinander verbunden: durch Paral-lelbildung, insofern das erste Zeilenpaar in beiden identisch ist, und durchFortsetzung, insofern die verbleibenden Zeilen zusammenhngend aus dem-selben Kontext, dem der Messliturgie, stammen. Die die erste Strophe voll-endenden Worte paraphrasieren, was die Gemeinde spricht, nachdem derPriester das Brot gebrochen und die Hostie empor gehoben hat. Das Abersprich nur ein Wort ... impliziert den normalerweise vorausgehenden Satzaus Mt 8,8: Herr ich bin nicht wrdig, dass du eingehst unter mein Dach.Messiaens dreifaches Schenk mir deine Gnade schlielich ist eine freieFormulierung des erbarme dich unser, der ersten Ergnzung aus der imselben Kontext gesprochenen Anrufung Lamm Gottes, du nimmst hinwegdie Snde der Welt.

    Die Bitte, die der unwrdige Snder zu Beginn der beiden Strophenuert, ist vermutlich eine Zusammenziehung aus Berichten des Alten undNeuen Testaments: einerseits der in Exodus 15,23 erzhlten Geschichte vonIsraels Not in der Wste der bitteren Wasser, anderseits dem Evangelien-zeugnis, demzufolge der Berg Golgota, der schon so viele Hinrichtungenerlebt hat, erschttert wurde in der Nacht, nachdem Jesus dort am Kreuzstarb.

    In der dritten Liedstrophe ndert sich der Adressat. Der Betende, dersich nach Gottes Gnadengaben sehnt, wendet sich auf der Suche nach einerangemessenen Erwiderung an sein eigenes Innerstes. Die Aufforderung zu

  • 74 Der allgegenwrtige Gott

    luten ist explizit an das Herz gerichtet, whrend die Ermunterung, diefrohe Botschaft von der einstigen Teilhabe an Christi Herrlichkeit und Auf-erstehung zu glauben, eher implizit die Seele anspricht. Die abschlieendeEinzelzeile (Die Freude ist zurckgekehrt) kann als paraphrasierendebersetzung von halleluja gelesen werden.

    Wie sein Gegenstck zu Beginn des Zyklus besteht auch dieses Liedmusikalisch aus drei grundstzlich verschiedenen Abschnitten. Der erste(T. 1-11) prsentiert sich als kleine dreiteilige Form [a b a'], der zweite(T. 12-27) als Rondo im Toccatastil und der dritte (T. 28-31) als ber-schwngliche Coda. Die Entsprechungen zwischen Prire exauce undAction de grces auf der Ebene des musikalischen Materials sind wesent-lich, obwohl Messiaen auf direkte Zitate ganz verzichtet.

    Der in sehr migem Tempo gehaltene Abschnitt A umschliet eineneogregorianische Psalmodie mit recto tono-Rezitation um den Ton a, einerErhebung eine kleine Terz aufwrts anlsslich des Textakzents und einemchromatischen Abstieg, der auch hier wieder als formalisierter Halbschluss(flexa) dient. Diese Vokalkomponente unterliegt dem identischen Zeilenpaarzu Beginn der ersten und zweiten Strophe sowie, in erweiterter Form, derdreifachen Gnadenanrufung (vgl. T. 1-2, 7-8; 9-11). Sie schwebt ber gehal-tenen Klavierakkorden aus querstndigen Dreiklngen: A-Dur ber Cis-Dur,D-Dur ber c-Moll. Der homophon begleitete Halbschluss der Singstimmeist auf Modus 45 bezogen. Fr das dreifache Schenk mir deine Gnade wirddiese Wendung sodann wiederholt, wobei dem Melodiekopf zustzlicheAkkorde aus demselben Modus vorangehen. Das ausgeschriebene crescendo(f pi f ff) liefert den dynamischen Hhepunkt des Abschnitts.

    Die der Kommunionsfeier entnommenen Textzeilen bilden in der Musikdas Kontrastsegment der kleinen dreiteiligen Form (vgl. T. 3-6). Singstimmeund Klavier beziehen hier ihren Tonvorrat aus Modus 21. Die Vokalliniekreist weiterhin um a, verlsst nun jedoch die Tonwiederholung und denstreng syllabischen Stil zugunsten einer melodisch ausdrucksvollen Kontur,deren drei Teilphrasen jeweils von derselben fallenden Geste im Klaviereingeleitet werden. Die Versicherung, dass die Seele des Glubigen gesun-den wird, ist als dreistimmiges Unisono von Sngerin und Klavier gesetzt,wobei das zentrale Wort Seele (me) als ausladendes Melisma um fnfVarianten der kleinen melodischen Figur g-a-b-e-c entworfen ist (Bsp. 6).

    Der Refrain des lebhaften Abschnitts basiert auf einer kleinen bogen-frmigen Akkordfigur im Toccatastil, deren Tne den ganzen Zwlfton-vorrat ausschpfen. Die Figur erklingt zunchst siebenmal, wobei ihr die

  • Pomes pour Mi 75

    et mon - -

    - - - me se - ra - gu - ri-e.

    BEISPIEL 6: das Melisma der Seele, die an Christi Wort gesunden wird (IX: T. 6)

    Gesangsstimme den wiederholten Sprung a-e entgegenstellt. Dieser auf-wrts gerichtete Quintsprung ist rhythmisiert nach Art dessen, was Messiaeneinige Jahre spter als Auftakt Akzent Entspannung beschreiben wird:In seiner Anmerkung zu T. 13-16 in Amen de lagonie de Jsus, demdritten Satz der Visions de lAmen, erklrt Messiaen, der Verzweiflungs-schrei, den Jesu whrend seines Gebets auf dem lberg kurz vor seiner Ver-haftung ausstt, sei rhythmisch als anacrouseaccentdsinence geformt.Dieser Kontext scheint fr das hier diskutierte Lied relevant: in Prireexauce ermutigt der Betende die Seele, angesichts des Wissens um ChristiErlsung bringenden Tod ihre Angst zu berwinden. Die berraschend kon-krete Aufforderung, die Glocke des Gotteslobes zu schlagen, zu klopfen undanzustoen, unterbricht das refrainartige Toccataspiel mit eintaktigen Epi-soden in Modus 34. Die Schlusszeile der Strophe, Hier ist der Tag deinerGlorie und Auferstehung!, steigt in zweifach majesttischem crescendo zuff-Hhepunkten auf und betont damit die gloire und die rsurrection, dererdie menschliche Seele eines Tages teilhaftig zu werden hofft.

    Die Coda hnelt der des ersten Liedes im Zyklus: Semantisch sind dieAusdrcke Die Freude ist zurckgekehrt und Halleluja quivalent,melodisch sind beide Passagen als ausladende Melismen gesetzt, und har-monisch bestimmt Modus 21, aus dem die Vokallinie und ihre Umspielung inder rechten Hand des Klavierparts bezogen sind, sowohl die Feststellung derFreude (la joie...) als auch die rituelle Freudenbezeugung (alleluia).Dennoch ist hier alles nicht ganz so eindeutig, wie es in Action de grceswar. Der Basspart des Klaviers stellt dem Jubilieren auf dem Wort Freudeein Material gegenber, dessen auf der Sequenz . . basierenderRhythmus das Gesangsmelisma unterstreicht, whrend die Phrasenstrukturund der Modus unabhngig bleiben. Die Akkordgruppe umfasst sechs

  • 76 Der allgegenwrtige Gott

    Klnge, berschreitet also die Trennlinie zwischen den jeweils fnfteiligenrhythmischen Einheiten, und die Tne entstammen nicht Modus 2 sondernvielmehr Modus 32. Erst anlsslich der abschlieenden Feststellung, dass dieFreude zurckgekehrt ist, sind die drei Strnge wieder vereint, indem sie dreisiebenstimmige Modus-22-Akkorde bilden. Das Lied schliet mit einer vier-stimmigen Passage im Klavier, deren homophoner Modus-45-Abstieg berdrei Oktaven die Rckkehr zu a, dem Zentralton des Liedes, herbeifhrt.

    Messiaens symbolische Verwendung seiner Modi ist auch hier wiederfaszinierend. Zusammenfassend lsst sich feststellen: Modus 2, der Modusder Gottesliebe, bestimmt die Zeile aus dem Kommunionsritus mit ihremlangen Melisma ber die Seele, die gesunden wird, sowie den oberen Strangin der Betonung der Freude, die aufgrund der allen Glubigen zugesagtenErlsung zurckgekehrt ist. Modus 3 der Modus, den ich zuvor versuchs-weise der menschlichen Dankbarkeit fr Gottes Gaben zugeordnet hatte beherrscht den unteren Strang eben dieses Freudenausdrucks sowie dieAufforderung, die Glocke des Gotteslobs zu schlagen, zu klopfen und zumKlingen zu bringen. Der zustzliche Modus in diesem Lied ist nicht Modus6 wie in Action de grces, sondern Modus 4. Er erklingt zweimal zu denWorten vom bitteren Wasser meines Herzens, als homophone Sttze frden vokalen Halbschluss. Wenn derselbe Modus im vorletzten Takt zu denWorten Die Freude ist zurckgekehrt aufgegriffen wird, gewinnt man denEindruck, dass diese Freude, die auf der zuknftigen Erfllung eines Ver-sprechens beruht, die schmerzlichen Aspekte des menschlichen Lebens das gelebt werden will, bevor dieser Tag der Herrlichkeit anbrechen kann nicht vollstndig auslscht.

    Juwelen der Natur Die beiden Lieder des an die Rahmenstcke anschlieenden Paaresentsprechend einander ebenfalls in Hinblick auf die poetischen Bilder unddie musikalische Sprache. Beide Texte evozieren, in gleichzeitig direkterund metaphorischer Weise, die Landschaft und die zwiespltige Stellung desMenschen in ihr; beide przisieren Jahres- und Tageszeit (ein Sommer-mittag, ein Frhlingsmorgen); beide sind durch einen Refrain strukturiert,der ein herrliches Juwel beschwrt. In Paysage ist der Weg (der Lebens-pfad?) schwierig sowohl wegen seiner konkreten Schlammlcher und seinesStaubes als auch wegen der geistigen Sorgen und Beschwerden, die amWegrand auf den Wanderer warten. Dagegen entzckt der Blick auf sie,die blau wie der See und grn wie das Sommerlaub zwischen dem Gold desWeizens und der Sonne aufscheint, denn sie lchelt.

  • Pomes pour Mi 77

    II PaysageLe lac comme un gros bijou bleu. La route pleine de chagrins et de fondrires,Mes pieds qui hsitent dans la poussire, Le lac comme un gros bijou bleu. Et la voil, verte et bleue comme le paysage !Entre le bl et le soleil je vois son visage : Elle sourit, la main sur les yeux. Le lac comme un gros bijou bleu.

    LandschaftDer See wie ein groes blaues Juwel. Die Strae voll Gram und Schlammlchern,Meine Fe wankend im Staub,

    Der See wie ein groes blaues Juwel. Und da steht sie, grn und blau wie die Landschaft!Zwischen dem Weizen und der Sonne sehe ich ihr Gesicht:Sie lchelt, die Hand ber den Augen.

    Der See wie ein groes blaues Juwel.

    VIII Le collierPrintemps enchan, arc-en-ciel lger du matin,Ah ! mon collier ! Ah ! mon collier ! Petit soutien vivant de mes oreilles lasses,Collier de renouveau, de sourire et de grce,Collier dOrient, collier choisi multicolore aux perles dures et cocasses ! Paysage courbe, pousant lair frais du matin,Ah ! mon collier ! Ah ! mon collier ! Tes deux bras autour de mon cou, ce matin.

    Die HalsketteGefesselter Frhling, leichter Morgen-Regenbogen,Ach, meine Halskette, meine Halskette! Kleine lebendige Sttze meiner mden Ohren,Halskette der Erneuerung, des Lchelns und der Gnade,Orientalische Halskette, vielfarbig gewhlt mit harten, skurrilen Perlen! Gewellte Landschaft, der frischen Morgenluft angeschmiegt,Ach, meine Halskette, meine Halskette!

    Deine beiden Arme um meinen Hals, heute Morgen.

  • 78 Der allgegenwrtige Gott

    In Le Collier ist die Jahreszeit, die sonst blhende Knospen undneues Leben verspricht, gefesselt wrtlich, in Ketten gelegt und dieOhren des Dichtenden sind mde (man fragt sich, von welchen Klngen).Doch auch hier sorgt ein leichter Morgenregenbogen fr geheimnisvolleSchnheit, die gewellte Landschaft schmiegt sich der frischen Frhlingsluftan (und nicht umgekehrt), und eine zunchst unbestimmte Halskette bringtErneuerung, Lcheln, und Anmut hervor.

    Gott wird in diesen beiden Texten nirgends ausdrcklich genannt, undauch die Gefhrtin kommt in Paysage nur in der dritten Person vor alseine, von der, nicht zu der gesprochen wird. Stellt man die einzigen dreiAusdrcke, die ein Personalpronomen verwenden, hintereinander, so scheintsie allmhlich in den Blickwinkel zu treten: la voil/son visage/elle sourit.Allerdings ist ihre Hand erhoben, um ihre Augen gegen das Sonnenlicht zuschtzen, und nicht zum Gru; auch wird nicht klar, ob ihr Lcheln eigent-lich dem Schauenden gilt. Erst ganz am Ende von Le Collier sind dieWorte schlielich unmittelbar an sie gerichtet (Tes deux bras autour demon cou, ce matin). Doch auch hier wirft die Art, in der das du eingefhrtwird, die Frage auf, welche Beziehung eigentlich zwischen ihren Armen umden Hals des Mannes und der schon vorher gepriesenen Halskette besteht.Der Gesamteindruck beider Gedichte ist zwiespltig, fast so, als sei die inihnen angedeutete sanfte Schnheit zwar trstlich, aber doch nicht starkgenug als Gegengewicht zu Schlammlchern und Staub, Sorgen und Be-schwerden, Zgern und Beschrnkung.

    Die Musik von Paysage weist zu dem vorangehenden Lied Actionde grces eine gewisse Beziehung auf, die man aufgrund des Textes kaumvermutet htte. Der Gesangspart besteht aus drei Elementen: einer anmuti-gen, melodisch eloquenten Figur [a] fr die Refrainzeile, einer recto tono-Rezitation [b], die an die Psalmodien der den Zyklus einrahmenden Gebeteerinnert, jedoch zu keiner der aus der Gregorianik bekannten Gesten fhrt,und dem Boris-Motiv [c]. Ein Groteil des Textes wird in parlando-Rhythmus als Tonwiederholung auf a gesungen, wobei die Lautstrke cha-rakterisierend zugeordnet, aber nicht expressiv gestaltet ist: mf fr denschwierigen Weg und fr den ersten Anblick der Frau, deren Farben mitdenen der Landschaft verschmelzen, pp in dem Augenblick, da das Bildihres Gesichts ber dem Weizenfeld zu glhen und zu lcheln beginnt. Dasausdrucksvolle, hier nur einmalige Zitat des Boris-Motivs, in einem mitplus lent markierten separaten Takt hervorgehoben, ist reserviert fr dieWorte la main sur les yeux.

    Dem Klavier steht ein hnlich beschrnktes Repertoire zur Verfgung.Es begleitet den Refrain, indem es dessen erstes Intervall, einen fallenden

  • Pomes pour Mi 79

    Tritonus, vorausnimmt und den Rest der Phrase sodann sttzt in einem homo-phonen Satz, der wie die Gesangsstimme seine Tne aus Modus 31 bezieht.Fr die leise absteigenden Dreiklnge der rechten Hand, die die Phrase imhheren Register fortspinnen, wechselt Messiaen zu Modus 22. Nachdemdas Klavier den Eintritt der parlando-Passage mit einem einzigen oktavier-ten a vorbereitet hat, etabliert es ber chromatisch schleichenden Quartender linken Hand sein eigenes, zweistimmig gesetztes Boris-Motiv in derRechten. Auf diese Weise berbrckt die Begleitung Pausen in der Kette derTonwiederholungen und unterstreicht schlielich auch einzelne Silben. Frdie Einleitung des schnelleren pp-Abschnitts bedient sich das Klavier einerVariante des Boris-Motivs und des effet de vitrail: Gegen die arpeg-gierten, kirchenfensterfarbigen Dreiklnge der Linken spielt die Rechte eineerweiterte Diminution (||: a-des-c-fis-es :|| a) und malt damit eine ArtBhnenhintergrund fr die Szene, in der eine Frau ihre Augen gegen dashelle Sonnenlicht beschattet. Wenn die Singstimme schlielich ebenfalls dasBoris-Motivs zitiert, klingt dies wie eine Augmentation des im Klaviernur flsternd Gehrten. Wie immer bei diesem Material sind alle Tne demzweiten Modus entnommen (hier: 21).

    Mehr als ein Drittel des Liedes ist jedoch nicht modal angelegt, sondernfast vollstndig chromatisch (vgl. T. 4-8 + 12-15, d.h. 9 von insgesamt 24Takten). Diese tonale Gestaltung mag zwar intuitiv angemessen erscheinenin einer Passage, die von Sorgen und Schlammlchern spricht, doch wirftsie ein unerwartetes Licht auf die Phrase, mit der der Betrachter erstmalsden Anblick der Frau erwhnt. Aus dem Blickwinkel, den die Details dermusikalischen Semantik hervorheben, erscheint seine Wahrnehmung, sieverschmelze durch ihre Farben mit der Landschaft, pltzlich nicht mehr nurcharmant. Vielmehr entsteht der Eindruck, als fnde er sie von ihrer Umge-bung nur unwesentlich unterschieden, und wenn es ihn auch freut, sie zusehen, so ist die Freude doch ein schwaches Gegengewicht angesichts derihn auf dem Weg erwartenden beschwerlichen Aufgaben.

    Die musikalische Symbolik in den Takten, die auf der Kombination vonBoris-Motiv und Kirchenfenstereffekt basieren, besttigt diese Interpre-tation. Wie schon erwhnt kann dieses Material, das in Messiaens religisenKompositionen oft fr die Beziehung zwischen dem Jesuskind und der Jung-frau Maria oder fr Jesus verzweifelte Anrufung seines himmlischen Vaterssteht, in spteren Werken als Zeichen fr die liebevolle Beziehung zwischeneinem verwundbaren Kind und einem beschtzenden Elternteil gelesen wer-den. Es erklingt jedoch hier in einem Satz, der vom Gesicht der Frau spricht.Bezeichnenderweise handelt es sich dabei um den einzigen Satz im ganzen

  • 80 Der allgegenwrtige Gott

    10 Vgl. T. 41-42: E-Dur ber d-Moll, D-Dur ber Fis-Dur, Es-Dur ber e-Moll, Des-Dur berd-Moll und F-Dur ber H-Dur.

    Gedicht, der Verben enthlt: er sieht, sie lchelt (und implizit: er sieht sielcheln). Mehr Annherung gibt es nirgends zwischen dem entfernten Beob-achter einer Landschaft, in der sie nur als eine Facette aufscheint, unddem Objekt seiner merkwrdig eingeschrnkten Freude.

    Die Tatsache, dass der Refrain, in dem ein See voller Begeisterung miteinem Juwel verglichen wird, in Modus 3 harmonisiert ist dem Tonbe-stand, der in den einrahmenden Gebeten fr die menschliche Dankbarkeitgegenber Gott zu stehen schien beleuchtet die Gefhle, die Messiaen mitdieser Naturschnheit verbindet; die flsternde Modus-2-Fortspinnung imKlavier besttigt, dass der Dichter-Komponist auch in diesem See eineGottesgabe erkennt.

    Interessant, obwohl fr Zuhrer in ihrem stndigen Konflikt vielleichtein wenig irritierend, sind die Ankertne des Liedes. Im Refrain beginnt undendet die Linke des Klaviers ber h, whrend die Gesangsstimme den chro-matischen Nachbarton ais bzw. b betont. Ein weiterer chromatischer Nach-bar tritt durch den Rezitationston a hinzu. In der das Gesicht der Fraubesingenden Kontrastpassage (T. 16-21) dient der Ton a zudem als Ankerfr das Boris-Motiv, wobei der Kirchenfenstereffekt der Linken aller-dings b als Grundton hat. Der chromatische Konflikt weitet sich auf quer-stndige Akkorde aus, wenn E-Dur, das als Grundlage fr Anfang und Endeder Refrainzeile dient, mit seinem gis-h am Phrasenschluss auf das g-b einesg-Moll-Dreiklangs der Rechten trifft. Ein passenderer musikalischer Aus-druck fr gemischte Gefhle ist schwer vorstellbar.

    Eine hnliche Ambivalenz bestimmt das symmetrisch entsprechendeachte Lied, Le Collier. Auch hier kehrt die linke Hand des Klavierpartsimmer wieder zur zweiten Umkehrung des E-Dur-Dreiklangs zurck, derenGrundton h drei Viertel des Liedes beherrscht (T. 1-15, 27-40 und 43-51);auch hier trifft der E-Dur-Dreiklang regelmig auf querstndige Akkorde,c-Moll oder B-Dur. Erst der entzckte Ausruf Ah ! mon collier ! Ah ! moncollier ! glttet alle Reibung, indem das Klavier gis-Moll ber den harmo-nisch verwandten H-Dur-Nonenakkord stellt. Dieser Ausruf, der oft genugwiederkehrt, um als Refrain wahrgenommen zu werden, rundet jedoch we-der den Text noch seine Vertonung ab. Die letzte Gedichtzeile mit ihremzrtlichen Bild von den um den Hals des Mannes gelegten Armen der Ge-liebten ist in harmonischer Hinsicht die zwiespltigste Aussage des Liedes:Ihre Begleitung besteht aus einer Folge von Gegenberstellungen unver-wandter Dreiklnge, die auch durch keinerlei Modus verbunden sind.10

  • Pomes pour Mi 81

    Zwiespltigkeit fehlt in diesem Lied einzig in den der Landschafts-wahrnehmung vorbehaltenen Momenten (vgl. T. 1-10: Printemps enchan,arc-en-ciel lger du matin, T. 28-37: Paysage courbe, pousant lair fraisdu matin sowie die verwandte Klavierphrase in T. 43-51). Messiaen findethier eine geniale und bezeichnende Lsung fr die modale Organisation. Inder ersten Hlfte jeder Passage sind die Gesangslinie mit ihren vielenfallenden kleinen Terzen sowie der obere Strang des Klavierparts mit seinenDreiklngen in Grundstellung aus Modus 31 bezogen. Gleichzeitig reprsen-tieren die unbetonten Akkorde der linken Hand Modus 22, whrend der ver-ankernde E-Dur-Dreiklang in beiden Modi zu Hause ist. In der zweitenHlfte der drei Passagen sind diese Zugehrigkeiten vertauscht: der Gesangund die hheren Akkorde stammen nun aus Modus 22, die unbetonten Bass-klnge kontern mit Modus 31, whrend der unverwstliche E-Dur-Dreiklangwieder beide Sphren verbindet. Die Gegenberstellung der beiden Modi,der in diesem Zyklus schon wiederholt eine Symbolfunktion als Zeichen dermenschlichen Dankbarkeit gegenber Gott (Modus 3) und des Ausdrucksgttlicher Liebe (Modus 2) nachgewiesen werden konnte, unterstreichtsomit eine ganz hnliche geistige Haltung, wie sie in Paysage festgemachtwurde: Dort ergnzen die beiden Modi einander horizontal in einem dieSchnheit eines Sees preisenden Refrain; hier sind sie vertikal verwoben inPhrasen, die wiederum eine meditative Versenkung in den Anblick derLandschaft andeuten.

    In der mittleren Strophe, deren Text zunchst kein einendes Bild zuprsentieren scheint, liefert Messiaens Musik die klrenden Nuancen. DieAttribute, die die geheimnisvolle Halskette beschreiben, sind ungewhnlichschon darin, dass sie mit Endreimen entworfen sind, fr die der Komponistsonst nicht viel brig hat (lasses, grce, cocasses). Die Art der Vertonunglenkt die Aufmerksamkeit der Zuhrer auf kontrastierende Aspekte. AlsMetapher Sttze mder Ohren, Quelle der Erneuerung, des Lchelns undder Gnade ist die Halskette in fnf langen Modus-2-Takten harmonisiert,whrend die Singstimme ihr Loblied in einer Kontur vortrgt, die den qui-distanten Akkord e-g-b-cis-e umspielt. Als konkretes Objekt dagegen scheintdie vorherrschende Wirkung der orientalischen Halskette fr den dichtendenKomponisten in der Einfrmigkeit ihrer gereihten harten, skurrilen Perlenund der an Kirchenfenster erinnernden Vielfarbigkeit zu liegen; die Musikinterpretiert diesen Teil der Phrase mit fnf identischen Takten ber einemwiederholten Orgelpunktton cis, wobei die Akkorde jener Verkettung vonDominant-Tredezimakkord-Umkehrungen entsprechen, die Messiaen alsseinen effet de vitrail bezeichnet. Die Vokallinie bewegt sich in kleinenIntervallen und einem Rhythmus, der langweilig erscheinen knnte, wre da

  • 82 Der allgegenwrtige Gott

    11 Messiaens Beschreibung erinnert an den zweiten Paulusbrief an die Korinther: Im gegen-wrtigen Zustand seufzen wir und sehnen uns danach, mit dem himmlischen Haus ber-kleidet zu werden (5,2) und Solange wir nmlich in diesem Zelt leben, seufzen wir unterschwerem Druck (5,4).

    nicht die das Gleichma durchbrechende Sechzehntel-Verlngerung amEnde jedes Taktes. Solche Perlen bringen das lyrische Ich so sehr zumLachen, dass das Wort cocasse (komisch, skurril) das Gefhl der Erheite-rung, die dieses Schmuckstck auslst, gar nicht ausreichend wiedergebenkann: Der Komponist vertont ausgerechnet den kurzen Mittelvokal desAdjektivs als Melisma (cocas - - - - - se), als eine hoch und starkbeginnende Girlande, die in wiederholten Unterbrechungen an Kraft verliertund schlielich in einer Weise absteigt, die die inhrente Traurigkeit jederbunten Verzierung zu unterstreichen scheint.

    In diesen beiden symmetrisch platzierten und innerlich korrespondie-renden Liedern, Paysage und Le Collier, erscheinen die Schnheit derNatur, in die Gott seine Geschpfe gesetzt hat, und der von ihr ausgehendeSeelenfrieden als die einzigen Gnadengaben, die der Mutlosigkeit entgegengehalten werden knnen. Whrend die Wortwahl (besonders das emphati-sche la voil ! und das unerwartete Possessivpronomen in Tes bras) daslchelnde Gesicht und die liebevolle Umarmung betont, deutet die Musikan, dass diese Zeichen menschlicher Zuneigung in trauriger Weise sekundrbleiben vielleicht, weil sie als ausschlielich irdisch gedeutet werden.

    Unterwegs zum wahren Zuhause

    Im dritten wie auch im drittletzten Lied geht es um einen vom lyrischenIch fr sich und seine Frau ersehnten Wechsel der Wohnung und der Lebens-welt. Der Pfad, den die beiden mittels des Ehesakraments betreten haben,soll ins himmlische Jerusalem fhren. Die dabei unvermeidliche Trennungvom vertrauten Leben verursacht ihnen keinerlei Bedauern, im Gegenteil:das irdische Leben zurckzulassen ist Anlass zur Freude. Die Bilder, die derSprechende in den Augen seiner Gefhrtin sieht Bilder von Haus undKrper, d.h. von den vergnglichen Hllen, die individuellen Seelen bzw.dem gemeinsamen Leben vorbergehend Unterkunft gewhren werdennun als Schmerzensbilder interpretiert. Die hiesige Welt erscheint nichtnur bar jener Wahrheit, die die Vermhlten zu sehen hoffen, sobald sie sichin reinen, jungen, ewig strahlenden Krpern wiederfinden, sondern auchunzulnglich hinsichtlich der grundlegenden Bedingungen fr menschlichesWohlbefinden. Physikalische Fundamente und Konstruktionen zerbrckeln11

  • Pomes pour Mi 83

    12 Auch viele der Bilder im siebten Lied des Zyklus paraphrasieren Paulusworte; vgl. vorallem Eph 6, 10-17: Und schlielich: Werdet stark durch die Kraft und Macht des Herrn!Zieht die Rstung Gottes an, damit ihr den listigen Anschlgen des Teufels widerstehenknnt. Denn wir haben nicht gegen Menschen aus Fleisch und Blut zu kmpfen, sonderngegen [...] die Beherrscher dieser finsteren Welt [...] Seid also standhaft: Grtet euch mitWahrheit, zieht als Panzer die Gerechtigkeit an und als Schuhe die Bereitschaft, fr dasEvangelium vom Frieden zu kmpfen. Vor allem greift zum Schild des Glaubens! Mit ihmknnt ihr alle feurigen Geschosse des Bsen auslschen. Nehmt den Helm des Heils und dasSchwert des Geistes, das ist das Wort Gottes.

    in einem Leben, dass zwischen marschierenden Statuen gefhrt werdenwill, in dem Licht und Freude zu kurz kommen und stattdessen schwarzesGeheul den Eindruck beherrscht.12

    III La maisonCette maison nous allons la quitter :Je la vois dans ton il.Nous quitterons nos corps aussi :Je les vois dans ton il. Toutes ces images de douleur qui simpriment dans ton il,Ton il ne les retrouvera plus :Quand nous contemplerons la Vrit,Dans des corps purs, jeunes, ternellement lumineux.

    Das HausDieses Haus werden wir verlassen: Ich sehe es in deinen Augen.Auch unsere Krper werden wir verlassen: Ich sehe sie in deinen Augen. Alle diese Schmerzensbilder, die sich deinen Augen einprgen,Deine Augen werden sie nicht mehr wiederfinden,Wenn wir einst die Wahrheit schauen,In reinen, jungen, ewig strahlenden Krpern.

    La Maison beschreibt, was unweigerlich geschehen wird und was

    glubige Christen zuversichtlich erhoffen mssen: alle Bedingtheit dessterblichen Lebens wird einst von den Menschen abfallen, die daraufhin inverklrten Krpern in ein neues Leben eintreten werden. Dagegen legt Lesdeux guerriers nahe, dass nichts gegeben oder vorbestimmt, dass vielmehrentschiedenes Handeln verlangt ist. Allerdings hat sich das junge Paar durchdas Sakrament der Ehe zustzlich qualifiziert: Gott sollte sie anhren, nunda sie ein Fleisch geworden sind, da der Sprecher seinem Gott als deinebeiden Kinder gegenbertreten kann.

  • 84 Der allgegenwrtige Gott

    13 Siehe hierzu Aloyse Michaely, LAbme. Das Bild des Abgrunds bei Olivier Messiaen,in Musik-Konzepte 28 (11/1982), S. 7-55. Vgl. auch Michaelys Diskussion dessen, was er alsMessiaens Abstiegsmotiv bezeichnet, in Die Musik Olivier Messiaens: Untersuchungenzum Gesamtschaffen (passim).

    VII Les deux guerriersDe deux nous voici un. En avant !Comme des guerriers bards de fer ! Ton il et mon il parmi les statues qui marchent,Parmi les hurlements noirs, les croulements de sulfureuses gomtries.Nous gmissons : ah ! coute-moi, je suis tes deux enfants, mon Dieu ! En avant, guerriers sacramentels !Tendez joyeusement vos boucliers.Lancez vers le ciel les flches du dvouement daurore :Vous parviendrez aux portes de la Ville.

    Die beiden KriegerAus Zweien sind wir nun eins geworden. Vorwrts!Wie in Eisen geharnischte Krieger! Dein Auge und mein Auge zwischen den marschierenden Statuen, Zwischen schwarzem Geheul, dem Einstrzen schwefliger Geometrien.Wir chzen: ach! hr mich, ich bin deine beiden Kinder, mein Gott! Vorwrts, Sakramentalkrieger! Hebt frhlich eure Schilder. Schiet gegen den Himmel die Pfeile eurer Hingabe an den neuen Tag:Ihr werdet zu den Pforten der (himmlischen) Stadt gelangen.

    Die beiden Lieder sind durch die Metapher des Auges verbunden, das

    (in La Maison) die Zukunft spiegelt bzw. (in Les deux guerriers) synek-dochisch fr die Anschauung des Paares steht. Musikalisch beginnen beideLieder mit wiederholten Begleitmustern (vgl. III: T. 1 = 2 = 3, 5 = 6, VII: T.2 = 3 = 4, 7 = 8 = 9) und deutlichen Aufwrts-Gesten in der Gesangsstimme(vgl. die steigende kleine Terz in III: T. 2-3, 5-6 + 9 und den doppeltenTritonus in VII: T. 1-4, 19-21). In Anbetracht der Tatsache, dass Messiaendie Vorstellung des Abstiegs sowohl Gottes Eintreten in den irdischenBereich im Zuge seiner Menschwerdung als auch den menschlichen Sturz inden Abgrund oft quasi lautmalerisch als einen Absturz durch die Registerkomponiert,13 liegt es nahe, diese Aufwrtsgesten als hnlich symbolisch,d.h. als Versuche einer himmelwrts gerichteten Gestik zu deuten.

    Der Text von La Maison weist in den Rahmenzeilen indirekte Paral-lelen auf: Die erste Zeile beschreibt, was im Auge zu sehen ist, die letzte,was die Augen einst sehen werden; die erste stellt fest, dass bisherige Krper

  • Pomes pour Mi 85

    14 Im siebten Lied umspielt die Singstimme in T. 1-6, 19-23 und 32 den zentralen Ton c, derauch in T. 25-26 als Angelpunkt dient. Zudem erklingen metrisch betonte C-Dur-Dreiklngeund den jeweiligen Takt beschlieende Bassoktaven auf c in T. 7-9, 12-13, und 32.

    aufgegeben werden mssen, die letzte, dass neue Krper erworben werden.Diese Parallelen werden allerdings in der Musik nicht gesttzt. Stattdessenkomponiert Messiaen ein kurzes Lied mit drei ungleichen Abschnitten ohnejegliche modale Definition. Die beiden Feststellungen im ersten Abschnitterklingen im Viervierteltakt, von einer Wechselschlag-Begleitung untermalt.Dabei ist der Ausdruck sanft und der Satz, in dem Bass- und Oberstimmen-tne die aufsteigende Terz der Gesangsstimme erst vorwegnehmen und dannverdoppeln, transparent. Der Blick des lyrischen Ich ins Auge seiner Mijedoch, als chromatische Kurve ber einem Bassorgelpunkt h dargestellt,bringt das Gleichma ins Schwanken: Das Klavier teilt den unbetonten Ak-kord der rechten Hand, verwandelt so einen einfachen Toccata-Anschlag inzwei melodisch verbundene Achtel und erweitert damit den Takt auf vierpunktierte Viertel, whrend die Gesangsstimme die vorherige Aufteilungbeizubehalten sucht, indem sie jede einzelne Note um die Hlfte verlngert.Der Mittelabschnitt des Liedes mit seiner recto-tono-Rezitation erreicht ineinem dezidierten nicht mehr den ersten Hhepunkt des Liedes. Der durchein miges Tempo, eine lyrische Gesangslinie und einen homophonen Satzgeprgte dritte Abschnitt unterstreicht inhaltlich vollkommen angemessen das Wort ewig als zweiten Hhepunkt.

    Harmonisch lsst sich eine Entwicklung ausmachen, die vom implizitenh-Orgelpunkt des ersten Abschnitts ber das fis, in dem der Hhepunkt deszweiten Abschnitts wurzelt, zum abschlieenden Akkord auf e fhrt. Mitdieser groflchigen V V/V I-Progression beschreibt das Lied ein ab-sichtsvolles Streben auf ein vorher bestimmtes Ziel hin. Die Beobachtung,dass der auf e errichtete Schlussakkord sowohl das h des Anfangs als auchdas fis des irdischen Abschieds enthlt, steht im Einklang mit der christli-chen Auffassung von der Beziehung zwischen diesem und dem jenseitigenLeben.

    In Les deux guerriers ist die harmonische Konzentration sogar nochgeradliniger. Der Ton c, um den die melodischen Linien sowie die virtuosenFigurationen kreisen und auf dem der wiederholte Durdreiklang der Rechtensowie die Bassoktave der Linken wurzeln,14 bestimmt nahezu alle Takte desLiedes. Das c erfhrt besondere Betonung als Rahmen der aufstrebendenTritoni im Erffnungsausruf der Gesangsstimme sowie in dessen mit chro-matischen Nebennnoten umwobener und zu Wellen beschleunigter Antwortin der Unisono-Passage des Klaviers.

  • 86 Der allgegenwrtige Gott

    De deux nous voi-ci un. En a - vant!

    BEISPIEL 7: der vorherrschende Ton c mit seinem Tritonus (VII: T. 1-3)

    Zudem beherrscht das c den sechsten Takt (und dessen Wiederholungim Schlusstakt), wo C-Dur-Dreiklnge aus dem chromatischen Tonvorratdes Klaviersatzes hervorscheinen, besttigt durch den schlichten Oktavsprungdes Gesangs. Verschiedene Formen des erweiterten Dominantseptakkordes,die flchtig schon vor der Reprise (vgl. die zweite Hlfte von T. 18) undausfhrlicher vor dem Schluss des Liedes erklingen (vgl. T. 27-31), unter-mauern ebenfalls die Tatsache, dass das c der einzige Grundton dieses Liedesist metaphorisch gesprochen: der eine und einzige Zielpunkt, dem dieseSakramentalkrieger zustreben.

    Die musikalische Struktur des Liedes spiegelt sein inneres wie ueresWesen. Die Rahmenstrophen des Textes sind verbunden durch die Imperativ-form der Verben, die Ausrufezeichen, das mittelalterliche Kriegsgert unddie wiederholte Aufforderung vorwrts. Die Musik ist entsprechend alsdreiteilige Liedform mit deutlicher Reprise angelegt. Hinsichtlich der inne-ren Bereitschaft des lyrischen Ich jedoch unterscheiden sich die beidenVerse wesentlich. Die geharnischten Haudegen der ersten Strophe werdenspter als Sakramentalkrieger angesprochen; ihre Rstung, zunchst vorallem als Schutz vorgestellt, soll nun aktiv dazu dienen, Pfeile der Hingabein die Morgenrte eines neuen Lebens zu schieen. Und whrend die beidenProtagonisten im ersten Vers noch schlicht vorwrts marschieren, sehenwir sie im dritten Vers selbstbewusst auf das Tor der himmlischen Stadtzusteuern. Die Musik bildet diese Entwicklung der Zielsetzung mittels einergroen internen Erweiterung ab: A T. 1-5 /\ 6

    A' T. 19-23 23-31 32

  • Pomes pour Mi 87

    15 Vergleiche die Klavierfigurationen um cfisc in T. 2-4 mit den hnlichen Wogen umgcisg in der Gesangsstimme und der rechten Hand des Klavierparts in T. 17.

    Im Mittelabschnitt, der die optimistische Kampfbereitschaft der Kriegermit negativen Urteilen ber die von der unerlsten Menschheit bewohnteSphre kontrastiert, verwendet Messiaen eine musikalische Symbolik, die indieser Analyse inzwischen eingefhrt ist: eine Gegenberstellung der dieDankbarkeit gegenber Gott einerseits und den Ausdruck gttlicher Liebeandererseits verkrpernden Modi. In T. 7-112 und 12-152 entlehnen Vokal-und Klavierpart ihre Tne dem Modus 31, in den verbleibenden fnf Ak-korden von T. 11 und 15 horizontal ergnzt von Modus 22; in T. 26 wird derin der Stimme und dem oberen Klavierstrang realisierte Modus 34 vertikaldem Modus 23 bergestlpt. Der Text allein knnte hier auf eine den Autorund seine Mi beherrschende niedergeschlagene Stimmung schlieen lassen,doch die Musik macht deutlich, dass auch jede Feststellung irdischer Min-derwertigkeit im Wissen um die stete Gegenwart gttlichen Trostes geuertwird. So erscheint es nur konsequent, dass der Appell coute-moi, der dieumwobenen Tritoni die musikalische Verwirklichung der Imperative zuBeginn des Liedes zitiert,15 von einem ganz in Modus 22 gehaltenen Taktabgerundet wird. Messiaen beschliet demnach den Mittelabschnitt desLiedes von den jungen Eheleuten als Gotteskriegern mit der musikalischenVersicherung, dass Gott seine Kinder liebt: Man darf ihn bitten, seinenGlubigen zuzuhren.

    Wessen Diener?

    Im vierten und viertletzten Lied hren wir, oberflchlich betrachtet, vonsehr unterschiedlichen Szenen, die sich jedoch bei nherem Hinsehen alsspirituell komplementr erweisen. Die eine ist ausdrcklich mit Schreckenberschrieben; die andere knnte entsprechend Wonne oder Entzckenheien. Beide stellen Laute der menschlichen Stimme ins Zentrum. Im einenFall stehen vokal erzeugte Gerusche fr angsterflltes Sthnen; im anderenwird liebliches Singen mit dem freudigen Loblied eines Vogels auf dennahenden Frhling verglichen. Der eine Text evoziert die Gefahren, dieerwachsen, wenn vergangenes Fehlverhalten verdrngt statt eingestandenwird; der andere bietet eine Vision zuknftiger Seligkeit. Der eine warnt vorVerzweiflung, da diese in ein Leben fhrt, das der Hlle gleicht, ein Lebenhinter geschlossenen Toren, gegen die die nicht zugelassenen Erinnerungen

  • 88 Der allgegenwrtige Gott

    unerbittlich klopfen; der andere stellt eine fortschreitende Spiritualisierungvor Augen, in der die freudige, Christus dienende Sngerin in einen krper-losen Engel verwandelt wird. Der eine Text zeichnet ein Bild von Dunkel-heit und absurden Ausscheidungen; der andere verspricht unendliche Helleund Herrlichkeit.

    Zusammenfassend lsst sich sagen: Satan und die Mchte der Unterwelthungern nach menschlicher Verzweiflung, denn von ihr leben sie. Sie er-gtzen sich an Erdenbrgern, die, verfangen im vermeintlichen Wissen umihre Sndhaftigkeit, der Erlsung keine Chance einrumen. Demgegenberheien der himmlische Vater und sein Sohn diejenigen willkommen, dieauch spter im Weltentag (am Nachmittag) noch eine frische Stimmehaben. Sie werden auf ihrer Stirn mit dem Mal der Erwhlten gezeichnetwerden, von dem die Johannes-Offenbarung erzhlt; sie werden ein auf dieEwigkeit hin geffnetes Fenster finden und aufgefordert werden, in dashimmlische Jubilieren einzustimmen. IV pouvanteha, ha, ha, ha, ha, ha, ha, ho !Nenfouis pas tes souvenirs dans la terre, tu ne les retrouverais plus.Ne tire pas, ne froisse pas, ne dchire pas. Des lambeaux sanglants te suivraient dans les tnbresComme une vomissure triangulaire,Et le choc bruyant des anneaux sur la porte irrparableRythmerait ton dsespoirPour rassasier les puissances du feu. ha, ha, ha, ha, ha, ha, ha, ho !ha, ha, ha, ha, ha; ha, ha, ha, ha, ho ! ho ! ha, ha, ha ha !

    SchreckenAh, ah, ah, ah, ah, ah, ah, oh!Vergrab deine Erinnerungen nicht in der Erde, du fndest sie nicht wieder.Zieh nicht, zerquetsch nicht, zerrei nicht. Blutige Fetzen wrden dir in die Dunkelheit folgenWie ein dreieckig Erbrochenes,Und der laute Aufprall der Ringe auf die irreparable Pforte Wrde zum Rhythmus deiner Verzweiflung,Um die Mchte der Hlle zu sttigen.

    Ah, ah, ah, ah, ah, ah, ah, oh!ah, ah, ah, ah, ah; ah, ah, ah, ah, oh! ah, ah, ah, ah!...

  • Pomes pour Mi 89

    16 H. Halbreich, Olivier Messiaen, Paris, Fayard, 1980, S. 325, spricht von cris deffroi.Man sollte sich daran erinnern, dass die Franzosen zwar hnlich lachen wie die Sprecheranderer Sprachen, jedoch den Buchstaben h nicht aussprechen. Fr meine deutsche Wie-dergabe habe ich daher ah und oh gewhlt, was weniger missverstndlich sein sollte.17 Cf. R. Pozzi, Il suono dellestasi: Olivier Messiaen dal Banquet cleste alla Turangalla-Symphonie, Lucca, Libreria Musicale Italiana, 2002, S. 84.

    ha, ha,

    Die richtige Einschtzung des Liedes pouvante wird oft durch diemissverstndliche Beschreibung oder bersetzung einer wesentlichen Text-komponente behindert. Der daraus entstehende Irrtum spukt besonders inKonzertprogrammen nicht franzsischsprachiger Lnder herum. Er betrifftdie ausfhrlichen Rahmenpassagen, in denen die Gesangsstimme auf diebeiden Silben beschrnkt ist, die im Franzsischen als ha und ho um-geschrieben werden. Interpreten, die diese Laute als Lachen beschreiben,scheinen sich einzig auf die schriftliche Darstellung zu sttzen, in der einzigdie Messiaens ha, ha, ha vom blicheren ha ha ha unterscheidendenKommata zum Nachdenken anregen knnten. Die Vertonung jedoch lsstvon der ersten Note des Liedes an keinerlei Zweifel zu.

    Messiaen ordnet jedes ha einem klassischen Seufzermotiv, einemlegato absteigenden Halbtonschritt, zu; nach einigen Wiederholungen erwei-tert er das Notenpaar zu viertnigen (und in der Coda immer lngeren)Klagerufen. Die Auffhrungsanweisung haletant et plaintif (keuchend undklagend) macht deutlich, dass es sich hier um vom lyrischen Ich ausgesto-ene Schreckenslaute16 handelt und nicht etwa um das hhnische Lacheneines Teufels. Raffaele Pozzi hrt in diesen Seufzern ein Echo der Aoua!-Schreie, mit denen Ravel das zweite seiner Chansons madcasses erffnet.17

    BEISPIEL 8: Seufzer der Angst und Pein (IV: m. 1)

  • 90 Der allgegenwrtige Gott

    Der poetisch ausdrucksstarke Mittelabschnitt von pouvante, dessen27 Takte jedoch kaum mehr als die Hlfte des 49taktigen Liedes einnehmen,besteht aus drei Segmenten. Das T. 6-11 umfassende erste Segment pr-sentiert eine im Wesentlichen unbegleitete Psalmodie auf dem Rezitations-ton c, die von der chromatisch absteigenden Dreitonfigur d-des-c in Ganggesetzt wird und viermal mit deren aufsteigender Spiegelung (c-des-d) undanschlieenden kleinen Klaviergesten kadenziert. Im letzten der drei Seg-mente, das in seiner Lnge in etwa dem ersten entspricht, lsst das Klavierdie Gesangsstimme zurck und spielt flimmernd tremolierende Tritoni, diein drei Ganztonschritten absteigen (vgl. T. 28, 29 und 30-32).

    Das zentrale Segment des Mittelabschnitts, in dessen langem crescendovon p bis fff die Gesangsstimme genau anderthalb Oktaven aufsteigt, maltdie klaustrophobische Situation eines Menschen, der im Schraubstock einesselbst geschaffenen Teufels zusammengepresst wird. Die Intensivierung istlangsam und qulend; der Anstieg in Halbtonschritten wird von Tonwieder-holungen in der Gesangsstimme und chromatisch kreisenden Bewegungenim Klavier verzgert. Wo der Text vom Aufprall der Ringe auf die irrepa-rable Pforte spricht, der dem sich moralisch selbst verurteilenden Menschenden Rhythmus der eigenen Verzweiflung skandiert, verspricht die Musik zu-gleich Ausweglosigkeit und einen Augenblick trstlichen Lichtes. Whrenddie rechte Hand des Klavierparts mit ihren Dreiklngen einen dynamisch zu-nehmenden chromatischen Abstieg vollzieht, steigt die Gesangslinie, unter-sttzt von den Spitzentnen der Bass-Arpeggien, in sechs Ganztonschrittenaufwrts. Beim Hhepunkt dsespoir kollabieren die gegenlufigen akkordi-schen Bewegungen des Klaviers zu einem einzigen Akkord. Fr den kurzenMoment, da dieser Akkord auf einen neu hinzutretenden Bassdreiklang trifft,leuchtet inmitten des Schreckensszenarios der Modus von Gottes Liebe auf.Und obwohl er hier sofort von einem lauten Rasseln im hohen Register desKlaviers bertnt wird, sttzt derselbe Modus in derselben Transposition(Modus 22) dann auch den anschlieenden anderthalb-oktavigen Abstieg derGesangsstimme zu den Mchten der Hlle.

    Doch wie Messiaens Musik zeigt, ist dieses kurze Aufleuchten gttlicherLiebe in einer so hoffnungslosen Situation nicht ausreichend. Im langenSchlussabschnitt ist die Reprise des Seufzens und Sthnens vom Beginn desLiedes (T. 33-37 = 1-5) viel ausgedehnter, wobei sowohl die Intensitt alsauch das empfundene Elend verstrkt scheinen (vgl. den wiederholten fff-Schrei auf dem hohen as und die chromatische Kurve in T. 48, die vomBassanschlag des Klaviers in trockenem fff brutal abgeschnitten wird). Denins Feuer Gefallenen winken weder Mitleid noch Befreiung.

  • Pomes pour Mi 91

    Ganz anders sieht die Zukunft aus fr die Diener des dreifaltigen Got-tes. Der Titel des sechsten Liedes identifiziert die menschliche Stimme alsMittel, das die Bildreihe von der himmlischen Transformation auslst.

    VI Ta voixFentre pleine daprs-midi,Qui souvre sur laprs-midi,Et sur ta voix frache(Oiseau de printemps qui sveille). Si elle souvrait sur lternitJe te verrais plus belle encore.Tu es la servante du Fils,Et le Pre taimerait pour cela.Sa lumire sans fin tomberait sur tes paulesSa marque sur ton front.Tu complterais le nombre des anges incorporels. la gloire de la Trinit sainteUn toujours de bonheur lverait ta voix frache(Oiseau de printemps qui sveille) : Tu chanterais.

    Deine StimmeFenster voll Nachmittag,Das sich auf den Nachmittag hin ffnet Und auf deine frische Stimme(erwachender Frhlingsvogel). Wenn es sich auf die Ewigkeit hin ffnete,Shest du fr mich noch schner aus.Du bist die Magd des Sohnes,Und der Vater wrde dich dafr lieben.Sein unendliches Licht fiele auf deine Schultern,Sein Zeichen auf deine Stirn.Du wrdest die Zahl der krperlosen Engel ergnzen. Zum Ruhm der heiligen DreifaltigkeitErhbe das immerwhrende Glck deine frische Stimme(erwachender Frhlingsvogel):

    Du sngest.

    Die Bildsprache ist Debussys berhmter Komposition ber die Liebe,der Oper Pellas et Mlisande, verpflichtet. In der entscheidenden viertenSzene des vierten Aktes preist Pellas Mlisandes Schnheit mit Worten,

  • 92 Der allgegenwrtige Gott

    18 Vgl. T. 1-6 = Modus 21, T. 7 = Modus 22, T. 8 = Modus 21; T. 17-21 = Modus 21, T. 22 = Modus 22, T. 23-25 = Modus 21.

    19 Der einfache T. 8, in dem das Klavier auf das Bild des erwachenden Frhlingsvogelsantwortet und den ersten Abschnitt mit 13 seine Begleitfigur erweiternden Sechzehntelnotenabrundet, wird im strukturell analogen, jedoch weitaus komplexeren T. 23 auf 21 + 14 + 12 +11 + 10 + 31 Sechzehntelwerte (vif) sowie eine kontrastierende Ergnzung (7/4, lent) verlngert.Alle Tne dieser erweiterten Schlussbildung entstammen Modus 21 und klingen ber dem frdieses Lied insgesamt charakteristischen Fis-Dur-Dreiklang in der zweiten Umkehrung.

    die Messiaen dazu inspirieren, die Stimme der Geliebten in ihrer metaphysi-schen Dimension mit Frhling und Frische zu verbinden: On dirait que tavoix a pass sur la mer au printemps ! Ta voix ! Ta voix ! Elle est plusfrache et plus franche que leau ! (Man knnte meinen, deine Stimme seiim Frhling bers Meer gekommen! Deine Stimme! Deine Stimme! Sie istfrischer und ehrlicher als Wasser!)

    Alle musikalischen Symbole treffen hier in einer unmissverstndlichenAussage zusammen. Das Lied ist als einfache dreiteilige Form entworfen(A B A'). Im kurzen Mittelabschnitt greift Messiaen noch einmal die ineinigen der vorausgehenden Lieder erprobte Gegenberstellung von Modus2 und 3 auf. Wenn das lyrische Ich die geliebte Frau in einem Fenster sieht,hinter dem kein irdischer Garten, sondern vielmehr die Ewigkeit aufscheint,in der sie Gott als Magd seines Sohnes erfreut, trifft der Modus der mensch-lichen Dankbarkeit auf den Modus der Gottesliebe (vgl. T. 10-11: Modus 32ber 21, Modus 31 ber 22, Modus 33 ber 23).

    In den Rahmenabschnitten bringt das Lied vom erwachenden Frhlings-vogel reine Gottesliebe hervor. Die Rechte des Klaviers wogt in ununter-brochenen Sechzehntelnoten-Dreiklngen ber einer in sanftem 6/8-Taktgehaltenen Linken, wobei eine irregulre Verlngerung am Ende jedes Tak-tes die Ruhe nicht strt, sondern wesentlich zur besonderen Anmut beitrgt.Mit einer Tonart-Vorzeichnung von sechs Kreuzen, einem in jedem Taktmehrmals wiederholten Fis-Dur-Dreiklang und einer Harmonisierung inModus 2, dessen Tonika- und Dominant-Transpositionen alle Tne be-stimmen,18 nehmen diese Abschnitte den erffnenden Regard du Pre ausdem erst 1944 entstandenen Klavierzyklus Vingt Regards sur lEnfant-Jsusbzw. den Jardin du sommeil dAmour berschriebenen Satz aus der 1946-48 komponierten Turangalla-Sinfonie voraus. Im erweiterten Schlusstaktdes Abschnitts19 scheint ein frei rhythmisiertes, in Modus 21 ber einem Fis-Dur-Dreiklang ausgedehntes Unisono des Klaviers das Trllern der frischenStimme im Himmel anzudeuten. Die Coda besttigt mit einer langsamenhomophonen Geste in Modus 21 um Fis-Dur die Beziehung zwischendiesem Gesang und Gottes Liebe.

  • Pomes pour Mi 93

    20 Um Messiaens Bauplan fr dieses Lied richtig zu schtzen, ist es hilfreich, sich zu denWorten [le prolonge]ment ... du Christ einen unmittelbaren bergang vom letzten Akkordin T. 11 zum Auftakt zu T. 13 vorzustellen und dies dann mit den analogen drei Akkorden inT. 3-4 (ce que Dieu a uni) zu vergleichen.

    Das fnfte Lied wird sowohl durch seine zentrale Stellung in der neun-teiligen Gruppe als auch durch seine Brckenfunktion zwischen den Hllen-und Himmelsvisionen der angrenzenden Stcke definiert. Infolgedessenkann die Aussage auf zwei leicht unterschiedliche Weisen gehrt werden:als Ausdruck der vorherrschenden Sorge des jungen Ehemannes oder alseine Vergewisserung seiner Frmmigkeit. Im ersten Fall geht es um seinBedrfnis, die Rolle zu interpretieren, die seine Ehefrau nach christlicherDoktrin in seinem Leben spielen soll; im zweiten Fall sucht er Schutz vorden in pouvante beschriebenen ngsten, indem er sein Vertrauen bestrkt,sein neuer Stand mge Gott mehr und nicht weniger gefllig sein.

    V LpouseVa o lEsprit te mne,Nul ne peut sparer ce que Dieu a uni,Va o lEsprit te mne,Lpouse est le prolongement de lpoux,Va o lEsprit te mne,Comme lglise est le prolongement du Christ.

    Die GattinGeh, wohin der Geist dich fhrt,Keiner kann trennen, was Gott zusammenfgt,Geh, wohin der Geist dich fhrt,Die Gattin ist die Verlngerung des Gatten,Geh, wohin der Geist dich fhrt,Wie die Kirche die Verlngerung Christi ist.

    Mit nur dreizehn Takten ist dieses das krzeste Lied im Zyklus; in

    seiner Struktur einer dreifachen Refrainzeile, die mit drei sehr hnlichenVerszeilen alterniert, ist es auch das schlichteste trotz der eintaktigenErweiterung, deren kontrastierendes Trs lent, pp mystrieux vor demAbschlusstakt eingeschoben ist.20

    Der Imperativ im Refrain, Geh, wohin der Geist dich fhrt, gibt keineAuskunft darber, ob die Worte an Mi gerichtet sind oder ob der Autorvielmehr sich selbst ermahnt, wachsam zu bleiben und nur der gttlichenFhrung zu folgen. Die drei mit dem Refrain alternierenden Verse sind demNeuen Testament entnommen. Die zweite Liedzeile ist eine Paraphrase auf

  • 94 Der allgegenwrtige Gott

    21 Vgl. in T. 1-3: Modus 22 - - - - + 23, 21, 23; in T. 5-7: Modus 22 - - - - + 23, 21, 23; in T. 9-11(wo der Refrain einen Halbton hher klingt als zuvor) sowie im ergnzenden letztenDreiachtelwert von T. 12: Modus 23 - - - - + 22, 23.

    Va o lEs-prit te m - - - ne

    Mt 19,6: Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen,whrend es sich bei der vierten und sechsten Zeile um Messiaens Wieder-gabe einer Erklrung des Paulus an die Epheser zu handeln scheint: Dennder Mann ist das Haupt der Frau, wie auch Christus das Haupt der Kircheist; er hat sie gerettet, denn sie ist sein Leib. Wie aber die Kirche sichChristus unterordnet, sollen sich die Frauen in allem den Mnnern unter-ordnen (Eph 5,23-24).

    Die Musik des zweitaktigen Refrains ist in mehrfacher Hinsicht auffl-lig. Die Melodietne des Gesangsstimme und der Klavieroberstimme bildenzusammen ein Fntonaggregat quidistanter Intervalle (g-ais-cis-e-g in T. 1-2und 5-6; as-h-d-f-as in T. 9-10), whrend der untere Strang des Klavierpartsals Ornamentierung zweier Orgelpunkt-Dreiklnge gehrt werden knnte(G-Dur und E-Dur in T. 1-2 und 5-6; As-Dur und F-Dur in T. 9-10). Har-monisch ist jeder Refrain fest in einer einzigen Modus-2-Transpositionverankert. Deren Tonvorrat bestimmt auch noch die ersten Worte der fol-genden Verszeile (vgl. Nul ne peut, Lpouse, und Comme lglise);fr den Rest der jeweiligen Segmente ergnzt Messiaens Musik jeweils diebeiden anderen Transpositionen des Modus von Gottes Liebe.21

    BEISPIEL 9: vom Geist gefhrt (V: T. 1-2)

    In den beiden ersten Versen folgt den gesungenen Worten eine Klavier-geste, die, aus der Hhe absteigend und an Intensitt zunehmend, dennchsten Eintritt des Refrains vorbereitet. Im dritten Vers, am Ende des

  • Pomes pour Mi 95

    Liedes, erklingt eine hnliche Geste, die jedoch aufsteigt und in himmlischeHhen zu entschwinden scheint. In jedem Vers fgt der Komponist wie eres auch in anderen Werken oft tut durch modale Symbolik das hinzu, wasdie Worte unausgesprochen lassen. Die Akkordketten, aus denen dieseKlaviergesten bestehen, unterscheiden sich zwar im Details ihrer jeweiligenTne, entsprechen einander jedoch gleichzeitig in ihrer Anlage: In allenFllen handelt es sich um vier oder fnf Durdreiklnge in der zweiten Um-kehrung, die, von der Rechten allein gespielt, zu einigen modal bestimmtenAkkorden fhren, an denen beide Strnge beteiligt sind. Als Ergnzung desVerses ber die Ehe als untrennbaren Bund whlt Messiaen Modus 65; frdie Kommentare des Klaviers zu den beiden angeblich analogen Verlnge-rungen entnimmt er alle Tne seinem dritten Modus (T. 8 endet in Modus31, T. 13 in Modus 32). Modus 3, der in den Pomes pour Mi fr dieDankbarkeit gegenber Gott reserviert zu sein scheint, bekrftigt somit, dassdie Funktion der Ehefrau als Verlngerung ihres Mannes innerhalb dergttlich gewollten Ordnung als Segen anzusehen ist. Modus 6, eingefhrt imZusammenhang mit dem Dank fr die in Christi Erlsertod kulminierendegttliche Selbsthingabe, deutet den Bund, der Individuen in der heiligen Ehevereint, als ein Abbild des Bundes zwischen der Menschheit und ihremSchpfer.

    Messiaens musikalische Aussage in den Pomes pour Mi

    Wer eine Liste der in diesem Zyklus hermeneutisch besetzten musika-lischen Komponenten und Parameter aufstellt und diese dann nach ihrerHufigkeit oder Wichtigkeit ordnet, wird berrascht sein angesichts dererheblichen berschneidung mit den Symbolen, die die ausdrcklich religisdefinierten Werke der 30er und 40er Jahre bestimmen. Gottes Liebe liegtauch hier eindeutig in Fhrung, reprsentiert von der ganzen Palette der vonMessiaen so besonders geschtzten Symbole: [1] dem Fis-Dur-Dreiklang mitsixte ajoute (am liebsten in einer seiner vertikal symmetrischen Positionen),[2] dem melodisch betonten ais, [3] der Vorzeichnung von und harmonischenVerankerung in Fis-Dur, [4] dem zweiten Modus als Baumaterial einer aus-gedehnten tonalen Landschaft und [5] dem melodische Spiel mit den qui-distanten Unterteilungen der Oktave.

    Die ersten vier dieser fnf Bedeutungstrger bestimmen gemeinsam diezehntaktige alleluia-Passage in Action de grces; die mittleren drei erklin-gen in den elysischen Rahmenabschnitten von Ta voix. Zusammen mit

  • 96 Der allgegenwrtige Gott

    dem melodischen Spiel um die quidistanten Unterteilungen der Oktavedefiniert Modus 2 sowohl die dreimalige Aufforderung, der Fhrung desGeistes zu folgen, in dem Lied, das die Gattin des Mannes mit ChristiKirche vergleicht (Lpouse), als auch die etwas rtselhafte Behauptung,in der Ehe wrden nicht nur zwei zu einem Fleisch, sondern zugleich einerzu einer Zweiheit (vgl. je suis tes deux enfants, mon Dieu in Les deuxguerriers). Eine weitere Kombination, die in diesem Zyklus hufiger anzu-treffen ist als sonst in Messiaens Werk, ist die vertikale oder horizontaleGegenberstellung der Modi 2 und 3, gedeutet als Zeichen fr Gottes Liebeeinerseits und die Dankbarkeit des Menschen fr Gottes Gaben andererseits(siehe dazu besonders die Lieder Nr. I, II, VI, VII und VIII).

    An drei verschiedenen Stellen bildet Modus 2 den Hintergrund frMessiaens eigenwilliges Boris-Motiv, meist unterstrichen von den schim-mernden Akkordumkehrungen ber einem Orgelpunktbass, die er als seinenKirchenfenstereffekt bezeichnet. Der inhaltliche Bezug, der hier durch diegemeinsame Komponente hergestellt bzw. betont wird, ist aufschlussreich.Das Motiv erklingt zunchst unbegleitet im vierten Takt des ersten Liedeszu den Worten vom verwandelnden Licht. Wenig spter, in T. 29-30, wodie ebenfalls unbegleitete Gesangsversion des Motivs in ein mit dem effet devitrail unterlegtes Klavierzitat bergeht, spricht der Text von der Gnademit ihrem lichtvollen Erbe. Gegen Ende desselben Stckes, in T. 42-43,greift das Klavier dieselbe Kombination noch einmal in einem dramatischenff auf, bevor eine erweiternde Transposition fr die Frische der Sterne vonder Gesangsstimme teils melismatisch verdoppelt wird. Selbst die variierteEntwicklung des Motivs in T. 20-21 des zweiten Liedes passt mit seinenindirekten Bezgen zum Sonnenlicht (gegen das die Hand ber denAugen vermutlich schtzend erhoben ist) in denselben Bildkomplex. Beijedem Erklingen des Boris-Motivs enthlt der dichterische Text somiteinen direkten Hinweis auf das (physikalische oder metaphorische) Licht. Esscheint, als ob Messiaens Assoziation des Lichtes mit dem oft betrendenFarbenspiel, das beim Einfall der Sonnenstrahlen durch ein Kirchenfensterentsteht, zunchst fr die Begleitakkorde, dann aber offenbar auch fr dasvon ihnen getragene Motiv Pate stand und der spteren Verbindung mit derBeziehung zwischen einem verletzlichen Kind und seinem schtzendenElternteil zeitlich vorausging.

    Ein letztes Charakteristikum des in diesem Zyklus entwickelten musi-kalischen Stils ist die Einbindung von Komponenten des gregorianischenGesangs. Diese finden sich in sechs der neuen Lieder. Eine schlichte rectotono-Psalmodie erzhlt in Paysage von den Eindrcken entlang des Weges,

  • Pomes pour Mi 97

    den Menschen zurckzulegen haben, eines Weges, der durch Sorgen undSchlammlcher fhrt und nur ab und zu von einem menschlichen Gesichterhellt wird, und in La maison von allzu vielen Schmerzensbildern. Ineiner modernen Adaptation der ausfhrlicheren mittelalterlichen Praxis, inder die Rezitation auf einem wiederholten Ton von melodischen Akzentenund Kadenzen skandiert wird, bestimmt die Psalmodie auch die Ermahnungin pouvante, seine Erinnerungen nicht zu verdrngen sondern einzuge-stehen, sowie die Bitte in Prire exauce, Gott mge von der Menschheitdas kummervolle Schicksal abwenden. Eine andere Psalmodie bestimmt denTon, wenn das lyrische Ich in Action de grces seinem Schpfer dankt frseine Gnadengaben, jedoch allzu bald betont, das wahre Ziel des Lebens seidie Auferstehung in der anderen Welt. Alle durch eine Psalmodie gekenn-zeichneten Stellen scheinen somit primr von den Schwierigkeiten desmenschlichen Lebens zu sprechen oder, in religiser Perspektive, von derErbsnde und der Notwendigkeit der Erlsung.

    Eine weitere aus dem gregorianischen Gesang bernommene Kompo-nente, das Melisma, ist traditionell der Bekundung geistiger Freude vorbe-halten; Messiaens langes alleluia in Action de grces entspricht dieserVorgabe. Dasselbe gilt fr die vom Klavier unisono begleitete Gesangs-arabeske in Prire exauce, die dem Vertrauen Ausdruck verleiht, eineinziges Wort Jesu werde die menschliche Seele gesunden lassen. Eine in-strumentale Adaptation des Melismas in Form eines ausladenden Klavier-Unisonos schlielich ermutigt die Sakramentalkrieger in Les deux guerriersund trgt in Ta voix den Vogelgesang bei, dem metaphorisch die Aufgabezufllt, der Angesprochenen den Zugang zum Himmelreich zu ffnen.

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