Theodor Adorno - Zu Subjekt Und Objekt

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Critical Theory, Frankfurt School

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Zu Subjekt und Objekt

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Mit Erwägungen über Subjekt und Objekt einzuset-zen, bereitet die Schwierigkeit anzugeben, worübereigentlich geredet werden soll. Offenkundig sind dieTermini äquivok. So kann »Subjekt« sich auf das ein-zelne Individuum ebenso wie auf allgemeine Bestim-mungen, nach der Sprache der Kantischen Prolegome-na von »Bewußtsein überhaupt« beziehen. Die Äqui-vokation ist nicht einfach durch terminologische Klä-rung wegzuräumen. Denn beide Bedeutungen bedür-fen einander reziprok; kaum ist die eine ohne die an-dere zu fassen. Von keinem Subjektbegriff ist dasMoment der Einzelmenschlichkeit – bei SchellingEgoität genannt – wegzudenken; ohne jede Erinne-rung daran verlöre Subjekt allen Sinn. Umgekehrt istdas einzelmenschliche Individuum, sobald überhauptauf es in allgemeinbegrifflicher Form als auf das Indi-viduum reflektiert, nicht nur das Dies da irgendeinesbesonderen Menschen gemeint wird, bereits zu einemAllgemeinen gemacht, ähnlich dem, was im idealisti-schen Subjektbegriff ausdrücklich wurde; sogar derAusdruck »besonderer Mensch« bedarf des Gattungs-begriffs, wäre sonst sinnleer. Implizit wohnt noch den

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Eigennamen die Beziehung auf jenes Allgemeineinne. Sie gelten einem, der so und nicht anders heißt;und »einer« steht elliptisch für »einen Menschen«.Wollte man dagegen, um Komplikationen diesesTypus zu entgehen, die beiden Termini definieren, sogeriete man in eine Aporie, die zu der von der neuerenPhilosophie seit Kant stets wieder gewahrten Proble-matik des Definierens hinzutritt. In gewisser Weisenämlich haben die Begriffe Subjekt und Objekt, viel-mehr das, worauf sie gehen, Priorität vor aller Defini-tion. Definieren ist soviel wie ein Objektives, gleich-gültig, was es an sich sein mag, subjektiv, durch denfestgesetzten Begriff einzufangen. Daher die Resi-stenz von Subjekt und Objekt gegens Definieren. IhreBestimmung bedarf der Reflexion eben auf die Sache,welche zugunsten von begrifflicher Handlichkeitdurchs Definieren abgeschnitten wird. Deshalb emp-fiehlt es sich, die Worte Subjekt und Objekt zunächstso zu übernehmen, wie sie die eingeschliffene philo-sophische Sprache als Sediment von Geschichte andie Hand gibt; nur freilich nicht bei solchem Konven-tionalismus zu verharren, sondern kritisch weiter zuanalysieren. Anzuheben wäre mit der angeblich nai-ven, wenngleich selber schon vermittelten Ansicht,daß ein wie immer auch geartetes Subjekt, ein Erken-nendes, einem gleichfalls wie immer auch geartetenObjekt, dem Gegenstand der Erkenntnis, gegenüber-

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stehe. Die Reflexion dann, welche in der philosophi-schen Terminologie unter dem Namen der intentio ob-liqua geht, ist die Rückbeziehung jenes vieldeutigenObjektbegriffs auf einen nicht minder vieldeutigenvom Subjekt. Zweite Reflexion reflektiert jene, be-stimmt das Vage näher um des Gehalts der BegriffeSubjekt und Objekt willen.

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Die Trennung von Subjekt und Objekt ist real undSchein. Wahr, weil sie im Bereich der Erkenntnis derrealen Trennung, der Gespaltenheit des menschlichenZustands, einem zwangvoll Gewordenen Ausdruckverleiht; unwahr, weil die gewordene Trennung nichthypostasiert, nicht zur Invarianten verzaubert werdendarf. Dieser Widerspruch in der Trennung von Sub-jekt und Objekt teilt der Erkenntnistheorie sich mit.Zwar können sie als getrennte nicht weggedacht wer-den; das ψε~δος der Trennung jedoch äußert sichdarin, daß sie wechselseitig durcheinander vermitteltsind, Objekt durch Subjekt, mehr noch und andersSubjekt durch Objekt. Zur Ideologie, geradezu ihrerNormalform, wird die Trennung, sobald sie ohne Ver-mittlung fixiert ist. Dann usurpiert der Geist den Ortdes absolut Selbständigen, das er nicht ist: im An-spruch seiner Selbständigkeit meldet sich der herr-schaftliche. Einmal radikal vom Objekt getrennt, re-duziert Subjekt bereits das Objekt auf sich; Subjektverschlingt Objekt, indem es vergißt, wie sehr es sel-ber Objekt ist. Das Bild eines zeitlich oder außerzeit-lich ursprünglichen Zustands glücklicher Identität vonSubjekt und Objekt aber ist romantisch; zuzeiten Pro-jektion der Sehnsucht, heute nur noch Lüge. Unge-

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schiedenheit, ehe das Subjekt sich bildete, war derSchrecken des blinden Naturzusammenhangs, derMythos; die großen Religionen hatten ihren Wahr-heitsgehalt im Einspruch dagegen. Übrigens ist Unge-schiedenheit nicht Einheit; diese erfordert, schon derPlatonischen Dialektik zufolge, Verschiedenes, des-sen Einheit sie ist. Das neue Grauen, das der Tren-nung, verklärt denen, die es erleben, das alte, dasChaos, und beides ist das Immergleiche. Vergessenwird über der Angst vor der gähnenden Sinnlosigkeitdie einst nicht geringere vor den rachsüchtigen Göt-tern, welche der epikureische Materialismus und daschristliche Fürchtet euch nicht von den Menschennehmen wollten. Anders nicht als durch Subjekt istdas vollziehbar. Würde es liquidiert, anstatt in einerhöheren Gestalt aufgehoben, so bewirkte das Regres-sion des Bewußtseins nicht bloß sondern eine aufreale Barbarei. Schicksal, die Naturverfallenheit derMythen, stammt aus totaler gesellschaftlicher Unmün-digkeit, einem Zeitalter, darin Selbstbesinnung nochnicht die Augen aufschlug, Subjekt noch nicht war.Anstatt jenes Zeitalter durch kollektive Praxis zurWiederkehr zu beschwören, wäre der Bann des altenUngeschiedenen zu tilgen. Seine Verlängerung ist dasIdentitätsbewußtsein des Geistes, der repressiv seinAnderes sich gleichmacht. Wäre Spekulation über denStand der Versöhnung erlaubt, so ließe in ihm weder

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die ununterschiedene Einheit von Subjekt und Objektnoch ihre feindselige Antithetik sich vorstellen; eherdie Kommunikation des Unterschiedenen. Dann erstkäme der Begriff von Kommunikation, als objektiver,an seine Stelle. Der gegenwärtige ist so schmählich,weil er das Beste, das Potential eines Einverständnis-ses von Menschen und Dingen, an die Mitteilung zwi-schen Subjekten nach den Erfordernissen subjektiverVernunft verrät. An seiner rechten Stelle wäre, aucherkenntnistheoretisch, das Verhältnis von Subjekt undObjekt im verwirklichten Frieden sowohl zwischenden Menschen wie zwischen ihnen und ihrem Ande-ren. Friede ist der Stand eines Unterschiedenen ohneHerrschaft, in dem das Unterschiedene teilhat anein-ander.

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In der Erkenntnistheorie wird unter Subjekt meist so-viel wie Transzendentalsubjekt verstanden. Nachidealistischer Lehre baut es entweder, kantisch, dieobjektive Welt aus einem unqualifizierten Materialauf oder erzeugt sie, seit Fichte, überhaupt. Daß diestranszendentale, alle inhaltliche Erfahrung konstituie-rende Subjekt seinerseits von den lebendigen einzel-nen Menschen abstrahiert sei, wurde nicht erst vonder Kritik am Idealismus entdeckt. Evident ist, daßder abstrakte Begriff des transzendentalen Subjekts,die Formen von Denken, deren Einheit und die ur-sprüngliche Produktivität von Bewußtsein, voraus-setzt, was er zu stiften verspricht: tatsächliche, leben-dige Einzelwesen. Das war in den idealistischen Phi-losophien gegenwärtig. Kant zwar hat eine grundsätz-liche, konstitutions-hierarchische Verschiedenheit destranszendentalen vom empirischen Subjekt im Kapitelvon den psychologischen Paralogismen zu entwickelnversucht. Seine Nachfolger indessen, zumal Fichteund Hegel, aber auch Schopenhauer, trachteten, mitder unübersehbaren Schwierigkeit des Zirkels in sub-tilen Beweisführungen fertig zu werden. Vielfach re-kurrierten sie auf das Aristotelische Motiv, das fürsBewußtsein Erste – hier: das empirische Subjekt – sei

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nicht das an sich Erste und postuliere als seine Bedin-gung oder seinen Ursprung das transzendentale. Nochdie Husserlsche Polemik gegen den Psychologismussamt der Distinktion von Genesis und Geltung fällt indie Kontinuität jener Argumentationsweise. Sie istapologetisch. Bedingtes soll als unbedingt, Abgeleite-tes als primär gerechtfertigt werden. Wiederholt wirdein Topos der gesamten abendländischen Überliefe-rung, demzufolge allein das Erste oder, wie Nietzschekritisch es formulierte, nur das nicht Gewordene wahrsein könne. Die ideologische Funktion der These istnicht zu verkennen. Je mehr die einzelnen Menschenreal zu Funktionen der gesellschaftlichen Totalitätdurch deren Verknüpfung zum System herabgesetztwerden, desto mehr wird der Mensch schlechthin, alsPrinzip, mit dem Attribut des Schöpferischen, demabsoluter Herrschaft, vom Geist tröstlich erhöht.

Gleichwohl wiegt die Frage nach der Wirklichkeitdes transzendentalen Subjekts schwerer, als sie indessen Sublimierung zum reinen Geist, vollends beimkritischen Widerruf des Idealismus, sich darstellt. Ingewissem Sinn ist, was freilich der Idealismus amletzten zugestünde, das transzendentale Subjekt wirk-licher, nämlich für das reale Verhalten der Menschenund die Gesellschaft, die daraus sich bildete, bestim-mender als jene psychologischen Individuen, vondenen das transzendentale abstrahiert ward und die in

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der Welt wenig zu sagen haben; die ihrerseits zu An-hängseln der sozialen Maschinerie, am Ende zur Ideo-logie geworden sind. Der lebendige Einzelmensch, sowie er zu agieren gezwungen ist und wozu er auch insich geprägt wurde, ist als verkörperter homo oecono-micus eher das transzendentale Subjekt denn der le-bendige Einzelne, für den er sich doch unmittelbarhalten muß. Insofern war die idealistische Theorierealistisch und brauchte sich vor Gegnern, welche ihrIdealismus vorwarfen, nicht zu genieren. In der Lehrevom transzendentalen Subjekt erscheint getreu dieVorgängigkeit der von den einzelnen Menschen undihrem Verhältnis abgelösten, abstrakt rationalen Be-ziehungen, die am Tausch ihr Modell haben. Ist diemaßgebende Struktur der Gesellschaft die Tausch-form, so konstituiert deren Rationalität die Menschen;was sie für sich sind, was sie sich dünken, ist sekun-där. Von dem philosophisch als transzendental ver-klärten Mechanismus sind sie vorweg deformiert. Dasvorgeblich Evidenteste, das empirische Subjekt,müßte eigentlich als ein noch gar nicht Existentes be-trachtet werden; unter diesem Aspekt ist das transzen-dentale Subjekt »konstitutiv«. Es ist, angeblich Ur-sprung aller Gegenstände, in seiner starren Zeitlosig-keit vergegenständlicht, ganz nach der KantischenLehre von den festen und unveränderlichen Formendes transzendentalen Bewußtseins. Seine Festigkeit

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und Invarianz, welche der Transzendentalphilosophiezufolge die Objekte erzeugt, wenigstens ihnen dieRegel vorschreibt, ist die Reflexionsform der im ge-sellschaftlichen Verhältnis objektiv vollzogenen Ver-dinglichung der Menschen. Der Fetischcharakter, ge-sellschaftlich notwendiger Schein, ist geschichtlichzum Prius dessen geworden, wovon er seinem Begriffnach das Posterius wäre. Das philosophische Konsti-tutionsproblem hat sich spiegelbildlich verkehrt; inseiner Verkehrung jedoch drückt es die Wahrheit überden erreichten geschichtlichen Stand aus; eine Wahr-heit freilich, die durch eine zweite KopernikanischeWendung theoretisch wieder zu negieren wäre. Sie hatallerdings auch ihr positives Moment: daß die vorgän-gige Gesellschaft sich und ihre Mitglieder am Lebenhält. Das besondere Individuum verdankt dem Allge-meinen die Möglichkeit seiner Existenz; dafür zeugtDenken, seinerseits ein allgemeines, insofern gesell-schaftliches Verhältnis. Nicht nur fetischistisch istDenken dem Einzelnen vorgeordnet. Nur wird imIdealismus die eine Seite hypostasiert, die anders alsim Verhältnis zur anderen gar nicht begriffen werdenkann. Das Gegebene aber, das Skandalon des Idealis-mus, das er doch nicht wegzuräumen vermag, demon-striert stets wieder das Mißlingen jener Hypostase.

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Durch die Einsicht in den Vorrang des Objekts wirdnicht die alte intentio recta restauriert, das hörige Ver-trauen auf die so seiende Außenwelt, wie sie diesseitsvon Kritik erscheint, ein anthropologischer Stand bardes Selbstbewußtseins, welches erst im Kontext derRückbeziehung von Erkenntnis auf das Erkennendesich kristallisiert. Das krude Gegenüber von Subjektund Objekt im naiven Realismus ist zwar geschicht-lich necessitiert und durch keinen Willensakt wegzu-schaffen. Es ist aber zugleich Produkt falscher Ab-straktion, schon ein Stück Verdinglichung. Darin ein-mal durchschaut, wäre das sich selbst vergegenständ-lichte, gerade als solches nach außen gerichtete, virtu-ell nach außen schlagende Bewußtsein nicht ohneSelbstbesinnung weiterzuschleppen. Die Wendungzum Subjekt, die freilich von Anbeginn auf dessenPrimat hinauswill, verschwindet nicht einfach mitihrer Revision; diese erfolgt nicht zuletzt im subjekti-ven Interesse von Freiheit. Vorrang des Objekts heißtvielmehr, daß Subjekt in einem qualitativ anderen, ra-dikaleren Sinn seinerseits Objekt sei als Objekt, weiles nun einmal anders nicht denn durch Bewußtseingewußt wird, auch Subjekt ist. Das durch BewußtseinGewußte muß ein Etwas sein, Vermittlung geht auf

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Vermitteltes. Subjekt aber, Inbegriff der Vermittlung,ist das Wie, niemals, als dem Objekt Kontrastiertes,das Was, das durch jegliche faßbare Vorstellung vomSubjektbegriff postuliert wird. Von Objektivität kannSubjekt potentiell, wenngleich nicht aktuell wegge-dacht werden; nicht ebenso Subjektivität von Objekt.Aus Subjekt, gleichgültig, wie es bestimmt werde,läßt ein Seiendes nicht sich eskamotieren. Ist Subjektnicht etwas – und »etwas« bezeichnet ein irreduzibelobjektives Moment –, so ist es gar nichts; noch alsactus purus bedarf es des Bezugs auf ein Agierendes.Der Vorrang von Objekt ist die intentio obliqua derintentio obliqua, nicht die aufgewärmte intentio recta;das Korrektiv der subjektiven Reduktion, nicht dieVerleugnung eines subjektiven Anteils. Vermittelt istauch Objekt, nur nicht dem eigenen Begriff nach sodurchaus auf Subjekt verwiesen wie Subjekt auf Ob-jektivität. Solche Differenz hat der Idealismus igno-riert und damit eine Vergeistigung vergröbert, in wel-cher Abstraktion sich tarnt. Das aber veranlaßt zurRevision der Stellung zum Subjekt, die in der traditio-nellen Theorie vorwaltet. Diese verherrlicht es in derIdeologie und diffamiert es in der Erkenntnispraxis.Will man indessen das Objekt erlangen, so sind seinesubjektiven Bestimmungen oder Qualitäten nicht zueliminieren; eben das wäre dem Vorrang von Objektentgegen. Hat Subjekt einen Kern von Objekt, so sind

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die subjektiven Qualitäten am Objekt erst recht einMoment des Objektiven. Denn einzig als Bestimmteswird Objekt zu etwas. In den Bestimmungen, diescheinbar bloß das Subjekt ihm anheftet, setzt desseneigene Objektivität sich durch: sie alle sind der Ob-jektivität der intentio recta entlehnt. Auch nach ideali-stischer Doktrin sind die subjektiven Bestimmungenkein bloß Angeheftetes, immer werden sie auch vomzu Bestimmenden verlangt, und darin behauptet sichder Vorrang des Objekts. Umgekehrt ist das vermeint-lich reine, der Zutat von Denken und Anschauung le-dige Objekt gerade der Reflex abstrakter Subjektivi-tät: nur sie macht durch Abstraktion das Andere sichgleich. Das Objekt ungeschmälerter Erfahrung, zumUnterschied vom bestimmungslosen Substrat des Re-duktionismus, ist objektiver als jenes Substrat. Dievon der traditionellen Erkenntniskritik am Objekt aus-gemerzten und dem Subjekt gutgeschriebenen Quali-täten verdanken in der subjektiven Erfahrung sichdem Vorrang des Objekts; darüber betrog die Herr-schaft der intentio obliqua. Ihre Erbschaft fiel einerKritik der Erfahrung zu, welche deren eigene ge-schichtliche Bedingtheit, schließlich die gesellschaft-liche erreicht. Denn Gesellschaft ist der Erfahrung im-manent, kein ’́ λλο γνος. Nur die gesellschaftlicheSelbstbesinnung der Erkenntnis erwirkt dieser die Ob-jektivität, die sie versäumt, solange sie den in ihr wal-

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tenden gesellschaftlichen Zwängen gehorcht, ohne siemitzudenken. Kritik an der Gesellschaft ist Erkennt-niskritik und umgekehrt.

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Vom Vorrang des Objekts ist legitim zu reden nur,wenn jener Vorrang, gegenüber dem Subjekt im wei-testen Verstande, irgend bestimmbar ist, mehr alsodenn das Kantische Ding an sich als unbekannte Ur-sache der Erscheinung. Auch es freilich trägt bereits,trotz Kant, durch seine bloße Unterscheidung zum ka-tegorial Prädizierten ein Minimum von Bestimmun-gen an sich; eine solche, negativer Art, wäre die derAkausalität. Sie reicht hin, einen Gegensatz zu derkonventionellen Ansicht zu stiften, welche mit demSubjektivismus konform geht. Der Vorrang des Ob-jekts bewährt sich daran, daß er die Meinungen desverdinglichten Bewußtseins qualitativ verändert, diemit dem Subjektivismus reibungslos sich vertragen.Dieser tangiert den naiven Realismus nicht inhaltlich,sondern sucht lediglich formale Kriterien seiner Gel-tung anzugeben, so wie die Kantische Formel vomempirischen Realismus es bestätigt. Für den Vorrangdes Objekts spricht wohl ein mit Kants Konstitutions-lehre Unvereinbares: daß die ratio in den modernenNaturwissenschaften über die Mauer blickt, die sieselbst errichtet; ein Zipfelchen dessen erhascht, wasmit ihren eingeschliffenen Kategorien nicht überein-kommt. Solche Erweiterung der ratio erschüttert den

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Subjektivismus. Wodurch aber das vorgängige Ob-jekt, zum Unterschied von seiner subjektiven Zurü-stung, sich bestimmt, das ist zu fassen an dem, wasseinerseits die kategoriale Apparatur bestimmt, vonder es dem subjektivistischen Schema zufolge be-stimmt werden soll, an der Bedingtheit des Bedingen-den. Die kategorialen Bestimmungen, die Kant zufol-ge Objektivität erst zeitigen, sind als ihrerseits Ge-setztes, wenn man will, wirklich »bloß subjektiv«.Damit wird die reductio ad hominem zum Sturz desAnthropozentrismus. Daß noch der Mensch als Kon-stituens ein von Menschen Gemachtes ist, entzaubertdas Schöpfertum des Geistes. Weil aber der Vorrangdes Objekts der Reflexion aufs Subjekt und der sub-jektiven Reflexion bedarf, wird Subjektivität, andersals im primitiven Materialismus, der Dialektik eigent-lich nicht zuläßt, zum festgehaltenen Moment.

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Was unter dem Namen Phänomenalismus geht: daßvon nichts gewußt werde, es sei denn durchs erken-nende Subjekt hindurch, das verband sich seit der Ko-pernikanischen Wendung mit dem Kultus des Geistes.Beides wird von der Einsicht in den Vorrang des Ob-jekts aus den Angeln gehoben. Was Hegel innerhalbder subjektiven Klammer intendierte, zerbricht in kri-tischer Konsequenz die Klammer. Die generelle Ver-sicherung, daß Innervationen, Einsichten, Erkenntnis-se »nur subjektiv« seien, verfängt nicht länger, sobaldSubjektivität als Gestalt von Objekt durchschautwird. Schein ist die Verzauberung des Subjekts in sei-nen eigenen Bestimmungsgrund, seine Setzung alswahres Sein. Subjekt selbst ist zu seiner Objektivitätzu bringen, nicht sind seine Regungen aus der Er-kenntnis zu verbannen. Der Schein des Phänomenalis-mus jedoch ist ein notwendiger. Er bezeugt den fastunwiderstehlichen Verblendungszusammenhang, denSubjekt als falsches Bewußtsein produziert und des-sen Glied es zugleich ist. In solcher Unwiderstehlich-keit gründet die Ideologie des Subjekts. Aus dem Be-wußtsein eines Mangels, dem von der Grenze der Er-kenntnis, wird, damit der Mangel sich besser ertragenlasse, ein Vorzug. Kollektiver Narzißmus ist am

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Werk gewesen. Aber er hätte nicht mit solcher Strin-genz sich durchsetzen, nicht die mächtigsten Philoso-phien hervorbringen können, läge ihm nicht verzerrtein Wahres zugrunde. Was die Transzendentalphilo-sophie an der schöpferischen Subjektivität pries, istdie sich selbst verborgene Gefangenschaft des Sub-jekts in sich. In allem Objektiven, das es denkt, bleibtes eingespannt wie gepanzerte Tiere in ihren Verscha-lungen, die sie vergebens abzuwerfen suchen; nurkam jenen nicht der Einfall, ihre Gefangenschaft alsFreiheit auszuposaunen. Wohl wäre zu fragen, warumdie Menschen das taten. Die Gefangenschaft ihresGeistes ist überaus real. Daß sie als Erkennende ab-hängen von Raum, Zeit, Denkformen, markiert ihreAbhängigkeit von der Gattung. Sie schlug in jenenKonstituentien sich nieder; diese gelten darum nichtweniger. Das Apriori und die Gesellschaft sind inein-ander. Die Allgemeinheit und Notwendigkeit jenerFormen, ihr Kantischer Ruhm, ist keine andere alsdie, welche die Menschen zur Einheit verbindet. Ihrerbedurften sie zum survival. Gefangenschaft wurdeverinnerlicht: das Individuum ist nicht weniger in sichgefangen als in der Allgemeinheit, der Gesellschaft.Daher das Interesse an der Umdeutung von Gefangen-schaft in Freiheit. Die kategoriale Gefangenschaft desindividuellen Bewußtseins wiederholt die reale Ge-fangenschaft jedes Einzelnen. Noch der Blick des Be-

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wußtseins, der jene durchschaut, wird determiniertvon den Formen, die sie ihm eingepflanzt hat. An derGefangenschaft in sich könnten die Menschen der ge-sellschaftlichen innewerden: das zu verhindern warund ist ein kapitales Interesse des Fortbestands desBestehenden. Ihm zuliebe mußte, mit kaum geringererNotwendigkeit als jener der Formen selbst, Philoso-phie sich versteigen. So ideologisch war der Idealis-mus, schon ehe er sich anschickte, die Welt als abso-lute Idee zu glorifizieren. Die Urkompensationschließt bereits ein, daß die Realität, zum Produkt desvermeintlich freien Subjekts erhöht, als ihrerseits freiesich rechtfertige.

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Identitätsdenken, Deckbild der herrschenden Dichoto-mie, gebärdet sich im Zeitalter subjektiver Ohnmachtnicht länger als Verabsolutierung des Subjekts. Stattdessen formiert sich ein Typus scheinbar antisubjekti-vistischen, wissenschaftlich objektiven Identitätsden-kens, der Reduktionismus; vom frühen Russell sprachman als Neorealisten. Er ist die gegenwärtig charakte-ristische Form verdinglichten Bewußtseins, falschwegen seines latenten und desto verhängnisvollerenSubjektivismus. Der Rest ist nach dem Maß der Ord-nungsprinzipien subjektiver Vernunft gemodelt undkommt mit deren eigener Abstraktheit überein, ab-strakt seinerseits. Das verdinglichte Bewußtsein, dassich verkennt, wie wenn es Natur wäre, ist naiv: sichselbst, ein Gewordenes und in sich überaus Vermittel-tes, nimmt es, mit Husserl zu reden, als »Seinssphäreabsoluter Ursprünge«, und sein von ihm zugerüstetesGegenüber als die ersehnte Sache. Das Ideal der Ent-personalisierung von Erkenntnis um der Objektivitätwillen behält von dieser nichts als ihr caput mortuumzurück. Gesteht man den dialektischen Vorrang desObjekts zu, bricht die Hypothese unreflektierter prak-tischer Wissenschaft vom Objekt als Residualbestim-mung nach Abzug von Subjekt zusammen. Subjekt ist

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dann nicht länger ein subtrahierbares Addendum zurObjektivität. Diese wird durch die Ausscheidungeines ihr wesentlichen Moments gefälscht, nicht gerei-nigt. Die Vorstellung, welche den residualen Objekti-vitätsbegriff leitet, hat denn auch ihr Urbild an einemGesetzten, von Menschen Gemachten; keineswegs ander Idee jenes An sich, für das sie das gereinigte Ob-jekt substituiert. Vielmehr ist es das Modell des Pro-fits, der in der Bilanz nach Abzug sämtlicher Geste-hungskosten übrigbleibt. Der aber ist das auf dieForm des Kalküls gebrachte und beschränkte subjek-tive Interesse. Was für die nüchterne Sachlichkeit desProfitdenkens zählt, ist alles andere als die Sache: diegeht unter in dem, was sie einem abwirft. Erkenntnisjedoch müßte geleitet werden von dem, was vomTausch nicht verstümmelt ist, oder – denn es gibtnichts Unverstümmeltes mehr – von dem, was unterden Tauschvorgängen sich verbirgt. Objekt ist sowenig subjektloses Residuum wie das vom SubjektGesetzte. Beide einander widerstreitenden Bestim-mungen sind ineinander gepaßt: der Rest, mit dem dieWissenschaft als ihrer Wahrheit sich abspeisen läßt,ist Produkt ihres manipulativen Verfahrens, subjektivveranstaltet. Zu definieren, was Objekt sei, wäre sei-nerseits ein Stück solcher Veranstaltung. Objektivitätist auszumachen einzig dadurch, daß auf jeder ge-schichtlichen Stufe und jeder der Erkenntnis reflek-

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tiert wird sowohl auf das, was jeweils als Subjekt undObjekt sich darstellt, wie auf die Vermittlungen. Inso-fern ist Objekt tatsächlich, wie der Neukantianismuses lehrte, »unendlich aufgegeben«. Zuweilen gelangtSubjekt, als uneingeschränkte Erfahrung, näher ansObjekt als das gefilterte, nach den Erfordernissen sub-jektiver Vernunft zurechtgestutzte Residuum. Unredu-zierte Subjektivität vermag ihrem gegenwärtigen ge-schichtsphilosophischen Stellenwert nach, dem pole-mischen, objektiver zu fungieren als objektivistischeReduktionen. Verhext ist alle Erkenntnis unterm Bannnicht zuletzt darin, daß die überlieferten epistemologi-schen Thesen ihren Gegenstand auf den Kopf stellen:fair is foul, and foul is fair. Der objektive Gehalt indi-vidueller Erfahrung wird hergestellt nicht durch dieMethode komparativer Verallgemeinerung, sonderndurch Auflösung dessen, was jene Erfahrung, als sel-ber befangene, daran hindert, dem Objekt so ohneVorbehalt, nach Hegels Wort, mit der Freiheit sich zuüberlassen, die das Subjekt der Erkenntnis entspann-te, bis es wahrhaft in dem Objekt erlischt, dem es ver-wandt ist vermöge seines eigenen Objektseins. DieSchlüsselposition des Subjekts in der Erkenntnis istErfahrung, nicht Form; was bei Kant Formung heißt,wesentlich Deformation. Die Anstrengung von Er-kenntnis ist überwiegend die Destruktion ihrer übli-chen Anstrengung, der Gewalt gegen das Objekt. Sei-

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ner Erkenntnis nähert sich der Akt, in dem das Sub-jekt den Schleier zerreißt, den es um das Objekt webt.Fähig dazu ist es nur, wo es in angstloser Passivitätder eigenen Erfahrung sich anvertraut. An den Stellen,wo die subjektive Vernunft subjektive Zufälligkeitwittert, schimmert der Vorrang des Objekts durch;das an diesem, was nicht subjektive Zutat ist. Subjektist das Agens, nicht das Konstituens von Objekt; dashat auch fürs Verhältnis von Theorie und Praxis seineKonsequenz.

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Auch nach der zweiten Reflexion der Kopernikani-schen Wendung behält Kants anfechtbarstes Theorem,die Distinktion von transzendentem Ding an sich undkonstituiertem Gegenstand, einige Wahrheit. DennObjekt wäre einmal das Nichtidentische, befreit vomsubjektiven Bann und zu greifen durch dessen Selbst-kritik hindurch – wenn es überhaupt schon ist undnicht vielmehr das, was Kant mit dem Begriff der Ideeumriß. Ein solches Nichtidentisches käme dem Kanti-schen Ding an sich recht nahe, obwohl jener an demFluchtpunkt seiner Koinzidenz mit Subjekt festhielt.Es wäre kein Relikt eines entzauberten mundus intel-ligibilis, sondern realer als der mundus sensibilis in-sofern, als die Kantische Kopernikanische Wendungvon jenem Nichtidentischen abstrahiert und daran ihreSchranke findet. Dann jedoch ist kantisch das Objektdas vom Subjekt »Gesetzte«, das subjektive Formge-spinst über dem entqualifizierten Etwas; schließlichdas Gesetz, welches die durch ihre subjektive Rück-beziehung desintegrierten Erscheinungen zum Gegen-stand zusammenfaßt. Die Attribute der Notwendigkeitund Allgemeinheit, die Kant an den emphatischen Ge-setzesbegriff heftet, besitzen dinghafte Festigkeit undsind undurchdringlich gleich der gesellschaftlichen

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Welt, mit der die Lebendigen kollidieren. Jenes Ge-setz, welches Kant zufolge das Subjekt der Natur vor-schreibt, die höchste Erhebung von Objektivität inseiner Konzeption, ist vollkommener Ausdruck desSubjekts sowohl wie seiner Selbstentfremdung: dasSubjekt unterschiebt sich auf der Spitze seiner for-menden Prätention als Objekt. Das indessen hat wie-der sein paradoxes Recht: tatsächlich ist Subjekt auchObjekt, vergißt nur eben in seiner Verselbständigungzur Form, wie und wodurch es selbst konstituiertwird. Genau trifft die Kantische KopernikanischeWendung die Objektivierung des Subjekts, die Reali-tät von Verdinglichung. Ihr Wahrheitsgehalt ist derkeineswegs ontologische sondern geschichtlich aufge-türmte Block zwischen Subjekt und Objekt. Ihn er-richtet das Subjekt dadurch, daß es die Suprematieüber das Objekt beansprucht und dadurch um es sichbetrügt. Als in Wahrheit Nichtidentisches wird dasObjekt dem Subjekt desto ferner gerückt, je mehr dasSubjekt das Objekt »konstituiert«. Der Block, an demdie Kantische Philosophie sich die Stirn eindenkt, istzugleich Produkt jener Philosophie. Subjekt als reineSpontaneität, ursprüngliche Apperzeption, scheinbardas absolut dynamische Prinzip, ist aber, vermöge desChorismos von jeglichem Material, nicht weniger ver-dinglicht als die nach dem Modell der Naturwissen-schaften konstituierte Dingwelt. Denn durch den Cho-

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rismos wird die behauptete absolute Spontaneität, ansich, wenngleich nicht für Kant, stillgelegt; Form, diezwar die von etwas sein soll, der eigenen Beschaffen-heit nach jedoch mit keinem Etwas in Wechselwir-kung treten kann. Ihre schroffe Scheidung von der Tä-tigkeit der Einzelsubjekte, die als kontingent-psycho-logisch abgewertet werden muß, zerstört die ur-sprüngliche Apperzeption, Kants innerstes Prinzip.Sein Apriorismus beraubt das reine Tun eben derZeitlichkeit, ohne welche unter Dynamik schlechter-dings nichts sich verstehen läßt. Tun schlägt zurückin ein Sein zweiter Ordnung; ausdrücklich, wie allbe-kannt, in der Wendung des späten Fichte gegenüberder Wissenschaftslehre von 1794. Solche objektiveDoppeldeutigkeit im Begriff des Objekts kodifiziertKant, und kein Theorem übers Objekt darf sie über-springen. Strenggenommen hieße Vorrang des Ob-jekts, daß es Objekt als ein dem Subjekt abstrakt Ge-genüberstehendes nicht gibt, daß es aber als solchesnotwendig erscheint; die Notwendigkeit diesesScheins wäre zu beseitigen.

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Ebensowenig allerdings »gibt« es eigentlich Subjekt.Dessen Hypostasis im Idealismus führt auf Unge-reimtheiten. Sie mögen dahin zusammengefaßt wer-den, daß die Bestimmung von Subjekt in sich invol-viert, wogegen es gesetzt ist. Und zwar keineswegsbloß erst, weil es als Konstituens das Konstitutumvoraussetzt. Es ist selber Objekt insofern, als das»gibt«, das die idealistische Konstitutionslehre impli-ziert – es muß Subjekt geben, damit es irgend etwaskonstituieren kann –, seinerseits der Sphäre von Fak-tizität entlehnt ward. Der Begriff dessen, was es gibt,meint nichts anderes als der des Daseienden, und alsDaseiendes fällt Subjekt vorweg unter Objekt. Alsreine Apperzeption aber möchte Subjekt das schlecht-hin Andere alles Daseienden sein. Auch darin er-scheint negativ ein Stück Wahrheit: daß die Verding-lichung, die das souveräne Subjekt allem, es inbegrif-fen, angetan hat, Schein ist. In den Abgrund seinerselbst verlegt es, was der Verdinglichung entrücktwäre; freilich mit der widersinnigen Konsequenz, daßes damit einer jeden anderen Verdinglichung den Frei-brief ausstellt. Der Idealismus projiziert die Idee rich-tigen Lebens falsch nach innen. Das Subjekt als pro-duktive Einbildungskraft, reine Apperzeption,

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schließlich freie Tathandlung, verschlüsselt jene Tä-tigkeit, in der real das Leben der Menschen sich re-produziert, und antezipiert in ihr, mit Grund, die Frei-heit. Darum verschwindet so wenig Subjekt einfach inObjekt, oder irgendeinem vorgeblich Höheren, demSein, wie es hypostasiert werden darf. Subjekt ist inseiner Selbstsetzung Schein und zugleich ein ge-schichtlich überaus Wirkliches. Es enthält das Poten-tial der Aufhebung seiner eigenen Herrschaft.

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Die Differenz von Subjekt und Objekt schneidet so-wohl durch Subjekt wie durch Objekt hindurch. Sieist so wenig zu verabsolutieren wie vom Gedankenfortzuschaffen. An Subjekt läßt eigentlich alles demObjekt sich zurechnen; was daran nicht Objekt ist,sprengt semantisch das »Ist«. Die reine subjektiveForm der traditionellen Erkenntnistheorie ist dem ei-genen Begriff nach jeweils nur als Form von Objekti-vem, nicht ohne es und ohne es nicht einmal zu den-ken. Das Feste des erkenntnistheoretischen Ichs, dieIdentität des Selbstbewußtseins ist ersichtlich der un-reflektierten Erfahrung des beharrenden, identischenObjekts nachgebildet; wird auch von Kant wesentlichdarauf bezogen. Dieser hätte nicht die subjektivenFormen als Bedingungen von Objektivität reklamie-ren können, hätte er nicht stillschweigend ihnen eineObjektivität zugebilligt, die er von der erborgt, wel-cher er das Subjekt entgegensetzt. Am Extrem jedoch,in das Subjektivität sich zusammenzieht, vom Punktseiner synthetischen Einheit her, wird immer nur daszusammengenommen, was auch an sich zusammenge-hört. Sonst wäre Synthesis bloße klassifikatorischeWillkür. Freilich ist solche Zusammengehörigkeitohne den subjektiven Vollzug der Synthesis ebenso-

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wenig vorzustellen. Noch vom subjektiven Apriori istdie Objektivität seiner Geltung einzig so weit zu be-haupten, wie es eine objektive Seite hat; ohne diesewäre das vom Apriori konstituierte Objekt eine pureTautologie für Subjekt. Dessen Inhalt endlich, beiKant die Materie der Erkenntnis, ist vermöge seinerUnauflöslichkeit, Gegebenheit, seiner Äußerlichkeitzum Subjekt, ebenfalls Objektives in diesem. Danachdünkt leicht Subjekt seinerseits, wie es Hegel nichtgar so fern lag, ein Nichts und Objekt absolut. Dochdas ist abermals transzendentaler Schein. Zum Nichtswird Subjekt durch seine Hypostasis, die Verdingli-chung des Undinglichen. Sie geht zu Protest, weil siedem zuinnerst naiv-realistischen Kriterium von Da-sein nicht genügen kann. Die idealistische Konstrukti-on des Subjekts scheitert an seiner Verwechslung miteinem Objektiven als einem Ansichseienden, das esgerade nicht ist: nach dem Maß des Seienden ist Sub-jekt zur Nichtigkeit verurteilt. Subjekt ist um so mehr,je weniger es ist, und um so weniger, je mehr es zusein, ein für sich Objektives zu sein wähnt. Als Mo-ment indessen ist es untilgbar. Nach Eliminierung dessubjektiven Moments ginge Objekt diffus auseinandergleich den flüchtigen Regungen und Augenblickensubjektiven Lebens.

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Objekt ist, wenngleich abgeschwächt, auch nicht ohneSubjekt. Fehlte Subjekt als Moment an Objekt selber,so würde dessen Objektivität zum Nonsens. An derSchwäche von Humes Erkenntnistheorie wird das fla-grant. Sie war subjektiv gerichtet, während sie desSubjekts entraten zu können wähnte. Danach ist überdas Verhältnis von individuellem und transzendenta-lem Subjekt zu urteilen. Das individuelle ist, wie seitKant ungezählte Male variiert ward, Bestandteil derempirischen Welt. Seine Funktion jedoch: seine Fä-higkeit zur Erfahrung – die dem transzendentalenSubjekt abgeht, denn kein rein Logisches könnte ir-gend erfahren – ist in Wahrheit weit konstitutiver alsdie vom Idealismus dem transzendentalen Subjekt zu-gesprochene, seinerseits einer Abstraktion vom indi-viduellen Bewußtsein, die zutiefst vorkritisch hypo-stasiert ward. Gleichwohl erinnert der Begriff desTranszendentalen daran, daß Denken vermöge derihm immanenten Allgemeinheitsmomente die eigeneunabdingbare Individuation übersteigt. Auch die An-tithese von Allgemeinem und Besonderem ist notwen-dig sowohl wie trügend. Keines von beiden ist ohnedas andere, das Besondere nur als Bestimmtes und in-sofern allgemein, das Allgemeine nur als Bestimmung

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von Besonderem und insofern besonders. Beide sindund sind nicht. Das ist eines der stärksten Motivenicht-idealistischer Dialektik.

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Die Reflexion des Subjekts auf seinen eigenen Forma-lismus ist die auf die Gesellschaft, mit der Paradoxie,daß, gemäß der Intention des späten Durkheim, diekonstitutiven Formanten gesellschaftlich entsprungensind, andererseits jedoch, worauf die gängige Erkennt-nistheorie pochen kann, objektiv gültig; von Durk-heims Argumentationen werden sie bereits vorausge-setzt in jedem Satz, der ihre Bedingtheit demonstriert.Die Paradoxie dürfte eins sein mit der objektiven Ge-fangenschaft des Subjekts in sich. Die Erkenntnis-funktion, ohne die Differenz so wenig wie Einheit desSubjekts wäre, entsprang ihrerseits. Sie besteht we-sentlich in jenen Formanten; soweit es Erkenntnisgibt, muß sie nach ihnen sich vollziehen, auch wo siedarüber hinausblickt. Sie definieren den Erkenntnis-begriff. Dennoch sind sie nicht absolut sondern ge-worden wie die Erkenntnisfunktion überhaupt. Daßsie vergehen könnten, ist nicht jenseits aller Möglich-keit. Ihre Absolutheit zu prädizieren setzte die Er-kenntnisfunktion, das Subjekt absolut; sie zu relati-vieren widerriefe die Erkenntnisfunktion dogmatisch.Dagegen wird vorgebracht, das Argument involviereden törichten Soziologismus: Gott habe die Gesell-schaft geschaffen und diese den Menschen und Gott

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nach seinem Bild. Aber die These von der Vorgängig-keit ist widersinnig nur, solange das Individuum oderdessen biologische Vorform hypostasiert wird. Ent-wicklungsgeschichtlich ist eher das zeitliche Prius,wenigstens die Gleichzeitigkeit der Gattung zu ver-muten. Daß »der« Mensch vor jener soll gewesensein, ist entweder biblische Reminiszenz oder schiererPlatonismus. Die Natur ist auf ihren niedrigen Stufenvoll von nicht-individuierten Organismen. Werdennach der These neuerer Biologen tatsächlich die Men-schen soviel unausgerüsteter geboren als andere Lebe-wesen, so haben sie wohl überhaupt nur assoziiert,durch rudimentäre gesellschaftliche Arbeit am Lebensich erhalten können; das principium individuationisist deren Sekundäres, hypothetischerweise eine Artbiologischer Arbeitsteilung. Daß irgendein einzelnerMensch zuerst, urbildlich hervortrat, ist unwahr-scheinlich. Der Glaube daran projiziert mythisch dasbereits historisch voll ausgebildete principium indivi-duationis nach rückwärts oder auf den ewigen Ideen-himmel. Die Gattung mochte durch Mutation sich in-dividuieren, um dann durch Individuation, in Indivi-duen unter Anlehnung ans biologisch Singuläre sichzu reproduzieren. Der Mensch ist Resultat, keinε’̃δος; die Erkenntnis von Hegel und Marx reicht bisins Innerste der sogenannten Konstitutionsfragen hin-ein. Die Ontologie »des« Menschen – Modell der

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Konstruktion des transzendentalen Subjekts – ist amentfalteten Einzelnen orientiert, so wie es sprachlichdie Äquivokation in dem Ausdruck »der« anzeigt,welcher ebenso das Gattungswesen wie das Individu-um benennt. Insofern enthält der Nominalismus,wider die Ontologie, viel eher als diese den Primat derGattung, der Gesellschaft. Diese freilich ist mit demNominalismus darin sich einig, daß sie die Gattungsogleich verleugnet, vielleicht weil sie an die Tieremahnt: Ontologie, indem sie den Einzelnen zur Formvon Einheit und gegenüber dem Vielen zum Ansich-seienden erhebt; Nominalismus, indem er unreflektiertden Einzelnen, nach dem Modell des Einzelmenschen,zum wahrhaft Seienden erklärt. Er verleugnet die Ge-sellschaft in den Begriffen dadurch, daß er sie zur Ab-breviatur für Einzelnes herabsetzt.

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