TIBIA · Magazin für Holzbläser 30. Jahrgang · Heft 1/2005 · 2019. 12. 19. · TIBIA · Magazin...

92

Transcript of TIBIA · Magazin für Holzbläser 30. Jahrgang · Heft 1/2005 · 2019. 12. 19. · TIBIA · Magazin...

  • TIBIA 1/2005 321

    TIBIA · Magazin für Holzbläser 30. Jahrgang · Heft 1/2005

    Inhalt

    Peter Thalheimer ins Kollegium der TIBIA-Herausgeber berufen 322Hartmut Gerhold: Theobald Böhms Altflöte in G –Stationen der Entwicklung und der Emanzipation eines„Nebeninstrumentes“ der Querflötenfamilie, Teil 2 323Das Porträt: Ernst Meyer. Das Erbe Fred Morgans –Gedanken über Gegenwart und Zukunft des Blockflötenbaus.Ein Gesprächsporträt von Ines Müller-Busch 335Joachim Rohmer: „Fred, Fred und nochmal Fred“ 343Carin van Heerden: Zwei Instrumente – ein Dilemma? 348Ute Deussen:Neue Musik im Blockflötenunterricht.Ein Bericht aus der Praxis 350Annette Ziegenmeyer: The Delayed Flute. – Das Spiel mit demeigenen Echo oder: Einfache Technik macht Spaß 356

    Summaries 359

    BerichteInternational Congress of Recorder Orchestras (ICRO)14. – 17. Oktober 2004 in Zeist (NL) 360Rahel Stoellger und Gerd Lünenbürger: 1st European RecorderPerformance Festival, Amsterdam, 29. – 31. Oktober 2004 369Katja Reiser: Schwarz-wald-gip-fel-aaaaaaaaaah!ERTA-Symposion 2004 376Oliver Rosteck: „Wir wollen mit Ihnen Musik machen“Ensemblespielkurse des Blockflötenzentrums Bremen 379Radelint Blühdorn: Flöten in der Zirkusmanege.Ein Projekt an der Musikschule Steinfurt 380Bettina Haugg: Aspect-Kurs Les jeux sont faits20. – 27. August 2004 in Weikersheim 382

    RezensionenBücher und Zeitschriften 384Noten 387Tonträger und AV-Medien 397

    Neues aus der Holzbläserwelt 402

    Veranstaltungen 404

    Impressum 408

    TIBIA-Kunstbeilage: Monogrammist „Z. fec.“ (fecit = hat gemacht), Deutschland, vor 1750,CANTATA FLAUTO, Kupferstich 15,4 x 18,1 cm, Gemeentemuseum, Den Haag

    Diese Ausgabe enthält folgende Beilage:Edition Tre Fontane, Münster; Spielräume, Moeck Verlag, Celle

  • 322 TIBIA 1/2005

    Peter Thalheimer ins Kollegium der TIBIA-Herausgeber berufen

    Wir begrüßen Herrn PeterThalheimer im Kreise derTibia-Herausgeber undmöchten ihn vorstellen.

    Er wurde 1946 in Stutt-gart geboren. Bereits zuSchulzeiten beschäftigteer sich mit verschiedenenFragen des Blockflöten-baus und damit verbunde-nen historischen Themen.1965 erhielt er den 1. Preisfür Blockflöte im Bundes-wettbewerb „Jugend mu-siziert“. 1963 begann ermit dem Erlernen der Tra-versflöte. 1968 bis 1973 studierte er an der Mu-sikhochschule Stuttgart Schulmusik mit denSchwerpunktfächern Querflöte und Orchester-leitung und legte „nebenbei“ noch die Haupt-fachprüfung Blockflöte und die Konzertreife-prüfung Querflöte ab. Gleichzeitig studierte erMusikwissenschaft in Tübingen und machtedort ein Staatsexamen.

    Bereits 1966 begann seine Tätigkeit als Werbe-leiter und Lektor für einen Musikverlag. Nachdem Studium war er Lehrbeauftragter fürBlock-, Quer- und Traversflöte an der Musik-hochschule Stuttgart, unterrichtete an verschie-denen Gymnasien, konzertierte in unterschied-lichen Besetzungen, machte Rundfunk- und

    Schallplattenaufnahmen,schrieb wissenschaft licheBeiträge für verschieden -ste Zeitschriften und Publikationen und istHerausgeber einer Viel-zahl von Ausgaben AlterMusik.

    Seit 1978 ist Peter Thal-heimer Dozent fürBlockflöte, Traversflöte,Querflöte, Methodik,Aufführungspraxis undEnsemblespiel am Meis-tersinger-Konservatori umin Nürnberg, der jetzigen

    Hochschule für Musik Nürnberg-Augsburg.Sein erster Artikel in der Tibia erschien 1983(Flauto d’amore, B flat Tenor Flute und „tiefeQuartflöte“. Ein Beitrag zur Geschichte der tie-fen Querflöten im 18. und 19. Jahrhundert. TIBIA 2/1983), diesem folgten noch viele weite-re. 2004 legte er die Magister-Prüfung Musik-wissenschaft an der Universität Tübingen ab undpromoviert nun über sein Spezialthema DieBlockflöte in Deutschland 1920 bis 1945 – In-strumentenbau und Aspekte zur Spielpraxis.

    Seine Vielseitigkeit als Musiker, Dozent, Her-ausgeber und Wissenschaftler wird der Tibiazweifellos zugute kommen, und wir freuen unsauf die zukünftige enge Zusammenarbeit.

    Die Redaktion

    Editorial

  • TIBIA 1/2005 323

    schaffenheit“. Darin erwähnt Tromlitz die Flûted’amour, „welche eine kleine Terz tiefer stehet,als die gewöhnlich gestimmten (Flöten)“, bei-läufig zusammen mit Terz-, Quart- und Oktav-flöten, ohne weiter darauf einzugehen, „weil sieeben nicht sehr gangbar sind.“51Heinrich Chris-toph Kochs „Musikalisches Lexikon“ (Frank-furt am Main 1802)52 erwähnt im Artikel Flötedie gleichen Nebenformen des Instruments wieTromlitz. Bezeichnenderweise fügt der Autornur wenige Jahre später in seinem „Kurzgefass -ten Handwörterbuch der Musik“ (Leipzig1807)53 bei dem entsprechenden Stichwort hin-zu: „Von diesen verschiedenen Dimensionen derFlöte ist anjetzt nur noch die Octavflöte ge-bräuchlich“, die Flûte d’amour nach KochsWahrnehmung also nicht mehr.

    Eine besondere Blütezeit erlebte die Flûte d’a-mour, mit einem Schwerpunkt auf Instrumentenin As-Stimmung, noch einmal im ersten Dritteldes 19. Jahrhunderts in Wien.54Ausgestattet mitFlöten aus den Werkstätten ansässiger Instru-mentenmacher, wie Koch, Ziegler und anderen,war der Flauto d’amore besonders in Liebhaber-kreisen für das eigene häusliche Musizieren inGebrauch. Über die Soiréen des auf dem Flautod’amore dillettierenden KriminalgerichtsratsAlois Gulielmo (1763 – 1823) sind von Zeitge-nossen anschauliche Berichte überliefert. SeinemSammeleifer und seiner Initiative, „alle Tonset-zer Wiens um neue Kompositionen“, insbeson-dere für Flötenensemble mit einer Flûte d’amourals tiefster Stimme, zu bitten, verdanken wirheute das Vorhandensein eines beachtlichen Re-pertoires an Originalkompositionen und Bear-beitungen aus jener Zeit. Einige dieser Werkesind seit jüngster Zeit in Neuausgaben zugäng-lich,55 wobei die d’amore-Partien meist pro-blemlos von modernen Altflöten in G über-nommen werden können.

    1856 erschien die revidierte und erweiterte 2.Auflage der Instrumentationslehre von HectorBerlioz.46 Die oben dargestellte Entwicklungder Flöte lässt es bemerkenswert erscheinen, dassBerlioz einerseits bereits die Vorzüge der vonBöhm und anderen neu entwickelten Instrumen-te (einschließlich des C-Fußes!) schätzt. Ande-rerseits bedauert er, 100 Jahre nach Quantz(!),dass „man die Liebesflöte (Flûte d’amour) ganzaußer Gebrauch (hat) kommen lassen.“ Sie wür-de die Familie der Flöteninstrumente „nach derTiefe zu vervollständigen, und ihr sanfter undmarkiger Ton würde eine vortreffliche Wirkunghervorbringen, sei es als Gegensatz zu den hö-heren Flöten … oder um den so eigenthümlichenHarmonien, welche aus der Zusammenstellungder tiefen Noten der Flöten, englischen Hörnerund Clarinetten entstehen, mehr Fülle und Far-be zu verleihen.“47

    Deutschland

    In Deutschland48 bleibt die Kenntnis von derFlûte d’amour auch nach Quantz noch lange er-halten. Allerdings scheint sie im späteren 18. undfrühen 19. Jahrhundert vor allem ein Instrumentfür Liebhaber gewesen zu sein. Die geringe Zahlund die Art der erhaltenen Kompositionen deu-ten darauf hin. Im öffentlichen Musiklebenspielt sie keine Rolle. In der „Allgemeinen Mu-sikalischen Zeitung“ in den Jahren 1798 – 1848kommt das Stichwort Flûte d’amour praktisch inkeinem Artikel oder Bericht vor.49

    In dem für die Zeit um 1800 zentralen Lehrwerk„Ausführlicher und gründlicher Unterricht dieFlöte zu spielen“ (Leipzig 1791)50 des Juristenund Flötisten, Komponisten, Flötenbauers undFlötenlehrers Johann Georg Tromlitz (1725 – 1805)gilt das erste Kapitel „der Flöte, und deren Be-

    Hartmut GerholdTheobald Böhms Altflöte in G – Stationen der Entwicklung und derEmanzipation eines „Nebeninstrumentes“ der Querflötenfamilie, Teil 2

  • Als ein zu seiner Zeit offenbar gängiges Instru-ment erwähnt der in Wien wirkende Flötenvir-tuose sowie Lehrer, Komponist und Arrangeurfür sein Instrument Joseph Fahrbach (1804 –1866) in seiner „Neuesten Wiener Flöten-Schu-le“ (1835) ausdrücklich die „Flûte d’amour oderAs-Flöte“. Ein später Nachhall auf diese beson-dere Wiener Epoche findet sich noch im „Musi-kalischen Conversations-Lexikon“ von Her-mann Mendel (Leipzig 1873). Dort heißt es imArtikel „Flöte“ u. a.: „Die in den dreissiger Jah-ren dieses Jahrhunderts sehr beliebten Liebes-flöten, Flûtes d’amour, … sind jetzt fast nirgendsmehr bekannt.“ Theobald Böhms neue Altflötewird in dem Artikel noch nicht erwähnt.

    Die Anbringung zusätzlicher Klappen an der„normalen“ Flöte (für f, gis und b, später auch c2)ab den 1780er Jahren und die nach und nach zu-nehmende Verbreitung derart „verbesserter“ In-strumente ist in Deutschland eng mit dem Wirkenvon Johann Georg Tromlitz56 verbunden. Wäh-rend er selbst allerlei Modifikationen an der Klap-penmechanik vornimmt, verweist Tromlitz zu-gleich immer wieder darauf, dass die Ausstattungder Flöten mit zusätzlichen Klappen in Englandihren Ausgang genommen habe. Tromlitz kenntdeshalb natürlich auch die Möglichkeit, den Um-fang der Flöte in der Tiefe mit Hilfe „eines langenFußstückes“ bis c1 zu erweitern. Doch diese „Er-findung“ dankt er den Engländern nicht, weil sieden Ton „eben nicht vorteilhaft verändert“. Da esaber „Liebhaber giebt“, die Flöten mit C-Fußwünschen, bietet Tromlitz gleichwohl an, derar-tige Instrumente herzustellen.

    August Eberhard Müller, Flötist, Pianist und Ka-pellmeister in Weimar, geht in seinem „Elemen-tarbuch für Flötenspieler“ (Leipzig 1815) zwarnoch vom einklappigen Traverso mit D-Fuß aus.Die ausführlichsten Grifftabellen gelten jedochbereits einer Acht-Klappen-Flöte mit C-Fuß.

    Ab etwa 1820 scheint die Flöte mit H-Fuß undneun bis 13 Klappen zum Standardinstrument inDeutschland zu werden, so bei Joseph Fahrbach(1835) oder Anton Bernhard Fürstenau (Etwasüber die Flöte und das Flötenspiel, AMZ, Ok -

    tober 182557, und Die Kunst des Flötenspiels,Leipzig 1844). Für Fürstenau hat die Flöte damitihre maximale und optimale Länge und Lage er-reicht. Dabei wäre die H-Klappe am Fußstückseiner Ansicht nach „leicht zu entbehren, trügenicht diese kleine Verlängerung der Flöte we-sentlich zu einer bessern Höhe bey.“58

    Besonders in Wien hat die alte Sehnsucht derFlötenspieler nach immer tieferen Tönen auf ih-rem Instrument dazu geführt, das Fußstück dernormalen Flöte über b0 und a0 bis g0 zu ver -längern. Fahrbach erwähnt diese Instrumente in seiner Schule. Sie seien jedoch wegen kaumvorhandener geeigneter Stücke „nicht sehr inGebrauch“. Drouet berücksichtigt in dem er-wähnten Übungsstück (s. Tibia 4/2004, S. 253)besonders die entsprechenden tiefen Töne. Für-stenau kennt die Bestrebung nach einer weiterenVerlängerung des Fußstücks ebenfalls, lehnt „dieWiener Erfindung“ aber kategorisch ab. Diebeträcht liche Verlängerung des Instruments seinachteilig für Klang und Ansprache der Töneinsgesamt, würde die Hand habung der Flöte er-schweren und ihren „eigentlichen Character“verleugnen. Tatsächlich waren an einer Flöte mitG-Fuß zusätzlich zur Dis-/Es-Klappe siebenweitere Klappen am Fußstück erforderlich. Esist gut vorstellbar, dass diese kaum mit großerPräzision zu bedienen und nur ausnahmsweiseverlässlich zum Decken zu bringen waren.

    Rockstro berichtet von dem Wiener Flötisten Jo-hann Sedlaczek folgende Anekdote: Als um 1820dessen Bemühungen, auf einer Flöte mit G-Fußdas tiefe G (g0) zu spielen, einmal überraschendvon Erfolg gekrönt war, sei er so entzückt gewe-sen, dass er die Flöte in die Ecke gelehnt und res-pektvoll vor ihr salutiert habe.59 Es verwundertnicht, dass ein solches Instrument in der AMZ(August 1830) denn auch einmal verächtlich als„Kinderklapper“60 abgetan wird.

    Seit dem Aufkommen der auf d1 stehenden ba-rocken Traversière hat sich der Tonumfang derFlöte in rund 150 Jahren allmählich einen Ganz-ton bzw. um eineinhalb Töne zur Tiefe hin er-weitert. Die Flöte mit c1 oder h0 als Basiston ist

    324 TIBIA 1/2005

    Hartmut Gerhold

  • Abb. 10: 13-Klappen-Flöte mit H-Fuß aus: Joseph Fahrbach: Neueste Wiener Flötenschule, Wien (1835), S. 25 (Vor -lage Sammlung Gerhold)

    TIBIA 1/2005 325

    Theobald Böhms Altflöte in G

  • von vergleichsweise geringfügigen Modifikatio-nen abgesehen – im Wesentlichen unverändert infast 160 Jahren bewährt hat. Die Flöte Böhm’-scher Prägung mit C- oder H-Fuß hat sich bisheute allen Anforderungen gewachsen gezeigt,die sich während dieser Zeit durch Veränderun-gen in der Klangvorstellung und Spieltechnik, inder Tonbildung und Artikulation ergaben.

    Als nicht weniger bedeutungsvoll und folgen-reich erwies sich Böhms weitere Erfindung, dienach mehrjährigen Vorarbeiten 1858 fertigge-stellte Altflöte in G. Mit seiner Neuschöpfungkam Böhm zwei sehr unterschiedlichen Bedürf-nissen entgegen: Er verwirklichte den alten

    Traum der Flötisten, der trotz aller Be-mühungen bisher letztlich unerfüllt ge-blieben war, nämlich eine uneinge-schränkt brauchbare und einsatz fähigeFlöte in tieferer Lage an die Hand zu be-kommen. Zum anderen verlangte das ro-mantische große Orchester im Holzblä -sersatz auch bei den Flöten nach einerErweiterung des Klangrahmens zur Tiefehin. Doch sollte es Jahrzehnte dauern, bisdie klanglichen Möglichkeiten der neuenAltflöte und ihre vielseitigen, reizvollenEinsatzmöglichkeiten als Soloinstrument,im Orchester und im kleinen Ensemblenach und nach erkannt und Flötisten undKomponisten darauf aufmerksam wur-den. Dies lag vor allem wohl daran, dassdas neue Instrument von der Öffentlich-keit nicht wahrgenommen werden konn-te, da es für alle denkbaren Besetzungs-möglichkeiten an geeigneter Spielliteraturfehlte. Böhm selbst, der von Anfang anvon den herausragenden Qualitäten sei-ner neu geschaffenen Altflöte zutiefstüberzeugt war, behalf sich für den eigenenGebrauch mit selbst hergestellten Bear-beitungen und Adaptionen eigener undfremder Werke. Im Unterschied zu denfrüheren Originalkompositionen für Flö-te, die im Druck veröffentlicht wurden,blieben Böhms ca. 25 Bearbeitungen fürund mit Altflöte Manuskript (s. Abb. 11und 11a) und konnten deshalb ihrerseits

    Abb. 11: Theobald Boehm: Sopran-Arie Cujus animam aus: Sta-bat Mater von Rossini, Bearbeitung für Altflöte (in G) und Kla-vier (ca. 1860), Titelseite, zeitgen. Kopisten-Abschrift (mitfreundlicher Genehmigung des Theobald-Böhm-Archivs, Gräfel-fing)

    als Normalform des Instruments um 1830 allge-mein akzeptiert.

    Theobald Böhm und die Folgen für Flöten-bau und Flötenspiel

    Von diesem Flötentyp ging Theobald Böhm beiseinen Versuchen aus, die alte Flöte weiterzu-entwickeln und zu verbessern. Seine Experi-mente und Berechnungen in Verbindung mit sei-nen eigenen künstlerischen Erfahrungen undBedürfnissen führten zu den genialen Neuerun-gen von 1832 und 1847: Seither verfügen die Flö-tisten über ein „Hauptinstrument“, das sich –

    326 TIBIA 1/2005

    Hartmut Gerhold

  • Abb. 11a: Theobald Boehm: Sopran-Arie Cujus animam aus: Stabat Mater von Rossini, Bearbeitung für Altflöte (inG) und Klavier (ca. 1860), erste Seite der Altflötenstimme, zeitgen. Kopisten-Abschrift (mit freundlicher Genehmi-gung des Theobald-Böhm-Archivs, Gräfelfing)

    TIBIA 1/2005 327

    Theobald Böhms Altflöte in G

  • nicht für das neue Instrument werben.61Erst seitdem Jahre 2001 sind fünf der Böhmschen Ar-rangements nach Vorlagen von Rossini, Weberund Vogler in einer modernen Verlagsausgabezugänglich.62Weitere sollen unter der Federfüh-rung des Theobald-Böhm-Archivs folgen.

    Die Kunde von der neuen Altflöte muss sichnach 1858, vermutlich durch „Mundpropagan-da“ unter Schülern, früheren Kunden und be-freundeten Kollegen Böhms, dennoch verbreitethaben. In erhaltenen Geschäftsbüchern63 derWerkstätten Theobald Böhm und Böhm &Mendler für die Jahre 1847 – 1859 und 1876 –1879 ist ab 1858, dem Jahr der ersten Ausliefe-rung einer Altflöte, in insgesamt knapp vierein-halb Jahren der Verkauf von sechs Altflötennachgewiesen. Rechnet man diese Zahl hoch aufdie ca. 22 Jahre, die Böhm nach der Vollendungder ersten Altflöte noch der Werkstatt verbun-den war, dürften etwa 30 Altflöten unter BöhmsMitwirkung oder Aufsicht entstanden sein. Je-denfalls sind heute noch neun in Böhms Werk-

    stätten gefertigte Altflöten in öffentlichenSammlungen nachgewiesen.64

    Die ab 1871 erhaltenen Werkstatt-Prospekte(„Preis-Courants“) der Werkstatt Böhm &Mendler jr. (1888 – 1901) und Ernst Robert Leibl(1904 – 1944) bieten neben Flöten und Piccoli inverschiedenen Ausführungen jeweils auch zweiverschiedene Modelle von Altflöten in G an: „Sil-ber mit Gold-Embouchure“ und „Neusilber mitHolzembouchure“. Diese Tatsache lässt auf einezumindest einigermaßen regelmäßige Nachfrageschließen. Da, Paul Wetzger zufolge,65 um 1905u. a. die Firmen „O. Mönnig in Leipzig, Ritters-hausen in Berlin und J. Mollenhauer u. Söhne inFulda“, sich ebenfalls mit dem Bau von Altflötenbefassten (die letzteren beiden waren Werkstatt-schüler Böhms), darf wohl ein sogar stetig ge-wachsener Bedarf angenommen werden.

    Wie wir gesehen haben, war bis in die erstenJahrzehnte des 20. Jahrhunderts eine eigene Li-teratur für die Altflöte, von einzelnen Stellen in

    Abb. 12: Anzeige für „Re-form Alt-Flöten“ der Fa. KarlKruspe, Leipzig, entnommenaus: Paul Wetzger: Die Flöte,Heilbronn (1905), S. 54 (Vor-lage Sammlung Gerhold)

    328 TIBIA 1/2005

    Hartmut Gerhold

  • wenigen Orchesterwerken abgesehen, nochnicht entstanden. Dennoch muss der Klang desInstruments oder seine theoretischen und zu-künftig einmal zu erwartenden Verwendungs-möglichkeiten immer wieder Flötenspieler über-zeugt und begeistert haben, so dass das Interessean der Altflöte ständig weiter zunahm. Offenbarübertrug es sich auch auf Anhänger des altenFlötensystems. Denn die Firma Karl Kruspe inLeipzig bot auch „Reform Alt-Flöten SystemSchwedler-Kruspe“ an.

    Die über viele Jahrzehnte bestehende Diskre-panz zwischen der fehlenden Spielliteratur undder relativen Bekanntheit und Verbreitung derAltflöte erscheint bemerkenswert und nurschwer erklärlich. Die Besitzer und Spieler vonAltflöten waren also auf sich selbst gestellt,wenn sie auf ihrem Instrument musizieren woll-ten. Dazu bot es sich an, nach Böhms Beispielvorhandene Vorlagen zu transponieren oder zubearbeiten. Vokalmusik oder andere „getrageneMelodien“ (Paul Wetzger) schienen dafür be-sonders geeignet zu sein. Aber auch „die Triosvon Kuhlau lauten viel besser, wenn die 3te Stim-me mit der g.F(löte) geblasen wird“, schriebBöhm in einem Brief am 9.12.1868 an MoritzFürstenau.66Henry Clay Wysham, ein amerika-nischer begeisterter Liebhaberflötist, berichtetüber eine Aufführung von Kuhlaus Quartett fürvier Flöten in E-Dur im November 1874 in Lon-don. Dabei habe „especially Boehm’s wonderful‚Alto-Flöte’ in G“ das außerordentliche Interes-se der Flötisten gefunden.67

    In gleichem Sinne wie Böhm äußern sich späterMaximilian Schwedler68 und Paul Wetzger69,wenn sie der Altflöte „die bassführende Stimme“in Flötentrios und -quartetten anempfehlen.Schwedler hält darüber hinaus die Altflöte fürbesonders geeignet, in Trios für Klavier mit Flöteund Horn den Waldhornpart zu übernehmenoder in Klaviertrios mit Streichern Bratsche oderCello zu ersetzen.

    Wiederholt wird – wegen ihrer besonderenKlangeigenschaften – die Altflöte auch als geeig-netes Soloinstrument beschrieben, so von Paul

    Wetzger und Georg Müller70, doch lange ohneerkennbaren Erfolg. Überhaupt scheinen einzel-ne Komponisten bei aller Wertschätzung des In-struments doch eine unerklärliche Scheu vor einerVerwendung der Altflöte empfunden zu haben.Jedenfalls stimmt es nachdenklich, wie interes-siert und wohlwollend z. B. Richard Strauss sichüber die Altflöte geäußert (s. o.) und er es den-noch unterlassen hat, die Altflöte im Orchestereinzusetzen, trotz der von ihm selbst häufig ge-forderten großen Besetzungen. Ähnliches giltfür Richard Wagner. Er lernte die Böhmflötefrüh kennen (ihren Klang aber nicht schätzen. Ernannte sie „Gewaltröhre“). Englisch Horn undBassklarinette bedachte er mit bedeutenden so-listischen Partien in seinen Opern. Die Altflöteverwendete er nicht.

    Abb. 13: Henry Clay Wysham (1828 – 1902),Soloflötist der „Baltimore and Boston Sym-phony Orchestras“, Flötenenthusiast undBöhm-Verehrer, mit Altflöte (Abb. entnom-men aus: Adolph Goldberg, Porträts und Biographien hervorragender Flöten-Virtuosen,-Dilettanten und -Komponisten, PrivatdruckBerlin 1909, Faks.-Nachdruck, hrsg. v. KarlVentze, Celle 1987, S. 106)

    TIBIA 1/2005 329

    Theobald Böhms Altflöte in G

  • Wenn man bedenkt, wie gering die Möglichkei-ten und wie selten die Gelegenheiten um dieWende zum 20. Jahrhundert gewesen sein mö-gen, den Klang und die spieltechnischen Beson-derheiten einer Altflöte kennenzulernen, ist esumso mehr zu bewundern, wie gut die Kompo-nisten, die erstmals die Altflöte im Orchestereinsetzten, sofort das Wesen des Instruments er-kannt haben. Die Altflötenstimmen z. B. inDaphnis et Chloé von Ravel, Le Sacre du Prin-temps von Stravinsky, in den OrchestersuitenGustav von Holsts oder in Edgard Varèses Amé-riques sind gleichermaßen hervorragende Bei-spiele für einen dankbaren und wirkungsvollenInstrumentalpart wie für die gelungene Instru-mentation eines Orchestersatzes. Mit Werkenvon Weingartner, Pfitzner, Glasunow, Britten,Schostakowitsch, Blacher, Roussel, Dutilleux, B. A. Zimmermann, Henze, Boulez, Stockhau-sen, Ligeti, Sinopoli und vielen anderen liegt in-zwischen ein umfangreiches Orchesterreper -toire für die Altflöte vor. Damit dürfte der vor100 Jahren von Paul Wetzger, dem Soloflötistendes damaligen Stadt-Orchesters Essen, geäußer-te Wunsch in Erfüllung gegangen sein, „dassauch dieser Flöte im Orchester, neben dem eng -lischen Horn, der Bassklarinette und dem Kon-trafagott, für immer ein bescheidenes Plätzcheneingeräumt werde.“71

    In der Anfangszeit jedoch, als die Altflöte im öf-fentlichen Musikleben auf den Plan zu treten be-gann, war es nicht in jedem Fall selbstverständ-lich, dass im Orchester bei Bedarf eine Altflöteverfügbar oder einer der Orchesterflötisten mitdem Instrument vertraut war. So berichtet An-thony Baines72, dass z. B. in Frankreich die Alt-flötenstimme in Daphnis et Chloé häufiger aufeiner Klarinette oder einem Altsaxophon ge-spielt wurde.

    Im Unterschied zu der zunächst eher zögerli-chen Entwicklung des Orchesterrepertoires mitBeteiligung der Altflöte, entfaltete sich die Solo-und Ensembleliteratur für und mit Altflöte nachlanger „Inkubationszeit“ beinahe explosionsar-tig. Nachdem Boulez Anfang der 1950er Jahremit Le Marteau Maßstäbe gesetzt und gezeigt

    hatte, was eine Altflöte klanglich, technisch undmusikalisch leisten kann (und was Komponistendem Instrument und seinen Spielern zutrauenoder zumuten können), war der Bann, der ge-wissermaßen 100 Jahre auf der Altflöte gelegenhatte, gebrochen. Ständig erschienen (und er-scheinen) Beiträge zu einem Kammermusik-und Solo-Repertoirefundus, der in seiner stilis-tischen und Besetzungsvielfalt inzwischen sei-nesgleichen sucht. Ungezählte Komponistentrugen und tragen bis heute zu dieser erstaunli-chen und (zumindest für die Flötisten) erfreuli-chen Entwicklung bei, darunter viele Namenvon Komponisten, welche die Entwicklung derMusik und des Musiklebens seit 1950 besondersnachhaltig geprägt und beeinflusst haben. Cage,Petrassi, Fukushima, Henze, Stockhausen undBoulez sind darunter, Isang Yun, Donatoni,Holliger und B. A. Zimmermann gehören eben-so dazu wie Scelsi, Huber, Ligeti, Hespos, G. Braun, Sciarrino oder Morton Feldman, J. Fritsch und Takemitsu, um nur einige zu er-wähnen.

    Das Entstehen eines nicht zu übersehenden be-deutenden Repertoires mit anspruchsvollen(und dankbaren) Solo- und Ensemblewerken fürAltflöte hat auch bei den Flötisten zu einer Än-derung in der Einstellung gegenüber dem In-strument geführt.

    Aus Mangel an Stücken und an Auftrittsgele-genheiten nahmen anfangs lediglich einzelneFlötisten die Altflöte und auch nur sporadischund „aus gegebenem Anlass“ zur Hand und eherin dem Bewusstsein, ein „Nebeninstrument“ zutraktieren.73Da konnte es nicht ausbleiben, dassgelegentlich auch einmal ein Spieler nicht opti-mal auf die Altflöte eingestellt und auf dem In-strument eingespielt war. Vielleicht war es dieSorge vor einer solchen Situation, die Boulez sei-nerzeit bewog, im Marteau vorsorglich für dieexponierten Anfangstöne in der Altflöte (no-tiert) a3/c4 als ossia ein wesentlich weniger heiklesg2/c3 vorzusehen. Dass im weiteren Verlauf desStückes die oberen Töne der Flöte bis c4 dannwiederholt mit großer Selbstverständlichkeiteinbezogen werden, steht auf einem anderen

    330 TIBIA 1/2005

    Hartmut Gerhold

  • Abb. 14: Pierre Boulez: Le marteau sans maître, Partiturausschnitt (mit freundlicher Genehmigung der UniversalEdition London)

    TIBIA 1/2005 331

    Theobald Böhms Altflöte in G

  • Blatt. Bemerkenswert erscheint dieser Umstandjedoch vor dem Hintergrund, dass die bis dahinbekannten Altflötenpartien nur selten über g3

    hinausgehen. (s. Abb. 14)

    Das Repertoire an spezieller Literatur für Alt-flöte wuchs an, und die Anforderungen an dieSpieler stiegen. Wurden doch von den Kompo-nisten die für die normale große Flöte sich ab-zeichnenden neuen Klänge und erweitertenSpieltechniken ohne Umstände auf die Altflöte

    übertragen (s. Abb. 15 und 16). So ergab sich fürambitionierte Flöten-Solisten wie von selbst dieNotwendigkeit einer intensiveren und profes-sionelleren kontinuierlichen Beschäftigung auchmit der Altflöte.

    Heute ist festzustellen, dass sich die Altflöte auseigenem Recht und mit eigenem künstlerischenProfil und Gewicht – jedenfalls soweit es dieMusik der letzten 50 Jahre betrifft – gleichrangigneben anderen Soloinstrumenten behaupten

    Abb. 15: John Cage: Solo forFlute, Alto Flute and Piccolo.Pages 133 – 144 of the Orches -tral Parts of Concert for Pianoand Orchestra (1957 – 1958)(Ausschnitt) (mit freundlicherGenehmigung der HenmarPress Inc./Edition Peters NewYork)

    332 TIBIA 1/2005

    Hartmut Gerhold

  • Abb. 16:Hans-Joachim Hespos: -duma- für Altflöte solo(1980) (Ausschnitt) (mit freundlicher Genehmigung von Hespos, Delmenhorst)

    TIBIA 1/2005 333

    Theobald Böhms Altflöte in G

  • die Flöten mit mehreren Klappen. Deren Anwendungund Nutzen, Leipzig 1800, Faks.-Ausg., hrsg. von KarlVentzke, Buren 199157 wie Anm. 49, S. 20158 a. a. O., S. 20259 wie Anm. 29, S. 30460 In einer Besprechung der Méthode pour la flûte vonL. Drouet, wie Anm. 49, S. 38561 Herr Ludwig Böhm, Theobald-Böhm-Archiv Gräfel-fing, entdeckte unlängst einen Brief seines Ururgroßva-ters Theobald Böhm im Archiv des Schott-Verlages, ausdem hervorgeht, dass Th. Böhm sich seinerzeit, wennauch ohne Erfolg, sehr wohl um die Drucklegung seinerBearbeitungen für die Altflöte bemühte. Der Brief wirdin Tibia, Heft 2/2005, im Wortlaut abgedruckt.62 Theobald Böhm: Die Bearbeitungen mit Altflöte. 5 Stücke von G. Rossini, C. M. v. Weber, Abbé Vogler,hrsg. von Elisabeth Weinzierl/Edmund Wächter, Frank-furt am Main 2001, Musikverlag Zimmermann ZM3388063 wie Anm. 1164 Ludwig Böhm: Festschrift anlässlich des 200. Ge-burtstages von Theobald Böhm. Konzertprogrammeund Aufsätze, München 1994, S. 50 f.65 in: Die Flöte. Ihre Entstehung und Entwicklung biszur Jetztzeit in akustischer, technischer u. musikalischerBeziehung, Heilbronn o. J. (1905), S. 2266 zitiert nach: Theobald Böhm, sämtliche Briefe undAufsätze, Privatdruck München 1994, S. 91 (Druckfas-sung der Dokumentation i. Vorb.)67 In einem Beitrag über den Artikel „Flute“ in Grove’sDictionary in: Musical Opinion & Music Trade Review,London 1.5.1890, S. 352 f., abgedruckt in: LudwigBöhm (Hrsg.): Briefe an und Aufsätze über TheobaldBöhm, die den Flötenbau betreffen, Privatdruck Mün-chen 1992, S. 122 (Druckfassung i. Vorb.)68 in: Flöte und Flötenspiel. Ein Lehrbuch für Flötenblä-ser, Leipzig 31923, Faks.-Ausg., hrsg. von E. Majewski,Darmstadt 1982, S. 127 f.69 wie Anm. 6570 in: Die Kunst des Flötenspiels. Handbuch des Flöten-spiels, Teil I, Leipzig-Berlin 1954, S. 5371 wie Anm. 65, S. 2372 wie Anm. 21: Woodwind Instruments, S. 5873 Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt der italie-nisch-amerikanische Flötist Leonardo de Lorenzo dar.Er lernte die Altflöte in G 1923 kennen. Mit großem Er-folg spielte er den solistischen Altflötenpart in einer Or-chestersuite von Arthur Bliss. Das Instrument begeis -terte ihn so sehr, dass er es an der Eastman School ofMusic in die Flötenausbildung einführte. Auch in Ver-anstaltungen sorgte er für die Mitwirkung der Altflöte(und tiefer Flöten in anderen Stimmungen), besondersin Flötenensembles. Vgl. Leonardo de Lorenzo: MyComplete Story of the Flute. The Instrument, The Per-former, The Music, Lubbock/Texas 1992, S. 12 f. und S. 376 f.

    kann, auch neben ihrer „kleinen Schwester“, dernormalen großen Flöte, mit der um fast dreiJahrhunderte älteren „Solo-Tradition“.

    Theobald Böhm war der festen Überzeugung, erhabe mit der Altflöte in G „ein ganz neues In-strument“ geschafffen.

    Heute, 150 Jahre später, scheint diese Vision imBewusstsein der Flötisten, der Komponistenund des Publikums mehr und mehr Realität zuwerden.

    ––––––––––––––ANMERKUNGEN46 Hector Berlioz: Traité d’instrumentation et d’orches-tration modernes, Paris 1844, 2185647 zitiert nach: Instrumentationslehre von Hector Ber-lioz. Autorisierte deutsche Ausgabe von Alfred Dörffel,Leipzig 1864, S. 112 f.48Hier und im Folgenden verstanden als deutschsprachi-ger Kulturraum und nicht als Staat in politischem Sinne.49 vgl. Die Flöte in der „Allgemeine Musikalische Zei-tung“ (1798 – 1848), hrsg. von Rien de Reede, Amster-dam 199750 Faks.-Ausg., hrsg. von Frans Vester, Buren 2198551 a. a. O., S. 2752 Faks.-Ausg., hrsg. von Nicole Schwindt, Kassel, Ba-sel etc. 200153 Faks.-Ausg., Hildesheim 198154 ausführliche Darstellung der gesamten Thematik siehe bei: Peter Thalheimer: Die Wiener Tradition desFlauto d’amore. Repertoire und Instrumentarium, in:Scripta Artium No. 1, Festschrift Rainer Weber, Leipzig1999, S. 91 ff.55Giuseppe Richter: Quintett C-Dur für vier Querflötenund Altquerflöte, hrsg. von Peter Thalheimer, Köln-Ro-denkirchen 2000, P. J. Tonger Musikverlag 3018 P. J. T.;Engelbert Aigner: Quartett Es-Dur für drei Querflötenund Altquerflöte, hrsg. von Peter Thalheimer, Köln-Ro-denkirchen 2003, P. J. Tonger Musikverlag 3104 P. J. T.56 s. Anm. 50, sowie: Johann Georg Tromlitz: An dasmusikalische Publikum (Leipzig) 1796, Faks.-Ausg.,hrsg. von Karl Ventzke, Celle 1982, und ders., Ueber

    334 TIBIA 1/2005

    Wir kommen zu IhnenUnsere Blockflöten sind überall zuhause.

    Einfach Auswahlsendung anfordern.

    early music im Ibach-Haus ·Tel. 02336/990290 ·Fax 02336/914213Mail: early-music@ t-online.de

    Hartmut Gerhold

  • TIBIA 1/2005 335

    Für mich ist Amriswil das kulturelle Zentrumvom Oberthurgau, hier ist man auch weiter wegvom See und dem ganzen Trubel drumherum.Das Kulturzentrum, in dem ich wohne undarbeite , stammt von1900 und war ursprüng-lich eine Fabrik. Nun isthier die Bibliothek un-tergebracht, es gibt einRestaurant, ein Blu-mengeschäft und einensehr schönen Saal mit400 Plätzen. Und obenist meine Werkstatt-wohnung. Als der Loftwieder frei wurde,wünschten sich alle ei-nen Künstler, der hierreinpasst. Jetzt bin ichhier und alle sind zufrie-den. Ich nenne es Adler-horst, und der ist bei allden kulturellen Ange-

    boten hier beileibe kein Elfenbeinturm. Nach-dem ich die Versuchsreihe, eine bürgerlicheExistenz zu gründen, aufgegeben habe, ist dashier die richtige Art zu wohnen und zu arbeiten.

    Fred Morgan ist fürmich der einzige Block-flötenbauer, der imletzten Jahrhundertrichtige Instrumentegebaut hat, die auchheute noch einen gro-ßen Wert haben, dierichtig funktionierenund als Musikinstru-mente zu gebrauchensind. Seine Aufsätze,Zeichnungen und inno-vativen Blockflötensind zusammen mit denArtikeln und Instru-menten von Bob Mar-vin meine Lehrmeister

    Ines Müller-Busch studierteBlockflöte und Traversflötein Amsterdam, Bologna undKopenhagen. Als Kammer-musikerin und Solistin ist siein verschiedenen Ensemblesin der Schweiz, Deutschlandund Skandinavien tätig. Mu-sikwissenschaftliche For-schungen führten zur Grün-

    dung von flores rosarum, einem Ensemble, das sichauf die Musik Hildegard von Bingens spezialisierthat. In Zusammenarbeit mit dem Suhrkamp Verlagentstehen seit 2001 Projekte, in denen Literatur mitMusik verknüpft wird. Nachdem sie lange Jahre inden Niederlanden und Dänemark unterrichtet hat,hat sie als Mittelpunkt ihrer pädagogischen Arbeitzur Zeit Freiburg gewählt, wo sie lebt und auch jour-nalistisch tätig ist.

    Porträt: Ernst MeyerDas Erbe Fred Morgans – Gedanken über Gegen-wart und Zukunft des BlockflötenbausEin Gesprächsporträt von Ines Müller-Busch

    Es ist fünf Jahre her, dass der Australier Freder-ick Morgan gestorben ist, der von der Fachweltals einer der besten Blockflötenbauer des ver-gangenen Jahrhunderts angesehen wird. SeineInstrumente sind auf hunderten von CD-Auf-nahmen und in vielen Konzertsälen weltweit zuhören. Morgans plötzlicher Tod war ein großerVerlust für seine Familie, Freunde und seine vie-len Kunden. Wie haben nun seine Kollegen rea-

    giert? Gibt es ein Erbe Fred Morgans, das es an-zutreten gilt, oder ist er bereits vergessen? Überdiese und andere Fragen sprach ich mit ErnstMeyer in seiner Werkstatt über den Dächern vonAmriswil, in die er im Juni 2004 von Utwil amBodensee umgezogen ist.

  • 336 TIBIA 1/2005

    OberbahnWindkanal

    Blockbahn Labium

    Blockfase

    Bahnfase Stufe

    gewesen. Alles hat damit begonnen, dass ich viele Stunden Freds Pläne studiert habe. Fredhat einmal geschrieben, dass die vier wichtigstenParameter beim Blockflötenbau Ansprache, In-tonation, ein wunderschöner Klang und akkura-te Handwerksarbeit seien. All das hat er in sei-nen Flöten verwirklicht. Es hat seine Zeitgedauert, bis ich Details verstehen konnte undauch sah, dass auf seinen Plänen wirklich allesdrauf ist, was man braucht, um das betreffendeInstrument zu bauen. Wenn man es damit nichtschafft, sollte man es lieber bleiben lassen.

    Auch die Instrumente selber habe ich zunächstnicht verstanden. Das war so in den 80er Jahren.Ich hörte sie im Konzert, konnte dann auch ein-mal selber darauf spielen, aber ich konnte nichtdie Klänge produzieren, die ich gehört hatte.Heute weiß ich, dass man auf einer so weitenFlöte ein besonderes Blasgefühl braucht, dennbei der Blockflöte ist der Klang nicht nur im In-strument eingebaut, sondern liegt auch am Kön-nen des Spielers. Ich rede von Anblaswinkel,Mund- und Körperresonanzen.

    Der Ansatz auf der Blockflöte hat auch Fredsehr beschäftigt. Man merkt das daran, dass erdie Schnabelformen der Form des Windkanalsangepasst hat, so dass man auch mit den Lippenfühlen konnte, wo der Luftstrom hingeht. In denletzten Jahrzehnten wurden weltweit Blockflö-ten gebaut, die für mich etwas von einem Wind-kapselinstrument haben. Die Luft wird gestaut,man bläst die Backen auf und pustet, ohne biszur Labiumkante1 vorzudringen. Das, was fürmich „Blockflöte mit Ansatz“ heißt, ist, dass derWindkanal die Verlängerung des Mundes bildet.Man bekommt ein Gefühl der Ganzheit. In mei-nem Mund kann ich entscheiden, was vorn ander Labiumkante passiert. Der Ton ist flexibel,dynamisch stabil und klangfarbenreich. In ganz

    Europa gibt es fantastische Spieler, die dieseMöglichkeiten ausnützen können. Die interes-sieren mich, das andere macht keinen Sinn. Dieganze Entwicklung von historischen Flöten istpassé, es gibt eine neue Professionalität, die inder Nachfolge von Frans Brüggen steht.

    Aber zurück zu Fred: Die Maße bezüglichWindkanalhöhe2, Fase3 usw. waren – auch wasdie heutige Bauergeneration angeht – sehr groß.Heute finde ich die Maße gerade richtig groß,aber damals war so eine große Stufe ein echterSchock. Wie viel Luft man brauchte … das hatalles eine ganze Weile gedauert, bis ich verstan-den hatte, dass diese Flöte keine Instantflöte war,die man in die Hand nimmt und auf der man so-fort wunderbar spielen kann. In diesem Zusam-menhang ist die Zusammenarbeit mit demBlockflötisten Michael Form wichtig, der bei je-dem Besuch neue Morganflöten mitbrachte. Wirspielten eine Weile, und irgendwann piepstenmeine Flöten nur noch ganz dünn, während Michaels Morganröhren immer schöner wurden.

    Ein Detail sprang mir damals ins Auge: wie Mor-gan das mit der Windführung ganz andersmacht. Die von allen Bauern als absolute Werteangesehenen Maße konnten für ein Instrumentnur in ganz nassem, eingespieltem Zustand gel-ten. In trockenem Zustand musste die Stufen -höhe viel größer sein, sag zwischen 0,95 und 1,30mm, um die Flöte den individuellen Bedürfnis-sen des Spielers anzupassen, so dass jemand, dergerne vier oder mehr Stunden spielen möchte,auch die Möglichkeit dazu hat. Wenn jemand eine Flöte nur täglich eine Stunde braucht,braucht sie auch nicht so weit mensuriert zu sein.Weil ich diese Art von Belastungen in meineÜberlegungen gleich mit einbeziehe, passiert esin der Regel auch nicht mehr, dass eine Flötenach einer Probenwoche im Konzert versagt.Soll eine weite Flöte gleich funktionieren, kannich dadurch, dass ich einen Mundvoll Wasserdurch die Flöte blase ziemlich schnell simulie-ren, wie sie in eingespieltem Zustand klingenwird. Was mir weiterhin auffiel war, dass Freddas Labium viel dünner machte. In einigen La-gen bekommt man durch ein dickes Labium

    Porträt

  • TIBIA 1/2005 337

    schöne Klänge, aber es kostet zuviel. Damit mei-ne ich, dass die Flöte nicht mehr ausgewogenklingt. Gerade im dritten Register ist die An-sprache sehr schlecht. Außerdem büßt das In-strument Klangvolumen ein. Und die Flöte istmit einem dünnen Labium nicht anfälliger fürSchäden. Wenn es sich biegt, biegt es sich sowie-so, da ändert dieser Unterschied nichts daran.

    Viel ist über das Werkzeug von Fred geredetworden. Als Fred gestorben war, versuchten allean seine Windkanalmaschine zu kommen, weilsie dachten, mit dem Werkzeug von Fred Flötenwie Fred bauen zu können. Eine armselige Ge-schichte. Es zeugt von einer unglaublichen Nai-vität und ziemlicher Unwissenheit, wenn je-mand glaubt, mit einer solchen Maschine dieultimative Flöte bauen zu können. Die schneidetdoch auch in jedem Holz ein wenig anders. Ichweiß nicht, wie es zuletzt war, aber eigentlichkonnte diese Maschine nur einen parallelenWindkanal rausstoßen, den Konus4 hat er vonHand gemacht, mit einer ziemlich groben Raffel.Das sind handwerkliche Fähigkeiten, ein Gefühlfür Holz, eine Exaktheit und Perfektion, die ermit relativ primitiven Werkzeugen erreichte, daskann kaum jemand und auf keinen Fall eine Ma-schine. Und Holz bewegt sich ständig, und wiereagiert man dann, wenn man gewohnt ist, sichauf Maschinen zu verlassen? Das macht keinenSinn. Freds Frau kann ich gut verstehen und ma-che ihr keinen Vorwurf, dass sie immer noch dieBodies verkauft und mit Industrieunternehmenkooperiert, sie muss ja auch sehen, wo sie und dieKinder bleiben. Seinerzeit hatte ich auch an FredsOriginalplänen Interesse, mittlerweile nichtmehr. Es sind Reliquien, aber es ist nicht das, wasFreds Flöten ausgemacht hat, definitiv nicht.

    Doch in letzter Zeit sind die Bodies schlechtergeworden. Jemand muss reklamiert haben, dassdie Instrumente zu tief sind. Die Röhren sind na-türlich nach wie vor berechnet für Freds groß-zügiges Voicing5. Wenn sie dann zu einem In-strumentenbauer kommen, der die Stufenhöheund alles viel zu klein macht, dann ist das Ganzenatürlich zu tief. Also sind die Maße abgeändertworden. Das Mittelstück ist 6 mm kürzer, und

    wenn ich wie gewohnt voice, werden die Dingerjetzt viel zu hoch. Da hat sie sich von den fal-schen Leuten beraten lassen.

    Mein Weg? Was ich gelernt habe? Also gemachthabe ich viel, habe aber keinerlei Diplome, außereinem Diplom über chinesische Kampfkunstund dem Führerschein für alle Motorradklassen.Ich wollte mal Grafiker werden, habe viel ge-zeichnet und gemalt, Bilder gehauen und Möbelgebaut. Ab dem 16. Lebensjahr wusste ich, dassich etwas mit Kunst machen wollte. In meinemElternhaus war ich nie mit Kunst in Berührunggekommen, und als ich sie entdeckte, wusste ich:dafür bin ich hier!

    Zur Blockflöte bin ich gekommen, weil ich Jazz -gitarrist werden wollte, aber die Gitarre wolltesich nicht von mir lernen lassen. Ich zupfte undlabte mich an den Klängen, machte aber keineFortschritte. Nach einer Pause suchte ich mir einInstrument, das mich disziplinieren würde. Ichkaufte eine Blockflöte plus Grifftabelle, zwei So-naten von Gottfried Finger und verordnete mirselber täglich eine halbe Stunde üben. Da war ich20. Ganz allein, ohne Lehrer. Das ging so zwei,drei Wochen, dann wurde aus der halben Stun-de eine Stunde und immer mehr, bis ich täglichvier Stunden übte. Natürlich machte die Flötedas nicht mit, und so ging ich und kaufte eine Di-amantnagelfeile und Schleifpapier und versuch-te die Flöte vom Krächzen abzuhalten. Als ichden Block zu weit runtergeschliffen hatte, kleb-te ich einfach ein Stück Holz darauf, schnitt miralles zurecht und machte weiter – damals war ichnoch ganz anspruchslos. So habe ich in dennächsten Jahren für einige tausend Franken Flö-ten verbraucht, das war sozusagen mein Lehr-geld, aber ich bin eigentlich froh drum, denn inder Industrie lernt man doch nicht richtig, wieman eine gute handgebaute Flöte macht. Dieglauben an die selig machende Technik einer Ma-schine. Ich nicht.

    Kontakt zu anderen Flötenbauern hatte ichnicht, nahm aber spät Blockflötenunterricht beiRenée Häfelfinger, einem Pfarrer aus der Ost-schweiz, von dem es hieß, er spiele wie ein gefal-

    Ernst Meyer

  • 338 TIBIA 1/2005

    lener Engel. Er gab mir genug Raum, um michzu entfalten. Zu den Versuchen an meinen eige-nen Blockflöten kamen Reparaturen an allenmöglichen Flöten, um die ich gebeten wurde.Wenn mir etwas auffiel, schrieb ich dann schonmal einen Brief an eine der großen Fabriken. Un-gefähr 1987 kam der Kontakt zu HermannMoeck aus Celle zustande. In den 80er Jahrenfand ich Moeck die innovativste unter denBlockflötenfabriken. Wo auch wissenschaftlichan die Fragen herangegangen wurde. Auch dieTibia fand ich gut, obwohl ich mich über vieleArtikel geärgert habe, aber die kamen ja nichtvon Moeck. Inzwischen mache ich schon so lan-ge mein eigenes Ding, dass ich nicht mehr so in-formiert bin. In meinem Geschäft verkaufte ichviele Steenbergen-Flöten von Moeck, habe aberalle mit einem neuen Block ausgeliefert, den ichselber gemacht hatte. Damals bekam ich keineExtrablöcke aus Celle, sondern musste diese sel-ber machen, was natürlich enorm aufwendigwar. Also schrieb ich Dr. Moeck einen Brief undbeschrieb ihm, was ich tat, und dass es sich fürmich finanziell nicht rechnen konnte, so weiter-zumachen. Als wir uns auf der Musikmesse inFrankfurt trafen, lud er mich ein, nach Celle zukommen und dort eine Zeit mitzuarbeiten.

    Der alte Herr Moeck logierte mich bei seiner Se-kretärin ein, und ich durfte überall rumgehenund Steenbergen voicen. Die ganze Belegschaftin Celle war übrigens stinksauer auf mich unddachte: jetzt kommt dieser komplette Schafs-kopf aus der Schweiz. Moeck hatte nämlich mei-nen Brief kopiert und allen Instrumentenbauernauf den Tisch gelegt. Die Reaktion war dement-sprechend. Die kochten und warteten mit aufge-krempelten Ärmeln auf mich. Aber es hat nur einpaar Stunden gedauert, da saßen Ralf (Ehlert),Joachim (Rohmer) und ich zusammen und dis -kutierten eifrig. Wir waren alle jung und vollerTatendrang, das war eine ganz gute Woche,ziemlich lustig. Länger konnte ich nicht weg,denn ich war inzwischen schon mehrfacher Va-ter. Und kurz darauf habe ich meine ersten eige-nen Flöten – so von Grund auf – gebaut. Da ichHand- und Mundwerker bin, hatte ich bereitsBestellungen, bevor ich die erste Flöte gebaut

    hatte. Meine Kunden schätzten meine Repara-turarbeiten und vertrauten mir.

    Nach 10 Jahren Blockflötenreparaturen standich nun zum ersten Mal vor einer Drehbank undmusste etwas drechseln. Ich spannte meine ersteKantel ein, stellte den Motor an und das StückHolz sprang mir gerade ins Gesicht. Aber meinLeidensdruck war ungeheuer, ich wollte eineFlöte bauen, also schlich ich mich wieder zurDrehbank und gab nicht auf. Ziemlich scheuß -liche Sachen sind da am Anfang rausgekommen,wenn ich heute einen Blick darauf werfen wür-de, wäre ich auf der Stelle blind. Damals hieß es

    „pi mal Schnauze“: ein paar hübsche Wulsteüber den Daumen gepeilt, entsetzlich! Aber ichwusste es nicht besser. Ich wollte eigentlich nurvoicen, darauf habe ich mich konzentriert. Dochdas beste Voicing funktioniert nur bei der rich-tigen Röhre, und die Röhre kann man nicht per-fektionieren, wenn das Voicing nicht stimmt.

    Ich baute also anfangs Ganassiflöten und bekamhübsch viele Aufträge. Als Selfmademan befandich mich damals in Gesellschaft von vielenBlockflötenbauern, die ihr Handwerk auch

    Porträt

  • TIBIA 1/2005 339

    nicht gelernt hatten. Und ich las immer wiederdie Artikel von Morgan und Marvin. Selber ver-messen habe ich auch, aber nicht so interessanteSachen. Meistens hatte ich meine Informationenaus zweiter Hand und habe es einfach probiert.Immer wieder habe ich neue Techniken ausgelo-tet und bin nur solange bei einer alten Technikgeblieben, bis ich etwas Besseres für mich fand.Es ist nicht meine Art, mich auf dem, was geht,auszuruhen. Was ich früher mit Zahnarztboh-rern gemacht habe, mache ich heute mit demMesser. Das war damals undenkbar für mich,dass man ein Doppelloch von außen rundherummit einem Messer unterschneiden6 kann, aberdas wird mit dem Messer viel glatter als mit die-sen ollen Bohrern. Mittlerweile benutze ich alleTechniken nebeneinander, glaube aber nichtmehr an das perfekte Werkzeug. Den Computerbenutze ich dagegen gerne, um Bohrungen um-zurechnen, das muss ich nicht mit Papier undBleistift machen. Da reiße ich mich nicht drum.Werkzeuge sind nicht heilig, man muss sie be-nutzen können. Bei meinen Flöten ist das genau-so. Sollen Japaner und andere ruhig die Maßenehmen, sie wissen ja gar nicht, was sie messen,denn meine Flöten sind ja für den nassen Zu-stand optimiert. Da nützen einem die trockenenMaße nichts. Verstehen muss man. Fred hatte ir-gendwo seinen Schaber erwähnt, mit dem er denKonus rausraffelte und einen Hohlbeitel für dieFeinbearbeitung: Dieser Hohlbeitel hatte keinspitzes Ende, keine Schneidekante, sondern einschabendes Ende. Ich fand das sehr interessantund schnitt einem Hohlbeitel die Schneide ab.Beim Schaben bist du sehr dem Holzverlauf un-terworfen. Aber ich wusste noch nicht wie undhabe einige Flöten geschrottet und die Sachewieder verworfen. Erst vor fünf, sechs Jahren, alsich die ganze Sache nochmal aufgerollt habe, binich wieder auf die Schaber gekommen. Im Fern-sehen hatte ich gerade einen Film über einen australischen Ureinwohner gesehen, der ganzstumpfsinnig auf einem Stück Holz herum-klopft: Bumm, Bumm, minutenlange Totale aufdiese öde Handlung. Und ich regte mich fürch-terlich auf. So ein Scheiß wird gefilmt! Aber alses darum ging, meine Schaber zu machen, saß ichnächtelang mit dem Handschleifstein auf dem

    Stuhl, und da kam mir der Film aus Australienplötzlich gar nicht mehr so dumm vor.

    Ich musste mich also meist selber an den Haarenaus dem Sumpf ziehen und tue dies mittlerweileseit 30 Jahren, krebse auf diesem kleinen StückHolz herum und versuche zu verstehen. DieBohrung habe ich lange unangetastet gelassen,dann experimentiert, aber inzwischen mache ichdie Bohrung für meine Lieblingsflöte, dasDenner -Modell, wieder genauso wie das Ko-penhagener Original ist. Wenn ich ein sehr wei-tes Voicing mache, verzichte ich auf die Gegen-räumung7 im Fuß, das ist dann aber wirklichschon alles. Das ist ja nur um den Grundton zukorrigieren, das muss man nicht kopieren.

    Am Anfang hatte ich Schwierigkeiten, gleichzei-tig Renaissance- und Barockflöten zu bauen,weil das Voicing so gegensätzlich ist. Mittler-weile weiß ich genau, was ich mache, und habekeine Probleme mehr. Meine Ganassiflöten ausden 80er Jahren würde ich heute ganz andersmachen. Viel zu kleine Fase, unten ein hupenderSound, oben dagegen schrill und piepsig. Heutesehe ich das anders. Meine Entwicklung bei denBarockflöten hat auch zu einem Umdenken be-züglich der Renaissanceflöten geführt. Ich binauch nicht der Meinung, dass die Renaissance-flöte ein besseres Instrument ist als die Barock-flöte, die einige Flötenbauer als degeneriert be-zeichnen. Das kann ich so nicht stehenlassen.Diese Dennerbohrung ist so ein Wunderwerk.So eine Bohrung zu kreieren, das braucht schoneiniges, da habe ich Achtung davor, so könnteich das nicht. Darum habe ich lange die Bohrun-gen unangetastet gelassen. Und ich dachte im-mer: beim Voicing gibt es noch so viel zu tun.Am Ende liegen zwischen einem Stück Holz,das aussieht wie eine Flöte, und einem spielbarenInstrument nur wenige Holzstäubchen. Hun-dertstelmillimeter entscheiden über richtig oderfalsch. Wenn ich mit Wissenschaftlern und Inge-nieuren diskutiere, lächeln die über mich, wennich erzähle, dass ich im Bereich von Hundert-stelmillimetern rumkratze, bei einem Material,das ganze Zehntelmillimeter anschwillt und un-berechenbar ist, wenn es nass wird. Wenn die

    Ernst Meyer

  • 340 TIBIA 1/2005

    Flöten randständig8 sind vom Voicen, kann mansich auf ihnen nichts erlauben, darf nicht blasenoder nicht artikulieren. Dagegen können dieFlöten unendlich gutmütig sein, wenn das Voi-cing mittig9 ist. Dann kann man auch den zweit -untersten Ton mit einem ganz kleinen Loch sospielen, dass er satt klingt.

    Brüggen haben wir viel zu verdanken. Schon allein darum, weil Fred Zeichnungen der Brüg-genkollektion gemacht hat und sich diese beidenzum rechten Zeitpunkt getroffen haben. Fredhat ja in Amsterdam gewohnt, auch Unterrichtgenommen und viel verstanden. Ich finde, dassman als Blockflötenbauer selber spielen muss,um wirklich gute Instrumente zu bauen. Sonsthat man keine Chance, entweder hat man nurGlück oder muss ständig jemand fragen. Fürmich ist es immer wichtig, mir genug Zeit zunehmen zum Spielen. Nimm einen Auftakt imdritten Register. Ihn so zu spielen, ihn zu malenwie einen Tropfen, das verlangt der Flöte einigesab. Die Flöte kann gut klingen und abgehen,aber Musik kann man damit nicht machen, weilsie dann den Dienst versagt.

    Von Fred habe ich auch gelernt, Harthölzer wieGrenadill zugunsten von Ahorn- und Buchs-baumholz aufzugeben. Und seinen Rat, dass manBuchsbaum auch nass bearbeiten kann, fand ichsehr wichtig. Man kann nach wie vor sehr gutesHolz kaufen. Ich benutze Pyrenäenbuchsbaum.Ahorn nehme ich inzwischen aus Kanada, der istknackiger, früher kam er hier aus den Bergen,aber der ist oft langfaseriger und eher für Geigenals für Flöten geeignet. Grenadill und die ande-ren Hölzer will ich nicht mehr verwenden. Esgibt einen Zusammenhang zwischen Klangfarbeund Eigenresonanz vom Material, zwischen demspezifischen Gewicht, dem Holzverlauf und sei-ner Struktur auf der einen Seite und dem An-blasmechanismus auf der anderen Seite. Darun-ter verstehe ich, dass die Anblastechnik dasgesamte Holzmaterial in Schwingung versetzensoll, ich rede nicht von der Luftsäule. Bei einerSopranflöte aus einem schweren Holz ist der Un-terschied zu Buchsbaum noch nicht so groß, aberbei einer Voiceflute ist das Instrument um viel-

    leicht das Fünffache schwerer, und der Anblas-mechanismus kann gar nicht so viel stärker sein.Darum baue ich gerade Voiceflutes aus Ahorn,weil das total abgehen kann. Und man spart sichdas Gewicht. Der subjektive Eindruck beimSpielen auf Hartholz ist, dass du viel mehr gebenmusst, um das Gleiche zu erreichen. Für ein So-loinstrument kontra modernes Orchester könn-te ich mir das noch vorstellen, trotzdem glaubeich, dass Buchsbaum doch besser wäre. Ahorn istim Vergleich zu Buchs natürlich wahnsinnig ru-hig, die Labien biegen sich nie so durch wie beiBuchs, aber man kann es nicht nass verarbeiten.Ich versiegele ja meine Flöten innen und außenmit Lack und benötige auch deshalb kein Grena-dill mehr. Wichtig ist, dass man seine Instrumen-te nicht in Öl ersäuft, auch das habe ich von Fredgelernt.

    Zweikomponentenlack voller Lösungsmittelverwende ich nicht mehr. Mein Öl ist eine Mi-schung aus einer Leinölbasis mit Harzen undTungöl10, was es wasserfest macht. Man kanndie Oberfläche polieren, wie man will. In meinerWerkstatt wird das folgendermaßen gemacht: Je-de Röhre wird zunächst gewässert und poliert,dann mit einer möglichst dünnen Mischung mei-nes Spezialöls grundiert, damit es tief reingeht.Danach werden weitere Schichten immer sehrdünn aufgetragen. Dadurch verdichtet sich so-zusagen die Oberfläche. Ich nenne das den Bam-buseffekt, und der macht ziemlich viel Arbeit.Aber es lohnt sich, denn das Instrument klingtgut, wird haltbarer und schaut am sauberstenaus. Das verhindert Risse. Seit ich keine Salpe-tersäure11 mehr gebrauche, ist mir nie mehr einInstrument gerissen.

    Ausblick: Ich würde gerne für kleines Geld eineSchülerflöte machen können. Aber je länger ichmich damit befasse, umso mehr rücke ich wiederdavon ab. Solange nicht mehr Spieler da sind, dieeinen Klang machen können, der mir gefällt,möchte ich mir das nicht aufhalsen. Als ich in Pa-ris war, habe ich am Conservatoire an einem Tag60 Flöten gevoict. Am Schluss hat das Voicingnur noch drei oder vier Minuten gedauert, undso könnte man das mit Fabrikflöten auch ma-

    Porträt

  • TIBIA 1/2005 341

    chen, aber die müssten dann ja auch wiedernachgeschaut und nachgearbeitet werden, unddas wäre dann zuviel für mich. Dafür ist mirdann doch meine Zeit zu schade. Ich würde al-len Spielern gute Flöten gönnen, sehe mich aberaußerstande, dazu beizutragen. Sehr schade.

    Was mich weiterbringt, ist der Kontakt zu denSpielern, und ich verstehe ihre Existenzängstenur zu gut. Bei mir läuft es zur Zeit optimal, unddie meisten Musiker haben es aktuell ziemlichschwer. Wenn ich kann, helfe ich gerne. Spaßmachen mir die guten Reaktionen von arrivier-ten Spielern, ich renne bei ihnen offene Türen einund kann noch dazulernen. Letzte Woche warMichael Schneider da und hat sich überschlagenvor Freude. Er hat so schöne Klänge gemacht,ganz rund und farbig, konnte sofort auf meinenRöhren spielen. Auch Isabel Lehmann hat in-zwischen Flöten von mir und ist nach einer Ein-gewöhnungsphase jetzt echt glücklich. Ich geheja nie auf Ausstellungen und nur selten an Hoch-schulen, habe aber immer genug Aufträge. DieLeute kommen zu mir.

    Ich baue für echte Bläser, die denselben Spaß amAusloten haben und kommen und mit mir spie-len. Was, wenn jetzt viele kommen? Mich wür-de das freuen. Das finde ich wichtig. Spielen,Klang, Ansatz. Für jeden Spieler das Maximumrausholen, das ist mein Wunsch. Wenn es keineBläser mehr gibt, wird die Blockflöte wieder inder Versenkung verschwinden. Es gibt genuggute moderne Musiker, die sich inzwischen mitmodernen Instrumenten so sehr der alten Musikgenähert haben, dass es da keine historischenDogmen mehr braucht.

    Diese Hoffnung, noch ein Original zu finden,das noch perfekter ist; die Naivität, an perfektesWerkzeug zu glauben: ist doch alles Blödsinn.Klingt die Flöte oder klingt sie nicht? Spürenmuss man es. Holz ist nicht gleich Holz. Messennützt da nichts. Fred hat von Anfang an sehr in-dividuelle Flöten gebaut, Flöten, die man be-herrschen musste, die man kennenlernen musste.Ich glaube, ich bin auch an diesem Punkt der In-dividualisierung angelangt. Auch wenn ich nach

    außen hin ganz überzeugt wirke, bin ich dochimmer dran, an mir zu zweifeln und stehe imständigen inneren Dialog mit mir selber. Ich binvielleicht autistisch in dieser Hinsicht. Mein Le-ben war sehr turbulent, und manchmal ging esmir nicht gut. Ich bin radikal, halbe Sachen sindmein Ding nicht. Jeden Tag warte ich auf die Inspiration, gefiederte Freunde …, schau nichtso, ich mache Spaß! Blockflöte als Koan12 … Eigentlich ist es erst jetzt mein Beruf und meineBerufung geworden. Nun kann ich mich ganzüber die Blockflöte definieren.––––––––––––––ANMERKUNGEN1 Labiumkante, auch Labiumschneide genannt. Schnitt -kante, die das im Windkanal erzeugte Luftblatt trenntund damit den Ton erzeugt2 Windkanalhöhe (auch Stufe genannt): Versatz zwi-schen der oberen Bahn des Windkanalausgangs und derUnterkante des Labium3 Fase: Abschrägungen an Windkanal- und Blockende,um den Luftstrom zu lenken4 Konus: Zur besseren Kompression des Luftstromsläuft der Windkanal an seinen seitlichen Flanken ko-nisch zu. Der Windkanaleingang ist somit breiter als derWindkanalausgang5 Voicing: Die Feinabstimmung des Grundklangs derBlockflöte durch Arbeiten an Windkanal, Block undLabium6 Unterschneiden: Konische Erweiterung der Tonlöcherin Richtung Innenbohrung7 Gegenräumung: Vom Fußende aus. Die Bohrung wirdkonisch erweitert mittels einer Reibahle, wird also nachunten hin wieder weiter8 Randständig: hier im Sinne von grenzwertig, ausge-reizt. Ein stark an seine Grenzen intoniertes Instrument9 Mittig: Das Gegenteil von randständig, also weniger„wagemutig“ intoniert10 Tungöl: wird aus der nussartigen Frucht der kleinen,in Asien und Südamerika vorkommenden BaumfamilieEuphorbiaceae gewonnen. Es wird vorwiegend zumAbdichten von Schiffen und zum Imprägnieren vonHolz verwendet. In Verbindung mit Leinöl beschleu-nigt es die Trocknung und verringert die Wasserquell -fähigkeit.11 Salpetersäure: wurde und wird zum Färben des Hol-zes verwendet. Im Gegensatz zur aus Farbpigmentenbestehenden Beize wird das Holz unter zusätzlicherEinwirkung von Hitze quasi verbrannt und somitdunk ler12 Koan (jap.): Meditationsaufgabe, oft eine paradoxeFragestellung, die nicht mit dem Intellekt gelöst werdenkann, sondern darauf verweist, dass echte Zen-Erfah-rung außerhalb des Intellekts liegt. Beispiel: Wie klingtdas Klatschen einer Hand?

    Ernst Meyer

  • Stockstädter Musiktage 2005Alte Musik in der Altrheinhalle – vom 6. bis 8. Mai 2005

    Freitag, 6. Mai 200512.00 – 14.00 Uhr: Blockflötenkurs mit Han Tol

    16.00 Uhr: Musik aus dem Frankreich des 18. Jh.Alexis Kossenko (Traversflöte), Rebeka Rusó (Viola da Gamba), Aline Zylberajch (Cembalo)Werke von Blavet, Couperin, Leclair, Marais,Naudot

    19.00 Uhr: La PastorellaFrédéric de Roos (Blockflöte), Dirk Vandaele undMarianne Herssens (Violine), Bernard Wolteche(Violoncello), Ewald Demeyere (Cembalo),Philippe Malfeyt (Laute)Werke von Baston, Keller, Babell, Parcham, Croft,Woodcock, Sammartini, Anonymi

    Samstag, 7. Mai 200511.00 Uhr: Il DolcimeloHan Tol und Katja Beisch (Blockflöte), DorisRunge (Violoncello), Thomas Boysen (Theorbe),Christoph Anselm Noll (Cembalo), RobertSagasser (Violone)Werke von Corelli

    16.00 Uhr: Ensemble 1700Dorothee Oberlinger (Blockflöte), ChristophMayer und Maren Ries (Violine), Johannes Platz(Viola), André Henrich (Theorbe, Laute), Alexan-der Puliaev (Cembalo), Olaf Reimers (Violoncel-lo), Jörg Meder (Violone)Werke von Telemann, Vivaldi und anderen

    19.30 Uhr: Deutsche Klassik und RomantikMonika Frimmer (Sopran), Philippe Castejon(hist. Klarinette), Aline Zylberajch (Hammer-flügel)Werke von Mozart, Beethoven, Spohr, Schubert

    Sonntag, 8. Mai 200511.00 Uhr: Ensemble L’OrnamentoJuliane Heutjer (Blockflöte), Katharina Heutjer

    (Violine, Blockflöte), Jonathan Pešek (Violoncel-lo), Sebastian Wienand (Cembalo)Werke deutscher, italienischer und englischerKomponisten des 17. und 18. Jh.

    15.00 Uhr: „Accademia degli Arkadi“, Amster-dam Loeki Stardust QuartetDaniel Brüggen, Bertho Driever, Daniel Ko -schitzki und Karel van Steenhoven (Blockflöte)Werke von A. Scarlatti, Corelli, Pasquini und an-deren

    Von Freitag bis Sonntag ist tagsüber eine großeVerkaufsausstellung mit Instrumenten (Block-flöten, Traversflöten, Oboen, Renaissanceblasin-strumenten, Gamben, Cembali, Zupfinstru-menten) und Musikalien (Noten, Musikbüchern,Tonträgern und Zubehör) aus aller Welt für alleInteressierten geöffnet.

    Eintrittspreis pro Konzert und Teilnahmegebührfür den Blockflötenkurs: 10,00 EURO

    Information und Kartenbestellung:Eva und Wilhelm BeckerBerliner Straße 65D-64589 Stockstadt am RheinTel. +49 (0)61 58 / 8 48 18 (von 11–19 Uhr)Fax +49 (0)61 58 / 8 48 18

    342 TIBIA 1/2005

  • Als ich 1980 mit der Lehre zum Blockflötenbau-er begann, begegnete mir der Name Fred Morganzum erstenmal, als ich die Blockflötenbaupläneder „Brüggencollection“ in die Hände bekam, inder eben besagter „Morgan“ in akkuratester Ma-nier eine Dokumentation der Originalblockflö-ten gefertigt hatte, auf denen Frans Brüggen sei-nerzeit spielte und Aufnahmen machte.

    Fred Morgan – das war damals „der in Austra-lien“, den man also kaum je zu Gesicht bekom-men würde, da er keinerlei Veranlassung hatte,Europa zu besuchen. Wer ein Instrument habenwollte, musste schon hinreisen zu ihm, nach ent-sprechender Wartezeit, so wurde gesagt, aber daalle Blockflötisten von Rang und Namen von ihmgefertigte Kopien hatten, und diese Instrumenteziemlich gut sein sollten, hatte ich, wie alle meinegrünschnabeligen Kollegen, großen Res pekt.

    Es war allerdings eine recht kurze Zeit, eben dieder „Brüggencollection“, in der der Name Mor-gan unter uns Kollegen regelmäßig fiel, denn danngeriet er ein wenig in Vergessenheit, zumindestbei mir. Meine Arbeit als Flötenbauer, vielmehrmeine Ausbildung war zu konkret und forderndmit ihren stetig wachsenden Anforderungen undschließlich bekam ich niemals auch nur die Spureines seiner von ihm gebauten Instrumente in dieHände. Ende 1986, als ich meine eigene Werkstattals Blockflötenbauer eröffnete, gab es wieder An-lass, mich mit der Dokumentation des Australiersauseinanderzusetzen, denn es galt nun, eigeneKopien zu bauen, um mich am Markt zu versu-chen, und in den Plänen von Morgan würde ichalle notwendigen Daten finden, um absehbareund brauchbare Ergebnisse zu erzielen, soviel warsicher. In der Tat hat mich kein einziger Plan vonihm jemals im Stich gelassen, d. h. nach eigenerErfahrung und der aller meiner Kollegen, wurdenie irgendein Irrtum entdeckt. Grundsätzlichdeckten sich unsere, wenn saubere, Nachbautenmit seinen Vorgaben.

    Je länger ich erfolgreich im Geschäft war, umsoneugieriger wurde ich in Bezug auf MorgansKopien selbst, von denen ich nach wie vor keineeinzige zu Gesicht bekommen hatte. Aber umsoöfter hörte ich wieder seinen Namen, von Flö-tisten und Kunden, allerdings: keiner kannte ihnpersönlich, obwohl von seinen Instrumentennur Wunderbares erzählt wurde. Je tiefer ich imLaufe der Zeit die Möglichkeiten vor allem derBressan-Alto auslotete, also vorwärts ging aufder Suche nach dem idealen Instrument, das sichnatürlich auch mit dem besten und vollständig-sten Plan von Morgan nicht im Handumdrehenbauen lässt, umso mehr wuchs mein Respekt vorden Wunderinstrumenten, die Morgan bauensollte. Allein vom Hörensagen schien mir, dassin ihnen die Krönung des Blockflötenbaues er-reicht sein sollte.

    Und dann stand tatsächlich der erste Spieler miteiner Morgan-Kopie nach Bressan in meinerWerkstatt, und ich bekam sie zu hören. Ich wag-te nicht, mir anmerken zu lassen, dass ich ent-täuscht war. Das, was ich da hörte, entsprach

    Joachim Rohmer„Fred, Fred und nochmal Fred“

    Joachim Rohmer, freischaffender Blockflöten-bauer mit eigener Werkstatt

    TIBIA 1/2005 343

  • nicht im entferntesten diesem Idealbild, das ichmir von einer Altblockflöte nach Bressan ge-macht hatte. Als ich die Flöte dann selbst spielendurfte, bemerkte ich allerdings, dass sie tadellosleicht losging, trotzdem blieb ich von der Klang -ausbeute enttäuscht. Alle fachkundigen Blickeins Innere der Flöte und durch den Windkanaleröffneten mir keinerlei neue Erkenntnisse. Daschien mir – simpelste aller Allerweltsweisheiten– auch nur mit Wasser gekocht zu sein. Ich musszugeben, dass mir wirklich der Mut fehlte, meinUnverständnis zuzugeben, und so fragte ich alsAusweg aus meinem Dilemma, denn besagter an-wesender Blockflötist war eine anerkannte Per-sönlichkeit, was er denn an diesem Instrumentbesonders schätze, wobei ich die Betonung auf„besonders“ legte, und ich bekam folgende Ant-wort: „Mit diesem Instrument kann ich alles ma-chen, was ich will. Stundenlang.“ Mein zaghafterEinwand nach der in meinen Augen etwas feh-lenden Persönlichkeit des Instrumentes warrasch im Keim erstickt. Klang und Klangfarbe,das wolle er schon selber machen, und wenn dasInstrument einen eigenen Charakter vorgebe, sokönne er es nicht mehr beliebig formen. Nundenn …, ich blieb schließlich etwas verlassen inmeiner Werkstatt zurück, da ich prinzipiell eineandere Einstellung habe, was eine gemeinschaft-liche Arbeit angeht, also Teamwork, und das be-zieht sich sowohl auf Teamwork unter Arbeits-kollegen und Mitarbeitern als auch auf dieTeamarbeit eines Musikers mit seinem Instru-ment, wobei ich eben glaube, dass es dem Kunst-genuss nur zuträglich ist, wenn beide bei diesemTeam Charakter haben, wenn es ein Miteinanderwird und nicht ein Egotrip bleibt.

    Die Zeit ging ins Land, flötenbauend bei mir, dasSpiel praktizierend bei meinen Kunden undFreunden, die Wundergeschichten über Mor-gans Flöten blieben immer dieselben. Warumkonnte ich mich dem allgemeinen Trend der Lo-beshymnen nicht anschließen? Weil ich ein Kol-lege Morgans war? Und zumal ein eifersüchtiger,ein Nobody, der dem großen Morgan den Erfolgmissgönnte? Mag man mir solches nachreden,mit Tatsachen hat es nichts zu tun. Die sehe ichso: Flötisten und Flötenbauer müssen einem

    Phänomen wie Fred Morgan unterschiedlich ge-genüberstehen, da Flötisten mit einem völlig an-deren Fokus der Blockflöte gegenüberstehen, alsder Instrumentenbauer selbst. Flötisten dürfenund müssen sich damit begnügen, von ihren In-strumenten schwärmen zu dürfen, selbstver-ständlich auch mit dem Anspruch auf ihrenTraum, einmal irgendwo den Kauf ihres Lebenszu tätigen und ihr ultimatives Instrument zu finden. Und es ist nur zu verständlich, dass einFlötist, der in der Regel vom Flötenbau wenigversteht, sich, eventuell sogar abhängig vom do-zierenden Professor (und diese Spezies huldigtzuweilen ehernen Grundsätzen), leicht einer all-gemein vertretenen Meinung, einem scheinbarunumstößlichen Dogma anschließt. So entstehtder Nährboden für Mythen und Märchen.

    Der Flötenbauer erfreut sich hinsichtlich einereigenen Meinungsbildung absoluter Freiheit, so-fern nicht auch er von den Meinungen und Per-sönlichkeiten irgendwelcher meinungsbildenderProfessoren abhängt und sich, um des guten Rü-ckenwindes willen, dem allgemeinen und damitungefährlichen Trend anschließt. Soll heißen: einFlötenbauer, der jahrelang nach den Geheimnis-sen des ultimativen Instrumentes sucht, der mitder Bauweise der Instrumente bestens vertrautist, der muss einen kühleren, distanzierterenBlick haben, ihm geht es nicht darum, ein In-strument zu besitzen, mit dem er arbeiten kann,sondern hier steht das reine Wissenwollen, dasVerstehenwollen im Vordergrund, ohne Mysti-fizierung, ohne Glauben, ohne projizierte Wün-sche, ohne jedwede Rücksicht auf die Meinungvon Dritten. Und wie glücklich ist er, wenn –egal woher!!! – wirklich neue Erkenntnisse inseiner Sache auftauchen und sich lang gesuchteGeheimnisse endlich offenbaren. Nur wer selberBlockflöten baut, weiß, wie lang und mühsamder Weg ist, zu wirklich brauchbarem, nachvoll-ziehbarem Wissen zu kommen. Und so darf dergeneigte Leser mir glauben, dass ich nicht unei-gennützig diese Morgan-Flöten inspiziert habe,in der tiefen Hoffnung, etwas zu finden, das ichimmer schon gesucht habe: den ultimativenKlang, Fülle, Kraft, Seele – und die Balance in allen Registern. Der Anspruch des Blockflöten-

    344 TIBIA 1/2005

    Joachim Rohmer

  • bauers an das ultimative Instrument ist in-sofern brennender, als er tagtäglich mitder Suche danach konfrontiert ist, vomErfolg des Findens hängt sein Selbstver-ständnis ab. Findet er nicht, geht er ent-weder faule Kompromisse ein oder steigtaus!! Das Sein des Blockflötenbauershängt sozusagen vom Finden des ultima-tiven Instrumentes ab. Baut er ein Lebenlang nur Halbwahrheiten, dann ist er ge-scheitert. Punkt! Der Flötist, im Gegen-satz zum Bauer, kann und darf auch mitmäßigen Instrumenten brillieren! UndProfis zeigen, dass dies möglich ist. Siekriegen fast aus jedem Rohr Musik raus.Natürlich macht ihnen ein sehr gutes odergar optimales Instrument mehr Spaß, gibtihnen mehr Möglichkeiten, aber imGrunde ist es so, dass ihr Erfolg überwie-gend von ihrem Können abhängt, unddass das Instrument zweitrangig ist. So-weit zur unterschiedlichen Betrachtungs-weise von Flötist und Flötenbauer.

    Man darf mir also glauben, dass ich trotzeiner gewissen Enttäuschung über die er-lebten Morganflöten nicht von Morgan selbstenttäuscht war. Nur meine Hoffnung, irgendeineVision vermittelt zu bekommen, die Idee einesneuen, noch nie vorher gegangenen Weges, diewurde enttäuscht. Also mein Anspruch, die Hö-he der Messlatte, war zu diesem Zeitpunkt einfachzu hoch angesetzt. Dennoch behielt ich die Hoff-nung bei und wartete darauf, doch noch auf einInstrument von Fred Morgan zu stoßen, das beimir Maßstäbe setzen würde. Schon allein deshalb,weil mir, wie jedem reellen Blockflötenbauer,mehr als klar war, dass die Instrumente, die wirbauen, immer irgendwo eine Schwäche offenba-ren, die verbesserungswürdig wäre. Und dannstarb Fred Morgan.

    Nicht lange danach hörte ich auf einer Ausstel-lung bei einem Gespräch unter Blockflötistenfolgendes Zitat: „Ausgerechnet der Morgan,ausgerechnet der musste gehen!“ – und mirdrängte sich der unangenehme Gedanke auf,dass in unserer Gesellschaft, und sogar in unse-

    rer heilen Blockflötenwelt, seltsame Kriteriengelten bei der Frage, wann ein Leben als erfülltanzusehen ist, und dass es darum gut ist, dassnicht das Publikum darüber abzustimmen hat,wer wie lange im Rennen bleiben darf. Aller-dings bestätigt diese Episode den kritiklosenUmgang mit Urteilen und Vorurteilen unter unsMenschen; und denjenigen unter uns, die tat-sächlich meinungsbildend sind in unserer Ge-sellschaft, sollte dies zu denken geben.

    Seit Morgans Tod jedenfalls fegt ein regelrechterSturm durch die Szene. Fred ist in aller Mundeund scheint es zu bleiben. Was kaum möglichschien, ist eingetreten, nämlich sein Nimbus hatsich gemausert zum Heiligenschein. Seine In-strumente werden gehandelt wie Reliquien, hörtman ein Konzert auf einer Morganflöte, so ist dasfachkundige Publikum hingerissen vom Klangseiner Instrumente. Da „das Publikum“ (zumTeil) nach wie vor „Morgan-Flöten“ zu kaufenund zu besitzen wünscht, werden in seiner Werk-

    Der Blockflötenbauer Fred Morgan in seiner Werkstatt

    TIBIA 1/2005 345

    „Fred, Fred und nochmal Fred“

  • statt nachproduzierte Bodies zu enormen Preisenan Flötenbauer verkauft, die dann zu ihren Prei-sen wiederum diese Bodies zu fertigen Flöten„veredeln“ – der zahlende Kunde hat dann end-lich zum 2-3fachen Preis seine „Morgan“. Ichstaune zunehmend, wer alles Fred Morgans Na-men fortwährend im Munde führt, da wird ver-traulichst von „Fred“ geredet und Geschichtenkolportiert, obwohl man ihm selbst nie begegnetist. Nicht nur in Flötistenkreisen ist das Fred-Fieber ausgebrochen, auch die flötenbauendeZunft scheut sich nicht, sich vom Morgan-Winddie Geschäftssegel blähen zu lassen. Amerikanernennen dieses Geschäftsgebaren „name-drop-ping“ – jeder kannte ihn, war bei ihm, hat bei ihmdies und das gelernt und abgeschaut.

    Um Fred Morgan dennoch gerecht zu werden:inzwischen bin ich doch noch in aller Stille aufeine ultimative Morganflöte in Holland gesto-ßen und hatte Gelegenheit, dieses Instrument inAugenschein zu nehmen, eine Kopie nach Den-ner. Dieses Instrument zeichnet sich aus durcheinen vollen, für Denner ungewöhnlich breitenKlang und dabei eine tadellos leichte Ansprachein allen Registern. Vor allem im oberen Bereichbesticht dieses Instrument durch entwicklungs-fähige Töne, ohne dass irgendein Rauschen oderZischen den Klang trüben würde, und nach denWorten der Flötistin ist diese Flöte auch genü-gend belastbar. Alles unter einem Hut, was derFlötist begehrt. Auffallend war, dass ich trotz ge-übter Flötenbaueraugen keinen bestimmtenGrund ausmachen konnte für die herausra -gende Qualität dieses Instrumentes. Alle Maße lagen in den bewährten Toleranzbereichen.Maulweite, Fenstermaße, Aufschnitt, Step,Blockweite und die Bahnform. Flöten sind ebenund bleiben, im glücklichsten Falle, mehr als dieSumme ihrer einzelnen Teile. Aber, um alle an-deren Blockflötenbauer unserer Zeit nicht zuvergessen: so gut mir jene Morganflöte wirklichgefallen hat, ich habe auch von allen anderenKollegen lernen können in all den Jahren, immerwieder bin ich, mal bei diesem, mal bei jenem aufErgebnisse gestoßen, die mich beeindruckt, an-geregt und vorwärtsgebracht haben. Und ich binsicher, dass, wer wirklich mit ultimativer Passion

    Blockflöten baut, nicht Fred Morgan heißenmuss, um traumhafte Instrumente zu machen.

    So legte denn die Besitzerin jener wunderschö-nen Morganflöte mir noch zwei weitere Instru-mente von ihm vor mit den Worten: „Diese an-deren Flöten sind neueren Datums und ihnenfehlt das Entscheidende“, sie spiele eigentlichnur jenes besagte Erstinstrument, wobei ich nundem Mythos „Fred Morgan“ keineswegs ge-schadet haben will, aber beitragen möchte ich zueiner menschlichen Betrachtungsweise, die aucheinem Fred Morgan posthum Menschlichkeitund (Verzeihung!) Fehlbarkeit zugesteht.

    Als Fazit aller Erfahrungen, möchte ich in denRaum stellen, dass Fred Morgans Tod tatsächlicheine Lücke hinterlässt. Von wirklich persönlichenZusammenhängen abgesehen, hinterlässt er alsFlötenbauer offensichtlich ein Vakuum, das ge-füllt werden will. Alle notwendigen Eigenschafteneines Idoles konnte er in seiner Person vereinigen:

    1. Er hat in vorbildlicher Weise Forschungsar-beit betrieben und hat alle seine Nachfolger anseinen Erkenntnissen teilhaben lassen, sei esdurch persönliche Beratung oder durch seine ex-zellenten Pläne – allerdings tut man dem einenoder anderen Unrecht, wenn man Morgan soli-tär in den Raum stellt, insbesondere denke ich daan Friedrich von Huene, von dem gleiches gesagtwerden muss.

    2. Idole haben es an sich, unnahbar zu sein, nur aufdiese Weise können Verehrer alle ihre Ideale,Hoffnungen und Wünsche auf sie und in ihre Pro-dukte projizieren. Das Sprichwort: „Wenn du wasgelten willst, dann mache dich rar“ gilt auch in un-serer Blockflötenfamilie, und in dieser Hinsicht istAustralien der ideale Ort auf dieser Welt, den not-wendigen Abstand zum Publikum zu schaffen.Wer kommt schon nach Australien? (HöchstensSumatra könnte noch exotischer sein.)

    3. Der Zeitpunkt von Morgans Schaffen wardenkbar günstig, seine einzigartige Stellung aufdem Markt zu begründen. Aufbruchstimmung,die Neuentdeckung der Blockflöte durch Brüg-

    346 TIBIA 1/2005

    Joachim Rohmer

  • gen, dessen Stellung ebenfalls unumstritten ge-worden ist, ja werden musste, wenn er seine Mis-sion gewissenhaft erfüllen würde. Ebenso wieFriedrich von Huene hatte Morgan das Privileg,alle bekannten Originalinstrumente eigenhändigvermessen und auch spielen zu können, das istein unschätzbarer Vorteil gegenüber uns Nach-kömmlingen, die sich sozusagen blind in dieseMaterie haben einarbeiten müssen. Und sokonnten diese Pioniere (nicht nur kraft ihrer Er-fahrungen aus erster Hand, sondern auch man-gels kompetenter Konkurrenz) mit akkuraterArbeit und Reproduktion die zahllosen Wün-sche nach spielbaren Blockflöten erfüllen, dennder Markt war hungrig nach Instrumenten. Dieglorreiche Verbindung zu Brüggen hat natürlichdie ganze Kettenreaktion zu dessen Schülernauslösen können und wiederum zu den „Schü-ler-Schülern“, weshalb wirklich die gesamte Eli-te der Blockflötenspieler mit Morgan- und von-Huene–Flöten ausgerüstet ist. Das wiederumsetzte Zeichen für die gesamte Blockflötenwelt,die bis zum heutigen Tage spürbar sind.

    Da ich Fred Morgan nie persönlich kennenge-lernt habe, möchte ich mit einer Spekulation en-den: Alle Zeugnisse seines Tuns, die mir begegnetsind, lassen mich glauben, dass er ein wahrer Flö-tenfreund war, immer bemüht, in größter Sorgfaltdem Geheimnis der alten Meister auf die Schlichezu kommen. Seine Idole dürften Bressan, Denner,Terton, Stanesby etc. etc. gewesen sein. Im Be-mühen um Erkenntnis dürfte ihm im fernen Aus-tralien der Blick auf unser etwas kleinkariertesEuropa verlorengegangen sein, wenn er ihn über-haupt jemals gehabt hat – und ihm war wahr-scheinlich niemals bewusst, was seine Verehrerhier aus ihm gemacht haben. Idole werden ge-macht, von Menschen, die Idole brauchen, so wieSeeleute einmal die Bilder der Sterne gebrauchthaben, um sich in den endlosen Weiten der Welt-meere nicht zu verirren. So leuchten auch unsereHelden – nicht nur „Fred“– am weiten Firma-ment der Blockflötenmusik, und jedem einzelnensei gedankt, dass er mit dabei war oder auch nochist, auf dass die endlose Kette der Liebe zur Mu-sik niemals abreiße, die allein uns Menschenkin-dern Unvergänglichkeit verheißt. o

    TIBIA 1/2005 347

    „Fred, Fred und nochmal Fred“

  • 348 TIBIA 1/2005

    Carin van HeerdenZwei Instrumente – ein Dilemma?

    Aus historischer Sicht ist das Spielen von mehre-ren Instrumenten ja nichts Außergewöhnliches.Im Gegenteil, die Spezialisierung auf ein Instru-ment wäre den Menschen in Renaissance undBarock sehr fremd gewesen. Aber wie ist es heu-te? Die historische Aufführungspraxis hat sichmancher Gepflogenheiten früherer Zeiten of-fensichtlich nicht angenommen. In der heutigenVolksmusik und im Jazz zieht man die Speziali-sierungsgrenzen meines Erachtens nicht sostreng, wohl aber in der E–Musik. Musiker, die(vor allem in der Alten Musik) auf der Bühne dasInstrument wechseln, setzen sich fast automa-tisch dem Verdacht des Laienhaften aus: Warumtun die Spieler sich das denn an? Mangelt es ihnen an Selbstkritik, geben sie sich mit demMittelmäßigen zufrieden? Und ausgerechnetspielen auch noch alle Blockflöte!

    Natürlich kann ich in diesem Zusammenhangnur für mich selbst sprechen. Die Auseinander-setzung mit dem Für und Wider ist für mich einefast tägliche Angelegenheit und, wie ich glaube,ein nötiges Spannungsfeld. Meine eigenen an-fänglichen Erfahrungen mit Block flöte undOboe waren so unter-schiedlich, und geradein der Unterschiedlich-keit liegt für mich nochheute die Bedeutung.

    Das erste Mal hörte ichBlockflöte als fünfjähri-ges Kind an der Handmeiner Mutter. Wir gin-gen in einem kleinenKüstendörfchen in Süd-afrika an einer Kirchevorbei, aus der Block-flötenklänge drangen.Es klang so bezauberndschön (auch wenn es die Bearbeitung einesBoccherini-Menuettes

    für Blockflötentrio war), dass ich nicht nachgab,bis ich dieses Ding auch lernen durfte.

    Die Oboe lernte ich in völlig anderem Zusam-menhang kennen: Ich war einige Jahre älter, wirwohnten in der Stadt und besuchten regelmäßigSymphoniekonzerte. Ich hörte den langsamenSatz des Violinkonzertes von Johannes Brahmsund verliebte mich in die Oboe. Viel später hör-te ich natürlich auch die Barockoboe, und damithatten meine Klangträume endlich auch einenNamen.

    Mir scheint diese Berührung mit beiden Instru-menten heute noch wichtig, vor allem, weil dieKlangkontexte so sehr unterschiedlich waren:Blockflöte Solo oder in der Kammermusik,Oboe im Orchester. Es sind diese Klangwelten,die mich heute noch so sehr ansprechen. Ichkann nicht sagen, ob man mit zwei Instrumen-ten mehr Selbstdisziplin braucht als mit nur einem, ich kannte es nie anders. Nur ist es einständiges Hin und Her zwischen z. B. dem Bau-en von Oboenrohren einerseits und dem Übenschwieriger Figuren in der neuen Musik auf der

    Blockflöte andererseits;dem Konditionstrai-ning auf der Oboe einer -seits und dem immerwiederkehrenden Su-chen nach dem „Run-den“ bei der Blockflöteandererseits.

    Die meisten Blockflö-tisten, die ich zu den Be-weggründen für einzweites Instrument be-fragt habe, gaben mirzur Antwort: „Ichmöchte endlich spielenkönnen!“ Spätestens imStudium merken dochdie meisten Studieren-

    Carin van Heerden wurdein Kapstadt (Südafrika) ge-boren. Studium (Blockflöteund Barockoboe) in Köln(Günther Höller und Hel-mut Hucke) und Amster-dam (Walter van Hauwe).Sie ist Mitbegründerin undSolistin des L’Orfeo Barock-orchesters. Seit 1996 zahlrei-

    che CD-Einspielungen mit dem Orchester bei cpound Konzerte als Solistin (Block flöte und Barock -oboe) mit dem L’Orfeo Barockorchester u. a. SeitApril ist sie Professorin für Blockflöte an der Hoch-schule für Musik in Köln (vorher am Mozarteum inSalzburg). Außerdem unterrichtet sie Barockoboeam Institut für Alte Musik und Historische Auffüh-rungspraxis an der Linzer Anton Bruckner Privatu-niversität.

    Carin van Heerden

  • TIBIA 1/2005 349

    den, dass sie bei weitem nicht so viel werden spie-len können, wie sie sich erhofft hatten. Ich fürch-te aber, dass es dann viel zu spät ist, mit einemzweiten Instrument zu beginnen. Der Frust desUnvermögens ist ja umso größer, wenn man seinerstes Instrument schon sehr gut beherrscht!Manche setzen sich trotzdem durch, wechselnnach dem Blockflötenstudium zu einem Orches-terinstrument, studieren es einige Jahre und tau-chen dann als Orchestermusiker wieder auf. AlsOrchestermusikerin erlebe ich manchmal er-nüchternde Situationen im beruflichen Alltag:die Selbstverständlichkeit, mit der man als Obo-ist im Orchester auftritt, will als Blockflötist imOr chester oft hart erkämpft werden.

    Ich habe das große Glück, in einem festen En-semble (L’Orfeo – Barockorchester) zu arbeiten,vieles selbst gestalten zu können und ein Gefühldes gegenseitigen Respekts und der musikali -schen Geborgenheit zu empfinden. Es kommtaber auch vor, dass Orchester und Orchesterlei-ter eine andere Meinung gegenüber der Block-flöte vertreten, d. h. es wird hier gespart.Schmerzlich ist es nicht nur für den Tenor in derMatthäuspassion, wenn zwei Blockflötisten ausdem Chor treten und „auf Teufel komm raus“ein Rezitativ in f-Moll zum Besten geben.

    Die Blockflöte spielt in Opern, Oratorien oderKantaten häufig ja nur eine kleinere Rolle undwird darum oft als Sonderling angesehen. Wenndazu noch das Vorurteil besteht, dass sie sowie-so immer unsauber spielt und als ein wenig un-seriös anzusehen ist, dann liegt es an dem jewei-ligen Spieler, sich hochprofessionell zu zeigen.Dass Intonation, Klang, dynamische Flexibilitätund Artikulation dabei tadellos sein müssen,steht außer Diskussion. Jetzt ist es aber so, dassin größeren Opern usw. meistens die Oboistenoder auch andere Bläser mit diesen Partien be-traut werden. Das also ist die Gruppe von„Blockflötisten“, die damals im Studium ge-merkt haben, dass sie zu wenig zum Spielen ka-men. Die Erfahrung lehrt, dass diese Bläser sichnach ihrem Blockflötenstudium gar nicht mehrernsthaft mit der Blockflöte auseinandergesetzthaben. Eine fein differenzierte Technik fehlt

    meistens und verstärkt das Bild von der Block-flöte als einem dynamisch unflexiblen und häu-fig ein wenig unsauberen Instrument.

    Schließt sich damit der Kreis der Kritik, der besagt,dass nur Amateure mehrere Instrumente spielen,vorzugsweise auch Blockflöte, und dass dieBlockflöte ein wunderbares Laieninstrument ist?

    Doch was ist mit den Kennern? Müssten es dieOrchesterleiter, die Veranstalter nicht besserwissen? Wir haben doch mittlerweile alle erfah-ren, wie eine Blockflöte klingen kann. In derNeuen Musik hat sie einen völlig anderen Status,da war sie Vorreiterin dank solch exzellenterSpieler wie Brüggen, van Hauwe, Politano, undwie sie alle heißen. Für mich ist es eine ungeheu-re Herausforderung, mit beiden Instrumentenauf einem bestimmten Niveau zu bleiben. Dieverschiedenen Aufgabenbereiche und Stilrich-tungen empfinde ich als große Berei cherung.Manchmal werde ich diesbezüglich von jünge-ren Musikern befragt. Ich glaube, dass man vorallem konsequent, selbstkritisch und realistischbleiben soll. Wenn man sich seriös der Konfron-tation stellt, kann dies sehr erfüllend sein! Esgibt genügend Tiefs, aber die seeli schen Höhen-flüge, die ich mit beiden Instrumenten erlebe,möchte ich um nichts auf der Welt missen!

    Sehe ich mich nun als Blockflötistin oder Obo-istin? Meine Antwort lautet: Darf ich bitte ein-fach Musikerin sein? o

    B 195,- /Stck.

    Z u v e r k a u f e n !Moeck Barock-Traversflöte, Grenadill, 440 Hz, Preis: VS

    Tel.: 05143 / 5119

    Zwei Instrumente – ein Dilemma?

  • 350 TIBIA 1/2005

    Ute DeussenNeue Musik im Blockflötenunterricht. Ein Bericht aus der Praxis

    Ich unterrichte an der Musikschule Calw, die da-für bekannt ist, dass sie zum einen der Blockflö-te als Instrument und zum anderen der NeuenMusik einen hohen Stellenwert einräumt (s. In-formationskasten). Die „Neue Musik“ bezieheich von Anfang an in meinen Unterricht mit ein.

    Sind die Schüler noch sehr klein (ca. 5-6 Jahre)und die motorischen Fähigkeiten noch nichtsehr weit fortgeschritten, trenne ich zu Beginndie bläserische und die fingertechnische Arbeit.So beginnen wir die bläserische Arbeit mit demFlötenkopf: lange Töne, kurze Töne mit Zun-genstoß (Telefonspiel: Frei- und Besetztzeichen;tropfender Wasserhahn etc.). Schwingt man mitder Handfläche am unteren Ende des Flöten-kopfes hin und her, lässt sich prima eine Sirenedarstellen; bewegt man den Zeigefinger einStück weit in die Innenbohrung, wird der Ton,wenn man die richtige Stellung trifft, eine kleineTerz tiefer, und schon können die Kinder denKuckuck spielen. Der Fantasie sind hier keineGrenzen gesetzt. Die Kinder malen oft gerneselbst Bildergeschich-ten, die sie dann „verto-nen“. Parallel dazu ma-che ich Griffübungenauf der zusammenge-setzten Flöte – ohneTon: Fingerklopfen,Löcher streicheln, etc.

    Glücklicherweise gibt esbei uns auf dem Marktimmer mehr Blockflö-tenschulen, die diesephantasievolle Art, Tö-ne und Geräusche zuverwenden, auch überdas Anfangsstadiumhinaus weiterführen. Dagibt es dann immer wie-der Bildgeschichten, die

    akustisch umzusetzen sind. Prima eignet sich z.B. eine Geschichte mit einem Geisterhaus: dalässt sich so ziemlich alles unterbringen, ange-fangen beim Glissando (heulende Gespenster).

    Diese Glissandoübun-gen haben den ange-nehmen Nebeneffekt,dass sich eine manch-mal verkrampfte Fin-gerhaltung schnell lockert, ebenso Triller-übungen mit allen Fin-gern. Auch Dinge wieFlatterzunge, sputato,Doppelgriffe und ande-res lassen sich auf dieseWeise spielerisch ein-führen. Nur mit derDoppelzunge warteich, bis die Schülerspieltechnisch so weitsind, dass sie diese inder Literatur brau-

    Ute Deussen studierteBlock flöte bei Prof. GerhardBraun (Karlsruhe, Diplom1993), Walter van Hauwe(Amsterdam, Konzertexa-men 1996) und Kees Boeke(Trossingen). Zweimal warsie Stipendiatin des Deut-schen Akademischen Aus-tauschdienstes (DAAD),1991/92 in Basel an der Scho-

    la Cantorum (Klasse Conrad Steinmann), 1995/96 inAmsterdam am Sweelinck-Conservatorium (Waltervan Hauwe). 1994 wurde sie mit einem Blockflöten -trio Preisträgerin des internationalen Ensemblewett-bewerbs der ERTA, 1995 war sie Preisträgerin des in-ternationalen Solowettbewerbs in Calw. Ute Deussenist Dozentin an den Musikschulen in Calw und Wil-ferdingen. Viele ihrer Schüler sind Preisträger beiWettbewerben wie z. B. dem Bundeswettbewerb Ju-gend musiziert und SONBU in Utrecht, Holland.

    Zeitgenössische Musik für den allererstenAnfang:Christiane Martini– Das verrückte Schaf Mathilde. Eine musika lischeGeschichte für Sopran- oder Altblockflöte, Moeck, EM 2208

    – Dodo und Nini. Ein Märchen in Musik gesetztfür Sopranblockflöte(n) und Klavier,Mieroprint, EM 4001

    – Familie Schrott. Ein Abenteuer in Musik für So-pranblockflöte und Sprechstimme, Mieroprint,EM 4002

    Almut WernerDas kleine Gespenst Huschwusch. Eine Geschichtefür Blockflöte(n), Zimmermann, ZM 34860 (Regie-heft)

    Ute Deussen