Tränenperle - 9783865917386

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Roman

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Für Merle geht ein Traum in Erfüllung. Denn kurzerhand bietet sich ihr die Möglichkeit, ihrem verhassten Leben zu entkommen: durch ein Praktikum auf einem Bauernhof. In der heilen Welt ihrer Gastfamilie blüht Merle auf. Doch dann schleicht sich ihre alte, zerstörerische Denke wieder ein: Dass sie es nicht wert ist, geliebt zu werden. Dass es besser wäre, wenn sie nicht da wäre... Wie früher versucht sie, diesem Grauen mit Hilfe von Drogen, Alkohol und Ritzen zu entkommen. Merle muss erst ganz unten ankommen, bis sie langsam begreift, dass sie liebenswert ist. Und dass es da jemanden gibt, der sie genau so gewollt hat, wie sie ist ... Ein bewegender Jugendroman: fesselnd, authentisch und voller Hoffnung.

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Es war das Ende des letzten Schultags vor den Weih-nachtsferien. Meine Freundin Anna hatte mich zu mei-

ner Bushaltestelle begleitet und wartete dort mit mir.„Ey, Merle, haste Angst, morgen den ganzen Abend

unterm Baum zu sitzen und zu überlegen, ob deine Au-gen jetzt wirklich im Lichterschein glänzen?“ Sie lachte. Ich brummte.

Wir waren keine kleinen Kinder mehr, wir waren Elft-klässlerinnen und hatten in Deutsch gerade eine „religions-kritische Betrachtung des konsumorientierten Weihnachtsfests“ hinter uns gebracht. Aber im Gegensatz zu Anna versuchte ich, mein Weihnachten weiter zu lieben. Weihnachten war keine Kinderverarschung, kein Kirchenkram, keine Kauf-rausch-Fress-Orgie, Weihnachten war ein Familienfest, egal, mit wie wenig Familie man auskommen musste! Bei mir gab es nur eine Mutter, aber auch, wenn unser Alltag schon lange zwei nebeneinander herlaufenden Einzelver-anstaltungen glich – Weihnachten verbrachten wir immer zusammen!

„Komm schon“, Anna schubste mich aus meinen Über-legungen, „ich muss da auch durch! Mein kleiner Bruder-arsch dreht ab, wenn’s nicht klassisch wird mit Baum und so! Aber nach der ganzen Rührungsscheiße gehen wir ins Sunshine!“ Sie strahlte mich voller Vorfreude an. „Wir sau-fen, bis die Glöckchen klingeln und kotzen auf den Weih-nachtsmann, okay?“

Mein Bus kam, ich zuckte mit den Schultern und wandte mich ab. Es sah nicht gut aus für mein Weihnachten.

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Auf der Heimfahrt hatte ich Zeit, mir Sorgen um das be-vorstehende Fest zu machen. Außer mir fuhr niemand aus meiner Klasse mit dieser Buslinie. Sie führte in ein Stadt-gebiet, in dem kaum Gymnasiasten unterwegs waren, und erst recht keine weiteren Lateinschüler, zu denen ich gehörte.

Meine Mutter und ich lebten in einer großen Stadt im Norden Deutschlands. Wir wohnten in einer winzigen Woh-nung im 15. Stock eines Hochhauses, und neben der Tat-sache, dass es bei mir keinen Vater gab, war das die zweite große Äußerlichkeit, die mich von meinen Klassenkamera-den unterschied. Alle anderen lebten mit Mama und Papa wenigstens in einer Doppelhaushälfte, die meisten aber in großzügigen Einfamilienhäusern. Mir war unsere Wohn-form als Statussymbol weniger wichtig; ich litt eher, weil sie keine Möglichkeit bot, meinen großen Kindheitstraum zu verwirklichen: Tiere zu halten. In unserem Hochhaus waren Haustiere verboten, und alles, was ich meiner Mutter je hatte abtrotzen können, war ein einsames Meerschwein-chen gewesen, das früh in seinem armseligen Käfig starb.

An jenem letzten Schultag vor Weihnachten grübelte ich auf dem Heimweg, ob sich am Ablauf unseres Festes etwas ändern würde. Dank des Deutschunterrichts hatte ich meiner Mutter gegenüber unseren Adventskranz als spießig bezeichnet und zu einem Rundumschlag gegen den „ganzen, scheinheiligen Scheiß“ angesetzt . . . einen Baum hatte sie trotzdem gekauft. Und auch sonst nichts gesagt, was aber nicht unbedingt etwas zu bedeuten hatte. Wir zwei sahen uns im Alltag nicht allzu oft: Sie arbeitete Vollzeit und ging nach Feierabend meist zu ihrem Freund Dieter. Ich war in der Schule, unterwegs oder allein zu Hause. Da konnte es durchaus vorkommen, dass wir uns gegenseitig erst dann über Dinge informierten, wenn sie schon vor der Tür standen. So wusste ich zum ersten Mal in der jahrelangen Abfolge von Weihnachtsfesten nicht, was an diesem Heiligabend auf mich zukommen würde.

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„Wir müssen ja diesen ‚ganzen scheinheiligen Scheiß‘ nicht mitmachen!“ Wir waren in der Wohnung aufein-ander getroffen, und meine Mutter nickte mir verständ-nisvoll zu, bevor sie weiter organisierte: „Lass uns doch Heiligabend nur mit einem kleinen Abendessen und Ge-schenke auspacken begehen! Ich fahr dann zu Dieter und du kannst ins Sun shine!“

Ich lächelte mühsam. Warum merkte sie denn nie, dass das, was ich sagte, nicht das war, was ich meinte? Was für eine kranke Idee, Heiligabend ins Sunshine zu gehen! Das Sunshine war eine der angesagtesten Kneipen. Ich fand sie dreckig und laut und ging sowieso nur noch Anna zuliebe hin, seit ich es dort eines Abends gar nicht mehr ausge-halten hatte: Unser blödes Geschwätz und der viele Alko-hol waren nicht mehr zu ertragen gewesen, und der Wi-derwillen vor dem bitteren Bier und vor mir selbst hatte mich aufs Klo getrieben. Da hatte ich dann betrunken vorm Spiegel gestanden, mein Glas im Waschbecken zer-schlagen, mir mit den Scherben die Unterarme aufgeritzt und anschließend noch über die ganze Sauerei drüberge-kotzt . . . Mir wurde heiß bei dem Gedanken an diese Ge-schichte. Es war unendlich peinlich gewesen. Nicht gleich, nicht an dem Abend durch den dicken Bierpelz hindurch, aber dann, am nächsten Morgen . . .

Ich wurde noch roter und schüttelte meine Pullover ärmel über die Handgelenke, obwohl von meinem Gefetze längst nichts mehr zu sehen war außer feinen, weißen Linien . . .

„Ja, das wäre super!“ Der „Familienteil“ des Heiligabend kam und ging, als

würde um mich herum alles im Zeitraffer ablaufen. Meine Mutter schlang das Takeaway vom Chinesen hinunter, riss ungeduldig das Papier von den Geschenken, bedankte sich hektisch und stand auch schon in Stiefeln und Jacke im Flur.

„Denk unbedingt dran, die Kerzen zu löschen, bevor du weggehst!“, ermahnte sie mich, dann machte sie plötzlich

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große Augen: „Die Kerzen! Die haben wir ja nicht mal an-gemacht!“ Sie kicherte los; ich nicht.

„Also“, riss sie sich schließlich zusammen, „wenn du die Kerzen angezündet hast“, sie unterdrückte ein weiteres Kichern, „dann denk auf jeden Fall daran, sie auch wieder auszumachen!“ Sie drängte zur Tür: „Viel Spaß im Sun-shine!“

Und rums, war sie weg. Ich hörte den Fahrstuhl, dann wurde es still.

Herumliegende Geschenke unter dem dunklen Baum, Essensreste auf dem Tisch. Ich räumte auf, dann holte ich ein Päckchen Streichhölzer. Zwölf Lichter brannten, und ich schaute in die Flämmchen, bis alles in der Stille um mich herum zu verschwinden begann. Ich schüttelte mich und schaltete den Fernseher an. Eine Welle Lärm flutete ins Zimmer. Eine Weihnachtsshow, glitzernd und laut. Klick. Eine rührselige Geschichte, noch eine Show, eine weitere Heulgeschichte. Bei der dritten Show schaltete ich ab.

Schweigen.Die Kerzen waren nicht einmal zur Hälfte niederge-

brannt, aber ich ging zum Baum und pustete sie alle aus. Die ersten Rauchschwaden empfand ich noch als Duft, dann wurde es plötzlich schlechte Luft, die mir die Kehle einschnürte. In meinen Ohren begann die Stille zu rau-schen. Irgendetwas stimmte auch mit meinen Augen nicht. Ich schloss sie, aber da begann sich alles zu drehen und ich riss sie wieder auf, um den Schwindel zu bremsen. Mein Herz raste. Panisch kämpfte ich mich zur Balkontür, riss sie auf und stürzte hinaus in die klare, kalte Nacht.

„Tief einatmen . . . ruhig, ruhig!“ Mein Herzschlag norma-lisierte sich langsam, das Schwindelgefühl ebbte ab und das Brausen in den Ohren ließ nach. Ich begann heftig zu zittern in dem schneidenden Wind. Trotzdem wollte ich nicht zurück in die Wohnung, aber auch hier draußen fühlte ich mich nicht sicher. All meine Kinderjahre hin-

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durch war es auf ganz harmlose Art spannend gewesen, im 15. Stockwerk zu leben. Ich hatte Wasserbomben und Gummibälle vom Balkon geworfen und mich faszinieren lassen vom Blick über die halbe Stadt. Dann war ich älter geworden und hatte plötzlich diesen Sog der Tiefe gespürt, der neu war und mich erschreckte.

Wenn ich jetzt dort draußen stand und über die Brüs-tung hinunter auf den Asphalt der Straße blickte, sausten die Linien der Balkonverkleidungen in Fluchtpunktper-spektive 15 Stockwerke weit in die Tiefe, dass mir ganz schwindelig wurde und kalte Angst meinen Magen zu-sammenzog. Würde ein Kopf zerplatzen wie eine Wasser-bombe? Würde der aufschlagende Körper noch einmal zu-rückspringen wie meine Gummibälle? Warum dachte ich auf einmal solche furchtbaren Dinge?

Und jetzt geschah dort draußen das, wovor ich mich immer gefürchtet hatte, seit ich den Sog zum ersten Mal gespürt hatte: Ich ging zur Brüstung, angezogen von dem eisigen Wind aus der Tiefe, ich starrte über das Geländer 15 Stockwerke weit hinunter auf die schwarze Straße zwi-schen weißen, aufgetürmten Schneehaufen, aber kein Schwindel und keine Angst überfielen mich. Alles in mir war leer; was sollte mich vom Springen abhalten? Meine Hände lagen auf der eisigen Balustrade, meine Füße standen noch auf den Fliesen des Balkonbodens. Dann beugte ich meinen Oberkörper nach vorne. Sehr weit nach vorne . . .

In diesem Moment wurde es gleißend hell um mich. Ich war als ganz junger Teenie einmal ohnmächtig ge-

worden, mitten im Unterricht, als mich ein Lehrer an die Tafel rief und ich aufstand, um nach vorne zu gehen. Ich hatte nie vergessen, wie mir plötzlich weiß vor Au-gen wurde, und ich noch verwundert feststellte, dass es eben weiß und nicht schwarz war, wie es doch überall immer hieß . . . Jetzt war da wieder weißes Licht, aber so strahlend war es damals nicht gewesen, als ich unserem

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Biologielehrer in die Arme kippte. Es fühlte sich auch ganz anders an – nicht, wie wenn es über mich herunter geflos-sen käme, wie vor meiner Ohnmacht, sondern als wäre es aus mir herausgeschossen. Etwas wie ein Rückstoß ließ mich gegen die Balkonwand hinter mir stolpern. Ich ging in die Knie, presste meine Hände gegen die eiskalten Bo-denfliesen und drückte mein Gesicht in meine Armbeuge, um das Gleißen auszusperren, das mich noch immer um-hüllte. Atemlos verharrte ich in diesem leuchtenden Sir-ren, dann war es plötzlich fort.

Meine Augen meldeten wieder dunklen Winterabend, meine Ohren nahmen die wirklich vorhandenen Geräu-sche wahr – von weit unten kam das heftige Bremsen-quietschen eines Wagens herauf, eine Autotür wurde zu-geschlagen, jemand rief etwas. Auf allen Vieren krabbelte ich aus der Gefahrenzone, und erst, als ich wieder in der Wohnung war, erhob ich mich, knallte die Balkontür zu und lehnte mich erschöpft dagegen.

Was war das denn gewesen?Ich lief ins Bad und zuckte vor dem Spiegel zusammen.

Abgesehen davon, dass ich kreideweiß war, starrten mich riesengroße, schreckerfüllte Augen an. In diesem Moment klingelte es, und alles in mir flehte, es möge meine Mutter sein – Schlüssel vergessen, irgendwas –, aber dann hörte ich eine fremde Frauenstimme durch das Rauschen der Gegensprechanlage: „Kommen Sie bitte mal? Ich habe hier einen Hund überfahren!“

Verwirrt griff ich nach Jacke und Schlüssel und lief aus der Wohnung. Warum läutete diese Frau ausgerechnet bei mir? Sie hatte 75 Klingeln zur Auswahl!

Vor der Haustür erwartete mich eine festlich gekleidete Dame, die mich ungeduldig zu einem schräg stehenden Auto lotste. Ich schnappte nach Luft, als ich den Fellhau-fen neben dem Reifen erblickte. O je . . . der Hund war nicht sehr groß, steinfarben, struppig, und er lag da sehr friedlich auf der festgefahrenen Schneedecke.

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„Kennen Sie den?“, drängte die Frau.„Nein.“ Ich kannte die Hunde aus dem Block, denen

man dann und wann beim Gassi gehen begegnete. Den hier hatte ich noch nie gesehen. Mir kamen die Tränen.

„Schon so spät“, heulte die Dame neben mir plötzlich auf, „ich sollte längst bei den Kindern sein!“ Und sie wie-selte in ihr Auto, startete den Motor und fuhr los.

Überrumpelt schaute ich dem Fahrzeug hinterher, bis es aus meinem Blickfeld verschwunden war. Und jetzt? Ich starrte auf den Hund vor meinen Füßen, ging in die Hocke und legte vorsichtig meine Hände auf sein Fell. War da ein Puls- oder Herzschlag? Ich richtete mich auf und blickte Hilfe suchend herum. Keiner da. Alle unterm Weihnachtsbaum.

Tierarzt! Natürlich. Es gab doch einen in der Nähe! Ich sauste zurück ins Haus und in den Keller, holte mein Fahr-rad und den kleinen Anhänger, mit dem ich die Wochen-zeitungen auslieferte.

Der Hund lag da, wie ich ihn verlassen hatte, und mein Mut sank. Wahrscheinlich lebte er wirklich nicht mehr, aber das wollte ich jetzt von einem Fachmann wissen.

Kein Fußgänger, kein weiterer Radfahrer, kein Auto kam mir entgegen. Es war dunkel, still und eisig kalt. Ich trug nur die Jacke, die ich mir übergeworfen hatte, als ich aus der Wohnung gelaufen war, und fror erbärmlich.

Schlotternd stieg ich vor der Praxis vom Rad. Das Haus sah verlassen aus und unsicher ging ich auf den Eingang zu. Unter dem beleuchteten Praxisschild war eine Klingel angebracht: „Für Notfälle bitte läuten“. Sollte ich also bitte läuten? War das ein Notfall? Wahrscheinlich saß der Tier-arzt gerade mit seiner Familie bei Geschenken und Marzi-pan im Kerzenschein, und dann kam ich mit einem toten Hund daher und drückte auf die Alarmglocke . . .

Je länger ich dastand und wartete, umso weniger traute ich mich zu klingeln. Ich drehte mich mit dem Rücken zur Tür, lehnte mich an und hob den Kopf zum

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Wintersternenhimmel. Jetzt mach schon!, beschwor ich mich selbst, da klackte das Türschloss und ich stolperte rückwärts über die Schwelle. Der Eingang war gar nicht verschlossen gewesen! Ich drehte mich um und stand in einem Wartezimmer, von dem aus ein schwach erleuchte-ter Gang in den hinteren Teil der Praxis führte.

„Hallo?“, rief ich leise. Niemand antwortete, aber ich hörte das Rollen eines Bürostuhls, dann das Öffnen einer Tür. Schritte kamen den Flur entlang. Ich starrte auf den leicht schimmernden Durchgang, wo gleich jemand erscheinen musste, und schluckte schwer. Das Licht im Wartezimmer ging an, und ich blinzelte in die plötzliche Helligkeit.

Ein Mann hatte den Raum betreten. Er war groß und kräftig, hatte ein ausgesprochen hübsches Gesicht und trug Jeans und einen hellen Wollpulli. Ich konnte sein Alter schwer einschätzen und beließ es bei ,erwachsen‘. Er erblickte mich und kam so freudig auf mich zu, als habe er auf mich gewartet. Erleichterung durchströmte mich wie ein warmer Lufthauch, und ich musste mich brem-sen, um dem Fremden nicht entgegenzulaufen und ihm in die Arme zu fallen. Der Mann blieb kurz vor mir stehen, sah mich an und lächelte das freundlichste Lächeln, das ich seit langem gesehen hatte, vielleicht sogar das freund-lichste Lächeln, das mich überhaupt je erreicht hatte. Ich schaute in himmelblaue Augen, deren leuchtender Blick mich durchwärmte wie das Eintauchen in ein heißes Bad.

„Kann ich dir helfen?“ Die Stimme, ebenso angenehm, ließ mich noch einen Moment im wohlig warmen Wasser verweilen, dann kam ich zurück an die Oberfläche.

„Der Hund!“, sagte ich. Es klang ganz rau und ich musste mich räuspern. „Bei uns ist ein Hund überfahren worden. Ich hab ihn dabei. Ich glaube, er ist tot.“

„Aha“, sagte der Mann, öffnete hinter mir die Praxistür und winkte mich nach draußen. „Der Tierarzt ist im Mo-ment gar nicht hier. Aber ich glaube, ich kann dir weiter-helfen! Ich bin der Johannes.“

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„Merle.“Johannes hob den Hund aus dem Hänger, brachte ihn

in einen Behandlungsraum und legte ihn auf den Unter-suchungstisch. Auch wenn er nicht der Tierarzt war, sah alles, was er tat, sehr professionell aus.

„Dein Hund ist leider wirklich tot!“, sagte er schließlich.„Das ist nicht meiner!“, entgegnete ich rasch. Trotzdem

stieg Traurigkeit in mir auf. Johannes kam um den Tisch herum, fasste mich an den

Schultern und schaute mir ins Gesicht. „Möchtest du ihn begraben?“, fragte er mich leise.

Die Berührung seiner warmen Hände tat gut, trotzdem machte ich mich sofort los und trat einen Schritt zurück.

„Wo soll ich ihn denn begraben – im Blumenkasten? Wir haben keinen Garten!“ Das klang richtig aggressiv und ich beeilte mich, friedlicher hinzuzufügen: „Aber viel-leicht finde ich ja irgendwo einen Platz für ein Grab.“

„‚Irgendwo‘ ist nicht erlaubt, außerdem ist der Boden steinhart gefroren, den wirst du gar nicht aufkriegen.“

Ich wusste nicht mehr, was ich erwidern sollte. Johan-nes meinte plötzlich:

„Pass auf: Ich muss heute Nacht noch ziemlich weit nach Süddeutschland runter. Auf einen Bauernhof. Ich nehm’ dich mit, dann kannst du den Hund dort begraben.“

„Und wie kriege ich da ein Loch in die Erde?“„Wir haben im Moment eine zweigeteilte Wetterlage.

Hier ist schon alles durchgefroren, dort ist der Boden noch auf.“

Ich stellte mir vor, wie ich Anna erzählte, warum ich Heiligabend nicht ins Sunshine gekommen war: „Bin mit einem Typ weggefahren, um einen Hund zu begraben!“ Das war ja wohl der verrückteste Vorschlag, den ich jemals ge-hört hatte!

Aber plötzlich kam die Erinnerung an die letzten Stun-den zurück, die ausgestorbene Wohnung, die Angst, die saugende Tiefe auf dem Balkon und dann, ganz deutlich,

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mein weißes Gesicht mit den riesigen, entsetzten Augen im Spiegel. Mein Herzschlag beschleunigte sich.

„Und, was möchtest du?“, fragte Johannes.Auf keinen Fall zurück!, dachte ich bestimmt.„Also, auf geht’s!“ Johannes holte eine Decke und wi-

ckelte den Hund ein.Ich wurde rot. Hatte ich das laut gesagt? „Aber was,

wenn ihn jemand vermisst und sucht?“Johannes schüttelte den Kopf. „Außer uns wird sich kei-

ner um ihn kümmern!“ Er nahm den eingepackten Streu-ner vom Tisch.

Verwirrt folgte ich ihm zur Praxis hinaus. Johannes hob den Hund, mein Fahrrad und den Hänger auf die Lade-fläche eines kleinen Transporters. Ich sagte ihm, wo ich wohnte, brauchte nicht zu dirigieren, unser Hochhaus ragte mächtig und gut sichtbar über den Rest der Siedlung hinaus. Dort angekommen brachte ich Rad und Anhänger zurück in den Keller.

Im Fahrstuhl auf dem Weg ins oberste Stockwerk kamen mir dann doch Zweifel an der Idee. Was sollte ich denn auf einem Bauernhof am anderen Ende von Deutschland? Mit einem Unbekannten? In der 15. Etage angelangt war ich zu dem Entschluss gekommen, die Sache abzublasen. Ich würde nur rasch aufs Klo gehen und dann Johannes sagen, dass ich doch nicht mitkäme.

Aber kaum hatte ich die Wohnungstür geöffnet, konnte ich den Geruch von Kerzenrauch wahrnehmen, der noch immer schwach in der Luft hing. Eine Gänsehaut prickelte meine Arme hinauf und in den Nacken.

Ich machte sofort die Flurlampen an und änderte in-nerhalb von Sekunden meine Pläne zurück zur ersten Fassung. Keine halbe Nacht würde ich hier allein in der Wohnung verbringen! Ich rannte in mein Zimmer. Licht an. Rucksack unterm Bett holen. Voller Eile packte ich ein paar Klamotten ein. Weiter ins Bad, Waschzeug, bloß nicht in den Spiegel schauen! Was brauchte ich noch? Mei-

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nen Geldbeutel hatte ich in der Hosentasche. Außerdem musste ich meiner Mutter eine Nachricht schreiben.

Ich betrat das Wohnzimmer voller Angst, der Anblick des dunklen Baumes könne wieder irgendetwas in mir aus-lösen. Aber im hellen Schein der Deckenlampe fiel mein Blick dann zuerst auf den Esstisch. Das war der Platz, an dem wir unsere Infozettel hinterließen: „Vergiss den Zahn-arzttermin nicht“, „Unterschreib mir den Physik-Fünfer“, und was sich Eltern und Kinder sonst noch Wichtiges mitzu-teilen haben nach 17 und mehr gemeinsamen Jahren. Dort wollte ich jetzt meine Nachricht hinterlegen, aber da lag bereits ein Blatt Papier. Verblüfft trat ich näher.

Dieter hat mir einen Kurzurlaub geschenkt! Wir bleiben bis Neujahr! Der Kühlschrank ist ja gut gefüllt; wenn du noch was brauchst, in der Haushaltskasse liegt ein Fünfziger!

Meine Mutter musste wohl genau in der Zeit hier gewesen sein, als ich mit dem Hund unterwegs war. Ich setzte mich an den Tisch. Was sollte ich schreiben?

Mein Blick fiel auf die Balkontür und plötzlich kochte Wut in mir hoch. Verdammt noch mal, wieso ließ sie mich allein? Es war Weihnachten! Ich sprang auf und stürmte in die Küche, riss das Geldkästchen aus dem Schrank und stopfte mir den Fünfziger in die Hosentasche.

„Liebe Mama“, rief ich in die Stille, „ich habe heute Abend in dieser Scheißwohnung eine Panikattacke be-kommen und mich fast umgebracht! Aber mach dir bloß keine Sorgen! Jetzt fahre ich nämlich mit einem wildfrem-den Typen weg, der vielleicht ein gefährlicher Irrer ist!“

Der gut gefüllte Kühlschrank bekam einen Fußtritt, dann ging ich zurück ins Wohnzimmer, setzte mich vor das Papier und schrieb:

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Passt gut, bin auch ein paar Tage weg. Fahre mit einem Be-kannten nach Süddeutschland. Auf einen Bauernhof. Den Fünfziger habe ich mitgenommen. Ich ruf an!

„Und, hast du alles?“, fragte Johannes, als ich die Autotür öffnete und meinen Rucksack in den Stauraum hinter der Sitzlehne schmiss.

„Ich weiß gar nicht genau, was ich brauche. Hab einfach ein bisschen was eingepackt.“

Wir fuhren los und meine Anspannung begann sich zu lösen. Als wir das Ortsschild hinter uns ließen und auf dem Zubringer Richtung Autobahn waren, wurden Freude und Aufregung daraus.

Johannes bemerkte meine gute Laune. „Keine Schwie-rigkeiten zu Hause gehabt?“

„War niemand da zum Schwierigkeiten machen!“Er warf mir einen nachdenklichen Blick zu. Eine Weile

schwiegen wir, und ich überlegte, was ich mit ihm reden könnte. „Was ist das denn für ein Bauernhof, wo wir hin-fahren?“

„Es ist ein ehemaliges Klostergut. Milchkühe plus Nach-zucht, ein paar Hühner, Grünland und Ackerbau, haupt-sächlich Futtergetreide und Kleegras, aber auch etwas Feldgemüse für die Direktvermarktung. Außerdem gibt es ein paar Wohnungen für Urlaubsgäste.“

Ich lauschte andächtig. Ich hatte keine Ahnung von Landwirtschaft, war in der Stadt geboren und aufgewach-sen und hatte nicht mal Ferien auf dem Bauernhof verlebt. Und dennoch hatte ich schon so manches Mal das Gefühl gehabt, im falschen Leben gelandet zu sein. Wenn alles um mich herum zu grell und laut und hektisch wurde, dann hatte ich tatsächlich hin und wieder vom Landleben geträumt – von Natur und guter Luft und Stille und Tieren, die ich versorgen durfte. Kühe, dachte ich sehnsüchtig, ich fahre auf einen Bauernhof, zu Kühen und Hühnern . . .

„Wenn es da Kühe gibt und so“, fing ich schließlich neu

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an, „müssten Sie dann nicht im Stall sein und irgendwie melken oder . . .“ Mir fiel nichts anderes ein, also brach ich einfach ab und zuckte entschuldigend mit den Schultern.

Johannes lächelte. „Sag ruhig du! Und: Nein, ich arbeite auf dem Hof nicht mit, zumindest nicht in dem Sinn, wie du das jetzt meinst.“ Sein Lächeln wurde breiter. „Es sind ausreichend Menschen dort!“

Verdutzt starrte ich ihn an. War dieser Typ vielleicht doch ein bisschen seltsam?

Er beantwortete meinen argwöhnischen Blick mit einem leichten, freundlichen Kopfschütteln. „Also, pass auf: Es gibt da einen Opa, der ist steinalt und inzwischen auch ein bisschen wirr im Kopf. Dann seinen Enkel Alfred und dessen Frau Elli, und seit letztem Sommer Sara, das Baby von Elli und Alfred. Elli kümmert sich um die Haus-wirtschaft, die Ferienwohnungen und die Direktvermark-tung. Alfred macht den Stall und die Außenwirtschaft. Es ist eine Menge Arbeit, aber sie machen es sehr gut. Es wird dir sicher gefallen!“

Ich nickte und versuchte, mir diese schwer arbeitende Bauernfamilie vorzustellen. Es waren lauter Eindrücke aus Filmen und Büchern, aber das Bild von Baby Sara, das einen schweren Schubkarren voller Futter durch einen Stall schob, musste mir wohl selbst eingefallen sein . . .

Ich schreckte auf und brauchte einen Moment, um mich zurechtzufinden. Ich war eingenickt gewesen, und mein Hals und die Schultern schmerzten. Ich streckte mich vorsichtig.

Johannes fuhr ruhig und konzentriert die Autobahn ent-lang. „Sehr müde?“, erkundigte er sich.

„Ja, ehrlich gesagt schon!“ Die Uhr am Radio zeigte fast Mitternacht. Ich knüllte

meine Jacke zusammen und versuchte, sie als Kopfkissen zu benutzen, aber ich hatte in Autos noch nie richtig schla-fen können. Jetzt tat mir schon der Rücken weh. Meine gute Laune war dahin.

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„Wie weit ist es denn noch?“, fragte ich.„Ein paar Stunden brauchen wir schon noch.“In mir jammerte alles los, aber es verstummte sofort,

als ich plötzlich Johannes Hand spürte, die mir sacht über den Kopf streichelte. Dann war die Berührung fort und ich schnappte überrascht nach Luft.

Johannes blickte auf die Fahrbahn vor uns, beide Hände wieder fest ums Lenkrad geschlossen. Ich starrte auf seine Finger. Die Spur, die sie über meine Haare gelegt hatten, fühlte sich sehr warm an, und Sehnsucht sprang in mir auf. Er saß neben mir, so nah bei mir, dass ich mich ein-fach zu ihm hinüberlehnen und an ihn kuscheln hätte können . . . das mild aufleuchtende Traumbild erlosch unter der Wucht schwarzer Erinnerungen und peinlich berührt schloss ich die Augen.

Nur ein bisschen kuscheln, das gab es gar nicht. Dieser Satz war ein einziges fieses Missverständnis und ver-schlüsselte etwas ganz anderes. Hässliche Erfahrungen, die jeder machen musste, der den Code nicht kannte und sich auf geifernde Köter einließ. Der will nur spielen war das Letzte, was man hörte, bevor man angesprungen und zu Boden gerissen wurde.

Der will nur kuscheln . . . Tot stellen half nicht, die Biester fraßen auch Aas und Schockstarre war nichts, was Jungs irritierte, wenn sie erst einmal in Fahrt gekommen waren. Ich presste die Augen noch fester zusammen. Der gierige Kerl damals war einfach ungebremst über mich drüber-gerollt. Ich hatte ihm nichts entgegenzusetzen gehabt und mich widerstandslos in meine Initiation ergeben. Hatte dem Köter meinen Körper zum Spielen überlassen und meinen Geist spazieren geschickt. Angst und Schmerz und Ekel . . .

Nur ein bisschen kuscheln war ein hässlicher Alarmton geworden, aber die Sehnsucht blieb, und wie einer dum-men Laborratte unterlief mir derselbe Fehler wieder und wieder. Dann hatte ich die Versuchsanordnung endlich

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durchschaut und rannte beim Ertönen der Warnglocke in Deckung. Da wollte jemand nur kuscheln? – Schnell weg hier!

Aber warum fing ich schon wieder an, mich in Träumen zu verlieren, nur weil mir jemand nett und warm seine Hand auf den Kopf legte? Ich ballte die Hände zu Fäusten und drückte meine Fingernägel so fest in die Handflächen, dass es ein bisschen wehtat. Zu wenig wehtat . . .

„Na, an was denkst du?“, fragte Johannes in diesem Au-genblick.

Ich ließ sofort locker und lief dunkelrot an. „Dies und das!“, antwortete ich unbestimmt und wartete darauf, dass die Hitze in meinem Gesicht nachließ.

„Erzähl mal, warum du Heiligabend allein zu Hause bist!“, forderte er mich auf. Das interessierte ihn?

„War halt keiner sonst da!“, wich ich aus.„Das reicht mir nicht!“Ich holte tief Luft: „Okay: Meine Mutter hat wieder mal

ihren tollen Freund ihrer langweiligen Tochter vorgezo-gen, Geschwister habe ich keine und mein Meerschwein-chen ist auch gestorben! Zufrieden?“

Johannes schenkte meinem aggressiven Ton keine Be-achtung. „Und dein Vater?“

„Den kenne ich gar nicht!“„Warum nicht?“Ich überlegte einen Moment, aber eigentlich war es

keine besonders ausgefallene Geschichte: „Meine Eltern waren nur kurz zusammen. Mein Vater ist auf und davon, als meine Mutter mit mir schwanger wurde. Hat lieber an seiner Karriere weitergebastelt und hatte wohl keine Lust auf ein Kind.“

„Wünschst du dir denn, er hätte sich für dich entschie-den?“, fragte Johannes.

„Nein“, ich schüttelte sofort den Kopf, „das hätte ich furchtbar anstrengend gefunden!“

„Anstrengend?“

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„Ja, anstrengend. Ihm die ganze Zeit beweisen zu müs-sen, dass ich die richtige Entscheidung war.“

Johannes schwieg, und auch ich wollte nichts mehr re-den. Ich lehnte meine Stirn vorsichtig gegen das Seiten-fenster. Ganz leicht meldete sich Kopfweh an. In Armen und Beinen zog es, im Rücken sowieso. Ich rutschte auf meinem Sitz hin und her und fand keine wirklich ange-nehme Position. Mein Hals fühlte sich rau an. Johannes legte mir eine Hand auf meine brennende Stirn und die-ses Mal stürzte mich seine Berührung nicht in Aufruhr. Sie zog mich im Gegenteil völlig unbemerkt in einen tie-fen Schlaf.

Als ich erwachte, tat mir alles so weh, dass ich mir wünschte, sofort wieder wegzutauchen. Beim Blick auf die Uhr riss ich vor Staunen die Augen auf. Ich hatte mehrere Stunden geschlafen – in einem Auto!

Die Landschaft hatte sich stark verändert und es reg-nete. Johannes hatte recht behalten mit seiner Wettervor-hersage; hier lag noch überhaupt kein Schnee!

„Wie geht es dir?“, fragte er und ich zuckte mit den Schultern, was auch wehtat.

„Nicht besonders gut.“ Meine Stimme klang heiser. Ich fröstelte und es half auch nichts, die Heizung weiter auf-zudrehen oder meine Jacke über mich zu ziehen. Arme, Beine und der Rücken zogen unerträglich und in meinem Kopf tobte ein wirbelnder Schmerz.

Wieder legte sich eine kühle Hand auf meine Stirn. „Du hast Fieber, Merle!“

Fieber! Das war ja klar, dass ich wieder mal zum un-günstigsten Zeitpunkt krank wurde! Ergeben sackte ich in meinem Sitz zusammen und versank in Schmerz und Hitze.

Das Auto machte einen Ruck. „Merle, wir sind da!“ Jo-hannes’ Stimme kam von weit, weit her. Mit einiger Mühe öffnete ich die Augen und sah, wie er aus der Fahrertür ausstieg. Ich versuchte ebenfalls, aus dem Auto zu kom-

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men, aber meine Beine machten nicht richtig mit. Dann spürte ich Hände unter meinen Achseln, Johannes zog mich vom Sitz und drückte mich an sich. Erschöpft heulte ich los.

„Du hast es geschafft“, beruhigte er mich leise, „wir sind jetzt da. Alles wird gut, Merle, alles wird gut!“

„Was ist denn mit ihr?“, hörte ich jemanden fragen.„Sie ist auf der Fahrt krank geworden!“ Noch eine andere Stimme, aber ich verstand nicht mehr,

was geredet wurde. Ich erkannte auch keine Gesichter, ob-wohl ich undeutlich wahrnahm, dass Leute um uns her-umstanden. Alles, was ich noch spürte, war Johannes, der mich in seinen Armen hielt und durch ein grelles Durch-einander trug.

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Eine Nacht und einen Tag lag ich glühend und fantasie-rend zwischen den Welten, aber in der zweiten Nacht

klang das Fieber ab. Die Traumbilder wurden ruhiger, und wenn ich für Augenblicke aufwachte, konnte ich fast sofort einordnen, wo ich war. Die schemenhafte Gestalt, die ich mehrmals aus meinen Träumen hatte hervortreten sehen, wurde zu einer netten, jungen Frau, von der ich aus Johan-nes’ Erzählungen annahm, sie müsse wohl Elli sein.

Ich erwachte schmerz- und fieberfrei und fühlte mich wie von einer schweren Last befreit.

„Heut bleibst trotzdem noch mal liegen!“, befahl Elli und brachte mir die Mahlzeiten ans Bett. In der nächsten Nacht schlief ich durch. Am Morgen darauf war ich wieder gesund.

Ich schaute mich zum ersten Mal richtig in meinem Zimmer um und mochte es sofort. Ein kleiner Raum mit weiß gekalkten Wänden und dunklem Dielenboden. Keine Bilder, keine Teppiche. Sehr sparsam auch das Mobiliar: Bett, Schrank, Tisch, Stuhl, alles aus schlichtem, hellem Holz. Das Bettzeug war mit einem buntgeblümten Stoff überzogen, das war der einzige Schmuck in diesem Zim-merchen. Es gab nichts zum Aufräumen oder Ordnen, mein Rucksack war alles, was darin herumlag – ein wun-derbares Gefühl!

Beim Blick aus dem kleinen Fenster ging mir das Herz dann vollständig auf. Ich war ja auf dem Land, auf einem Bauernhof! Das war vom Fieber völlig aus meinem Be-wusstsein geschubst worden. Ein eingezäunter Garten, eine kleine Kapelle, ein Stallgebäude und ein weiteres

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Wohnhaus – war das bereits der Nachbarhof? Alles war unter einer dicken, weißen Decke versteckt. Schnee, so viel Schnee – was hatte das noch mal zu bedeuten? Ich hatte das Gefühl, irgendetwas Wichtiges, das mit dieser Winterlandschaft zu tun hatte, vergessen zu haben.

Nach und nach setzten sich in meinem Kopf die Er-eignisse seit Heiligabend zu einer klaren Geschichte zu-sammen: Die Reise mit Johannes einmal quer durchs Land und der Grund dafür. Wir waren noch rechtzeitig vor dem Frost und Schnee angelangt, ich erinnerte mich an den Regen auf dem letzten Stück unserer Fahrt. Jetzt war der Winter hinterhergekommen. Ob Johannes den Hund rechtzeitig hatte begraben können, bevor die Kälte den Boden versiegelt hatte?

In diesem Moment klopfte es an die Tür, aber es war nicht Johannes, sondern Elli, die hereinkam.

„Frühstück!“, rief sie. Und: „Komm, ich zeig dir den Weg in die Küche!“

Das Haus war riesig und weitläufig, und mir war klar, dass ich mich hier noch einige Male verirren würde. Für jemanden, der aus einer kleinen Zweizimmerwohnung kam, waren es einfach etliche Aufgänge und Flure zuviel. Mein Zimmer lag im ersten Stock. Nebenan war ein klei-nes Bad, dahinter verlor sich ein langer Gang mit Türen links und rechts und einer weiteren Abzweigung an sei-nem Ende. Im Erdgeschoss befanden sich die Räume, die Elli zusammen mit Alfred und Sara bewohnte.

Das Baby im Hochstühlchen krähte fröhlich los, als seine Mama die Küche betrat. Opa an der Stirnseite des Tisches erkannte ich sofort: Ein steinaltes Männlein, run-zelig, zahnlos und mit wenigen, dünnen Haaren, die ihm wirr vom Kopf abstanden. Bei meinem Anblick fing er unbändig zu kichern an. Ich mochte ihn auf Anhieb. El-lis Alfred war mir im ersten Moment völlig fremd in sei-ner Art. Er war deutlich älter als seine Frau, und im Gegen-satz zum gackernden Opa hatte er etwas Ernstes und

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Strenges an sich, das ich so nicht kannte. Es wirkte sehr Respekt einflößend und ich hatte sofort das Bedürfnis, mich von meiner besten Seite zu zeigen. Nur, welche war das in einer Welt, in der ich mich überhaupt nicht aus-kannte?

„Ich bin der Bauer hier, der Alfred.“ Er stand auf und gab mir die Hand. Sein Händedruck zwang mich innerlich in die Knie. Hatte der eine Kraft in der Pranke! Zum Glück ließ er gleich wieder los und zeigte mir meinen Platz.

Das Frühstück ging seinen Gang. Alfred und Elli rede-ten über Leute, die ich nicht kannte, und über Dinge, von denen ich nichts verstand. Alles war neu und blank und ich saß in Ruhe da und genoss es, dass niemand etwas von mir erwarten konnte. Mein Blick fiel auf den geschmück-ten Weihnachtsbaum, und jetzt kam mir doch etwas in den Sinn, was ich gerne wissen wollte.

Zuerst traute ich mich nicht recht, in die fremde Runde hinein etwas zu fragen, aber schließlich hielt ich es nicht mehr aus: „Wo ist denn Johannes?“

Ich hatte Elli angesprochen. Sie blickte mich verdutzt an. Auch Alfred zog die Augenbrauen hoch. „Johannes?“

Eine unangenehme Stille folgte. Was war das denn für eine seltsame Reaktion auf eine ganz einfache Frage? Da begann Opa heftig zu kichern. Er wiegte sich auf seinem Platz vor und zurück, dann starrte er mich an. „Pst!“ Er legte einen Zeigefinger auf seine Lippen, dann gackerte er wieder weiter.

„Ach, Opa“, seufzte Elli auf, „musstest du wieder dein altes Zeugs erzählen! Das Mädchen war doch krank!“ Zu mir gewandt fuhr sie fort: „Lass mal den Opa mit seinen Geschichten!“

Alfred verdrehte die Augen. „Johannes!“, hörte ich ihn leise schnauben.

Nach dem Frühstück wollte mir Alfred den Hof zeigen. Das passte gut. Ich brauchte dringend Auslauf. Warum wusste hier keiner außer dem alten Wirrkopf etwas mit

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dem Namen Johannes anzufangen? Er hatte mich doch schließlich bei ihnen abgeliefert!

Ich folgte Alfred schweigend in einen Raum, in dem zwei Waschmaschinen liefen und die Arbeitskleidung auf-bewahrt wurde. Er warf mir einen großen Parka zu und zeigte auf eine Reihe Gummistiefel unter einer Holzbank. „Such dir da passende raus!“

Im Stall schauten uns aus jeder Ecke Kuhköpfe ent-gegen. Alfred redete viel, ich verstand wenig. Unter „Jung-vieh“ konnte ich mir noch etwas vorstellen, aber was wa-ren „Kalbinnen“ und warum gab es „trockene“ Kühe? Bei den landwirtschaftlichen Geräten in der Maschinenhalle wurde es noch schlimmer. „Schwader“, „Zetter“, „Grub-ber“, „Pflug“ – hurra, ein bekanntes Wort, und auch „Mäh-werk“ schien mir selbsterklärend zu sein.

Endlich bemerkte Alfred, dass ich auf technischem Ge-biet völlig blank war. „Lass mal“, beendete er gnädig seine Führung, „das lernst du in deinem Praktikum schon noch alles kennen!“

Praktikum? Ich glotzte Alfred an. „Den Vertrag machen wir gleich heute Nachmittag fer-

tig“, fuhr er fort, „ich hab’s nicht so mit dem Schreibkram!“ Er schritt auf dem Rückweg bedächtig vor mir her und

erklärte mir immer wieder etwas, aber ich konnte nicht mehr zuhören und drängte zurück zum Wohnhaus. Ich musste Johannes finden . . . sofort!

Ich verlief mich einmal im Erdgeschoss und einmal im ersten Stock und war froh, als ich schließlich wenigstens mein eigenes Zimmer wieder gefunden hatte. Wo war noch mal das von Opa? Den brauchte ich jetzt. Ich hatte das Bild des alten Mannes so deutlich vor Augen, dass ich zusammenzuckte, als er plötzlich leibhaftig vor mir auf-tauchte. Er freute sich diebisch, mich so sehr erschreckt zu haben. Sein Gekicher wollte gar nicht mehr aufhören.

„Mensch, Opa!“, keuchte ich schließlich.„Pst!“, zischelte er mir zu. Sein zahnloser Mund verzog