Transpersonale Psychologie Und Psychotherapie - 1998 Vol.1

108

description

Joachim Galuska: Ayya Khema - ein Nachruf 4 Jeremias Marseille: Die geistige Dimension in der Logotherapie. Viktor Frankls Beitrag zur transpersonalen Psychologie 9 Tom Yeomans: Seelenwunde und Psychotherapie 27 Ulla Heist: Der Wille zur Liebe und die Liebe zum Willen - ein Konzept der Psychosynthese 41 Christian Scharfetter: Ganzheit und Ganzheitlichkeit in der Psychotherapie 60 Jürg Zöbeli: Sinngebung oder Sinnfindung? Ein gemeinsames Wirkprinzip von Psychotherapie und Meditation 68 Klaus Engel: Meditation - und ihre gesundheitsrelevanten Aspekte 83

Transcript of Transpersonale Psychologie Und Psychotherapie - 1998 Vol.1

Transpersonale Psychologie und Psychotherapieist eine unabhängige Zeit­schrift. Aus einem schulen-, kultur- und religionsüb ergrei­fenden Verständnis heraus bietet sie ein Forum zur Ver­bindung von Psychologie und Psychotherapie und deren theoretischen Grundlagen mit spirituellen und transpersona­len Phänomenen, Erfahrun­gen und Wegen, Welt- und Menschenbildern. Sie dient dem Dialog der verschiede­nen Richtungen, fördert integrative Bemühungen und leistet Beiträge 7.u Forschung und Theoriebildung.

© by Via Nova,Neißer Straße 9,36100 Petersberg,Telefon/Fax: (0661) 629 73

ISSN 0949-3174

Scan & OCR von Shiva2012

Impressum:

Herausgeber und Schriftleitung:Dr. med. Joachim Galuska, Fachklinik Heiligenfeld, Euerdorfer Str. 4-6, D-97688 Bad Kissingen, Telefon (09 71) 8 20 63 69, Fax (09 71) 6 85 29.

Prof. Dr. Edith Zundel, Ankerbachtalweg 4,D-53227 Bonn, Telefon (0228) 44 23 62, Fax (0228) 44 33 93.

Redaktionelle Mitarbeit:Ulla Heist, Tilsiter Str. 10, D-88267 Vogt, Tel. u. Fax (0 7529) 3255

Wissenschaftlicher Beirat:David Boadella (spirituelle Körperpsychotherapie) Michael von Brück (vergleichende Religionswissen­schaften)Stan Grof (Holotrope Therapie, Spirituelle Krisen) Willigis Jäger (Kontemplation und Meditation)Ingo Jahrsetz (Spirituelle Krisen)Ayya Khema (1923-1997)Walter von Lucadou (Parapsychologie)Pieter Loomans (Initiatische Therapie)Arnold Mindell (Prozeßorientierte Psychotherapie) Michael Plesse (Orgodynamik)Ursula Reineke (Psychosynthese)Christian Scharfetter (Bewußtseinsforschung, Psy­chopathologie)Theodor Seifert (Jungianische Psychologie)Ken Wilber (Transpersonale Psychologie).

Erscheinungsweise und Bezug:Die Zeitschrift erscheint zweimal jährlich. Bezugspreis DM 39,- zuzügl. Versandkosten.Das Abonnement gilt für das Kalenderjahr, die Be- zugsdauer verlängert sich jeweils um 1 Jahr, wenn bis zum 30. Dezember keine Abbestellung vorliegt. Bestellungen bitte an den Verlag Via Nova.

Mit der Annahme eines Beitrags zur Veröffentlichung überträgt der Autor dem Verlag alle Rechte, insbeson­dere das Recht der weiteren Vervielfältigung und das Recht zur Übersetzung für alle Sprachen und Länder. Die Zeitschrift sowie alle in ihr enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich ge­schützt. Für den persönlichen Gebrauch dürfen von Beiträgen oder Teilen daraus Einzelkopien hergestellt werden. Die Aufnahme der Zeitschrift in Lesezirkel ist nicht gestattet.

Hinweis:Diese Zeitschrift ist auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.

Transpersonale Psychologie und Psychotherapie4. Jahrgang, Heft 1, 1998

Editorial

Joachim Galuska:

Jeremias Marseille:

Tom Yeomans:

Ulla Heist:

Christian Scharfetter:

Jürg Zöbeli:

Klaus Engel:

Ayya Khema - ein Nachruf

Die geistige Dimension in der LogotherapieViktor Frankls Beitrag zur transpersonalen Psychologie

Seelenwunde und Psychotherapie

Der Wille zur Liebe und die Liebe zum Willen - ein Konzept der Psychosynthese

Ganzheit und Ganzheitlichkeit in der Psychotherapie

Sinngebung oder Sinnfindung?

Ein gemeinsames Wirkprinzip von Psychotherapie und Meditation

Meditation - und ihre gesundheitsrelevanten Aspekte

3

4

9

27

41

60

68

83

Peter von Tresckow: Zeichnungen 2, 26, 59, 92Aus: Peter von Tresckow „Kennen wir uns nicht?“ Zweitausendeins,Postfach 610 637, D-60347 Frankfurt/M., 27,- DM

Buchbesprechungen

Tagungen

93

100

Die Autoren dieser Ausgabe 101

1

2

Editorial

Im letzten Herbst sind zwei Menschen gestorben, die für unsere Kultur und insbe­sondere auch für die transpersonale Psychologie und Psychotherapie große Bedeutung hatten: Viktor Frankl, der Begründer der Logotherapie, starb am 02.09.1997 im Alter von 92 Jahren. Ayya Khema, buddhistische Nonne, spirituelle Lehrerin und Mitglied unseres wissenschaftlichen Beirats, starb am 02.11.1997 im Alter von 74 Jahren.

Wir möchten dieser beiden Menschen gedenken und sie würdigen. Daher veröf­fentlichen wir im folgenden einen Nachruf auf Ayya Khema und einen Artikel von Jeremias Marseille über die Bedeutung Viktor Frankls für die transpersonale Psychologie. Es handelt sich dabei um die überarbeitete Fassung eines Aufsatzes im amerikanischen Journal oj Transpersonal Psychology.

Diese Ausgabe ist nicht themengebunden, die verschiedenen Beiträge entstammen unterschiedlichen Feldern unseres Gebietes. So konnten wir teilweise ganz frische Beiträge zur Veröffentlichung aufgreifen und eine, wie wir hoffen, recht abwechs­lungsreiche Ausgabe zusammenstellen. Wie immer, freuen wir uns über Rückmeldungen und qualifizierte Dialoge.

Joachim Galuska, Ulla Heist

3

Transpersonale Psychologie und Psychotherapie1/98, 4-8

Ayya Khema - ein Nachruf

Joachim Galuska, Bad Kissingen

Ayya Khema wurde am 25. August 1923 als Ilse Kussel in Berlin geboren. Sie war das einzige Kind einer sehr wohlhabenden jüdischen Familie und verbrachte zunächst eine sehr behütete Kindheit. Ihr Vater war Börsenmakler, gebildet, großbürgerlich. Sie liebte ihn sehr. Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 emigrierten einige ihrer Verwandten, und sie wurde mit der Judenverfolgung konfrontiert. Ihr Vater glaubte nicht, daß Hitler seine Judenvernichtungspläne durchsetzen würde, und blieb zunächst in Deutschland. Nachdem er seine Anstel­lung verlor und die Familie die Wohnung aufgeben mußte, kauften die Eltern von ihrem letzten Geld Fahrkarten für eine Schiffsreise nach Shanghai, das als einer der letzten Plätze noch zu dieser Zeit Juden aufnahm. Ayya Khema aber wurde als 15jährige im Rahmen einer Kinderrettungsaktion nach England gebracht.

Verluste und Trennungen haben ihr Leben geprägt. Zu diesem Zeitpunkt begann eine Reise durch die Welt, die sie irgendwann wieder nach Deutschland zurück­führen sollte. „Heimat ist der Inbegriff von Zugehörigkeit und Geborgenheit. Von nun war ich nie mehr irgendwo wirklich zuhause. Die Vertrautheit, die Zuversicht, die Wärme, das waren Gefühle von gestern“. So schreibt sie in ihrer Autobiographie „Ich schenke Euch mein Leben“, die sie im März 1997, ein halbes Jahr vor ihrem Tod, abschloß.

Zunächst lebte sie bei einer Familie in Glasgow, bei der sie sich so einsam fühlte, daß ihr Vater sie 1941 mit einem japanischen Frachter nach Shanghai kommen ließ. Der Vater hatte dort ein gutgehendes Bekleidungsgeschäft aufgemacht, die Familie hatte eine neue Wohnung, und Ayya Khema absolvierte eine Handelsschule. Zwei Jahre später besetzten die Japaner Shanghai, die Familie mußte in ein jüdisches Ghetto ziehen und verarmte erneut. Ihr Vater sollte sich schließlich einer Nierenstein-Operation unterziehen, infizierte sich jedoch im Krankenhaus mit einer Gehirnhautentzündung und starb fünf Tage vor Kriegsende. „Ich konnte das über­haupt nicht verkraften ... es war der erste wirkliche Tod für mich ... für mich war der Vater meine Stütze im Leben.“ Aus den Worten ihrer Autobiographie wird deut­lich, wie enorm der Verlust für sie war. Und wie um ihn zu kompensieren, heiratete sie ein Jahr später einen 17 Jahre älteren deutschen Juden, der ebenfalls im Lager wohnte. Ein weiteres Jahr danach wurde ihre Tochter Irene geboren. Kurz bevor Mao Tse Tungs Truppen 1949 Shanghai einnahmen, konnte sie gerade noch mit ihrer Familie nach Amerika, wiederum per Schiff, ausreisen.

Wieder ein Neubeginn, zunächst in Los Angeles, dann in San Diego, wo sie 1956 ihren Sohn Jeffrey gebar. Sie hatte mit ihrer Familie ein kleines Haus mit Garten und

4

Ayya Khema - ein Nachruf

widmete sich der Kindererziehung. Aber irgend etwas fehlte, etwas Inneres. Doch ihr Mann hatte dafür kein Verständnis. Die Begegnung mit einem früheren Schul­kameraden schließlich ermutigte sie, sich im Alter von 34 Jahren auf die Suche zu machen. Sie trennte sich von ihrem Mann, bei dem die Tochter blieb, und zog mit ihrem Sohn auf eine Gesundheitsfarm in Mexico, wo sie viel über natürliche Ernäh­rung, natürliche Lebensweise und die Lehre der Essener lernte. Gerd, jener Schul­kamerad, zog auch auf die Ranch, und sie heiratete zum zweiten Mal. Doch diesmal wurde keine neue Existenz aufgebaut, denn ihren Mann zog es durch die Welt.

Und so begann eine abenteuerliche Zeit von Weltreisen, die fünf Jahre dauerte. Zunächst ging es durch Mittelamerika im Jeep, dann nach Südamerika zum Amazonasgebiet und unter abenteuerlichen Umständen den Amazonas hinunter. Wegen politischer Unruhen in Brasilien flog sie mit ihrer Familie nach Australien, um dort einzuwandern. Nach einer Reise kreuz und quer durch Australien, auf der Suche nach einem Lebensplatz, bekam ihr Mann ein Angebot in Pakistan, als Elektroingenieur den Aufbau eines größeren Elektrizitätswerkes im Indus zu planen und zu organisieren. Sie nahmen die Möglichkeit an und lebten zwei Jahre auf einer Insel im Indus, mit 12 Bediensteten. Dann kauften sie sich einen Landrover in London und reisten durch Europa, dann über Afghanistan nach Indien. „Wir waren keine Reisenden im eigentlichen Sinne. Reisende brechen von Zuhause auf und keh­ren irgendwann wieder heim. Wir waren Weltenbummler, Nomaden.“ Aus diesen Worten spricht die Lebenshaltung innerer und äußerer Entwurzelung. Die Suche nach anderen und überzeugenderen Lebensformen führte sie beispielsweise zu den Hunzas, einem bekanntermaßen sehr langlebigen und gesunden Volk im Norden von Kaschmir, schließlich auch in den Ashram von Ramana Maharshi und von Sri Aurobindo, die beide zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr lebten. Während sie Ramana Maharshis Lehre nicht konkret genug empfand, sprach sie die Einfachheit und Klarheit der Meditationsanweisungen der „Mutter“ im Aurobindo-Ashram an. „Von diesem Moment an meditierte ich ... Ich hatte sofort die Empfindung: das ist der Weg, den ich gesucht habe. Jetzt konnte ich nach innen gehen“. Doch die äußere Reise ging weiter: Südindien, Sri Lanka, Thailand, Kambodscha, Singapur, Indonesien, schließlich wieder Australien.

In Queensland kaufte die Familie eine 72 ha große Farm, auf der sie biologischen Anbau betrieb, Shetland-Ponys züchtete und völlig autark lebte. Das rauhe irdische Leben in Australien nahm sie über viele Jahre in Beschlag, bis 1973 eines Tages ein buddhistischer Mönch die Farm besuchte: „als Phra Khantipalo von der Lehre des Buddha erzählte, war mir klar: das kann ich verstehen und praktizieren“. Sie war sofort überzeugt und begann, Meditationskurse auf der Farm zu organisieren, flog selbst nach USA, Burma und Thailand, um die buddhistische Meditation unter­schiedlicher Ausrichtung kennenzulernen und sich anzueignen. Doch auch ihr zweiter Mann konnte nicht ihrem inneren Weg folgen, und diesmal war er es, der sie verließ. Vielleicht spürte er, daß Ayya Khema dabei war, ihre innere Heimat zu fin­den, er selbst aber diesen Schritt noch nicht tun konnte. Sie fühlte sich jedenfalls überfordert, die Farm alleine zu betreiben, zumal ihr Sohn bereits an der Universität studierte. So verkaufte sie die Farm, gründete mit Phra Khantipalo das Waldkloster Wat Buddha Dhamma in Australien und ordinierte 1979 in Sri Lanka als buddhisti­sche Nonne, zunächst als Novizin.

5

Joachim Galuska

„Ich war 55 Jahre alt und hatte ... die Welt gesehen. Ich hatte Kinder und Enkelkinder, ich war verheiratet gewesen. Geld hatte ich. Arm war ich gewesen und zeitweise auch reich. Ich hatte eine Farm und Shetland-Ponys gehabt. Ich kannte das Vorortsleben in Amerika und das Leben im Wohnmobil mit Kocher und Klappbett. Ich war Sekretärin in einer Bank und Privatlehrerin für meinen Sohn gewesen. Ich hatte so ziemlich alles gehabt und ausprobiert. Was hatte die Welt mir noch zu bie­ten? Sie bringt einem nicht den inneren Frieden und das innere Glück, weil alles, was in der Welt geschieht, vergänglich ist. ... Ich lebte, was man ein bewegtes Leben nennt. Ich habe das nicht so geplant, es hat sich eben so gefügt. Wo sollte ich jetzt noch etwas suchen, außer in meinem Inneren? Der Moment war gekommen, Abschied von der Welt zu nehmen ... Mit ,Abschied von der Welt nehmen', meine ich einzig und allein, in eine neue Phase des Erlebens einzutreten, in der man die Welt als Beobachter erlebt, nicht mehr als eine Person, die davon in Mitleidenschaft gezogen wird“.

Sie ordinierte als Theravada-Nonne, da sie das Ursprüngliche, das Puristische die­ser Lehre faszinierte. So fügen sich an dieser Stelle einige wesentliche Entwicklungs­dynamiken ihres Lebens zusammen: die verständliche Suche nach einer Unab­hängigkeit vom weltlichen Auf und Ab, die Rückkehr zu einem Ursprung und zu einer inneren Heimat, das Bedürfnis nach einem fundamentalen und unzerstörbaren Halt und schließlich die Verinnerlichung des Vaterthemas durch die Anlehnung an die ursprünglichen und edlen Worte Buddhas.

Nach der Ordination zog sie sich für längere Zeit zur Meditation zurück und ent­deckte dort selbst die meditativen Vertiefungen (Jhanas), die zu jener Zeit nicht mehr gelehrt wurden, zugleich aber die Meditationspraxis darstellen, auf der aufbauend Gautama Buddha seine Erleuchtung fand. Erst einige Jahre später fand sie ihren letz­ten großen Lehrer, Nanarama Mahathera, den Abt eines großen Waldklosters in Sri Lanka, der ihre Übungspraxis bestätigte und sie aufforderte, die meditativen Vertiefungen wieder zu beleben und dieses Wissen im Westen weiterzugeben. Nanarama Mathathera blieb ihr Lehrer und bestätigte ihre Entwicklung und ihre Aktivitäten bis zu seinem 'lode im Jahre 1992. In der Zwischenzeit gab sie, vor allem in Sri Lanka, diverse Meditationskurse und gründete mit Unterstützung eines wohl­habenden ceylonesischen Schülers 1984 auf einer kleinen Insel in einem See in Sri Lanka ein Nonnenkloster: Parappuduwa Nuns Island. Wieder ein Neuaufbau: Arbeit, Meditation und Vorträge. Aus den Vorträgen auf der Nonneninsel entstand das erste Buch: „Be an Island unto yourself“ (1986). In den folgenden Jahren lehrte sie nicht nur in Sri Lanka, sondern auch in Europa, USA, Australien und Südafrika. 1987 gehörte sie zu den Mitbegründern von Sakyadhita (Töchter des Buddha), einer internationalen Organisation für buddhistische Nonnen und Frauen. 1988 wurde sie bei der ersten Bhikkhuni-Ordination im Westen in Los Angeles voll ordiniert. 1989 zog sie auf Bitte und Initiative einiger Schüler ins Allgäu und eröffnete dort das Buddha-Haus, in dem sie in den folgenden Jahren schwerpunktmäßig lebte und lehrte.

Der Kreis begann sich zu schließen: „Die innere Reise, auf die ich mich begeben hatte, half mir, Frieden zu finden und alles, was meiner Familie und mir geschehen ist, zu verzeihen. So wurde es für mich möglich, einen Kreis zu schließen und am Ende meiner äußeren und inneren Reise in meine ehemalige Heimat zurückzukeh­

6

Ayya Khema - ein Nachruf

ren“. Diese Sätze stehen am Anfang ihrer Autobiographie und können nur andeu­ten, welch enorme Arbeit, welch enorme Reifung und welcher Wandel ihr Leben durchzogen hat. Einer der Motoren dieser Entwicklung war eine Brustkrebs- Erkrankung, von der sie seit 1983 wußte und die ihr die „Dringlichkeit der Praxis des spirituellen Weges“ ständig vor Augen hielt. Ayya Khema widmete sich auch in ihren letzten Jahren weiterhin der Lehre, sie hielt viele Vorträge, gab Meditationskurse und veröffentlichte insgesamt 26 Bücher und eine Reihe von Artikeln. Die meisten ihrer Veröffentlichungen entstammen ihrer Lehrtätigkeit und bestechen durch eine einfache, klare Sprache. Theorien waren ihr nicht besonders wichtig, sondern Anleitungen für die Praxis: für das tägliche Leben und für die Meditation. So durchzieht ihr Werk eine Fülle praktischer Hinweise von grundsätz­lichen Verhaltensregeln bis hin zu Details im Umgang mit Phänomenen bei der Meditation. Daneben verdanken wir ihr die Wiederbelebung des Wissens um die meditativen Vertiefungen und ihre Verbreitung im Westen, was auch einen unschätz­baren Wert für die Entwicklung der transpersonalen Psychologie und Psychotherapie besitzt.

Ihre orthodoxe buddhistische Haltung mag für manchen eine Herausforderung gewesen sein. Sie bescherte uns jedoch auch eine Reihe genauer Übersetzungen und authentischer Interpretationen der Lehrreden Buddhas, denn Ayya Khema lernte zu diesem Zweck eigens Pali, die Sprache, in der die Lehrtexte Buddhas zum ersten Mal schriftlich niedergelegt wurden. Gleichzeitig begann sie, Verbindungslinien zwi­schen der Lehre Buddhas und den westlichen Entwicklungen herzustellen. Sie beschäftigte sich mit den christlichen Mystikern und der westlichen Psychotherapie, die ihr letztlich doch wohl fremd geblieben ist. Sie unterstützte die Herausgabe der„Transpersonalen Psychologie und Psychotherapie“ als eine unserer wissen­schaftlichen Beiräte durch ermutigende Kommentare, Kritik und Lob.

Besonders wichtig war dir die Verankerung der buddhistischen Lehre in Deutschland durch die Ordination von Mönchen und Nonnen. Kurz vor ihrem Tod gründete sie noch ein deutsches Waldkloster und einen „Orden der westlichen Waldklostertradition“. Das Waldkloster trägt den Namen Metta Vihara. Metta, die Liebe, lag ihr besonders am Herzen. Sie wurde nicht müde, die Bedeutung der Liebe zu erklären, war bekannt für ihre Metta-Meditationen (Meditationen der liebenden Güte), schrieb ein Buch über die Bergpredigt und das hohe Lied der Liebe aus budd­histischer Sicht: „Das Größte ist die Liebe“ (1995). Vielleicht gerade dadurch blieb ihre Lehre weich, menschlich, nicht trocken oder weitabgewandt. Auch die letzten Jahre ihres Lebens, die durch die Auseinandersetzung mit ihrer zeitweise sehr schmerzhaften Krebserkrankung mit gekennzeichnet waren, stellten für sie eine Herausforderung dar, immer weiter zu wachsen, loszulassen, versöhnt zu sein. Und so endet ihre Autobiographie mit den Worten: „Ich sehe mich als Lernende von allen Mitmenschen, denen ich begegne und von der Natur um mich herum. Ich empfinde dies mit einem Gefühl des Glücks und der Demut dieser unendlich großen Schöpfung gegenüber“. Der Kreis hat sich geschlossen. Sie starb am 02. November 1997.

Mögen alle Lebewesen glücklich sein.

7

Joachim Galuska

Bibliographie - Ayya Khema

Buchveröffentlichungen:

Be an Island unto yourself (1986), Parappuduvva Nuns Island, deutsch: Sei dir selbst eine Insel (1987), Theseus Verlag, Berlin.

Buddha ohne Geheimnis (1986), Theseus Verlag, Berlin.

Being Nobody, Going Nowhere (1987), Wisdom Publications, deutsch: Die Ewigkeit ist jetzt (1998), O. W. Barth Verlag, München.

AH of us (1987), Parappuduwa Nuns Island, deutsch: Der Pfad zum Herzen (1990), Diamant Verlag, 2. Auflage 1996 im Jhana Verlag, Uttenbühl.

l.ittle Dust in our Eyes (1988), Parappuduwa Nuns Island, deutsch: Kleine Schritte (1992), Jhana Verlag, Uttenbühl.

Meditation ohne Geheimnis (1988), Theseus Verlag, Berlin.

Here and now (1989), Parappuduwa Nuns Island, deutsch: Das Herz der Lotusblume (1996), Jhana Verlag, Uttenbühl.

Meditation (1990), Jhana Verlag, Uttenbühl.

Das Geheimnis von Leben und Tod, unveränderter Nachdruck von: Morgenröte im Abendland (1991), O. W. Barth Verlag, München.

Unsere Umwelt als Spiegel (1992), Jhana Verlag, Uttenbühl.

Komm und sieh selbst (1994), Jhana Verlag, Uttenbühl.

Weihnachten - Das Fest des Lichts (1994), Jhana Verlag, Uttenbühl.

Ohne mich ist das I.eben ganz einfach (1994), Aurum Verlag, Braunschweig.

Jesus meets the Buddha (1995), Jhana Verlag, deutsch: Nicht so viel denken, mehr lieben (1998), Hoffmann Sc Campe, Hamburg.

Das Größte ist die Liebe (1995), Jhana Verlag, Uttenbühl.

Liebe ohne Geheimnis (1996), Jhana Verlag, Uttenbühl.

Who is My Self (1997), Wisdom Publications, Boston.

Die vier Ebenen des Glücks (1997), Jhana Verlag, Uttenbühl.

Ich schenke euch mein Leben (Autobiographie, 1997), O. W. Barth Verlag, München.

Artikel Veröffentlichungen:

The Nuns Island (1985), in Sandy Boucher (Hrsg.), Turning the Wheel, Harper & Row, San Francisco.

Die Bedeutung der Ordination als buddhistische Nonne (1991), in: Karma Lekshe Tsomo (Hrsg.), Töchter des Buddha, Diederichs Verlag, München.

Ayya Khema (1992), in: Ann Bancroft (Hrsg.), Wo Weisheit wächst, Walter Verlag, Olten, englisch: Weavers of Wisdom (1989), Arkana (Penguin) London, New York.

Wege zur Meditation (1994), in: Lesebuch Buddhismus, Aurum Verlag, Braunschweig.

Dealing with Stress (1995), in: Karma l.ekslie Tsomo (1 Irsg.), Buddhism Through American Women’s Eyes, Snow Lion Publications, Ithaca.

Karma, Vergänglichkeit und Tod (1996), in: Das Leben ist nur ein anderer Tod, Aurum Verlag, Braunschweig.

The Glass is Already Broken (1996), in: Martine Batchelor (Hrsg.), Walking on Lotus Flowers, Thorsons London, San Francisco.

Karma beachten und beobachten (1997), in: Alfred Weil (Hrsg.), Karma, Theseus Verlag, Berlin.

8

Transpersonale Psychologie und Psychotherapie1/98,9-25

Die geistige Dimension in der Logotherapie

Viktor Frankls Beitrag zur Transpersonalen Psychologie*

Jeremias Marseille, Meschede

Zusammenfassung: Der im letzten Jahr verstorbene Wiener Neurologe und Psychiater Viktor E. Frankl, der die Konzentrationslager der Nazis im Zweiten Weltkrieg überleben konnte und danach fortfuhr, die Logotherapie weiterzuent­wickeln und zu lehren - eine international praktizierte sinnzentrierte Psycho­therapie - wird in seinem Beitrag zur Psychotherapie und transpersonalen Psychologie vorgestellt. Eine biographische Skizze geht seinen Erfahrungen und Ideen nach, angefangen in seinen Jugendjahren, dann in der Zeit des Medizin­studiums während der wirtschaftlichen Depression der 30er Jahre, schließlich während des Holocausts im Überleben von vier Konzentrationslagern, bis hin zur Veröffentlichung seiner Theorien und Methoden in Europa und Amerika. Im Bereich der Transpersonalen Psychologie fanden insbesondere seine Terminologie und Konzeptualisierung selbsttranszendenter Erfahrungen ihren Niederschlag. Frankls System wird verglichen mit den Theorien Abraham Maslows und Ken Wilbers und weiteren Quellen transpersonaler Literatur, in denen sich seine Schriften einreihen lassen als Ausdruck der endlosen Kunst des Verstehens in der Annäherung an das Humanissimum des Menschen.

Schlüsselworte: Logotherapie; Sinnzentrierte Psychotherapie; Selbst-Distan­zierung; Selbst-Transzendenz; ,Geistiges Bei-Sein‘; Dimensionalontologie; Bewußt­sein und Selbst-Bewußtsein; personale und transpersonale Wirklichkeit.

Vor einiger Zeit schenkte mir ein Freund folgendes Gedicht von Christine Busta (1987, S. 81):

Ich glaube, daß jeder Mensch mit einer unerfüllten Sehnsucht von dieser Erde scheidet.Aber ich glaube auch,daß die Treue zu dieser Sehnsuchtdie Erfüllung unseres Lebens ist.

Das Ent-Decken der eigentlich menschlichen Sehnsucht in ihrer vitalen, ganz­menschlichen Bedeutung - der Sehnsucht nach dem Sinn des Lebens - ist die

* Überarbeitete Fassung eines Vortrages auf der Jahreskonferenz. der Association for Transpersonal Psychology in Pacific Grove, California, 1996.

9

Jeremias Marseille

Grundorientierung und -kraft des großen Wiener Psychiaters Viktor Frankl gewe­sen. Sein Lebens-Engagement galt dem Herauslocken und Nachspüren der spezi­fisch humanen geistigen Dimension in der psychiatrischen und psychotherapeu­tischen Behandlung und Begleitung unzähliger Klienten, die ihn bis zum Ende seines Lebens aufgesucht und um Rat gefragt haben. Viktor Emil Frankl, geboren am 26. März 1905 in Wien, ist am 2. September 1997 im Alter von 92 Jahren in sei­ner Heimatstadt gestorben. Von sich selber sagte er mal: „Ich habe den Sinn meines Lebens darin gesehen, anderen zu helfen, in ihrem Leben einen Sinn zu sehen“ (Simmerding 1990, S. 8).

In Hochachtung vor seiner großen Person und Wertschätzung seines Lebens möchte ich im Bereich der Transpersonalen Psychologie einen Menschen und sein Werk in Erinnerung rufen, der bereits in den 20er Jahren einen wesentlichen Beitrag zur Öffnung der Psychologie und Psychotherapie für die geistige Dimension menschlicher Existenz geleistet hat: Prof. Dr. Viktor Emil Frankl, den Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse. In seiner Begegnung und Auseinandersetzung mit der klassischen Psychoanalyse nach Sigmund Freud und der Individual­psychologie nach Alfred Adler entwickelt Frankl schon in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg ein übergeordnetes, anthropologisch fundiertes, therapeutisches System. Es erwächst aus der Opposition gegenüber seinen Vorläufer-Systemen, deren Reduktionismus er durchbrochen und überwinden will. Frankls Logotherapie zielt auf eine integrative ,Überhöhung' der klassischen Psychoanalyse und Individualpsychologie seiner Zeit durch eine dimensionale Erweiterung der Therapie in die spezifisch humane geistige Dimension.

In der amerikanischen Psychologie der späten 60er Jahre wird durch Abraham Maslows und Anthony Sutichs Heraufführung der sog. „Vierten Kraft“ die Atmosphäre verdrängter geistig-spiritueller Wirklichkeit geöffnet werden. Viktor Frankl gilt in seinem frühen Vorstoß in den 20er Jahren zu Recht als ,Vorläufer der Transpersonalen Psychologie', wie ihn Frances Vaughan und andere (Kelzer, Gorringe & Vaughan, 1980) beschreiben.

Viktor Frankls Beitrag zur Psychotherapie

Viktor Frankl wächst in einer aus Böhmen und Mähren stammenden jüdischen Familie auf. Im Sinne logotherapeutischer Autobiographie erinnert er sich später gerne an ,Sinnspuren' in seiner Kindheit und Jugend. Sie sind wie ein markantes Aufblitzen personaler, selbsttranszendenter Strukturelemente, wie sie sich in jedem Leben finden lassen. So berichtet er zum Beispiel, im Alter von vier Jahren eines Abends kurz vor dem Einschlafen aufgeschreckt worden zu sein, aufgerüttelt von der Einsicht, eines Tages sterben zu müssen. Einsichten wie diese, die in einem Kind momenthaft aufblitzen können, aber unverstanden bis auf weiteres in ,tiefen Schlaf' zurücksinken, werden im heranwachsenden und späteren Leben Frankls zum exi­stentiellen Katalysator seiner Wirksamkeit. Frankl hebt hervor, daß er trotz materi­eller Not seiner Familie in der Erfahrung von Urgeborgenheit aufwachsen konnte: „Ich muß fünf Jahre alt gewesen sein, als ich - und ich halte diese Kindheits­erinnerung für paradigmatisch - an einem sonnigen Morgen in der Sommerfrische Hainfeld erwachte und, während ich die Augen noch geschlossen hielt, von dem

10

Die geistige Dimension in der Logotherapie

unsäglich beglückenden und beseligenden Gefühl durchflutet war, geborgen, bewacht und behütet zu sein. Als ich die Augen öffnete, war mein Vater lächelnd über mich gebeugt“ (Frankl 1985, S. 146). Mit 14 Jahren stellt er zum ersten Mal bewußt die Frage nach dem Sinn des Lebens. Die herausfordernde Aussage seines Naturgeschichtslehrers in der Untermittelklasse - das Leben des Menschen ,sei nichts anderes als' ein Oxydationsvorgang - wird für ihn zum Schlüsselerlebnis. Frankl springt spontan auf und fragt: ,Was hat dann das ganze Leben für einen Sinn?' (Frankl 1991, S. 57).

Schon während des Ersten Weltkrieges besucht Frankl als Mittelschüler Vorlesungen über Psychoanalyse und angewandte Psychologie. Sein philosophi­sches Denken und Fragen bleibt als ,Untergrund-Folie' seines psychologischen Interesses präsent. Da Frankl aus der engen Wohnung der fünfköpfigen Familie häu­fig in den Prater aus weicht, zu einem ,echten Praterkind' wird, wie er sich selbst bezeichnet, beobachtet er in forschender Neugier die Menschen, die dort verweilen. Er schreibt viele Beobachtungen auf und sendet sie Freud zu, der stets unmittelbar antwortet, so daß sich zwischen beiden über mehrere Jahre ein reger Briefaustausch entwickelt. Die gesamte Korrespondenz, zuzüglich einiger handgeschriebener Krankengeschichten des jungen Freud, war Frankl wohl so bedeutsam, daß er sie bei der späteren Deportation ins Konzentrationslager mitnahm. Sie wurden von der Gestapo allesamt konfisziert und vernichtet. Zeitlebens spricht Frankl Freud große Bedeutung und für sich persönlich Vorbildcharakter zu, wenn er auch fachlich in Opposition zu ihm tritt. Zwischen den Alternativen Freud oder Adler gibt er dann der Individualpsychologie den Vorrang, da sie die Gestaltungsmöglichkeit der Wirklichkeit in ihr psychologisches System integriert und ihn folglich aus weltan­schaulicher Sicht weiterführt. Frankl sieht in der Triebtheorie Sigmund Freuds, in der rein formal betrachteten Topik (bewußt, vorbewußt, unbewußt) sowie der Dynamik (Relationen und fließende Übergänge zwischen den Provinzen) einen unumstößlichen ,Baugrund' (Frankl 1987, S. 197), der den Weg bahnte für die Weiterentwicklung in der Psychologie. In geistig dimensional erweiterter Betrach­tungsweise versteht Frankl den Menschen jedoch nicht vorrangig triebgesteuert, sondern sinnorientiert. Die klassische Psychoanalyse in ihrer pan-deterministischen Interpretation der Trieb-Dynamik weist nach Frankl bereits auf eine Frustration bzw. Blockierung des ursprünglichen Lebens und Erlebens in der Sinn-Dynamik hin. So warnt er stets vor der psychotherapeutischen Falle, das Ich und sein Erleben in einem geschlossenen und folglich pessimistischen System zu sehen. Denn die Gedanken kreisen um eine mentale Vorstellung des Ichs, um ein Ich-Bild, und täu­schen in diesem Anhaften eine Wirklichkeit und Beständigkeit des Ichs vor, die dem ,wahren Selbst' - oder Frankl würde sagen: dem ,präreflektierten Selbstverständnis' des Menschen in seinem Person-Sein - nicht entsprechen.

Es leitet ihn stets ein philosophisches Interesse, das den Menschen in einem umfassenderen Sinnzusammenhang zu sehen und zu verstehen sucht. Bereits mit 16 Jahren hält er im Rahmen einer philosophischen Arbeitsgemeinschaft' der Wiener Volkshochschule seinen ersten Vortrag über den ,Sinn des Lebens', in dem sich die kopernikanische Wende in der ganzen Fragestellung nach dem Sinn des Lebens in der These vom Antwortcharakter des Lebens und vom ,Übersinn' anbah­nen. Die tiefere Wirklichkeit des Menschen basiert nicht darauf, Fragen an das

11

Jeremias Marseille

Leben zu stellen, sondern in und durch die eigene Lebenshaltung die Fragen zu beantworten, die einem vom Leben her entgegenkommen. Der Mensch erlebt sich und ist ein vom Leben her Befragter (Frankl 1982, S. 124 f.). Im Antworten auf inne­re und äußere Herausforderungen des Lebens (im Überwinden innerer und äußerer Muster) offenbaren sich essentielle Spuren seiner Existenz. So wird die menschliche Antwortstruktur für Frankl zu einem Leitmotiv, das hinter allen seinen Veröffentlichungen steht (Frankl 1985, S. 151). Sein scharfsinniges Aufspüren jeder psychologistischen und somit reduktionistischen Interpretation, die die Weltoffenheit des Menschen leugnet, wird zur Keimzelle der historischen Entwicklung der Logotherapie.

Als 25jähiger Medizinstudent (1930) arbeitet Frankl bereits eigenständig an der psychotherapeutischen Ambulanz der Wiener Universitätsklinik. Aus dieser Zeit berichtet er: „Nun suchte ich zu vergessen, was ich von Psychoanalyse und Individualpsychologie gelernt hatte. Ich trachtete, vom Patienten zu lernen - dem Patienten zu lauschen. Ich wollte herausbekommen, wie er es anstellt, wenn sich sein Zustand bessert“ (Frankl 1985, S. 157).

Dieses Lauschen auf den Klienten versteht er als phänomenologische Annäherung an das Person-Sein, das sich offenbart im unvoreingenommenen Hören auf das präreflektierte ursprüngliche Selbst-Verständnis des Menschen (Frankl, 1967). So läßt sich Frankl von der wesentlichen Differenzierung zwischen biologisch einge­wurzelten Trieben und geistig eingewurzelter Sehnsucht leiten. Erst dann, wenn der sog. ,Wille zum Sinn' frustriert ist, wird die Lebens-Energie hinunterprojiziert und gefangengehalten in einer niedrigeren, eingeengten Dimension', die nach Alfred Adlers Individualpsychologie in einem Macht-Streben, dem sog. ,Willen zur Macht', in Erscheinung tritt. Wird auch der ,Wille zur Macht' frustriert, dann wird die Lebens-Energie noch weiter hinunterprojiziert in die Dimension des ,Willens zur Lust', wie sie sich in den Befunden der klassischen Psychoanalyse Sigmund Freuds zeigt. Dieser Prozeß der Verengung der Lebensperspektive ereignet sich im Zuge einer Vermeidung bzw. Verdrängung der ursprünglichen Lebens-Motivation, der eigentlich humanen Sinnorientierung. Das dynamisch-intentionale Leben ,gerinnt' in einen stagnativen Zustand. Umgekehrt stellen sich im sinnorientierten Daseins- Fluß Gefühle wie Lust, Glück und selbsttranszendierende Kraft von selber ein. Letztendlich weiß und fühlt der Mensch, der mit sich selbst in Kontakt ist, daß er nicht einmal nach dem Glücklichsein strebt, sondern eigentlich nach einem Grund zum Glücklichsein.

Um sich von den in die Lebens-Begrenzung und Selbst-Entfremdung hinein lau­fenden Determinanten des reinen Lust- und Macht-Strebens zu befreien (für Frankl bereits Ausdruck neurotischen Strebens) und die Lebens-Energie im umfassenderen Sinn-Streben zur Entfaltung kommen zu lassen, gilt es, die Wahrnehmung für die je tiefere innere Sehnsucht bzw. für die je weiterreichende äußere Herausforderung zu sensibilisieren. Darin ist der sog. ,Wille zum Sinn' nicht machbar und darf nicht voluntaristisch verstanden werden. Der ,Wille zum Sinn' meint die Lebens-Energie zur Sinnerfüllung, die nur angesichts entsprechend weitreichender motivationaler Konzepte entfacht werden kann. Denn „Menschsein weist immer schon über sich selbst hinaus, und die Transzendenz ihrer selbst ist die Essenz menschlicher Existenz“ (Frankl 1990, S. 10).

12

Die geistige Dimension in der Logotherapie

Nachdem Frankl aufgrund seiner Ansichten von Alfred Adler aus dem Zirkel der beginnenden Individualpsychologie hinausgestoßen wurde, entwickelt er eine sinn­zentrierte Psychotherapie, die Logotherapie (wobei das griech. Wort ,Logos' mit ,Geist' bzw. ,Sinn' übersetzt werden kann), als eine existenzanalytische Therapie auf die geistige Dimension des Klienten hin. Sie ist zu verstehen als eine Motivation ,innerer Selbstheilkräfte', um von dort her die Therapie in der psychischen und somatischen Dimension günstig zu unterstützen. Der Sinnverwirklichungs-Wille geistig-personaler Existenz tritt als eine leibgebundene psychodynamische Spannung auf, die schließlich einer sinngerichteten Integrationsarbeit bedarf. Frankl selber versteht die Logotherapie als eine Therapie, die die Psychotherapie ergänzt, aber nicht ersetzt. „Es geht darum, nicht immer wieder dort aufzuhören, wo man angefangen hat: bei jenem ,Unter‘-Bau, auf den die ,Tiefen‘-Psychologie ihr alleini­ges Augenmerk gerichtet hat“ (Frankl 1990, S. 272).

Geistiges Sein, auch als (nicht religionsspezifische) Spiritualität zu verstehen, bedarf der Möglichkeit, sich in den ihr eigenen Formen und Weisen auszudrücken, die nicht durch reduktionistische Systeme hinweg zu erklären sind. Spiritualität ist lebendig in bewußten, vorbewußten und unbewußten Dimensionen, entsprechend der Provinzen der Psyche. Ebenso wie es das triebhaft Unbewußte gibt, existiert auch geistig Unbewußtes. Folglich kann sich verdrängtes geistiges Sein, z.B. eine verdrängte innere Sehnsucht, auch Neurose-bildend auswirken wie Verdrängungen psychodynamischer Provenienz. Frankl spricht dann von ,noogenen Neurosen' im Unterschied zu psycho- und somatogenen Neurosen. In diesem Fall muß die Therapie auch ,im Nous' - in der geistigen Dimension - ansetzen. Diese therapeuti­sche Arbeit ist die eigentliche Herausforderung der ,Ärztlichen Seelsorge'. Sie „liegt zwischen zwei Reichen. So ist sie ein Grenzgebiet. Als Grenzgebiet ist sie ein Niemandsland. Und doch - welch ein Land der Verheißung!“ (Frankl 1991, S. 289).

In der Wahrnehmung und Aktualisierung persönlich zu entdeckender Sinn- Möglichkeiten entfaltet sich das Wesen des menschlichen Daseins. Dem Menschen wird geistig Unbewußtes bewußt - ein Prozeß der Existenzanalyse: „Sie dehnt ihre Analyse auf die Ganzheit des Menschen aus, die nicht nur eine psychophysisch­organismische, sondern auch eine geistig-personale ist. Und diesem Geistigen folgt die Existenzanalyse in seine unbewußte Tiefe hinab“ (Frankl 1987, S. 186).

Frankl beschreibt sein logotheoretisches System ethisch neutral. ,Aus was' oder ,vor wem' sich die Erweiterung der sinnoffenen Bewußtheit und der Verantwort­lichkeit ereignen, kann nur - wenn überhaupt - der/die Betreffende selbst für sich beantworten. Die Logotherapie muß für jeden Klienten und Therapeuten - religiös oder nicht religiös orientiert - anwendbar bleiben. So bereitet sie die Zimmer der Immanenz, ohne die Türen zur Transzendenz zu verstellen oder gar zu verrammeln (Frankl, 1986).

Frankl spricht 1926 zum ersten Mal von „Logotherapie“ und systematisiert zu Beginn der 30er Jahre sein psychologisches und psychiatrisches Gedankengut. In dieser Zeit der hohen Arbeitslosigkeit und schleichenden Ausbreitung eines unter­schwelligen Sinnlosigkeitsgefühls organisiert Frankl in Wien und sechs weiteren Städten Jugendberatungsstellen. Mehrere Mitarbeiter stellen sich seiner Arbeit ehrenamtlich zur Verfügung; unter ihnen auch Charlotte Bühler, später maßgebliche Vertreterin der Humanistischen Psychologie. Dann leitet Frankl über vier Jahre den

13

Jeremias Marseille

sog. ,Selbstmörderinnenpavillon' des Psychiatrischen Krankenhauses ,Am Steinhof in Wien. Mit dem psychiatrischen Formenkreis der Depression und Suizidneigung sowie dem Leiden an der Sinnlosigkeit des Lebens wird er tagtäglich konfrontiert. Um die 3000 Patientinnen pro Jahr stellten sich bei ihm vor. Ohne jedoch von diesen massiven Lebenszweifeln und -ängsten selbst überwältigt zu werden, war sein Blick weniger darauf gerichtet, welche möglichen Ursachen zur eskalierten Ausweglosig­keit geführt haben mögen, als vielmehr auf das gesunde Potential in den Patientinnen selbst, ihre Möglichkeiten, sich zu einer neuen Sinnperspektive durchzuringen. Frankl betont stets, daß der Mensch ursprünglich von Trieben gedrängt, aber vom Sinn gezogen wird. Seine Ur-Motivation ist der ,Wille zum Sinn* (Frankl 1966, 100).

Als jüdischer Arzt bekommt er die Leitung der Neurologie des Rothschild-Spitals in Wien übertragen. Angesichts des Einmarsches der deutschen Truppen in Öster­reich spitzt sich 1938 die Situation für ihn zu. Frankl wartet auf ein Visum aus den USA. Er schreibt die erste Fassung der ,Ärztlichen Seelsorge', um für alle Fälle die Quintessenz der Logotherapie überleben zu lassen, und näht das Manuskript unter das Futter seines Mantels ein. Das ersehnte Visum kommt. Aber nach spontanem Entschluß bleibt Frankl in Wien, um seine Eltern zu schützen, die durch ihn unter Deportationsschutz standen. 1942 wird er mit seinen Familienangehörigen - außer einer Schwester, die nach Australien fliehen konnte - von der Gestapo verhaftet und ins Konzentrationslager deportiert. Alle kommen ums Leben. Er selbst aber über­lebt vier Konzentrationslager in einer Zeit, die sich über drei Jahre erstreckt: Theresienstadt, Auschwitz, das Dachauer Außenlager Kaufering und Türkheim. Mit seinen nahen Familienangehörigen bleibt er in intimer geistiger Verbindung. Er führt mit ihnen lange innere Dialoge in seinen Einsamkeiten. Einmal kann er seine Mutter durch ein Mauerloch zwischen anderen Frauen im gemeinsamen Gebet ste­hen sehen (Raban 1989, S. 16). Später muß auch sie ins Gas gehen.

ln Viktor Frankls persönlichem Holocaust und in dem vieler seiner Mithäftlinge bewahrheitet sich sein therapeutisches System, das von der Grundannahme der eigentlichen Urvermögen menschlicher Existenz ausgeht. „Was blieb war der Mensch, der ,bloße' Mensch. Alles war in diesen Jahren von ihm abgefallen: Geld, Macht, Ruhm; nichts mehr war für ihn sicher: nicht das Leben, nicht die Gesundheit, nicht das Glück; alles war ihm fragwürdig geworden: Eitelkeit, Ehrgeiz, Beziehungen. Alles wurde reduziert auf die nackte Existenz. Durchglüht vom Schmerz, wurde alles Unwesentliche eingeschmolzen - der Mensch schmolz zusammen auf das, was er letztlich war...“ (Frankl 1985, S. 83f). In der geistigen Fähigkeit zur Selbst-Distanzierung und Selbst-Transzendenz wachsen Frankl und anderen Häftlingen Lebens-Ressourcen zu, die sie die Hölle von Auschwitz überle­ben läßt. Das spezifische Charakteristikum der Logotherapie wird die therapeuti­sche Begegnung mit Klienten, die sich in einem unabänderlichen Schicksal befinden. Aus eigener Erfahrung formuliert Frankl ein psychiatrisches Credo: Die Zerrüttung des Organismus kann den Zugang zur geistigen Person verschütten, sie selbst aber nicht zerstören (Frankl 1990, S. 173). Dem folgt ein psychotherapeutisches Credo: Die geistige Dimension ist - entsprechend motiviert - imstande, sich vom Psychophysikum ,abzuheben' und ihm gegenüberzutreten (Frankl, 1990, S. 242).

ln der Krise nach seiner Rückkehr aus den Konzentrationslagern lenkt Frankl sei­ne ganze Aufmerksamkeit auf die Fertigstellung der „Ärztlichen Seelsorge“ (engl.

14

Die geistige Dimension in der Logotherapie

Titel: ,The Doctor and the Soul'). Ihr voran stellt er seinen KZ-Erlebnisbericht, „...trotzdem Ja zum Leben sagen“, der unter dem engl. Titel „Man’s Search for Meaning“ bislang rund neun Millionen Veröffentlichungen erlebt hat. In der Verarbeitung des Schrecklichen der Vergangenheit tauchen immer auch Überlebens- Werte der Gefangenen auf. Für viele Leser wird Frankls Buch zur existentiellen Konfrontation und Biblio-Therapeutikum.

Die logotherapeutische Ausbildung sieht heute die Möglichkeit zu einem ein­jährigen Prozeß logotherapeutisch geführter Autobiographie vor, entwickelt von Elisabeth Lukas (1991). Die Reflexion der eigenen Lebens-Vergangenheit und Lebens-Gegenwart sowie das imaginative Hinauslangen in die eigene Lebens- Zukunft wird zur Konfrontation mit der geistigen Dimension eigener Existenz - ein intensiver WEG des Bei-Sich-Seins. Diese Methode zeigt u.a., daß ein gegenwärti­ger Blick auf die Erwartungen an die eigene Zukunft mindestens ebenso viel thera­peutisches Material hervorbringt wie der gegenwärtige Blick in die eigene Vergangenheit. Entscheidend ist das bleibend Wesentliche, das sich je nur ,im Jetzt' auftun kann. Als Martin Heidegger einmal Viktor Frankl in Wien besucht, bringt er seine geistige Verwandtschaft mit ihm zum Ausdruck, indem er ihm folgende Widmung niederschreibt: „Das Vergangene geht. Das Gewesene kommt“ (Frankl 1985, S. 145).

Viktor Frankl wird in seinen letzten Jahrzehnten mit 27 Ehrendoktoraten von internationalen Universitäten gewürdigt, insbesondere aus den Vereinigten Staaten und Lateinamerika. Seine letzte Vorlesung an der Universität Wien hält er noch im Jahre 1995.

Theoretische Aspekte der Logotherapie

Gemäß dem Erweiterungs- und Ergänzungs-Charakter der Logotherapie tauchen Grunddaten der Vorgängersysteme Psychoanalyse und Individualpsychologie in ihr wieder auf. Die Psychoanalyse betont die Erweiterung des Bewußtseins durch Integration des Es zur Befreiung des Ichs; metaphorisch eine Transformation von einem Nebeneinander zu einem Miteinander in der Raumdimension. Die Individualpsychologie zielt auf die Befreiung des Ichs durch das Erkennen des Verantwortungsgefühls für sich und die Gemeinschaft; metaphorisch eine Transformation von einem Nacheinander zu einem Zueinander in der Zeitdimension. Frankl lenkt seine Aufmerksamkeit im Sinne der Existenzanalyse darauf, wie die beiden Grund Wirklichkeiten menschlicher Existenz, Bewußtsein und Verantwortlichsein, überhaupt erst präsent werden.

Auf dem Hintergrund der phänomenologischen Psychologie Edmund Husserls weist er auf die dynamisch ausgerichtete Intentionalität des Seelenlebens; ein ganz- menschliches Ausgerichtetsein zwischen Sein und Möglich-Sein, zwischen Sein und Sollen. Darin taucht aber schon die geistige Dimension des Menschen in ihrer Vernetzungskraft auf. Alles Leben geschieht in Beziehung; denn: „Erst durch das Bezogen-werden des einen Seienden auf ein Anders-seiendes wird beides überhaupt konstituiert. Die Beziehung zwischen Seiendem als je Andersseiendem ist ihm irgendwie vorrangig. Sein = Anderssein, d.h. ,Anders-sein als' - also Relation; eigentlich ,ist' nur die Relation ... Alles Sein ist Bezogen-sein“ (Frankl 1991, S. 123).

15

Jeremias Marseille

Frankls Antwort auf Freud lautet entsprechend: „Nur das Ich, das ein Du intendiert, kann das eigene Es integrieren“ (Frankl 1991, S. 25).

Die geistige Dynamik menschlicher Existenz

Frankl beschreibt die geistigen Grundbewegungen menschlicher Existenz in drei Grundfähigkeiten:

• Die Selbst-Distanzierung ist eine geistige Fähigkeit, außerhalb seiner selbst einen Standpunkt einzunehmen, sich in seiner psychophysischen Konstitution wahrzunehmen und zu sich selber Stellung zu beziehen. Hierin erfährt der Mensch, daß er mehr ist als das, was er sieht, als das, worunter er u. U. leidet. So ist z.B. die Betrachtung seiner gegenwärtigen Situation aus der abständigen Zukunft heraus Ausdruck dieser geistigen Fähigkeit: Wie sehe ich mich vom Morgen her im Heute? Ebenso ist das humorvolle Lachenkönnen über sich selbst eine geistige Fähigkeit der Selbst-Distanzierung.

• Die Selbst-Transzendenz als geistige Fähigkeit des ,Über-sich-selbst-Hinaus- ragens' verweist auf das grundsätzliche Bezogensein menschlicher Existenz; auf den ,Willen zum Sinn', der in dem Augenblick motiviert wird, in dem ein Sinn aufleuch­tet. Sie ist der empirisch aufgewiesene Angelpunkt logotherapeutischer Praxis.

• Geistiges Bei-Sein ist Bedingung jeder Wahrnehmung und zeigt sich in existen­tiellem Lieben und Erkennen unabhängig von Raum und Zeit. Es ist ein ,Wissen', das vor die Entzweiung des Daseins in Subjekt und Objekt zurücktritt, und läßt sich vielleicht symbolhaft am besten veranschaulichen an unserem vom Leben unab­trennbaren Atem des Lebens.

Grundzüge des logotherapeutischen Menschenbildes

Wie ein Tisch auf drei Beinen stabil steht, so ruht auch die Logotherapie auf drei Grundsäulen:

• Anthropologisch geht sie von der unbedingten Würde des Menschen und seiner inneren Freiheit aus. In jedem Menschen lebt eine heile und unzerstörbare Personalität, ein Potential innerer Freiheit und Antwort-Fähigkeit (Verantwortung), die trotz aller schicksalhaften Bedingungen existiert. Dieses Axiom bewahrt vor der Falle des Pan-Determinismus.

• Psychologisch geht sie von der Motivations-Theorie aus, daß die ursprüngliche und eigentliche Motivation des Menschen der sog. ,Wille zum Sinn' ist. Diese verifi­zierbare Erfahrung bewahrt vor der Falle des Reduktionismus.

• Philosophisch vertritt sie die Überzeugung, daß das Leben einen bedingungs­losen Sinn hat, eben auch, wenn er nicht erahnt bzw. erkannt werden kann. Dieses Axiom bewahrt vor der Falle des Nihilismus.

Der Person-Begriff in der Logotherapie

Frankl beschreibt den phänomenologischen ,Gegenstand' der existentiellen Weltoffenheit und geistigen Transzendenzbezogenheit des Menschen auf den Spuren des philosophischen Begriffs der Person, insbesondere geprägt durch den

16

Die geistige Dimension in der Logotherapie

Begründer der philosophischen Anthropologie Max Scheler, von dem eine der ersten Kritiken der klassischen Psychoanalyse ausging. Scheler forderte damals von Freud Unterscheidungskriterien zwischen neurotisierenden Verdrängungen und echten Motivationen ein (Scheler 1973, S. 195-208). Der Mensch ist Person; und die Person ist geistig. Ihr kommt unbedingte Würde zu, unabhängig von vitaler und sozialer Nützlichkeit. Als unteilbare Einheit und unverschmelzbare Ganzheit geht sie nicht in einer Weltanschauung auf, sondern bleibt unübertragbare eigenständige geistige Existenz; und ist als solche ein je absolutes Novum. Die Person ist ichhaft, aber nicht identisch mit dem Ich, und wurzelt im geistig Unbewußten. Für Frankl ,ist‘ mensch­liche Person (nach Scheler) erst in der intentionalen Beziehung (nach Husserl). Sie konstituiert die leiblich-seelisch-geistige Einheit. Die Person ist dynamisch; d.h., der Mensch ist ,Menschsein im Fluß', stets gewordenes und werd-bares Sein.

Die ,DimensionaIontologie‘

Der Mensch lebt als eine ontische Ganzheit in einer ontologischen Vielfalt von physischer, psychischer und geistiger Dimension. Diese Unterscheidung will nicht die Leib/Seele/Geist-Einheit auftrennen, sondern gilt lediglich als eine ,Arbeits­hypothese'. Die drei Dimensionen korrelieren und durchdringen einander. Sie bil­den sich nur in der Ganzmenschlichkeit ab. Die geistige Dimension ist die weitrei­chendste unter den dreien, die die Totalität und Einmaligkeit der menschlichen Person konstituiert. Für die psycho-diagnostische und psycho-therapeutische Gegebenheit folgt daraus, daß das Leben niemals in einem,Entweder-Oder' aufgeht. Die geistige Dimension ist wie ein unberechenbarer ,Code' im System. Frankl betont: ,Tertium datur'. Das Leben ist eben nicht eindeutig, sondern ein komplexes Gewebe.

„Das Sein konstituiert sich nicht nur als je anderes, sondern es staffelt sich auch als je anderes - es staffelt sich in immer höheren ,Dimensionen' des Anders-Seins!' (Frankl 1991, S. 301).

So lassen sich aus unterschiedlichen Perspektiven auf ein Leben auch unterschied­liche Phänomene beobachten, die mit einem ,Und' zu verbinden sind, entsprechend der ,Und-Philosophie' des Pragmatismus nach William James (James, 1977, 1979). In dieser pluralistischen Sichtweise geht es nicht um die Entscheidung zwischen richtig und falsch, sondern zwischen authentisch und nicht authentisch. Die Beziehungen unter den drei Dimensionen offenbaren sich in der Erfahrung.

Die drei Wertkategorien der ,Dimensionalontologie'

In den Werten eines Menschen offenbaren sich Spuren seiner Existenz. Der Mensch erfüllt schaffend seinen Daseins-Sinn (schöpferische Werte). Der Mensch reichert erlebend, begegnend und liebend sein Leben mit Sinn an (Erfahrungs- Werte). Der Mensch kann auch noch im Leiden angesichts eines unabänderlichen Schicksals Sinn verwirklichen - und vielleicht sogar gerade da -, wenn ihm jede Machbarkeit und vordergründige Erlebbarkeit genommen ist und er in der Haltung des Loslassens und der Annahme seines Schicksals über sich selbst hinauswächst in eine kontemplative Lebenshaltung hinein, in der er vertrauen, lieben, leiden und

17

Jeremias Marseille

schauen kann (Einstellungs-Werte). Natürlich durchdringen die Wertkategorien ein­ander. Bei der Verwirklichung eines schöpferischen Wertes - z. B. beim Malen eines Bildes - schwingen Gefühle als Erfahrungs-Werte und eine geistige Haltung als Einstellungs-Wert mit. Im Unterschied zu schöpferischen und Erfahrungs-Werten können Einstellungs-Werte bis in den letzten Atemzug des Lebens hinein aktuali­siert werden. Das Leben hört nicht auf, von einem möglichen Sinn herausgefordert zu sein.

Tn geistigem Kon-Takt mit der sinnoffenen Bewußtheit können die psychothera­peutischen Fallen der Hyperreflexion und Hyperintention - Ausdruck der Ich- Anhaftung - umgangen werden. Aus geistiger Perspektive kann in der Erfahrung inneren Unbehagens wie Angst, Aggression, Langeweile, Eifersucht usw. ... auch erfahren werden, wie solche Gefühle entstehen, kommen und vergehen. Es kommt zur Bewußtheit: ,Ich bin nicht die Angst, sondern ich habe Angst-Gefühle. Ich bin mehr als das Gefühl.' Vielleicht stellt sich sogar eines Tages die innere Erfahrung ein, daß ,ICH BIN'.

Entsprechend der dimensionalen Differenzierung Frankls ist auch eine dimensio­nalontologisch orientierte Diagnose erforderlich, um z.B. zu erkennen, ob eine Neurose ihren aktuellen und akuten Grund in der physischen, psychischen oder gei­stig-spirituellen Dimension hat. Im letzten Fall gründet die ,noogene Neurose' wie eine Vakat-Wucherung in einem existentiellen Vakuum und läßt ein tiefes Sinnlosigkeits-Gefühl aufkommen. Eine grundsätzliche Lebens-Bejahung eigener Existenz wirkt auch stabilisierend auf die Affektlage, diese wiederum auf die orga­nismische Immunlage.

Was ist mit Sinn gemeint ?

Sinn erfahren bedeutet, daß das Leben mir persönlich zugewandt ist. Sinn kann nicht gegeben, sondern muß entdeckt werden. Er kann nicht verordnet, sondern höchstens beschrieben werden. Der Sinnfindungsprozeß liegt in der Mitte eines spontanen und folglich unmittelbaren Aha-Erlebnisses und einer Gestaltwahr­nehmung, also im plötzlichen Aufleuchten einer Möglichkeit auf dem Hintergrund der Wirklichkeit mit dem Ziel, letztere sobald wie möglich und so lange noch mög­lich zu verändern (Frankl 1990, S. 90).

Joseph Fabry (1988a), einer der ersten Schüler Frankls und Gründer des Logotherapie-Instituts in Kalifornien, beschreibt den Sinn auf zwei Ebenen: Der umfassende letzte Sinn und der Sinn des Augenblicks ... DER Sinn des Lebens ist wie ein Horizont, der sich einem vorweg schiebt. In dem Moment, in dem du glaubst, ihn erfaßt zu haben, bist du geistig-spirituell tot. ... Aber um eine sinner­füllte Existenz zu leben, die auf die Erfüllung DES Lebens-Sinns schlechthin hin­zielt, mußt du versuchen, den Sinn des Augenblicks zu leben. Folgende Verbindung sieht er zwischen DEM letzten Sinn des Lebens und dem Sinn des Augenblicks: Wenn du einen letzten Sinn - sei es in einem religiösen oder nicht religiösen Kontext- annimmst, kannst du u.U. die Herausforderungen des Augenblicks leichter erspüren, weil du so etwas wie einen eingebauten Kompaß hast, der dir die Richtung auf Sinn hin weist. Wenn du aber einen letzten Sinn nicht annehmen kannst, dann wirst du die,Sinn-Gestalt' des Augenblicks halt so gut wie möglich beantworten. Im

18

Die geistige Dimension in der Logotherapie

Laufe des Lebens wirst du dich dem Verstehen DES letzten Sinns annähern. Wir könnten auch sagen: Den Weg gehend erfährst du den Sinn.

Sinn-Spuren können je nach Art der verwirklichten Werte aufscheinen. Die Sinn- Qualität schöpferischer Werte zeigt sich in den geschaffenen Werken selber. Erfahrungs-Werte stellen sich im inneren Gespür für den Sinn des Augenblicks ein; in Freude, Inspiration, Gipfel-Erlebnissen, Hingabe, Mut, auch in der Erfahrung von Zufriedenheit und Dankbarkeit. Einstellungs-Werte offenbaren sich in der Erfahrung ,lebendiger Stille' und eines ,inneren wortlosen Wissens' um die geistige Kraft der Gegenwart. Ihnen folgt bestätigend der Erfahrungs-Wert innerer Ausgeglichenheit. Je umfassender und tiefer Sinn-Spuren erfahren werden, je unscheinbarer und wirk-mächtiger sind sie. Frankl betont, daß jeder Glaube an einen (wie auch immer religiös geprägten) Über-Sinn in der Kraft der Liebe wurzelt, auf die hin der Mensch zuinnerst prädisponiert ist. In der Gegenwart solcher Liebes- Energie kann alles als sinnvoll erscheinen, nichts aber als umsonst. Sinn-Suche in der Situation existentieller Frustration heißt Ausschau halten nach verschütteten Erfahrungs-Spuren des Seins, des Geliebt-Seins in der Lebensgeschichte, mögen sie noch so unscheinbar sein.

Stellen wir uns z. B. einen Klienten vor, dessen Leben wie ein Kartenhaus zusam­mengestürzt ist und der für sich realisiert: „Ich kann mich nicht erinnern, irgend­wann einmal in meinem Leben geliebt worden zu sein ...“. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes „zu Grunde gegangen“. In dieser Extrem-Situation kann u.U. die inne­re Haltung und Überzeugung des Therapeuten, daß das Leben bedingungslos sinn­voll ist, für beide - Klienten und Therapeuten - zur einzigen Kraft-Quelle werden. Werden dem Therapeuten nicht aus innerer spontaner Intuition angemessene Worte bewußt, dann ist zunächst jedes gesprochene Wort ein Wort zu viel. In diesem Augenblick ist es besser, still zu bleiben, die schmerzvolle Spannung des Klienten mit auszuhalten und die Stille ,zu leben'. Spätestens hier beginnt die Aufgabe des Therapeuten, auf ,Sinn-Hinweise' (logohints) zu lauschen, die aus dem geistig Un­bewußten auftauchen können. Ein ,Sinn-Hinweis' kann eine kleine beiläufige Phrase des Klienten sein, nur ein Wort, ein nonverbaler Ausdruck der Erregung... (Fabry, 1988). In der Wahrnehmung, daß das Sinnlosigkeitsgefühl zuinnerst in Bewegung kommt, hat der Heilungsprozeß schon angefangen und nimmt seinen Weg.

Frankls Beitrag zur Transpersonalen Psychologie

Gegen Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre war Frankl Gast-Professor an den Universitäten von Harvard und Stanford. Er lernt Abraham Maslow an der Brandeis University kennen. Sie werden nicht nur fachliche, sondern auch freund­schaftliche Kollegen in der gemeinsamen Suche nach heilsamen Ressourcen, nach dem ,Mehr' im Menschen. Der personale Ansatz Frankls und der humanistisch­transpersonale Ansatz Maslows zielen auf eine Rehumanisierung der Psycho­therapie. Maslow übernimmt schließlich den Begriff der ,Selbsttranszendenz' von Frankl (Bühler, Allen 1974, S. 75). Beide sehen im selbsttranszendierenden Vollzug einen therapeutisch günstigen Faktor. Der Maslow-Interpret Colin Wilson spricht von der „Maslow-Frankl theory of mental health“ (Wilson 1972, S. 173-178). Nach ihr kann jede - auch jede leidvolle - Herausforderung im Leben zu einer

19

Jeremias Marseille

Intensivierung geistiger und ethischer Vitalität führen. Die Suche nach Sinn- und Gipfel-Erfahrungen hat einen positiven therapeutischen Übertragungseffekt. Sie kann die unbewußten Schleusen für die gegenwärtigen Möglichkeiten der eigenen Sinn- und Selbst-Entdeckung wie -Aktualisierung öffnen und den Neurose­gefährdeten aus seiner provisorischen Lebenshaltung' (Frankl) herausziehen. Das eigene Bewußtsein wird in der Erfahrung seiner Begrenztheit aufgesprengt. Entsprechend betont schon Gordon Allport - er legte die Grundlagen der Humanistischen Psychologie daß je nach persönlich weitreichender Welt­anschauung der Therapeut die Kraft der Wertschätzung und Erhöhung, aber auch die Macht der Erniedrigung menschlicher Existenz hat.

Während der Entwicklung der sog. „Vierten Kraft“ in der Psychologie löst sich Maslow von seiner beinahe starren Bedürfnishierarchie und nähert sich in seiner humanistischen und transhumanistischen Perspektive Frankls Theorie an. Die Erfahrung von Gipfel-Erlebnissen setzt nicht die Stillung aller Defizitbedürfnisse voraus. Maslow schreibt: „Ich stimme völlig mit Frankl überein, daß die Ur- Motivation des Menschen (ich würde sogar sagen die ,höchste Motivation') der Wille zum Sinn ist ... Frankl vermittelt uns, daß ,Seins-Wissen' (B-Cognition) sogar aus Schmerz, Leid und Tragik kommen kann“ (Maslow 1966, S. 108).

1968 nimmt Frankl an einer Diskussion mit Abraham Maslow, Stanislav Grof und James Fadiman teil. Es ging um die Bezeichnung der Bewegung der „Vierten Kraft“ in der Psychologie; sollte sie ,transhumanistische' (nach Julian Huxley) oder ,trans- personale' Psychologie heißen? (Sutich, 1969, 1976). Offensichtlich hat Frankl durch seinen personalen Ansatz den Begriff der trans-person-alen Psychologie mit­geprägt. Stanislav Grof bezeugt: „Vor einigen Jahren habe ich viele Stunden lang mit Abraham Maslow, Anthony Sutich, James Fadiman und Viktor Frankl diskutiert - die sämtlich eine wesentliche Rolle bei der Formulierung der Prinzipien der Trans personalen Psychologie gespielt haben. Bei diesen Diskussionen stimmten wir alle darin überein, daß Beobachtungen, die mit der Verwendung psychedelischer Substanzen in der Psychotherapie (und in gewissem Maße mit deren Mißbrauch durch die allgemeine Bevölkerung) zu tun haben, von größter Bedeutung für die Persönlichkeitstheorie sind und das Bedürfnis nach einer neuen Disziplin deutlich machen.“ (Grof 1988, S. 333 f.)

Frankl hat demnach nicht unwesentliche Kontakte zu den Initiatoren der heran- wachsenden Transpersonalen Psychologie gehabt, von der er sich später wieder mehr distanziert. Auf Einladung Abraham Maslows wird er Mitglied des ,Board of Editors' des ,Journal of Transpersonal Psychology'. Er selbst antwortete mir 1992 in einem Brief auf meine Anfrage nach dem Verhältnis zwischen Logotherapie und Transpersonaler Psychologie: „ . . . Meiner Ansicht nach hat die Psychotherapie gegenüber der Theologie bzw. der letzteren Thematik (gemeint ist die Transpersonale Psychologie; d. Verf.) offen zu sein, aber ihr nicht ins Kraut zu stei­gen; wir sollten versuchen, die Tür zur Transzendenz offen zu halten, also nicht durch Reduktionismus zu verrammeln; aber es ist nicht unseres Amtes, diese Tür zu durchschreiten oder gar unsere Patienten dazu zu drängen, es zu tun . . . “ (Frankl in einem Brief an den Verfasser vom 20. Januar 1992). Frankl distanziert sich von jeder Weise der Forcierung transpersonaler Erfahrungen, nicht aber vom Phänomen der Transpersonalität selber.

20

Die geistige Dimension in der Logotherapie

Die geistig-personale Dimension menschlicher Existenz im Sinne der Logotherapie ist offen für das je Andere, für die Unberechenbarkeit, für das Transpersonale. Sie wartet an der Schwelle. Entscheidend ist das Wagnis und die Offenheit zum permanenten Wandel, der ,Mut zum Sein', so daß die logotherapeu- tische Arbeit unter anderem auch eine Rezeptivität vorbereiten kann, die für eine transpersonale Transformation ,öffnet' und eine neue innere Ordnung schafft (Sedlak 1994, S. 98 u. S. 103; Fabry 1988 b, S. 89-107).

Vergleichende Aspekte zwischen Frankls, Maslows und

Wilbers Systemen:

Maslow betont die Selbstaktualisierung in seiner organismischen Theorie. Die Metabedürfnisse sind biologisch verwurzelt (Maslow 1987, S. 147). Die formale Ermöglichung zur Selbstaktualisierung ist genetisch vorherbestimmt (siehe: „prede­termined“ in: Wilson 1972, S. 174ff.) und kommt in entsprechender Umgebung zur Entfaltung.

Frankl betont die Selbsttranszendenz und die innere Freiheit der Person. Eine fruchtbare Entwicklung des Menschen geschieht nicht ,quasi-automatisch', sobald der Mensch die richtige Umgebung vorfindet. Die uneingeschränkte heile Person ist eine basal notwendige, aber noch keine zureichende Bedingung für glückendes Leben. Als ein vom Leben her Befragter wird der Mensch durch seine Antwort auf die Herausforderungen des Lebens zum ,Mit-Gestalter' seiner Situation. Frankl unterscheidet zwischen dem Geistigen - dem unmittelbaren Gewußtsein - als ,primärem Wissen' und dem auf sich selbst hin reflexiven Bewußtsein als einem ,sekundären Wissen' eben dieses primären Wissens (Frankl 1990, S. 212 f.). Letzteres geht aus ersterem hervor. Maslows Meta-Theorie hingegen läßt das Selbst­bewußtsein (Bewußtsein des Menschen von seiner eigenen inneren Natur) und Bewußtsein (selbsttranszendierende Qualität) deckungsgleich in eins fallen. Dem folgt, daß die Transpersonalität auf den Intellekt und die leibseelische Einheit (bodymind) addierend ,aufgepfropft' wird, wie es Wilber kritisch bemerkt (Wilber 1988, S. 144).

Frankls Verständnis von ,geistiger Person' ist ein ontologisches Apriori, das er beschreibt als „Spielraum, in dem das Ich atmet“ (Frankl 1990, S. 266); ein Zentrum von Beziehung, das sich prinzipiell in einer unendlichen Menge von relationalen Strukturen vereint; oder in den Worten Michael von Brücks: ein „strukturalisieren- des Prinzip von Wirklichkeit“ (v. Brück 1986, S. 287-292). Die geistige Person ist dimensional umfassender als die psychophysischen Selbst-Aspekte der ,inneren Natur' (Selbstbewußtsein) nach Maslow. Frankl (1975, S. 108 f.) sagt von sich: „Ich weiß nicht, wer ich bin, ich weiß nicht, was ich bin, was an mir ist... Wenn etwas an mir ist, so muß es zutage treten dadurch, daß ich es für ,die Forderung der Stunde' erachte... Das ist die Einzigartigkeit meiner Person, involviert und engagiert in die Einmaligkeit der Situation, der ich begegne, in der ich stehe.“ Es ließe sich fort­führen: aber ich erfahre, daß ICH BIN.

ln Wilbers Spektrum-Psychologie scheint mir eine größere Entsprechung zur Logotherapie zu liegen als in der Meta-Theorie Maslows. Entwickelt sich nach

21

Jeremias Marseille

Wilber die Psyche von einfachen zu komplexen Strukturen, also von präpersonalem über personales zu transpersonalem Bewußtsein, so entsteht die jeweils höhere Ebene des Bewußtseins nicht aus der davorliegenden niedrigeren, sondern steigt aus dem unbewußten Urgrund durch die tiefere Ebene hindurch auf. Entsprechend äußert sich die Entwicklung des Menschen aus Frankls Perspektive im reflexiven Bewußtsein der individuierten geistigen Dimension. Beide stellen ihr Menschenbild durch ineinanderliegende, konzentrische Kreise dar, wobei Wilber in seinem Modell die geistige Dimension im Sinne der Bewußtseinserweiterung (,Bewußtsein' im Verständnis östlicher Terminologie) in weitere Kreise (mentale, existentielle, trans- personale Dimension) differenziert. (Vgl. die graphische Darstellung zu Wilbers Spektrum-Modell in: Vaughan 1993, S. 46; sowie die graphische Darstellung zu Frankls Dimensionalontogie in: Frankl 1988, S. 21) Frankl transformiert das ihm vorliegende philosophische Schichten-Modell von Körper, Seele und Geist - eins vom anderen getrennt - in ein dimensionales Modell. Die Qualitäten der verschie­denen Dimensionen durchdringen einander.

Es ist interessant zu sehen, daß in beiden Systemen - nach Wilber und nach Frankl - die verschiedenen Ebenen bzw. Dimensionen aus einem unbewußten Ur- Grund aufsteigen (entsprechend Frankls geistig Unbewußtem). In beiden Systemen findet sich eine vergleichbare Unterscheidung:

• bei Wilber zwischen dem in den Basisstrukturen sich manifestierenden Bewußtsein und dem in den Übergangsstrukturen sich offenbarenden Selbstbewußtsein;

• bei Frankl zwischen Gewußtsein und reflexivem Bewußtsein (= Selbstbewußt­sein).

Was Wilber aus östlich-philosophischem Hintergrund mit ,Bewußtsein' im Hinblick auf den absoluten GEIST beschreibt, ist vom ,Selbstbewußtsein' dimen­sional unterschieden, ist ihm vorgängig und entsteht nicht abhängig von seinem Werden und Vergehen.

Vergleichbar versucht die Existenzanalyse Frankls, im Einvernehmen mit dualen wie nicht-dualen religiösen Systemen, das Wesen der menschlichen Natur unter sei­nen verschiedenen Bezeichnungen - wie Dasein, Tao, Zen, Selbst-Realisation usw. - phänomenologisch-beschreibend zu ermitteln und therapeutisch zu berücksichtigen (Ko 1980, S. 296-298). So geht z . B . der koreanische Psychiater und Logotherapeut Byung-Hak Ko davon aus, daß die Erfahrung des Zen-Bewußtseins identisch ist mit der Erfahrung der phänomenologisch erhobenen Selbsttranszendenz in der Logo­therapie, die beide in analoger Weise Selbst-Vergessen und -Hingabe implizieren.

Dennoch ist eine Differenz zwischen logotherapeutisch verstandener Personalität und transpersonal-psychologisch verstandener Transpersonalität hervorzuheben. Für Frankl bleibt auch das rein Geistige ein individuiert Geistiges (Frankl 1990, S. 213). Aus der Sicht der Transpersonalen Psychologie überwindet die Logotherapie zwar den Geist-Seele-Leib-Dualismus, bleibt aber in der separaten Identität stecken und vollzieht nicht den Sprung in die Nicht-Dualität (Walsh, Vaughan 1988, S. 141 f.). Hierin mögen sich die weltanschaulichen Unterschiede zwischen Wilber und Frankl zeigen; der eine aus jüdischem, der andere aus zen­buddhistischem Hintergrund; ein ,Du-orientierter' und ein ,Seins-orientierter' WEG.

22

Die geistige Dimension in der Logotherapie

Diese Unterscheidung kann spürbar werden in der Meditations-Praxis. So gibt es die Erfahrung, daß Menschen nach Jahren regelmäßiger Meditation im alltäglichen Leben unverändert viel Angst, wenig Vertrauen und Verlassenheitsgefühlen begeg­nen. Dies könnte auf ungelöste Probleme auf der präpersonalen oder personalen Ebene sowie auf die Weise ihres Meditierens hinweisen. In ihr kann das Übersprin­gen des ,Du-Weges‘ in den ,Seins-Weg' zu einer Falle geworden sein. Wesentliche Werte wie Vertrauen und Liebe werden oftmals erst in der ,Du-Orientierung‘ erlernt und erfahren und gleichermaßen in der Ablösung von eigenen Ich-ldentifikationen Verlassenheits-Ängste abgebaut. Die geistige Kraft des ,Du-Weges‘ geht wie der ,Seins-orientierte‘ Weg aus dem einen GEIST hervor. Andererseits kann es eine Falle auf dem spirituellen Weg bedeuten, einen Meditierenden in der ,Du-Orientierung‘ festzuhalten, anstatt ihn ,zum SEIN' kommen zu lassen, in dessen Zielperspektive der Wahrnehmende, das Wahrgenommene und das Wahrnehmen eins werden.

Schlußfolgerung

Die Logotherapie fokussiert mehr die nach außen gerichtete intentionale Natur des Seins, die transpersonale Psychologie mehr die innere trans-intentionale Natur des Seins. Beide Perspektiven, in der phänomenologischen ,Und-Haltung‘ nach William James betrachtet, werfen ein Licht auf das Verhältnis zwischen personaler und transpersonaler Erfahrung. Ihnen gemeinsam ist, daß die Universalität des Geistes in der relationalen Struktur der Liebe erfahren wird, die immer intensiver und mehr und mehr ,eins‘ werden kann. Diese Sichtweise vertreten die unterschied­lichen geistig-spirituellen Traditionen. Das Ausgehen von einem universalen Bewußtsein (GEIST) oder von einem universalen Charakter menschlicher Personalität setzen gleichermaßen Relationalität in der Universalität voraus (v. Brück 1986, S. 287-294).

Im Sinne der Logotherapie Frankls zieht sich menschliche Personalität wie ein roter Faden durchs Leben, an dem transpersonale Erfahrungen rückgebunden blei­ben und eine neue Ordnung schaffen. Die Herausforderungen der ichhaften Personalität werden nicht einfach hinter sich gelassen. Personale und transpersonale Wirklichkeiten stehen in einem sich wechselseitig intensivierenden Verhältnis zuein­ander. Die Weise des Erlebens von Freiheit und Verantwortlichkeit verändert sich proportional zu den transpersonalen Erfahrungen. Das Leben wird nicht unbedingt leichter im Sinne von bequemer, dafür aber unmittelbarer und ,ein-facher' im Sinne von intensiver. Die zunehmende Lebens-Dynamik ist der Geburtsort universaler Liebe.

Ebenso wie die Meditation steht auch die therapeutische Begegnung in der Spannung zwischen sich-hingebender Liebe (personal) und bewußtseinsbefrie­dendem Nicht-Anhaften (transpersonal). Die Kraft der Psychotherapie liegt - so Frankl bei einer seiner letzten öffentlichen Ansprachen - in der Kunst der Individualisierung und der Improvisation. Hierin liegt eine endlose Kunst des Verstehens. Und hieraus spricht, daß die Heilung nur aus der Gegenwarts- bezogenheit erwachsen kam. Frankl (1986) selber sagt: „Solange uns die absolute Wahrheit nicht zugänglich ist (und sie wird es nie sein), haben relative Wahrheiten die Funktion eines wachstumsfördernden Korrektivs. In der Annäherung an die

23

Jeremias Marseille

letzte Wahrheit von verschiedenen Seiten, manchmal sogar aus entgegengesetzten Richtungen, können wir diese zwar nicht erlangen, aber zumindest mehr und mehr einkreisen.“

The Spiritual Dimension in Logotherapy: Viktor Frankl’s Contribution to Transpersonal Psychology.

Summary: As a neurologist and psychiatrist who survived the Nazi death camps of World War II and went on to develop and teach logotherapy - an internationally practiced “therapy of meaning” - Viktor Frankl is recognized for his contributions to psychotherapy and to transpersonal psychology. He died last year in his home-town Vienna. A biographical timeline traces the formation of his ideas from early adolescent years, through medical training during Europe’s economic depression of the 1930s, through the horrors of four concentration camps, to the appearance of his theories and therapeutic methods in Europe and America. In the field of transpersonal psychology specifically, his terminology and concep­tualization of transpersonal experience was influential. Frankl’s writings arc compared with those of theo­rists Abraham Maslow and Ken Wilber, and other sources of transpersonal literature, in what Frankl ack­nowledges as an endless art of understanding.

Key words: meaning-centered psychotherapy, self-detachment, self-transcendence, ability to ‘spiritually be in touch’; ‘Dimensional Ontology’, Differentiation between consciousness and self-consciousness; personal and transpersonal reality exists in a reciprocal relationship, logotherapy.

Literatur:

v. Brück, M. (1986): Einheit der Wirklichkeit. Gott, Gotteserfahrung und Meditation im hinduistisch- christlichen Dialog. Kaiser, München.

Bühler, C.; Allen, M. (1974): Einführung in die Humanistische Psychologie. In der Reihe: Konzepte der Humanwissenschaft, Ernst Klett, Stuttgart.

Busta, C. (1987): Gedichte. Der Himmel im Kastanienbaum. Otto Müller, Salzburg.Fabry. J. (1988a): Guideposts to Meaning Discovering What Really Matters. New Harbinger

Publications, Oakland.Fabry, J. (1988b): Die Rolle des Transpersonalen in der Logotherapie, ln: Boorstein, S. (Hrsg.): Trans­

personale Psychotherapie. Neue Wege in der Psychotherapie - Transpersonale Ansätze, Methoden und Ziele in der therapeutischen Praxis. Scherz, Bern, München, Wien. S. 89-107.

Frankl, V. (1966) Self-Transcendence as a Human Phenomenon. Journal of Humanistic Psychology, Vol. VI, Nr. 2, S. 97-106.

Frankl, V. (1967): Psychotherapy and Existentialism. Selected Papers on Logotherapy by Viktor E.Frankl. Simon and Schuster, New York.

Frankl, V. (1975): in einem Interview mit K.-H. Fleckenstein. In: Fleckenstein, K. Am Fenster der Welt.Im Gespräch mit... Neue Stadt, München, Zürich, Wien, S. 100-117.

Frankl, V. (1982): ... trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, dtv, München.

Frankl, V. (1985): Die Sinnfrage in der Psychotherapie. Piper, München, Zürich.Frankl, V. (1986): The Doctor and the Soul. From Psychotherapy to Logotherapy. Vintage Books,

Random House, Inc., New York.Frankl, V. (1987): Theorie und Therapie der Neurosen. Einführung in Logotherapie und Existenzanalyse.

UTB, Bd. 457. Ernst Reinhardt, München, Basel.Frankl, V. (1988): Der unbewußte Gott. Psychotherapie und Religion. Kösel, München.Frankl, V. (1990) Der leidende Mensch. Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie. Piper,

München, Zürich.Frankl, V. (1991): Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. In der Reihe:

Geist und Psyche. Fischer, Frankfurt a. M.Grof, S. (1988): Theoretische und empirische Basis der Transpersonalen Psychotherapie - Beobachtungen

aus der LSD-Forschung. In: Boorstein, (Hrsg.): Transpersonale Psychotherapie. Neue Wege in der Psychotherapie - Transpersonale Ansätze, Methoden und Ziele in der therapeutischen Praxis. Scherz, Bern, München, Wien, S. 333-377.

James, W. (1977): Der Pragmatismus. Ein neuer Name für alte Denkmethoden. Mit einer Einleitung her­ausgegeben von Klaus Oehler. Felix Meiner, Hamburg.

James, W. (1979): Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Olten, Walter, Freiburg i. Br.

24

Die geistige Dimension in der Logotherapie

Keizer, K. u.a. (1980): Viktor Frankl: A Precursor for Transpersonal Psychotherapy. The international Forum for Logotherapy # 3, S. 32-35.

Ko, R. (1980): Zen and the noetic dimension. In: Wawrytko, Sandra A. (Editor): Analecta Frankliana. The Proceedings of the First World Congress of Logotherapy (1980). Institute of Logotherapy Press, Berkeley, S. 295-300.

Lukas, E. (1991): Zur Erfahrung der eigenen Personalität - Selbsterfahrung auf andere Weise. Eine Anleitung zur Erstellung einer logotherapeutisch geführten Autobiographie. In: Lukas, E.; Spannendes Leben. In der Spannung zwischen Sein und Sollen - ein Logotherapie Buch. Quintessenz, München, S. 116-181.

Maslow, A. (1987): Eine Theorie der Metamotivation. In: Walsh, R., Vaughan, F. (Hrsg.) (1987): Psycho­logie in der Wende. Rowohlt, Hamburg.

Maslow. A. (1966): Comments on Dr. Frankl’s Paper. Journal of Humanistic Psychology. Vol. VI, Nr. 2, S. 107-112.

Raban, M. (1989): Die geistige Dimension der Psychologie Viktor E. Frankls. Dissertatio ad Doctoratum in Fakultate Theologiae (apud Institutum Spiritualis) Pontificiae Universitatis Gregorianae. Rom, Frankfurt.

Scheler, M. (1973): Wesen und Formen der Sympathie. In: GW, Bd. 7. Francke, Bern, München.Sedlak, F. (1994): Die transpersonale Perspektive der Logotherapie und Existenzanalysc nach V. Frankl.

In: Zundel, E.; Loomans, P. (Hrsg.): Psychotherapie und religiöse Erfahrung. Konzepte und Methoden transpersonaler Psychotherapie. Herder, Freiburg, Basel, Wien, S. 81-103.

Simmerding, G. (1990): Viktor E. Frankl - Mensch und Werk. In: l.ukas, E. Geist und Sinn. Logotherapie - die dritte Wiener Schule der Psychotherapie. Psychologie Verlags Union, München, S. 1-13.

Vaughan, E (1993): Heilung aus dem Inneren. Leitfaden für eine spirituelle Psychotherapie. Rowohlt,Hamburg.

Walsh, R., Vaughan, F. (1988): Vergleichende Modelle - Das Verständnis der Person in der Psycho­therapie. In: Boorstein, S., Transpersonale Psychotherapie. Neue Wege in der Psychotherapie - Transpersonale Ansätze, Methoden und Ziele in der therapeutischen Praxis. Scherz, Bern, München, Wien. S. 22—55.

Wilber, K. (1988): Die drei Augen der Erkenntnis. Auf dem Weg zu einem neuen Weltbild. Kösel, München.

Wilber, K. (1991): Das Spektrum des Bewußtseins. Eine Synthese östlicher und westlicher Psychologie. Rowohlt, Hamburg.

Wilson, C. (1972): New Pathways in Psychology. Maslow and the Post-Freudian Revolution. Victor Gollancz. LTD, London.

Jeremias Marseille OSB Abtei Königsmünster Klosterburg 11 59872 Meschede

25

26

Transpersonale Psychologie und Psychotherapie2/97, 27-40

Seelenwunde und Psychotherapie

Tom Yeomans, Concord, USA

Zusammenfassung: In diesem Artikel wird die These vertreten, daß es eine besondere Ebene spiritueller Störung gibt, die in der Psychotherapie selten explizit beachtet und behandelt wird: die Seelenwunde. Die Störung entsteht, wenn ein Kind nur als Persönlichkeit und nicht in seiner Seelenqualität gesehen und willkommen geheißen wird. Dies kann sich mit Störungen auf der Persönlichkeitsebene verknüp­fen oder auch nicht. Es erfordert jedoch besondere Behandlungsmethoden, von denen einige vorgestellt werden. Um diese Störungen heilen zu können, müssen drei Ebenen beachtet werden. Die individuelle Ebene, die Ebene des Eingebettetseins in Gemeinschaft, in welcher die eigentliche Seelenheimat gründet, sowie die globale Ebene, die die Verbindung zur Natur und zu allen Lebensformen einschließt und die für eine Rückverbindung zum Selbst unabdingbar ist.

Schlüsselworte: Seele, Selbst, Seelenqualität, spirituelle Dimension, spirituelle Verbindung, Individualität und Verbindung, Gemeinschaft.

Einführung1

Die Psychotherapie hat sich in diesem Jahrhundert im westlichen Kulturkreis als Disziplin zur Behandlung mannigfacher seelisch bedingter Leiden entwickelt. Bei durchaus verschiedenen Methoden ist der allen Schulen gemeinsame Zweck die Heilung oder Linderung von Leiden im körperlichen, emotionalen und mentalen Bereich. Ziel ist die Wiederherstellung einer relativ normalen Verfassung, in der die Person im ihr vorgegebenen kulturellen Rahmen einigermaßen zurechtkommt. Im Lauf des Jahrhunderts sind zunehmend tiefere Ebenen des Leidens im therapeuti­schen Feld aufgetaucht, und das Verständnis seiner Ursprünge ist gewachsen. Wir verfügen jetzt über humane Mittel, ein weites Spektrum von Gemütskrankheiten zu behandeln, und über wachsende Fertigkeit in der Behandlung mentaler, emotionaler, sexueller und neuerdings auch ritueller Traumen. Wir wissen weit mehr als früher über Charakterstörungen, Suchtverhalten, dysfunktionale Persönlichkeits- und Familienmuster und besitzen ein Kompendium von Techniken, damit umzugehen. Wir sind klüger geworden in der begleitenden Anwendung pharmazeutischer Produkte. Wir haben gewisse Tiefen des persönlichen und kollektiven Unbewußten erforscht und wissen einiges über den menschlichen Willen und seinen Gebrauch zu konstruktiven und destruktiven Zwecken. Das 20. Jahrhundert war ernsthaft bestrebt, Persönlichkeit und Psyche besser zu verstehen. Der Fortschritt ist deut­

27

Tom Yeomans

lich, wir sollten stolz auf das Erreichte sein. Hundert Jahre sind wenig für die Entwicklung einer ganzen Disziplin, die Psychologie und Psychotherapie sind jung, allenfalls in der Adoleszenz. Ich denke, es wird noch ein weiteres Jahrhundert brau­chen, bis das Gebiet vollends herangereift ist. Wir stehen jetzt vielleicht auf halbem Wege und schauen an der Jahrhundertschwelle sowohl zurück als auch voraus. Trotz bedeutender Errungenschaften ist die Aufgabe noch nicht abgeschlossen, sondern fordert uns weiterhin heraus.

ln den vergangenen zwanzig Jahren haben Psychotherapeuten in den Rand­bezirken unseres Gebiets angefangen, die spirituelle Dimension und ihren Einfluß auf menschliches Leiden in ihr Denken und Wirken einzubeziehen. Diese Erweiterung entstand mit dem Aufkommen der existentiellen, der humanistischen und der transpersonalen Psychologie und durch buddhistische und hinduistische Lehrer, die in den Westen kamen. Hinzu kamen die Pionierarbeiten von Psycho­logen wie Carl Jung, Roberto Assagioli, Victor Frankl, Carl Rogers, Rollo May und anderen, ebenso wie das Denken einiger christlicher, jüdischer und muslimischer Lehrer, die an Psychologie interessiert waren und ihr religiöses Verständnis einzu­bringen suchten. Dieser Einfluß war bisher eher eklektisch und marginal. Dennoch wurde viel exploriert und experimentiert, und das Gebiet ist in rascher Veränderung begriffen.

Ich möchte betonen, daß der explizite Hinweis auf die spirituelle Dimension als Fokus für die psychologische Wissenschaft der neue Beitrag der letzten Jahrzehnte ist. Die Dimension selbst ist keineswegs neu; neu ist, daß die Psychologie sich ihr öffnet. In meiner Erfahrung als Ausbilder von Therapeuten habe ich so manchen gestandenen Professionellen sagen hören: „Also, eigentlich arbeite ich so ja auch. Aber das würde ich meinen Kollegen oder meinem Supervisor niemals erzählen.“ Angesichts des Leidens wird die spirituelle Dimension in uns wachgerufen - das ist eine zutiefst menschliche Antwort - aber es existiert eine Kluft zwischen unserer professionellen Ausbildung und Praxis und dem, was in der eigentlichen Arbeit sich ereignet.

Von den verschiedenen Namen für diese Dimension im Menschen ist mir der nächste „das Selbst.“ Andere, wie „wahre Natur,“ „Essenz,“ „reines Sein“ sind auch hilfreich, und besonders evokativ ist das Wort „Seele.“ Letzteres verwende ich des­halb im Titel dieser Arbeit und werde es hier weiterhin als Synonym für „Selbst“ benutzen. Ich meine damit jene innere Quelle von Stärke, Liebe, Wahrheit und Sinngebung, die uns befähigt, ganz wir selbst zu sein und zugleich in harmonischer und angemessener Beziehung mit allen anderen Wesen. Sie ist das zentrale organisie­rende Prinzip eines menschlichen Lebens und ermöglicht uns, die vielen inneren und äußeren Widersprüche in einer einzigen gelebten Realität zu vereinen, die einzigar­tig und zugleich universal ist, unser Geschenk an die Welt darstellt und uns befähigt, Liebe zu geben und anzunehmen.

Spirituelle Lehren betonen die einende Natur der Seele - und meinen die Tatsache, daß wir an der Wurzel alle eins sind, oder doch miteinander verbunden -, und das stimmt. Aber ich möchte hier auch die Unterschiedlichkeit als einen Aspekt der spi­rituellen Entwicklung ansprechen und die Tatsache betonen, daß Menschen mit zunehmender spiritueller Reife eher verschiedener als ähnlicher werden. Sie ent­wickeln sich als besondere und einzigartige Persönlichkeiten und haben zugleich teil

28

Seelenwunde und Psychotherapie

am Einen. Sie nehmen einen besonderen Platz im Ganzen ein und übernehmen dar­in eine besondere Rolle, die verschieden ist von der aller anderen Menschen. Spirituelle Verwirklichung des Selbst ist ebenso sehr von tiefer Verschiedenheit wie von Einheit gekennzeichnet, und sie ereignet sich, indem dieses Paradoxon gelebt wird. Ein Verlust an Individualität und Vielfalt ist immer auch Verlust an Selbst. Das Selbst kann unsere volle Differenzierung innerhalb einer integrierenden Ganzheit umfassen. Wenn wir die spirituelle Dimension einschließen, ist es besonders im the­rapeutischen Arbeitsbereich mit seinen sehr persönlichen Themen wichtig, das Gleichgewicht zwischen den einzigartigen und den universalen Eigenschaften des Selbst zu beachten. Es gibt eine chassidische Geschichte von einem Rabbi, der einem Schüler sagte, wenn wir im Himmel ankommen, wird Gott nicht fragen: „Warum warst du nicht Moses?“ Er wird fragen: „Warum warst du nicht du?“ Die Selbst- Verwirklichung eines Menschen zeigt sich in dessen vollem Verschiedensein von allen anderen Menschen bei gleichzeitig tiefem Miteinander- und Verbundensein mit ihnen. Je voller wir unser Verschiedensein in diesem Kontext leben können, umso gesünder sind wir.

Die Seelenwunde

In über zwanzig Jahren therapeutischer und ausbildender Tätigkeit in der Psychosynthese, und jetzt in der Spirituellen Psychologie, bin ich der Frage der spi­rituellen Dimension nachgegangen. Ich habe eine zunehmende Verfeinerung im Denken darüber bemerkt und bei Klienten ein wachsendes Bedürfnis nach einem therapeutischen Ansatz wahrgenommen, der die Seele achtet und einbezieht. Letzteres mag teilweise dem größeren Kulturumbruch zuzuschreiben sein, in dem wir uns befinden. Aber ich denke, es ist auch einer wachsenden Sensibilität der Leidenden zuzuschreiben, welche finden, daß die spirituelle Dimension benötigt wird, um völlige Heilung zu erzielen, und daß eine wiederhergestellte „Normalität“ der Persönlichkeit dazu einfach nicht ausreicht. Klienten und Therapeuten bringen dieses Thema zur Sprache. Ich möchte hier ein spezifisch menschliches Leiden ansprechen, welches in unserer Beziehung zur spirituellen Dimension seine tiefen Wurzeln hat und von den Therapeuten bisher wenig beachtet wurde. Es handelt sich um eine Wunde in der Verbindung zu unserer Seele. Eine „Seelenwunde“ nenne ich sie im Titel, welche, obwohl unerkannt, das Leben vieler, wenn nicht sogar der mei­sten Menschen schwer beeinträchtigt. Der Schmerz, den die Seelenwunde verur­sacht, wird durch viele persönliche Verhaltensweisen verdeckt, die unser Funk­tionieren ermöglichen oder auch hemmen. Die hemmenden Verhaltensweisen behandeln wir, aber die eigentliche Verletzung bleibt oft unerkannt. Ich glaube, wenn wir die spirituelle Dimension in unsere Arbeit einbeziehen wollen, müssen wir jetzt lernen, diese tiefere Ebene des Leidens direkt anzusprechen und herausfinden, wie es zu heilen ist.

Ich möchte die Seelenwunde genauer beschreiben und darstellen, wie sie in der Einzeltherapie behandelt werden kann. Danach werde ich kurz auf ihr Vorhandensein auf anderen Ebenen der Gesellschaft eingehen. Aber zuerst will ich betonen, wie sehr wir hier am Anfang des Verstehens sind, wie neu es ist. Es ist, als würde man ein Negativ bei der Entwicklung im Dunkelraum beobachten, während

29

Tom Yeomans

die Einzelheiten allmählich aus dem Unbekannten hervortreten. Nur daß ich das Bild nicht aufgenommen habe, sondern lediglich meine, dort sei etwas zu sehen. Was bis jetzt sichtbar ist, stammt aus sehr detaillierter Beobachtung eigener Erfahrungen sowie der Erfahrungen von Klienten und Kollegen. Ich stelle es hier unfertig und unvollendet in der Hoffnung vor, daß wir gemeinsam das Bild sich weiter ausformen sehen und es dann vollständiger beschreiben können.

In der Supervision psychotherapeutisch arbeitender Kollegen an einem Krebs­forschungsinstitut in Holland wurde ich zuerst dieser Wunde gewahr, später auch in Gesprächen mit dem holländischen Freund, dem Direktor der Institution. Das deut­lichste Symptom war, daß der Betreffende nicht voll im Körper lebte, nicht voll inkarniert war. Bei weiterem Nachforschen, und als wir über die die zugrundelie­gende Psychodynamik hinausgingen, die ein Teil davon sein kann, stießen wir auf eine Erfahrung: Es fehlte das Willkommengeheißen-Werden der Seele auf der Erde durch die Umgebung, die Familie und Kultur, in die dieser Mensch hineingeboren worden war und in der er aufwuchs. Es besteht ein Unterschied zwischen dem Willkommenheißen der Persönlichkeit und dem der Seele. Am auffallendsten waren die Fälle, in denen jemand tatsächlich im materiellen und im psychologischen Sinn begünstigt, und dennoch nicht als Seele gesehen und empfangen worden war. Im weiteren Verlauf erkannten wir, daß der Mensch die Erfahrung gemacht hatte, anfänglich mit seiner Seele verbunden und von ihrer Qualität und Essenz durch­tränkt gewesen zu sein. Doch dieser Geist wurde von der Umwelt nicht wahrge­nommen, wurde nicht geschätzt und empfangen. Das Kind wurde lediglich als eine sich entwickelnde Persönlichkeit betrachtet und dementsprechend behandelt, wobei das Spektrum von schwerer Mißhandlung bis zum Vorhandensein aller Vorteile rei­chen konnte, nur daß eben die neue und einzige spirituelle Gabe, die mit diesem Kind in die Welt kam, nicht erkannt wurde. Das Kind versuchte, die Qualitäten aus­zudrücken, erlebte eine Reihe von Zurückweisungen und die seiner Anerkennung als Seele, und schließlich schwächte die Seelenverbindung sich ab und verbarg und verlor sich in dem Maße, in dem die Anpassung an die umgebenden Bedingungen beim Heranwachsenden zunahm. Der Punkt ist, es handelte sich um eine Zurückweisung der Seele, nicht der Psyche oder der Persönlichkeit, und das ging zurück auf eine Unfähigkeit der Umgebung, diese Ebene wahrzunehmen - das Bewußtsein der Eltern, Geschwister, Kameraden war in dieser Hinsicht begrenzt. Manchmal gab es in der Umgebung jemanden, der das Kind auf dieser tieferen Ebene sah - Großeltern, Nachbarn, Lehrer -, und das machte einen bedeutenden Unterschied, denn nun erlebte das Kind, daß es empfangen wurde als das, was es - wie es wußte - war: eine Seele. Oft vermittelte auch Mutter Natur diese nährende Ebene - darauf komme ich später zurück. Aber in den meisten Fällen wurde die Seele nicht willkommen geheißen, und die Verbindung zu ihr wurde daher verwun­det und geschwächt. Nochmals möchte ich betonen, daß diese Wunde nicht daher rührt, wie das Kind als Persönlichkeit behandelt wurde, sondern daher, wie es als Seele wahrgenommen und empfangen wurde.

Die Persönlichkeitsentwicklung des so verwundeten Menschen nimmt ihren Fortgang, er leidet jedoch im Geheimen am Verlust der Seelenverbindung und ver­sucht, seinen Schmerz mit Versuchen abzumildern, die ihm seinen Empfang auf andere Art sichern, oder auch durch verschiedene Verhaltensweisen ein Faksimile

30

Seelenwunde und Psychotherapie

der Erfahrung der Seelenverbindung herzustellen. Diese Kompensation kann ihrer­seits Suchtverhalten und dysfunktionale Muster hervorrufen, die schmerzhaft sind. Sie kann auch zu scheinbar normalem Funktionieren führen, unter dem sich das geheime Leiden verbirgt. Ich habe mit einer Anzahl von Menschen gearbeitet, die nach den Standards unserer Zivilisation absolut funktionierten und eine solche Wunde trugen, ohne eine Ahnung von ihr und ihrer psychologischen Auswirkung zu haben. Ich erinnere mich an einen Klienten, einen dynamischen Unternehmer und Professor an einer Fakultät für Betriebswirtschaft. Er erkannte, daß seine Seelenqualitäten, sensibel und scheu zu sein, niemals von Vater und Mutter gesehen und anerkannt worden waren, obgleich die Eltern ihn mit allen Vorbedingungen für weltlichen Erfolg versehen hatten. Eine Klientin erkannte in der therapeutischen Arbeit, daß sie sich von ihren beträchtlichen medialen und intuitiven Fähigkeiten in frühem Alter abgeschnitten hatte, nachdem sie in ihrer rational und analytisch ein­gestellten Umgebung einfach ausgelacht worden war. Andere merkten, daß ihre ver­schiedenen süchtigen Verhaltensweisen zwar schmerzhaft, aber immer noch leichter zu ertragen waren als der Schmerz der Seelenwunde, und die Abhängigkeit war zum Teil eine Möglichkeit, dieses tiefere Leiden zu vermeiden.

Die psychische Kompensation kann sich auch auf pseudospirituelle und funda­mentalistische Phänomene erstrecken, welche beide mittels spirituellem Materialis­mus und Dogmatismus das Leiden am Seelenverlust abpuffern und unterdrücken. Tatsächlich leben wir in einer Kultur, welche als Ganzes weitgehend spirituell unver­bunden ist und dieses Leid mit krassem Materialismus und Konsumverhalten zudeckt. Das trägt zu eskalierender Gewalt und zum ökologischen Abstieg bei. Sechs Prozent der Gesamtbevölkerung Nordamerikas verbrauchen 60% der Welt- Ressourcen pro Jahr (Worldwatch Institute 1993). Für mich ist das ein Bild dafür, wie unverbunden mit uns selbst, miteinander und mit dem größeren Ganzen der Erde und dem Leben auf ihr wir sind - wie weit entfernt wir sind vom Selbst. Mutter Theresa sagte gern zu Menschen aus dem Westen, die mit ihr in Kalkutta arbeiten wollten: „Der physische Hunger hier ist nichts gegen den spirituellen Hunger im Westen. Geht heim und findet die Leute in eurer Familie, die spirituell am Verhungern sind, und gebt ihnen zu essen.“

Mir geht es hier darum, daß ich finde, wir als Psychotherapeuten müssen diese Seelenwunde direkt angehen, genauso wie wir die bekannteren Verletzungen der Psyche und Persönlichkeit behandeln, und ich möchte beschreiben, wie wir lernen, das zu tun. Es ist eine andere Ebene, auf der dieses Trauma sich abspielt, von der Persönlichkeitsebene zu unterscheiden, und wir müssen damit auf andere und spezi­fische Art umgehen. Die westliche Psychologie konnte - da sie die Seele nicht ehrt - diese Wunde nicht sehen, obgleich ihre Wirkungen auf der psychischen Ebene tief gehen. Das alles könnte auch der Ursprung der uns bekannten psychologischen Probleme sein oder zumindest wesentlich zu ihnen beigetragen haben.

Methoden der Heilung

Am wichtigsten ist die spirituelle Präsenz des Therapeuten oder der Therapeutin. Die Verbindung des Therapeuten mit seiner Seele, die sich darin ausdrückt, daß man dem Klienten auf dieser Seinsebene begegnet, erzeugt ein Energiefeld, das an sich

31

Tom Yeomans

schon starke, heilende Kraft besitzt. Dazu kommt, daß spirituelle Präsenz die Existenz einer Seele dadurch anerkennt, daß der Therapeut eben dies verkörpert, und das hilft den Klienten, mit ihrer eigenen inneren Quelle in Kontakt zu kommen. Drittens, Präsenz schafft einen Kontext für den Heilungsprozeß, innerhalb dessen die Natur der Verletzung und ihrer Kompensation auf personaler und psychischer Ebene deutlicher erkannt werden kann. Viertens, sie läßt die intuitive Information ins Bewußtsein gelangen, welche von Therapeut und Klient zum Heilungsgeschehen gebraucht wird. Letzteres bedarf natürlich einer Arbeit auf der personalen und psy­chischen Ebene, aber das geschieht hier in einem spirituellen Kontext, innerhalb des­sen diese Ebenen als Vehikel für die spirituelle Kraft der Seele wirken.

Wie gesagt, die therapeutische Präsenz erzeugt oder evoziert ein spirituelles Energiefeld, das Klient und Therapeut einhüllt und das die Verbindung des Klienten oder der Klientin zur eigenen Seele aktiviert. Wir nennen es das „Feld“ des Selbst. Man könnte sagen, daß in diesem Feld, das durch die Präsenz des Therapeuten geschaffen wurde und auf das die Seele des Klienten reagiert, die beiden Seelen ver­eint sind in der gemeinsamen Anstrengung, die Verbindung allmählich wieder her­zustellen und für das tägliche Leben zu stärken. Je kohärenter die Präsenz vom Therapeuten oder der Therapeutin aufrechterhalten werden kann, umso kraftvoller ist dieses Feld. Daher wird das Ausüben der Präsenz die wichtigste Kunst in der Praxis spiritueller Psychotherapie. Es ist das Sein des Therapeuten oder der Thera­peutin mehr als irgendein Tun, das zur Heilung der Wunde beiträgt. In der Stille die­ser willkommen heißenden Präsenz beginnen die Klienten Stück für Stück aufs neue die Erfahrung zu machen, daß sie wirklich so, wie sie sind, willkommen sind.

Eine weitere Methode besteht darin, diejenige Person ins Gedächtnis zurückzu­rufen, welche den Betreffenden seinerzeit als Seele gesehen hatte, und diese Person mit dem Ich des damaligen Kindes wie auch des heutigen Erwachsenen in Kontakt zu bringen. Das kann in der Imagination geschehen oder psychodramatisch externa- lisiert werden. Dabei kommt es darauf an, daß diese Ressource aus der Vergangenheit auf die gegenwärtige Wunde einwirkt. Die Präsenz jener Person - ein Nachbar, eine Großmutter, eine Lehrerin - geht ein heilendes Bündnis mit dem Therapeuten ein, in dem die Energien beider dem Klienten oder der Klientin zur Verfügung stehen. Sollte es im Leben der Klienten keine solche Person geben, so kann jemand, der bewundert wird - lebend oder tot - als Verbündeter gerufen wer­den. Und dieses Bündnis kann noch erweitert werden durch die Evokation eines weisen Wesens, welches die Seelenenergien des Individuums repräsentiert und im Verein mit den beiden genannten das Feld noch dichter macht.

In diesem Feld kombinatorisch wirkender Präsenz zeigt sich mit fortschreitender therapeutischer Arbeit deutlich, was notwendig ist, um eine Heilung der Seelen­wunde in Gang zu bringen und die Verbindung wieder herzustellen. Manchmal genügt es, einfach Präsenz zu praktizieren. In anderen Fällen bedarf es spezifischer psychologischer Arbeit. In vielen Fällen erleben wir, daß das Kind zur Zeit des Traumas eine Art Gelöbnis ablegte, das nun widerrufen werden muß. Das ist ein hei­liger Schwur vor Gott, der ein „Immer“ oder „Niemals“ enthält, tief im Unbewuß­ten verankert ist und dazu gedient hat, diesen Menschen vor seinem ,Urschmerz' zu schützen und ihm zu helfen, gewisse Qualitäten hinter diesem Schutz zu entwickeln. Es klingt paradox, aber solch ein Gelöbnis scheint die Seelenverbindung in einer Art

32

Seelenwunde und Psychotherapie

Umkehr aufrecht zu erhalten, bis der Mensch bereit ist, es zu widerrufen, die hei­lende Arbeit zu tun und die volle spirituelle Kraft der Seele zu erfahren. Das Gelöbnis muß willentlich gelöst werden, wie es auch willentlich abgelegt wurde. Der Mensch fängt dann an, den bis dahin zurückgehaltenen Teil seiner Seele leben zu las­sen und in das zu integrieren, was sich als Resultat seines Gelöbnisses in der Persönlichkeit entwickelt hat. Die Ökonomie dieses Phänomens ist unglaublich, da gerade das ausgestandene Leid ein Teil des Schatzes wird, den der Mensch weiterge­ben kann. Wenn dies auch das Zufügen der Wunde nicht rechtfertigt, zeigt es doch an, wie die Seele Wege findet, Erfahrungen zum eigenen Guten zu nutzen.

Solche Ökonomie wird sichtbar in der nachträglichen Dankbarkeit von Menschen für eine Krise, die zu ihrer Zeit sehr schmerzhaft war, und hier hat das Gelöbnis, obgleich es hemmend wirkte, eine Erfahrung mit sich gebracht, die nun ein volleres spirituelles Leben ermöglicht. Ich hatte zum Beispiel mehrere Jahre lang eine Klientin, die gelobt hatte, niemals jemanden zu lieben. Ihre Kindheit war im wesent­lichen die eines Waisenkindes gewesen, ohne Liebe, mit Ausnahme einer kurzen Zeit, wo sie bei einer Großmutter lebte. Ihrem Gelöbnis hatte die Frau eine außerordentliche Ichkompetenz zu verdanken, sie konnte in einer fremden Kultur erfolgreich sein, lebte aber in äußerster Isolation. Eines Tages fing sie an zu wün­schen, daß sie lieben könnte, und mußte feststellen, daß es auch unter günstigsten Bedingungen einfach nicht ging, so, als bestünde ein Verbot. Im gemeinsamen Untersuchen fanden wir heraus, daß sich unter dem ihr wohlbekannten psychischen Leiden das bittere Gelöbnis verbarg, niemals jemanden zu lieben! Sie war bereit zu widerrufen, und als sie das willentlich tat, entdeckte sie in sieh nicht nur eine große, ganz unversehrte Liebesfähigkeit, sondern auch, daß ihre Ichkompetenz ihr die Kraft und das Selbstvertrauen schenkte, diese zum Ausdruck zu bringen. Ich hatte einen anderen Fall, in dem ein Klient gelobt hatte, immer allein zu bleiben. Nach dem Widerruf entdeckte er, während er kreative Beziehungen mit verschiedenarti­gen Menschen einging, daß seine Einsamkeit, die er zu lieben gelernt hatte, ihn nun befähigte, sein Gleichgewicht in einer komplex gewordenen Beziehungswelt auf­rechtzuerhalten. Es scheint, daß solch ein Gelöbnis nicht nur schützt, sondern para­doxerweise der Seele auch erlaubt, in seinem Schutz zu reifen, bis die Person fähig ist, ihr volles spirituelles Wesen zu entfalten.

Eine dritte Methode besteht darin herauszufinden, welche besonderen Qualitäten und Eigenschaften den betreffenden Menschen auszeichnen, und ihm zu helfen, ihnen aktiven Ausdruck in der Welt zu geben. Das ist Heilung durch Ausdruck, durch Tun. Alle Methoden der westlichen Verhaltenstherapie können dabei ange­wandt werden, doch ist der Kontext ein anderer, denn das organisierende Prinzip ist hier die Seele selbst, nicht die Umgebung. Es kann sein, daß man sich im Verlauf sol­cher Arbeit zunehmend unwohl in seiner alten Umgebung fühlt, dabei aber zugleich tief mit dem eigenen Selbst verbunden weiß. Doch während die Verletzung heilt, gewinnt man Kraft, das auszuhalten und dennoch authentisch zu sein.

Eine vierte Methode ist die ständige und bekanntere spirituelle Arbeit der allmäh­lichen Disidentifikation von den Inhalten der Persönlichkeit und Psyche, des bewußten Erkennens, Loslassens von Bindungen und des Sich-Bewußtwerdens: Wir sind ein Selbst, das eine Persönlichkeit und Psyche hat, um sich damit in der Welt auszudrücken. Im Yoga nennt man das die Entwicklung des „Beobachter-Bewußt­

33

Tom Yeomans

seins.“ Hier sind ganz allgemein die meisten Formen der Meditation von großem Nutzen, denn sie kultivieren ein Zentrum reinen Seins, das von den Bedingungen der Psyche und der Persönlichkeit unbeeinflußt bleibt und sie daher beobachten kann; und sie bewirken, daß Psyche und Persönlichkeit sich neu zu harmonischeren Ausdrucksinstrumenten organisieren. Solche „zentrierende“ Arbeit kann auch im psychotherapeutischem Kontext geschehen.

Eine fünfte Methode ist überraschenderweise einfach Ausruhen. Wir leben als ruhelose Wesen in einer ruhelosen Gesellschaft, und die Klienten zu ermutigen, langsamer zu machen, gut für sich selbst zu sorgen, sich auszuruhen, unterstützt die Wiederverbindung zur Seele. Zeit und Raum erweitern sich in der Ruhe, oft kommt Stille hinzu, und es entsteht Klarheit über die eigene Wahrheit, auch wenn diese sehr schmerzlich ist. Und ich will hinzufügen, daß dazu auch der Therapeut in Ruhe sein muß und in Kontakt mit seinem Sein.

Ein sechstes Mittel, auch dieses in der spirituellen Arbeit wohlbekannt, ist die Übung des Mitleids. Wörtlich bedeutet das die Fähigkeit „mit zu leiden“ und sich nicht außerhalb oder über des anderen Menschen Kummer zu stellen. Mitleiden als Übung bringt das Feld des Selbst zur Kohärenz und vereint Therapeut und Klient im gemeinsamen menschlichen Wissen um die Seelenwunde und die Heilungssuche. Das bringt auch die Erfahrung von Liebe in die Arbeit ein, und obwohl dies von der Persönlichkeitsdynamik der Übertragung und Gegenübertragung sorgfältig unter­schieden werden muß, ist echte menschliche Liebe ein wesentlicher Faktor für die Heilung einer so tiefen Verletzung.

Bei alledem bleibt die Präsenz des Therapeuten zentral und unabdingbar für die Heilung. Diese und andere Ansätze wirken nur in dem Maße, in dem sie mit der spi­rituellen Energie dieser Präsenz und des von ihr erzeugten Feldes gesättigt sind. In der Arbeit mit der Seelenverletzung ist das Primäre die Präsenz.

Und dann gibt es die allmähliche Arbeit am vollständigen lnkarnieren, dem end­gültigen Im-Körper-Sein, das bedeutet das Akzeptieren unserer Sterblichkeit und psycho-historischen Begrenzungen, der Unbeständigkeit des Lebens, dauernd vor­handener Sorgen, gelegentlicher Freude, der Möglichkeit von Liebe und des vollen Erblühens unseres einzigartigen individuellen Seins auf der Erde. Mit dem Fortschreiten der Heilungsarbeit an diesem und an anderen Traumen wird dies mehr und mehr unsere Erfahrung. Und wir entdecken, daß unsere Seele sich am vollsten in unseren und durch unsere Körper verwirklicht, nicht durch deren Transzendierung, und daß sie sich durch unsere Empfindungen und Gefühle am vollsten ausdrückt, nicht durch deren Unterdrückung. Kurz, wir entdecken, daß die Seele am glücklichsten auf der Erde ist, daß wir von Anfang an hier sein wollten und daß das Nicht-Willkommensein das Trauma ist, das uns vom gewöhnlichen Leben fern hielt, einem Leben, das in seiner Tiefe und Schönheit immer außergewöhnlich ist. Als Kinder wußten wir es, wir verloren es, wir finden es wieder, aber nun als voll Erwachsene mit der Fähigkeit zum reifen Selbst-Ausdruck.

Seelenwunde und Gemeinschaft

Die Arbeit ist damit jedoch nicht beendet. Das Selbst hat drei Aspekte, von denen der erste die Erfahrung einer essentiellen Identität als Ich-Selbst ist. Die beiden

34

Scclcnwundc und Psychotherapie

anderen haben mit Gruppen und mit dem Planeten zu tun. Ich möchte jetzt noch kurz etwas zu diesen Bereichen der Heilung der Seelenwunde sagen.

Wir alle leben in Gruppen von Familien, über Organisationen hin zu Kulturkreisen, und die meisten Gruppen unterlassen es, die Person als eine Seele zu begrüßen. Aber die Seele ist gruppenorientiert, und auf dieser tiefen Ebene sind wir dazu bestimmt, in liebender Beziehung zueinander zu sein, in dem, was Martin Buber Ich-Du-Bezogenheit nannte. Wenn ein Kulturkreis oder eine Gruppe nur Persönlichkeiten sieht, entsteht eine tiefe spirituelle Einsamkeit inmitten der Menge, und bei dem Versuch, dieses Leid abzumildern, wird der Betreffende sich entweder anpassen oder sich zurückziehen oder rebellieren. Damit bleibt der Mensch überle- bensfähig, doch der tiefer liegende Schmerz des Abgeschnittenseins ist nicht beho­ben. Und wenn man, so wie wir, in einem Kulturkreis lebt, in dem Individualität, Wettbewerb und Materialismus hochgehalten werden, dann wird dieser verborgene Schmerz ebenso häufig unter den Erfolgreichsten wie unter den Verlierern sein. Die Isolation wird unter persönlichen Verhaltensweisen begraben, die von hoher Erfolgsmotivation bis zu Drogensucht und Kriminalität reichen. Das Kernleiden ist der Kontaktverlust zur Gemeinschaft. Dieser Seelenverlust betrifft Führer ebenso wie die, die ihnen folgen. Und die meisten Gruppen, in denen wir leben, perpetu- ieren dieses Leiden durch ihre Strukturen. Kleine Subkulturen können so auch durch die größere Kultur, von der sie ein Teil sind, innerlich ausgehöhlt werden. Wir wissen noch nicht, wie man in Gruppen so lebt, daß die Seelen genährt und die Unterschiede ebenso wie die zugrundeliegende Einheit unserer Leben geachtet wer­den. Nochmals: Kinder scheinen einen angeborenen Sinn für diese Möglichkeit zu haben und zeigen ihn in ihrer Akzeptanz anderer, bis die von ihren Familien und Kulturkreisen erlernten Verhaltensweisen ihnen rassische, sexuelle, politische oder religiöse Grenzlinien setzen. Es gibt unzählige Geschichten von Kindern, denen man ihre natürliche Reaktion auf Fremde ausredete, die in Staunen und Akzeptanz besteht, und denen eingeredet wurde, wie sie sein sollen oder daß der andere so und so ist. Diese Verletzung wird heute kompliziert durch die wachsende Wahr­scheinlichkeit, daß der Fremde grob oder gewalttätig ist. In beiden Fällen verwundet die soziale Konditionierung die Seele und sät die Samen der Furcht vor dem Andersartigen anstatt dessen Begrüßung. Daraus entstehen verschiedene Defensiv- haltungen, Aggression und zunehmende Isolation von der menschlichen Gemeinschaft, selbst wenn das unter einer Hülle von Macht und Erfolg verborgen bleibt. Wir leben, leider, in einer säkularisierten Kultur, die diese Lebensbedin­gungen zu einem hohen Grad entwickelt hat. Natürlich gibt es die vielen Aus­nahmen. Doch die sozialen Bedingungen, unter denen die meisten von uns leben, sprechen für extremen spirituellen Hunger und dessen Konsequenzen von Haß, Gewalt, krassem Materialismus und tiefer Einsamkeit. Unter all dem liegt die Furcht vor Andersartigkeit. So wie wir miteinander umgehen, sind wir in Gefahr, die volle Vielfalt der menschlichen Spezies zu verlieren. Wie Martin Luther King sagte: „Entweder lernen wir einander lieben als Bruder und Schwester, oder wir gehen unter als Narren.“

Und das kann auch auf spirituelle Gruppen zutreffen, die einen Ausweg aus die­sem Leiden anzubieten scheinen. In den letzten zwanzig Jahren haben wir jede Menge von Gruppen gesehen, die zum „Kult“ geworden sind, weil sie versuchten,

35

Tom Yeomans

Andersartigkeit durch Dogma, Ritual und Programmieren auszumerzen und behaupteten, dies sei der Weg zur Einheit der Seele, ln Wirklichkeit wurde die Wunde nur größer, denn, wie ich schon sagte, wo in einer Gruppe Vielfalt verloren- geht, geht Seele verloren. Es entsteht dabei eine Pseudo-Spiritualität, die Kontakt zum Selbst verspricht, tatsächlich aber die Trennung vergrößert. Wir beginnen, mehr darüber zu lernen, wie das zugeht, und wir durchschauen die spirituellen Sprachhülsen, welche die Bedürftigkeit der Führer nach Macht und Kontrolle und der Anhänger nach Sicherheit und Nicht-Verantwortlichkeit maskieren. Und wir fangen an, neue Formen von Gruppenstruktur zu finden, welche die Seele unter­stützen und die Wunde heilen, die in unserer Kultur so viele von uns tragen. Es ist interessant, daß die neuen Strukturen nicht-hierarchisch aussehen und daß in ihnen persönliche Wahrheit und Verschiedenartigkeit innerhalb eines Kontexts gemeinsa­mer Ziele zum Ausdruck kommen (Yeomans, 1994)2.

Als Psychotherapeuten mit spiritueller Ausrichtung müssen wir daher den Gruppenbezügen im Leben unserer Klienten ebenfalls Aufmerksamkeit schenken, und dies nicht nur auf der Persönlichkeitsebene, sondern auf der der Seele. Das bedeutet die Beachtung der Fähigkeit des Klienten, die vorhandenen Kräfte einzu­setzen und Verantwortung in Gruppen, sei es in der Familie, einer Organisation oder einer spirituellen Gemeinschaft zu übernehmen und ihm oder ihr dabei zu helfen. Die Seelenverletzung schädigt diese Fähigkeit; Macht und Verantwortlichkeit wer­den auf den Führer projiziert, und die ohnmächtig und abhängig gewordenen Anhänger kämpfen dann, um mittels persönlicher Strategien zu überleben, die von Schmeichelei über Konformismus bis zu Kritik und Rebellion reichen. Es ist sogar möglich, die Seele so zu projizieren. Aber in beiden Fällen liegt die Wurzel des Problems auf der tieferen Ebene der Seelenwunde. Und wenn das angesprochen wird und der oder die Betreffende die eigene Besonderheit und Wahrheit wieder ein­fordern und die Verantwortung, sie auszudrücken, übernehmen, wird die projizier­te zeitliche oder geistige Macht wieder ihr Eigentum, und dann nehmen die Betreffenden ihren eigentlichen Platz in der Gruppe wahr und spielen eine kreative Rolle in deren Schicksal. Je mehr Vielfalt, eine Gruppe halten kann, umso gesünder ist sie, und umso inniger ist sie verbunden mit der spirituellen Dimension. Derartige Gruppen sind in unserem Kulturkreis selten. Aber von Menschen, die sie erlebt haben, werden sie beschrieben als ein Ort, an dem man völlig frei man selber ist, ohne Furcht, der eigenen Wahrheit Ausdruck zu verleihen, wo man sich in einem vitalen und heilenden Energiefeld gehalten weiß in tiefer Verbindung zu den Gruppen-Mitgliedern als Menschengenossen, wo man weder besser noch schlechter, weder höher noch niedriger, sondern gleich ist an Schönheit und Gnade. Es handelt sich um das schon erwähnte Feld des Selbst, erfahren auf der Gruppenebene, wo es Individualität und Verbindung zu anderen gleichermaßen fördert und die volle Gruppenvielfalt zuläßt.

Wir haben Wege der Arbeit mit Gruppen zu entdecken begonnen, welche dieses Feld erzeugen und der Gruppe helfen, sich mit der spirituellen Dimension zu ver­binden. Es beinhaltet eine neue Form von Führerschaft sowie eine Betonung von nicht-hierarchischer Struktur und von Prozeß. Es bedient sich gewisser Prinzipien der Psychosynthese, des Indianischen Beratungsprozesses und des Werks einiger Innovatoren des Gruppendialogs wie Roberto Assagioli, Carl Rogers und David

36

Seelenwunde und Psychotherapie

Bohm. Alle drei richteten in ihren letzten Lebensjahren den Blick zunehmend auf Themen des Weltfriedens und wie Psychologie und Spiritualität dazu beitragen könnten. Wir befinden uns in den frühen experimentellen Stadien, aber ich habe bereits genug gesehen, um zu wissen, daß es Möglichkeiten der Gruppenstruktu­rierung und Gruppenführung gibt, die die Seelenwunde heilen und die Menschen ermächtigen, spirituelle Verantwortung für das eigene und das Leben auf der Erde zu übernehmen.

Denn im Mittelpunkt dieses sozialen Heilens steht die Zurückgewinnung der spi­rituellen Kraft oder Seelen-Stärke, wie Gandhi es nannte, für die Gesellschaft; die Art, die wir an den Männern und Frauen bewundern, die über die Jahrhunderte hin­weg zur Verbesserung der Welt beitrugen. Es geht um das Ernstnehmen unserer eigenen Leben und Schicksale, unserer eigenen Talente und Gaben und darum, sie voll und nicht durch andere zu leben, auch wenn wir zeitweise in Gegensatz zur Gesellschaft geraten oder einsam und furchtsam sind. Selbst wenn es uns tatsächlich in Todesgefahr oder wirklich in den Tod führen sollte, es ist diese Heilung, die das Leben wahrhaft lebenswert macht. Wir brauchen Mut dafür, denn die Persönlichkeit hat Furcht, und wir brauchen Unterstützung. Doch wissen wir auch, daß dann, wenn wir in unserer spirituellen Kraft sind, das ganze Universum sich bewegt, uns zu erhalten.

Seelenwunde und der Planet

Der dritte Aspekt des Selbst ist die Verbindung zur Natur und zu allen Formen des Lebens. Wieder kennen die Kinder diese Erfahrung von Verbindung und halten sic, bis sie ihnen ausgetrieben wird. Schaut euch die Beziehung eines Kindes zu einem Haustier an, oder beobachtet ein Kind am Strand, wo die Welle auf Sand trifft. Da ist völlige Einheit und Freude. Ich habe mit vielen Menschen gearbeitet, die, wenn wir an den Schmerz beim Verlust eines Tieres rührten, besonders wenn es von den Eltern aus „erwachsenen“ Gründen achtlos entfernt oder gar getötet worden war, einen viel heftigeren Schmerz empfanden als beim Tod eines Verwandten. Wo die Seele ist, spürt der Mensch die Verbindung im Bauch. Und wenn sie zerbricht, ist die Wunde tief. Seelenverlust ist zum Teil auch Verlust unserer Verbindung zur Natur und zu anderen Lebensformen. Und Psychotherapie im spirituellen Kontext muß diesen Verlust ernstnehmen und Wege finden, die Verbindung wieder herzu- stellen. Wir können das Ausmaß unserer Abtrennung individuell und als Spezies am Grad der Umweltschädigung und Verschmutzung erkennen, die unser Lebensstil gezeitigt hat. Dies trifft auf unser Land zu wie auf den ganzen Planeten, und nicht zufällig sind die Zunahme der Umweltbewegung und das Interesse der Psychologie an der spirituellen Dimension gleichzeitige Erscheinungen. Beide sind Teil einer größeren Suche nach Wegen zur Heilung der Seelenverletzung, einmal auf die Person, das andere Mal auf den Planeten bezogen. Gewiß, wir haben einen langen Weg vor uns, und es gibt viele wirtschaftliche und politische Faktoren zu berück­sichtigen, aber in der Psychotherapie können wir anfangen, die Beziehung eines Menschen zur Natur, zu den Wesen anderer Bereiche zu beachten und zu fragen, wie diese Verbindung als integraler Bestandteil der Heilung gestärkt werden kann.

37

Tom Yeomans

Nochmals, der Verlust von Vielfalt - auf dieser Ebene biologischer Vielfalt - schwächt unsere Seelenverbindung. Im Verlust von Ackerland, in der Ausmerzung von Tier- und Pflanzenarten, in der Verschmutzung von Luft und Wasser verlieren wir einen Aspekt unserer spirituellen Verbindung und tragen nicht nur zum Leiden anderer Wesen bei, sondern auch zu unserem eigenen spirituellen Verhungern. Es ist daher kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit, daß wir beginnen, auch auf dieser Ebene auf die Auswirkung der Seelenwunde zu schauen. Das Innenleben allein reicht nicht aus. Das persönliche und soziale Leben allein reicht nicht aus. Wir müs­sen auch die Entscheidungen einer Person zum Lebensstil und ihre politischen, wirt­schaftlichen und ökologischen Implikationen einbeziehen. Jemand, der eine Softdrink-Dose aus dem Autofenster wirft, Abfallrecycling vernachlässigt und in wirtschaftlichen Kategorien nur denkt, wenn es um Entwicklung von Bauland geht, ist zu einem gewissen Grad abgetrennt von seiner oder ihrer Seele und trägt, wenn auch nur in winzigem Ausmaß, dazu bei, daß nicht nur unsere Umwelt weiter zer­stört wird, sondern auch dazu, daß unsere Spezies sich weiter vom Selbst entfernt. Im Verwunden der Erde haben wir uns selbst verwundet, und im Wiederherstellen der Erde werden wir uns selbst heilen. Erdzentrierte Kulturen und neuerdings die Tiefenökologie erinnern uns an diesen Verlust und fördern Veränderung, aber die Trägheit der von uns geschaffenen Systeme ist enorm, und die Zerstörung schreitet fort. Nichts Geringeres als eine gewaltige Umorientierung unserer Lebensweise wird den Unterschied machen, und das beginnt mit jedem einzelnen Leben.

Deshalb müssen wir als Psychotherapeuten unsere Klienten fragen, wie trägt dein Lebensstil zu deinem Leiden bei? Wie steht deine Art, mit Geld und Zeit umzuge­hen, zu deinem seelischen Abgetrenntsein in Beziehung? Und welche Wahlmög­lichkeiten könntest du beginnen wahrzunehmen, um das für dich und damit auch für andere zu korrigieren? Ich habe mit Menschen gearbeitet, deren Heilungsprozeß zutiefst unterstützt wurde durch einen Entschluß, aktiv in der Umweltbewegung zu werden, einen Garten anzulegen oder ihre Lebensumstände auf ein einfacheres Niveau zu reduzieren. Persönliche Probleme klärten sich ab mit diesem Entschluß, und sie gewannen eine neue Perspektive gegenüber dem eigenen und gegenüber ihrer Beziehung zum größeren Leben auf der Erde. Jeder hat eine Rolle in dieser pla- netarischen Wandlung und eine Verpflichtung, sie wahrzunehmen. Je verbundener man wird, umso stärker beginnt man seine Beziehung zum ganzen Planeten zu fühlen, und umso mehr wünscht man zu seiner Heilung beizutragen. Es wird natür­lich, weniger zu verbrauchen und einfacher zu leben, und man beginnt zu sehen, daß vieles, was vorher notwendig schien, eigentlich nur Mittel zur Kompensation der Seelenwunde war. Und in den Worten von Albert Schweitzer, man beginnt „Ehrfurcht vor dem Leben“ zu üben, was nur bedeutet, daß man ein integraler, not­wendiger Bestandteil im großen Gewebe des Seins ist, daß, was man tut, zählt, und daß es das Natürlichste ist, in Verehrung für das große Gewebe des Seins zu sorgen wie für das eigene Sein. Man könnte das Wort Christi umändern in: „Liebe deinen Planeten wie dich selbst.“

Wir sind weit davon entfernt, aber es ist, was wir tun müssen - uns, unsere Beziehungen und unsere Welt ändern. Nichts Geringeres als eine gänzliche Wandlung wird ausreichen, und es gibt rund um die Welt viele Menschen, die hart daran arbeiten, täglich mehr und mehr. Manchmal ist die Arbeit individuell, manch­

38

Seelenwunde und Psychotherapie

mal gesellschaftlich, manchmal global, und jeder muß den richtigen nächsten Schritt für sich herausfinden - den Schritt, der in der eigenen Seele verborgen liegt. Es gibt also Grund zur Hoffnung und Notwendigkeit zum Handeln. Es gibt keine Garantie und jede Möglichkeit, daß wir es können. Und wenn, dann werden wir die Reifung der Spezies Mensch erreicht haben und den Himmel auf Erden, der die Erde poten­tiell ist.

Ein neues Bild des spirituellen Lebens

Hinter alldem liegt ein neues Bild des spirituellen Lebens, das, wie ich glaube, am Ende des 20. Jahrhunderts auftaucht. Es ist eine Spiritualität, die uns in die Erde hin­ein bewegt, nicht weg von ihr, ins Alltagsleben, nicht abseits davon, in unsere Körper, Gefühle und Köpfe hinein, nicht über sie hinaus, in ein volles Engagement für die Themen und Schwierigkeiten der Zeit hinein, in eine Bereitschaft, inmitten des geschichtlichen Chaos zu wohnen und die Verantwortung für unseren Teil dar­an zu übernehmen. Es ist eine Verschiebung vom hierarchischen zum systemischen Verständnis von Beziehungen, und es ist die Ermächtigung aller anstatt der Führung von vielen durch wenige. Viele sagen, es ist die Wiederkehr des heiligen weiblichen Prinzips nach Jahrhunderten männlicher Dominanz. Andere meinen, es ist ein Paradigmenwechsel und eine Erweiterung des menschlichen Bewußtseins. Ich wür­de sagen, es ist die Rückverbindung zum Selbst, welche eine Konfrontation des weltweiten spirituellen Hungers einschließt, ebenso wie das Lernen, wie die Seele zu heilen ist. Wir entdecken und entfalten ein menschliches Potential, das schon immer da war und das uns der Reife der menschlichen Spezies näherbringen wird. Wir ent­decken diese neue Spiritualität in unmittelbarer Erfahrung von innen, und ich glau­be, daß im Fortschreiten dieser Arbeit das neue Leben erstehen und sich durch unse­re Erfahrungen bezeugen wird, durch unser Vertrauen ins bevorstehende Unbekannte, und durch unsere Bereitschaft, es lernend zu betreten. Ich glaube nicht, daß es durch die Lehren eines Menschen, einer Religion oder Kultur dazu kommen wird. Es wird durch das Bemühen des Planeten als Ganzes um seine spirituelle Verwirklichung geschehen. Es wird geschehen aus dem täglichen Bemühen jedes einzelnen von uns um das Verständnis, wer wir sind bei aller Unterschiedlichkeit in unserem gemeinsamen Menschsein und aus unseren Anstrengungen, unsere Beziehungen zueinander, zur Natur und zur Erde zu ordnen.

Das ist ein großes Vorhaben, und ihm gerecht zu werden, erfordert vor allen Dingen Glauben an das Leben auf der Erde zu unserer Zeit, Glauben, um weiter zu machen angesichts scheinbar unüberwindlicher Widerstände, Glauben, um den Sinn für Perspektive und Humor zu bewahren, um sich selbst blinde Flecken zu vergeben und aus ihnen zu lernen. Planetarische Arbeit ist schwer, und täglich erscheinen Nachrichten in den Medien, die uns vermitteln: „Gib’s auf!“ Aber es gibt auch die anderen Geschichten - wer Psychotherapeut ist, kennt sie Geschichten von der unglaublichen Courage und Entschlußkraft von Menschen, die sie selbst sein wol­len, um die Wunde zu heilen und das eigene und damit alles Leben als ein Fest zu feiern. Das ist eines der größten Geschenke, die der Therapeutenberuf mit sich bringt - daß du privater Zeuge des täglichen Heldentums deiner Klienten wirst, und sie inspirieren dich selbst zu größerer Tapferkeit. Du wirst Zeuge ihres Geistes, den

39

Tom Yeomans

du stärken hilfst, und sie stärken dich in ihrem Bemühen darum. In seiner schönsten Form ist es ein Lebensgeschenk, das ihr miteinander teilt.

Beschluß

Dieses nun sind erste Ideen und Beobachtungen zur Wunde der Seelenverbin­dung, dem unerkannten Leiden, welches ihm entspringt, und zur Möglichkeit, es in uns und in anderen zu heilen. Ich habe hier die ersten Befunde aus unserer Erfahrung mit dieser Erscheinung vorgelegt und möchte Sie, den Leser, am Ende dieses Artikels einladen, gemeinsam mit mir diese Quelle menschlichen Leidens wei­ter zu untersuchen durch genaue Beachtung und Prüfung Ihrer eigenen persönli­chen und therapeutischen Erfahrung. Das sich entwickelnde Foto benötigt uns alle, um deutlich und klar zu werden, und unsere sorgsame Aufmerksamkeit allen Einzelheiten gegenüber wird helfen, mit der Zeit die wahre Natur des Leidens und seiner Heilung zu enthüllen.

Übersetzung aus dem Englischen: Dr. Ursula Reineke

Anmerkungen1 Nach einem Vortrag, gehalten auf einer Konferenz ,Spirituality and Psychotherapy' im Mai 1994 in

Lenox, Massachusetts, USA.2 Als Manuskript über den Autor erhältlich.

Summary: This article holds the thesis that there is a special level of spiritual disturbance that is rarely looked at and treated directly in Psychotherapie the Soulwound. The disturbance is developing when a child is seen and welcomed only as a personality and not in its soulquality. This could combine with disturbances on a personality level, or not. It demands special methods of treatment, of which some arc going to be introduced. Three levels have to be recognized to heal these disturbances. The individual level, the level of being connected to a community on which the actual homeland of soul is based upon and the global level that encloses the connection to nature and to all forms of Life which is indispensable for a reconnection to Self.Key words: Soul, Self, soulquality, spiritual dimension, spiritual connection, individuality and connec­tion, community.

LiteraturAssagioli, R. (1993): Psychosynthese, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg. Bohm, D. (1990): On Dialogue, David Bohm Seminars, Ojai, CA. Yeomans, T. (1988): The Three Dimensions of Psychosynthesis, The Ontario Institute for Studies in

Education, Dept, of Applied Psychology, Toronto.Yeomans, T. (1992): Spiritual Psychology: an Introduction, Concord Insitute, Concord, MA. Yeomans, T. (1994): The Corona Process: Group Work within a spiritual Context, Concord Institute,

Concord, MA.Worldwatch Institute (1993): State of the World, Washington, D. C.

Thomas Yeomans Concord Institute Box 82Concord, MA 01742 USA

40

Der Wille zur Liebe und die Liebe zum Willen -

ein Konzept der Psychosynthese

Ulla Heist, Vogt

Zusammenfassung: Innerhalb der therapeutischen Theoriediskussion nimmt der Wille keinen großen Raum ein. In der Psychosynthese ist das anders. I Iier wird er als zentrale Kraft der Psyche betont und als ,Werkzeug' für alle Wachstums- und Werdeprozesse geschätzt und geschult. Assagiolis Willenskonzept wird kurz darge­stellt und der Wille als Kraft der Individualisierung beschrieben. Die Liebe wird in ihrer erkennenden Verbindungskraft als gegenpolige Ergänzung des Willens unter­sucht. Der Aufsatz zeigt, wie im Prozeß der Selbstverwirklichung Wille und Liebe zu einer Synthese zusammenfinden und einander durchdringen, wobei jedoch der Wille eine besondere Stellung einnimmt.

Schlüsselworte: Wille, Liebe, Selbstverwirklichung, Individualisierung, Verbin­dung, Erkennen, Ich, Selbst.

From the eternel Out of the Past In the presence For the future

Roberto Assagioli

„Jeder kann die existentielle Erfahrung des ,Wollens‘ machen oder hat sie gemacht - aber oft ohne volle Erkenntnis oder klares Verstehen“ (Assagioli, 1982, S. 7). So beginnt das Hauptwerk Roberto Assagiolis, des Begründers der Psychosynthese, ,Die Schulung des Willens'. Man kann ohne weiteres hinzufügen: Jeder kann die exi­stentielle Erfahrung des ,Liebens‘ machen oder hat sie gemacht - aber oft ohne volle Erkenntnis oder klares Verstehen.

Beide Begriffe, Wille und Liebe, unterliegen einer verwirrenden Mixtur von Anschauungen und Konzepten, deren Bandbreite von Heimatroman und Schlagertext über Wissenschaft, Kunst und Religion bis hin zur Mystik reicht. Mit beiden Begriffen ist im übrigen so viel Mißbrauch getrieben worden, daß es kaum mehr möglich ist, sie neutral zu verwenden.

In der Psychosynthese werden Wille und Liebe als die beiden grundlegenden Aspekte des Selbst gesehen. Im eigenen Erleben sind sie meist vermischt mit Ideen, Erinnerungen, Wunschbildern, Sehnsuchtsgefühlen, Triebimpulsen, Hoffnungen und Ängsten. Das macht es schwer, sie zu verstehen. Ihr eigentliches Wesen tritt erst

41

Transpersonale Psychologie und Psychotherapie1/98, 41-58

Ulla Heist

in Erscheinung, wenn sie aus diesen Vermischungen befreit werden und als ,sie selbst' vor uns stehen.

Dieser Artikel setzt sich aus drei Teilen zusammen. Im ersten Teil werde ich das Willenskonzept der Psychosynthese kurz darstellen. Ich möchte zeigen, wie Assagioli den Willen ganz eigenständig faßt, nicht als philosophischen Begriff, son­dern als Phänomen: Er untersucht und beschreibt den Willen, der erfahrbar und beobachtbar ist. Der Wille wird so verstehbar als zentrale Kraft, die alles andere erst möglich macht (Assagioli, 1993) als dynamischer Ausdrucksaspekt des Selbst, der alles menschliche Handeln, Wachsen und Werden strukturiert und ausrichtet.

Im zweiten Teil wird die Liebe als gegenpolare Kraft zum Willen untersucht. Für die Liebe hat Assagioli kein durchgearbeitetes Konzept vorgelegt. Auch ich habe hier nicht diesen Anspruch, sondern möchte eine Annäherung finden an jene Kraft, ,die die Welt im Innersten zusammenhält'. Ich möchte zeigen, daß der Wille die Liebe braucht und umgekehrt die Liebe den Willen benötigt, damit Leben sich ent­falten und Zukunft erwachsen kann.

Zukunft meint dabei kein einfaches Morgen, das jeden Tag von neuem wieder­kehrt in einer endlosen Abfolge von Wiederholungen. Zukunft meint, daß da etwas erscheint, das bisher noch nicht da war, meint Entwicklung von noch nicht Verwirklichtem, meint Erscheinen von Neuem, das geboren werden will, meint Gelingen eines größeren Ganzen. Wie diese ,Zukunftsschaffung' durch die Synthese von Wille und Liebe möglich wird im Prozeß der Selbstverwirklichung, davon han­delt der dritte Teil.

I. Der Wille

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe, und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! und es ward Licht.Und Gott sah, daß das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.

Der Schöpfungsbericht, die Bibel als Ganzes beginnt mit der Beschreibung einer Willenstat. Im jüdisch-christlichen Mythos wird so ein Willensakt an den Beginn der Evolution gestellt, an den Beginn aller Werdeprozesse, an den Beginn erster Aus- differenzierung von Form aus der Formlosigkeit. Wille ist die Kraft der Manifestation.

Wille schafft und scheidet und bewirkt so das Entstehen von ,Welt', ist eine tren­nende, differenzierende Kraft, scheidet Tag von Nacht, Himmel von Erde, und Wasser von Land. Indem Wille scheidet und trennt, entsteht Vielfalt aus Einheit.

In der Genesis folgen weitere Schöpfungstage, in denen die Welt der Materie nach und nach erscheint, und dann, am sechsten Tag, sprach Gott: „Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei.“ Was uns die Bibel bis zu dieser Stelle von Gott berichtet hat, ist seine Schöpferkraft, sein Wille zu erschaffen. Nun heißt es, daß er die Menschen „ihm zum Bilde“ erschuf. Bedeutet das nicht, daß der Wille, die

42

Der Wille zur Liebe und die Liebe zum Willen

Schöpferkraft, dann wesentlicher Aspekt des Menschseins ist, das was ihn von allem bisher Erschaffenen unterscheidet und abhebt?

Hier werden in einem sehr verdichteten Text zwei Arten von Willen vorgestellt: Göttlicher Wille, der Wille auf einer überpersönlichen Ebene, der Welt und Menschen erschafft; und der Mensch als Ebenbild Gottes wird vorgestellt als Willensträger auf irdischer Ebene, der auf der Erde handeln und schaffen soll.

Der Wille in der Psychotherapie

Der Wille als Bedingung des Menschseins war immer eines der großen Themen der Philosophie. Vor allem das Gegensatzproblem hat den menschlichen Geist mit der Frage bewegt, wie ,freier' Wille einerseits und Kausalität und Determiniertheit andererseits miteinander vereinbart werden könnten.

Innerhalb der Psychotherapie war es vor allem Freud, der dem Willen seinen alten viktorianischen Herrschaftsanspruch („Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.“) entzog, indem er seine Theorie der Determiniertheit menschlichen Verhaltens durch unbewußte Motive formulierte und damit gleich den Willen als Ganzes vom Tisch fegte. Der Gang der Geschichte bewies ja dann auch augenscheinlich genug Freuds kulturpessimistische Sicht der Dinge.

Freud hatte ja nicht unrecht. Nur war er dem Willensbegriff aufgesessen, wie er im viktorianischen Bürgertum ausgeprägt war: Dort wurde er als Herrschafts­instrument verstanden - und mißbraucht! -, das zur Unterdrückung unliebsamer Es-Regungen eingesetzt werden kann und so zur Spaltung zwischen bewußter Intention und unbewußten Abwehrmechanismen führt. Gegen diesen Willen, der sich nur einbilden kann, „Herr im eigenen Haus zu sein“, schrieb Freud seine Libidotheorie. Wille gab es hinfort in der Psychoanalyse nicht mehr.1 Die wesent­lichen anderen psychologischen Schulen mieden ebenfalls den Begriff. Im Reiz- Reaktions-Schema der Behavioristen ist dafür ebensowenig Platz wie in den meisten Richtungen der humanistischen Schulen, bei denen Begriffe wie selbstverwirkli- chende Dynamik und organismisches Gleichgewicht auf selbstregulative Prozesse fokussieren, die scheinbar des Willens nicht bedürfen.

Anders bei Assagioli: Er räumt dem Willen eine herausragende Stellung ein. Er unterscheidet zwischen dem ,Wollen', das auf unbewußten Motiven beruht, und dem ,Willen', den er als bewußte Wahl sieht und damit als unmittelbaren Ausdruck des ,lch' oder ,Selbst'. Die alte Frage nach Freiheit oder Determination löst sich insofern auf, als beides stimmt, nur zu je verschiedenen Stadien der Entwicklung: Das Freiheitsmoment wird umso größer, je weiter die individuelle und die evolu­tionäre Entwicklung fortschreiten. Mit William James sieht er aber Freiheit auch schon dort, wo andere von Determiniertheit sprechen würden, „Wille und Intellekt können Gewohnheiten des Denkens und Wollens bilden. Wir sind für die Bildung unserer Gewohnheiten verantwortlich, und selbst wenn wir unseren Gewohnheiten entsprechend handeln, handeln wir frei“ (James, in Assagioli, 1982, S. 59). Hier wird also ein radikal ethischer Blickwinkel eingenommen und der Mensch in seine volle Verantwortung gestellt, was ja übrigens auch dem östlichen Konzept des Karma ent­spricht.

43

Ulla Heist

Wir stoßen hier auf ein Thema, das mit dem Willen eng verknüpft ist: die Frage der Ethik. Wer die Wahl hat, so oder so zu handeln, der braucht zuförderst eine ethische Wertskala, nach der sein Handeln Orientierung findet. Der Wille läßt sich nicht ohne den Wert denken, denn jeder Willensakt wählt immer ein: ,Dies ist mir wichti­ger als jenes, also wähle ich dieses'. Wille unterscheidet, und Unterscheidung bedeu­tet Werturteil, das heißt ethische Hierarchiebildung.2 Das gibt uns einen Hinweis, warum sich Psychologie und Psychotherapie so schwer tun mit dem Willen. Solange Wissenschaft glaubt, wertfrei sein zu müssen und sein zu können, fallen Begriffe, die ethische Implikationen haben, kurzerhand unter den Tisch.

Der Wille als psychische Funktion

Assagiolis Willenskonzept ist zu komplex, als daß es hier umfassend dargestellt werden könnte.3 Es handelt sich um eine Phänomenologie des ,Willens in Aktion', eine Analyse der ,gewollten Handlung'.

Nach Assagioli nimmt der Wille innerhalb verschiedener psychischer Funktionen eine besondere Stellung ein: „Die wahre Funktion des Willens liegt nicht im Handeln gegen die Persönlichkeitstriebe, um die Erfüllung bestimmter Zwecke zu erzwingen. Der Wille hat eine leitende und regulierende Funktion; er gleicht aus und benutzt auf konstruktive Weise alle anderen Tätigkeiten und Energien des Menschen, ohne irgendeine von diesen zu unterdrücken.“ „Durch den Willen wirkt das Ich auf die anderen psychologischen Funktionen“ (Assagioli, 1982, S. 19, S. 21).

Diese zentrale Stellung des Willens ist jedoch nicht selbstverständlich gegeben. Der Wille ist oft noch in anderen psychischen Funktionen gebunden. Er ist wie das Gold, das erst aus dem Sand ausgewaschen werden muß. Er steht vielleicht bei einem Menschen im Dienst der Gefühle, beim anderen im Dienst des Verstandes. Bei wie­der anderen ist er noch ganz mit den Triebregungen verknüpft. Hier geschieht das Zusammenwirken der einzelnen Funktionen reflexartig und unbewußt. Erst wenn der Mensch sich seines Willens als eigenständiger Kraft bewußt wird und er lernt, ihn von den anderen psychischen Funktionen zu unterscheiden, kann der Wille sei­nen eigentlichen Platz am Steuer des Schiffes einnehmen. Gänzlich frei wird der Wille erst dann, wenn er in der Mitte steht und die anderen in der Psyche wirkenden Kräfte erkennt, anerkennt und einbezieht, so wie der Steuermann eines Schiffes alle Gegebenheiten und wirkenden Kräfte kennen und einbeziehen muß: seine Position, sein Reiseziel, Strömungen, Windverhältnisse, Gezeiten, Abdrift, Geschwindigkeit des Schiffes, und unter Einbeziehung all dieser Faktoren sein Schiff durch Sturm und Untiefen zum Bestimmungshafen hinsteuert.

Die vier Aspekte des Willens

Die weit verbreitete Verwechslung des Willens mit Zwang, Unterdrückung und Ausübung von Macht über sich und über andere hat nach Assagioli damit zu tun, daß die verschiedenen Aspekte des Willens nicht erkannt werden. Er nennt beson­ders vier: den starken, den geschickten (skillfull), den guten und den transpersonalen

44

Der Wille zur Liebe und die Liebe zum Willen

Willen, die alle ausgebildet sein müssen, damit von einem vollständigen und kon­struktiven Willen gesprochen werden kann, der in der Lage ist, seine integrative Funktion zu erfüllen. Die Schulung des Willens, wie Assagioli sie vorschlägt und dringlich ans Herz legt, soll sorgfältig beachten, daß alle Aspekte ausgewogen gestärkt und entwickelt werden.

Der starke Wille ist der Kraftaspekt, die Tatkraft des Willens. Umgangssprachlich wird er meist mit dem Willen an sich gleichgesetzt, er ist aber nur seine erste und ein­fachste Ausdrucksform, gewissermaßen die körperlich-emotionale Grundlage jeder Willenshandlung, die Dynamik und Vitalität des Willens. In seiner positiven Ausformung enthält dieser Aspekt Eindeutigkeit und Zielgerichtetheit sowie Konzentration und Abgrenzungsfähigkeit. Ist er einseitig entwickelt, so kann das zu Rücksichtslosigkeit, Machtmißbrauch und Unterdrückung führen.

Der geschickte Wille ist der Ökonomieaspekt, die Effektivität des Willens, die dafür sorgt, daß möglichst wenig Energie für das Erreichen eines Zieles aufgewandt werden muß. Hier differenziert sich der Wille bereits aus, denn dazu wird Kenntnis über die äußere Welt und deren Funktionieren ebenso benötigt wie Kenntnis über die innere Welt, damit die verschiedenen Anteile der Persönlichkeit und alle betei­ligten Kräfte und deren Beziehungen zueinander in das Handeln einbezogen und genutzt werden können. Dieser Aspekt ist gewissermaßen der Verstand des Willens. In seiner positiven Ausformung enthält er Qualitäten wie Einsicht, Akzeptanz, Offenheit und Kreativität. Ist er einseitig ausgebildet, so besteht die Gefahr von Manipulation, Funktionalismus und Sinnentleerung.

Der gute Wille ist der ethische Aspekt, der die Wahl der Ziele bedenkt, weil er sein Handeln nicht mehr nur im Kontext seiner persönlichen Verwirklichung sieht, son­dern im Zusammenhang mit seinem Eingebettetsein als Mensch in ein Netz sozialer Beziehungen und Notwendigkeiten. Die Wahl der Ziele bezieht sich dabei nicht nur auf andere Menschen, sondern auch auf sich selbst. Es geht um Ziele, die dem Wohlergehen, der Entwicklung, dem Leben dienen und die nicht schaden. Der gute Wille ist nicht als moralische Forderung mißzuverstehen. Er gehört zur Vollständigkeit des Willens dazu, insofern schädliche Ziele sich destruktiv auswir­ken und so letztlich die Wirksamkeit des Willens boykottieren. Die Erkenntnis die­ser Tatsache ist ein wesentlicher Bestandteil jeder Willensschulung, die so immer ethische Entwicklung beinhaltet. Der gute Wille ist gewissermaßen das Herz des Willens, das ihn zu menschlicher Lebendigkeit erweckt. In seiner positiven Ausformung enthält er Bezogenheit, Empathie, soziale Einsicht und Verantwor­tung. Ein einseitig ausgebildeter guter Wille kann sentimental, blind und ohnmäch­tig sein. Ihm fehlen Kraft, Geschick und Überblick, um seine guten Ziele in die Wirklichkeit zu bringen.

Der transpersonale Wille ist der spirituelle Aspekt. Er ist der Wille, der sich bewußt in den Dienst des Ganzen stellt. Im menschlichen Leben ist es das Bedürfnis nach Sinn, das den transpersonalen Willen weckt und ins Bewußtsein hebt.4 Hier tritt die Ausdifferenzierung des Willens in eine andere Ebene ein: Indem der indivi­duelle Wille sich als Teil eines größeren Ganzen erkennt, kommt ein Prozeß der Disidentifikation von eigennützigen oder auch kollektiven, jedoch trennenden Zielen in Gang, der zur Identifikation mit größeren, umfassenden und verbindenden Zielen hinführt. Der ,Wille zum Sinn' zeigt sich oft durch die Konfrontation mit

45

Ulla Heist

Leid und Tod und kann, wenn der Konfrontation standgehalten wird, bewirken, daß die Beschränkungen eines persönlichen Bewußtseins transzendiert werden können, „ohne das Zentrum individueller Bewußtheit zu verlieren“ (Assagioli 1982, S. 104, Hervorhebung von U. H.). Der transpersonale Wille ist der Wille zur Verwirk­lichung eines größeren Ganzen. Seine besondere Qualität liegt in der Fähigkeit, die Gegensätze des persönlichen Bewußtseins: entweder ich oder du, entweder Sieg oder Niederlage, entweder gut oder böse, entweder leben oder sterben, zu überwin­den. Mit der Besprechung des transpersonalen Willens haben wir die Systematik unseres Themas unversehens verlassen, denn in ihm ist auch die bisherige Polarität von Wille und Liebe überschritten, und die beiden sind vereint.

Wille, Freiheit und Individualität

In der Freiheit des Willens liegt etwas begründet, das die Evolution zuvor noch nicht gekannt hatte. Das Handeln wird frei von seiner instinktmäßigen Gebun­denheit, das heißt von seinem Gewordensein. Eine neue evolutionäre Komponente entsteht, die alles bisherige weit übersteigt: Die Kraft, die in der Gegenwart handeln kann, jetzt, in Ausrichtung auf die Zukunft.

Diese Kraft ist in der Lage, die ewige Kette von Ursachen und Wirkungen zu durchbrechen und Wirkungen bewußt und willentlich hervorzubringen, solche, die frei von alten Verursachungen sind. In diesem Sinne könnte man den Willen auch als die Zukunftsfunktion beschreiben, als zukunftschaffende Funktion, die schöpfe­risch Neues hervorbringen kann, das nicht festgelegt ist von der Vergangenheit. Daß die Wahl, die ich treffe, jetzt, in diesem Moment, tatsächlich an der Zukunft mit­wirkt, und das in jedem winzigsten Augenblick meines Lebens, ist eine Tatsache, die den wenigsten von uns im Alltagsleben gegenwärtig ist. Und wenn es uns bewußt wird, ist es uns oft eher unheimlich als angenehm. Daran wird deutlich, wie schwach die Willensfunktion bis heute in unserem Bewußtsein ausgebildet ist. Immer wieder glauben wir, v. a. bei ,banalen' Alltagshandlungen, es sei bedeutungslos, ob wir nun dieses oder jenes tun; oder wir wagen es umgekehrt, bei ,großen' Entscheidungen kaum zu handeln, aus Furcht, das Falsche zu tun.

Wie bewußt oder unbewußt wir in unserem persönlichen Leben auch mit der Willenskraft umgehen, tatsächlich gibt es sie, und sie bestimmt unser menschliches Sein. Wir haben die Wahl. Wir haben die Wahl, selbst wenn wir die Bedingungen unseres Handelns nicht überschauen. Selbst wenn wir noch nicht verstehen, was unser Handeln langfristig - oder auch kurzfristig - bewirkt, und wir deshalb immer wieder gänzlich andere Wirkungen hervorbringen, als wir beabsichtigt hatten. Wir entscheiden. Wir handeln. Auf diese Weise sind wir Mitschöpfer unserer selbst, unseres Lebens und unserer Welt.

Wille ist die Kraft der Vereinzelung, der Selbstwerdung, der Individualisierung. Ich will. Ich will dies tun und jenes lassen. Dies ist mein Ziel, das ich anstrebe. Der Wille bringt das Ich, das ganz Eigene zum Ausdruck, so daß Individualität erschei­nen kann aus der anonymen Kollektivität der Masse, so daß ,Ich' wirklich werde, daß ,Ich‘ ins Leben komme aus dem Raum des Möglichen in die Welt der realen Wirklichkeit. Über den Willen bringe ich sichtbar, hörbar, fühlbar, erlebbar zum Ausdruck, wer ich bin im Unterschied zu dir. Wille grenzt ab, unterscheidet: Das bin

46

Der Wille zur Liebe und die Liebe zum Willen

ich nicht, das will ich nicht. Wille formt meine ureigene Gestalt aus dem „Lehmkloß“ aller menschlichen Möglichkeiten: Das bin ich. Das will ich sein. Das ist meine Wirklichkeit. So will ich mein Leben gestalten.

Das ist der irdische Wille der Genesis, der sich seiner Ebenbildlichkeit noch nicht bewußt ist. Der sich zum Individuum entfaltende Mensch. Der sich seiner Einzig­artigkeit bewußt werdende Mensch.

Die Möglichkeit der Freiheit birgt jedoch auch Verheerendes in sich: Wir sind auch frei zu tun, was schließlich schadet - solange der gute Wille noch nicht ausrei­chend entwickelt ist! Wir sind so frei, daß wir auch die Bedingungen unserer eigenen Existenz vernichten können: Wir haben die Wahl: die Wahl zwischen Gut und Böse, zwischen Zukunft und Vernichtung, zwischen ,freiem' Willen und Willkür. Diese Freiheit haben wir.

Eine andere Freiheit haben wir nicht. Wir haben nicht jene Freiheit, wie wir sie bisher mißverstanden haben: daß wir tun können, was wir wollen. Mühsam und schmerzhaft lernen wir, daß das Leben auf Gesetzmäßigkeiten beruht, die unser Wille nicht außer Kraft setzen kann. Aber wie können wir diese Gesetzmäßigkeiten erkennen und uns so mit ihnen in Einklang bringen, daß harmonisches Miteinander daraus erwächst, wie können wir uns ,freiwillig', das heißt in bewußter Wahl das gute Ziel wählend, einfügen in das große Ganze des Gewebes des Lebens?

Freier Wille im Sinne Assagiolis ist der Wille, der im Einklang ist mit seinen Zielen und mit seiner Umgebung, ist ,Einwilligungswille', und damit Zukunftsfunktion. In östlichen Traditionen kennt man diesen Willen als Handeln, das kein Karma schafft, als ich-loses Handeln. In der Bibel heißt es: Du sollst dir kein Bildnis machen. Psychologisch könnte man es entsprechend als Handeln jenseits von Selbstbildern und -konzepten bezeichnen, als „on-line mit dem Selbst“ (Seifert 1997), frei ent­springend aus dem Seinsgrund. Dies ist der Wille, der Ebenbild geworden ist: Wille, der um das Werden des Ganzen weiß.

Für die meisten von uns ist dies noch Zukunftsvision. Denn woher weiß unser Wille, was wirklich zu tun ist, was dient und nicht schadet? Wie kann er lernen, wie das Prinzip des Nicht-Schadens in die gelebte Wirklichkeit umgesetzt werden kann? Diese Frage kann er nicht allein lösen. Hier muß er sich an seine gegenpolige Ergänzung um Rat wenden: an die Liebe.

II. Die Liebe

Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle.Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so daß ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts.

Die Liebe höret niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird, und das Zungenreden aufhören wird, und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk, wenn aber kommen wird das Vollkommene, dann wird das Stückwerk aufhören.

47

Ulla Heist

Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweis, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei. Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.

Die Liebe, so wird uns im 1. Korintherbrief gesagt, ist das höchste Gut. Alle auf­geführten psychischen Kräfte, diese uns so faszinierenden ,Siddhis‘, wie propheti­sches Reden, Berge versetzen und im Besitz aller Geheimnisse sein, werden schlicht als unnütz bezeichnet, solange ,ich die Liebe nicht habe“. Alle diese Künste hören auf, heißt es, sind Stückwerk, ,Teil‘, wie wir heute sagen würden. Nur „die Liebe höret nimmer auf“, denn sie ist das Vollkommene, das allumfassende Ganze, der GEIST. Solange wir noch auf der Ebene des Stückwerkes leben, so heißt es weiter, bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, „aber die Liebe ist die größte unter ihnen“.

Der Begriff ,Liebe' wird offensichtlich auf zwei verschiedene Arten benutzt: eine Liebe, die auf der Ebene des Ganzen, des Göttlichen ist, und eine andere, die auf die Ebene des Teils gehört, denn sie „bleibt uns“, sie ist das, was uns zum Ganzen hin­führen kann. Wie beim Willen in der Genesis wird auch die Liebe zweifach geschil­dert, auf der irdischen Ebene menschlichen Seins und auf der vollkommenen Ebene des Göttlichen.

Die Liebe in der Psychotherapie

Die Liebe nimmt in der Psychotherapie von jeher einen wichtigen Platz ein. Sie kam dort zunächst vor allem als Mangelzustand vor, der zu psychischen Störungen aller Art und Schweregrade führen kann. Erst später erforschten verschiedene Schulen und Disziplinen systematischer, welchen Stellenwert sie für den Aufbau gesunder psychischer Strukturen hat. Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie und Säuglingsforschung haben uns mehr und mehr den Blick für die frühe menschliche Erlebniswelt geöffnet.

Verschiedene Forschungen deuten darauf hin, daß nicht nur der Säugling, sondern bereits der Fötus im Mutterleib ganz und gar nicht monadisch, sondern von allem Anfang an ein Beziehungswesen ist. Zum Beispiel hört er dort schon die Stimme der Mutter und kann sie später erkennen. Das heißt, daß menschliches Leben von Anbeginn eine spezifische, erkennende Beziehungs- und Bindungsfähigkeit besitzt: Liebesfähigkeit und Liebespotential.

Stern (1992) schließt aus experimentellen Forschungen, daß der Säugling schon in den ersten Wochen aktiv seine Erfahrungen ordnend tätig ist und sein Verhalten danach ausrichtet. Stern spricht dabei von einem ,auftauchenden Selbst', einem strukturierenden Prinzip, das er als invariantes Gewahrseinsmuster beschreibt. Es operiert als das unabhängige, organisierende Prinzip, als jenes Andere, das unter­schieden ist vom Inhalt der Erfahrung, von dem, wessen man sich bewußt ist. Es ist dieses invariante, individuelle Gewahrseinsmuster, das in Sterns Sicht über alle kommenden Lebensphasen hinweg und durch alle möglichen Erfahrungen, durch alle Entwicklungs- und Integrationsphasen hindurch Kontinuität schafft und bewahrt, und so ermöglicht, daß bei aller Vielfalt der Erfahrung und bei aller

48

Der Wille zur Liebe und die Liebe zum Willen

Ausdifferenzierung und Komplexität doch die eigene Einzigartigkeit und Ganzheit, eine innere Einheitlichkeit und ein Kontinuum bestehen bleibt: vom Baby bis zum Buddha.

Dieses unveränderliche Selbst wird als Gewahrsein definiert, und damit als Bezogenheit, als Bezogensein. Als solches ist es angewiesen auf einen Beziehungs­partner. In der Psychoanalyse hat vor allem Winnicott beschrieben, wie ein erstes Selbstgefühl über die Matrix einer behütenden mütterlichen Zuwendung und Liebe ausgebildet wird. Damit das Empfinden der eigenen Existenz, des Daseins und Wirklichseins entstehen kann, ist die tatsächliche, äußere Anwesenheit der Mutter nicht genug; ihre innere Anwesenheit, ihre achtsame Bezogenheit und Präsenz ist vonnöten. Die zugewandte Aufmerksamkeit, die empathische Beziehung der Mutter und ihre Wahrnehmung des Kindes in seinem Sein sind cs, die ihm sein Dasein als einzigartiges, individuelles Wesen spiegeln, so daß es seine Existenz erleben kann. Ihre Zugewandtheit macht dem Kind sein wirkliches Dasein erfahrbar, erschafft das Erleben von Existenz und Ganzheit. Die Mutter fungiert dabei als ein äußeres verei­nigendes Zentrum, das dem Kind hilft, das noch unverbundene Erleben einzelner ,Inseln der Konsistenz' nach und nach zusammenzufassen in sinnhafte Bedeutungs­zusammenhänge. So kann das wachsende Wesen jenes Selbstempfinden stärken, ent­wickeln und ausdifferenzieren, das nach Stern Kontinuität des Seins ermöglicht. Die liebende Verbindung der Mutter zum Kind ist eine Verbindung auf der Ebene des Seins, sie ist sozusagen unterhalb oder jenseits der Erfahrungsinhalte, unterschieden von spezifischen Empfindungen und Gefühlen. Sie ist Seinserfahrung, Erleben des Seins oder, wenn sie nicht ausreichend gut ist, Erleben des Nicht-Seins. Sie ist hal­tende Beziehung und schafft einen tragenden Lebensgrund, der die Erfahrungs­inhalte aufnehmen und bergen kann. Sie trägt alles, was ist: angenehm und unange­nehm, Wohlsein und Schmerz, Sicherheit und Angst, und das Baby lernt, all dies zu erleben und zu tolerieren, ein ganzes weitgespanntes Spektrum der Erfahrung, wenn diese Haltekraft in ausreichendem Maße da ist.

... und in der Psychosynthese

In der Sicht der Psychosynthese ist das menschliche Seelenleben ein fortwähren­der Tanz „zwischen den vielen verschiedenen und widersprüchlichen Kräften und einem vereinigenden Zentrum“ (Assagioli 1993, S. 38, Hervorhebung von R. A.), das bestrebt ist, alle diese verschiedenen inneren Anteile in ein harmonisches Ganzes zusammenzufügen. Dieses vereinigende Zentrum ist in der Psyche zwar immer schon da, aber nicht selbstverständlich bewußt. Der Beobachter, in Assagiolis Sprache auch das ,lch‘ genannt, muß sich erst als Zentrum des Bewußtseins aus den Bewußtseinsinhalten herauskristallisieren und lernen, sich von ihnen zu unterschei­den. Je mehr dies geschieht, desto kraftvoller kann das innere vereinigende Zentrum in seine Funktion eintreten. Auf diese Weise wird sozusagen die oben beschriebene ,Winnicott’sche Mutter' in der Psyche errichtet: Achtsames Gewahrsein, zugewand­te Aufmerksamkeit, empathische Annahme errichten den ,Ort‘ der liebenden Haltekraft im Innern der Person, gründen den Menschen in der Seinserfahrung, so daß wirkliches Dasein zum Gefäß wird für das Spektrum der Erfahrungsinhalte, mögen sie schön oder schrecklich, freudvoll oder leidhaft sein.

49

Ulla Heist

Wie die entwickelte Haltekraft aussehen kann, möchte ich an einem Beispiel zei­gen, das mich ganz besonders berührt. Es stammt aus den Tagebüchern von Etty Hillesum, einer jungen jüdischen Frau, die, wohl wissend um ihr zukünftiges Schicksal - sie wurde 1943 29jährig in Auschwitz ermordet -, schrieb: „Das Leben und das Sterben, das Leid und die Freude, die Blasen an meinen wundgelaufenen Füßen und der Jasmin hinterm Haus, die Verfolgung, die zahllosen Grausamkeiten, all das ist in mir wie ein einziges starkes Ganzes, und ich nehme alles als ein Ganzes hin, und beginne immer mehr zu begreifen, nur für mich selbst, ohne es bislang jemand erklären zu können, wie alles zusammenhängt. Ich möchte lange leben, um es später doch noch einmal erklären zu können, und wenn mir das nicht vergönnt ist, nun, dann wird ein anderer mein Leben von dort an weiterleben, wo das meine unterbrochen wurde, und deshalb muß ich es so gut und so überzeugend wie mög­lich weiterleben bis zum letzten Atemzug, so daß derjenige, der nach mir kommt, nicht ganz von neuem anfangen muß und es nicht mehr ganz so schwer hat (Tage­bucheintragung vom 3. Juli 1942, S. 124).

Liebe: Das Gesetz der Anziehung

Liebe ist keine emotionale, sondern eine ontologische Kraft, das Wesen des Lebens selbst, die dynamische Wiedervereinigung dessen, was getrennt war. Paul Tillich

Liebe, sagt Paul Tillich, ist die Wiedervereinigung des Getrennten (1991). Als Menschen leben wir auf der Ebene des Stückwerkes, erleben schmerzhaft unsere Trennung vom Ganzen. Die vage Erinnerung an eine ursprüngliche Einheit ist ein machtvoller Antrieb zu unserer ,Rückkehr in die Zukunft', die nur allzuoft als Rückkehr in die Vergangenheit mißverstanden wird. Auf der Ebene des Stückwerkes fühlen wir uns einsam, unvollständig, unzufrieden. Dies erweckt Beziehungssehnsucht. Wir sind „getrieben von einem Drang, der keine Ruhe läßt, von einem Durst, der nicht zu löschen ist. Und es muß so sein, denn dieser Drang, dieses Streben ist der Ausdruck des großen Evolutionsgesetzes. Damit enthüllt sich uns das Geheimnis der Natur und die Funktion der Liebe. Dieses Streben nach Vervollständigung, nach Vereinigung und nach Verschmelzen mit etwas oder mit jemand anderem als man selbst, genau das ist das Wesen der Liebe“ (Assagioli 1992,S. 302). „In eine wissenschaftliche Sprache übersetzt heißt das, daß das Universum auf das Prinzip der Polarität aufgebaut ist und einer Gesetzmäßigkeit gehorcht, die durch Anziehungskräfte und eine Reihe von Fortpflanzungsakten charakterisiert ist. Diese Prinzipien, diese Grundgesetze finden wir in allen Manifestationen der Liebe wieder, so unterschiedlich und gegensätzlich sie auch auf den ersten Blick erscheinen mögen... auch in der anorganischen Materie“ (a.a.O.), beispielsweise wenn sich Atome in ein Molekül zusammenschließen. Wir könnten also die Liebe als das Prinzip des Werdens bezeichnen: Eins und zwei erzeugt drei.

Dieses Gesetz der Anziehung kann in höchst unterschiedlichen Ausformungen erscheinen, was einige Verwirrung stiften kann. Zum einen kann die angestrebte Einheit durch aktives Anziehen und In-Besitz-nehmen dessen, was geliebt wird, zustande kommen. Diese Liebe will sich ihr Objekt einverleiben und es seiner

50

Der Wille zur Liebe und die Liebe zum Willen

Eigenständigkeit, seiner Individualität und seines separaten Daseins berauben. Die Einheit kann auch Ergebnis eines gegenteiligen Vorganges sein. Dann liefert sich das Subjekt passiv dem Objekt seiner Liebe aus, verliert sich in ihm, löst sich auf und gibt sein getrenntes Dasein auf, die eigene Individualität wird preisgegeben. Als drit­te Möglichkeit kann Einheit durch gegenseitige Anziehung und Annäherung zustande kommen, in respektvoller Wahrnehmung des anderen und in achtsamem Kontakt. Diese Liebe ist beiderseitige Präsenz, so daß sich zwei gegenüber sind, deren jeweiliges So-Sein gewahrt bleibt. Hier gibt es keine Vermischung von Selbst und anderem, sondern die Verbindung von zwei Individuen; kein Verschwinden von Individualität, sondern deren Aufrechterhaltung und Intensivierung in gegenseitiger Wahrnehmung. Es ist dieses Gewahrtbleiben der Einzigartigkeit von Zweien, die dann erst die Entstehung einer neuen, größeren Einheit möglich macht: die sensible Aufrechterhaltung von Individualität und Einssein, von Separation und Verbindung, von Teil und Ganzem. Dies ermöglicht eine Vereinigung, in der ein Ganzes entsteht, das größer ist als die Summe seiner Teile: Beziehungsgefüge, Paar.5

Die Liebe, die größer macht, die Entwicklung bewirkt, ist also jene, die Individualität und Selbstsein bewahrt und beschützt. Die ,Liebenden' müssen sich als getrennt voneinander erkennen und sich gegenseitig anerkennen, damit die Liebe in ihre wahre Funktion eintreten kann: die Schaffung größerer Einheiten.

Liebe, Ganzheit und Erkennen

Daß Liebe mit Anziehung zu tun hat, ist uns ja gut geläufig. Dieses Gesetz, enthält aber noch einen anderen Aspekt, der uns gemeinhin weniger gegenwärtig ist und der etwas Geheimnisvolles enthält. Wenn sich zwei bisher getrennte Einheiten zusam­mentun, um ein neues, gemeinsames Ganzes zu formen, dann ist dabei etwas vor­ausgesetzt. Die beiden müssen irgendwie erkennen, daß sie zusammenpassen, so daß wirklich ein Ganzes daraus entstehen kann. Wie wissen die Wasserstoff- und die Sauerstoffatome, daß sie gemeinsam zu Wasser werden? Irgendwie erkennen sic, daß sie zusammenpassen wie Puzzleteile, die sich in ein Bild fügen. Auf der Ebene der Atome wird das durch naturgesetzlich wirkende Kräfte reguliert. Aber wie ist das bei uns Menschen?

Das Zusammengehören von Liebe und Erkennen ist bereits in der Genesis ausge­drückt: „Adam erkannte Eva, und sie ward schwanger.“ Hier ist das oben formu­lierte Gesetz: „Polaritäten ziehen sich an und erzeugen ein Drittes“ ganz schlicht formuliert und die Anziehung als Erkennen bezeichnet. Die Liebe ist hier das Erkennen. Die Polaritäten erkennen sich als zusammengehörig, als Mann und Frau, und dieses Erkennen markiert den Beginn menschlicher Bewußtseinsentwicklung: Die Erkenntnis einer Polarität. Heute ist die Aufgabe jedoch komplexer geworden. Nach vielen tausend Jahren der Bewußtseinsentwicklung geht es um Vielschich­tigeres, geht es um Individualität, um die wir zwar wissen, aber das Erkennen ist längst nicht vollständig: „Wir sehen jetzt in einem Spiegel ein dunkles Bild.“

In psychologischer Terminologie heißt das: Wir sehen im anderen nicht dessen ganze, wirkliche Realität, sondern vorwiegend unsere eigenen Projektionen, unsere abgespaltenen Anteile, die wir bei uns selbst nicht sehen wollen. Aber gerade darin liegt die Chance. Die Liebe als die uns antreibende Beziehungssehnsucht kann uns

51

Ulla Heist

dazu bringen, in diesen Spiegel zu schauen, in das Gesicht des anderen Menschen, um dort das zu sehen, was wir bei uns selbst nicht wahrhaben wollen. Dann können wir beginnen zu sehen, was da ist, und allmählich auseinander sortieren, was eigene Projektion ist und was tatsächliche Wirklichkeit meines Gegenübers, was ich bin und was die einmalige Subjektivität dieses anderen Menschen ist, die ich - und das ist das Ziel - von Angesicht zu Angesicht erkennen kann.

Dann ist die Liebe in ihren angestammten Platz getreten. Das Erkennen des ande­ren Menschen fällt in eins mit meiner Selbsterkenntnis - und umgekehrt -, und die Verbundenheit in Bejahung schafft jetzt spezifische, umfassende, ganze, nichts ausschließende Beziehung. Dann ist auf menschlicher Ebene das in Erscheinung getreten, was die Materie längst kann. So präzises Zusammenpassen, Sich- Ineinanderfügen, daß nichts mehr offen bleibt, nichts mehr ungesehen, nichts mehr unbeantwortet. Genauso wie auf der Ebene der Atome und Moleküle, aber hier in bewußter Verwirklichung: keine frei flottierende Energie mehr - weder der Angst, noch der Aggression, noch der erotischen Begierde -, die nicht integriert wäre, ange­schlossen wäre, ihren Platz im ,ganzen Menschen' gefunden hätte und in die Beziehung eingebracht werden kann, rückhaltlos und ohne abzuspalten.

Veronika Gradl schreibt dazu: „Individuation ist die Voraussetzung reifer Gegenüberliebe. In paradoxer Verschränkung von Abtrennung und Verbindung ermöglicht sie eine schärfere Polarisation (sowohl intrapsychisch im einzelnen, indem sie das Spannungsfeld unserer gegensätzlichen psychischen Natur aufspannt und erweitert - als auch interpersonal, zwischen „Ich“ und „Du“, wo sie das Spannungsfeld zwischen mir und dir in Gleichheit und Verschiedenheit deutlich ent­faltet). In einem komplizierten Prozeß der Wechselwirkung festigt sie das Ich - meins und deins -, so daß immer intensivere Spannung zwischen diesen beiden Polen entsteht und ertragen werden kann - bis zuletzt verbindende Energie zwi­schen ihnen dauernd zum Fließen kommt, ohne zur Verschmelzung zu führen“ (ohne Jahresangabe, S. 238).

Bis zu dieser reifen Gegenüberliebe ist ein weiter Weg zurückzulegen. Zunächst sehen und erleben wir die Liebe meist noch unverbunden: Auf der körperlichen Ebene als Anziehung der Leiber, im Gefühl als emotionale Anziehung in Sympathie oder Leidenschaft und im Denken als intellektuelle Verbundenheit und geistiges Verstehen. Alle diese Ebenen können im Konflikt miteinander stehen und tun es oft genug auch, so daß erotische Anziehung, gefühlsmäßige Verbundenheit und geisti­ges Hingezogensein in völlig andere Richtungen und auf gänzlich verschiedene Menschen und Dinge zustreben können und die Person an keiner Stelle wirklich ganz ist, sondern jeweils nur teilhaft bezogen und zugewandt.

Um alle diese psychischen Anteile miteinander zu verbinden, so daß ein einheitli­cher Mensch daraus entsteht: Individuum - das ist: unteilbar -, ist der Wille gefor­dert, dessen Richtungs-, Abgrenzungs- und Regulierungskraft nach und nach Integration bewirken kann. Wille besitzt die Fähigkeit zu bewußter Wahl: Will ich dieser erotischen Anziehung folgen? Wille besitzt Entschiedenheit: Ich will zu dir stehen, auch wenn es schwerfällt. Wille hat Ausdauer: Ich will mir selber treu sein, auch wenn ich dafür immer wieder meine ganze Kraft zusammennehmen muß. Indem der Wille sein Ziel wählen und verfolgen kann, das er als den eigenen Wert erkannt hat - dazu braucht er die Liebe! -, versammelt er mehr und mehr die unter­

52

Der Wille zur Liebe und die Liebe zum Willen

schiedlichen Strebungen und richtet sie aus dorthin. So geschieht Schritt für Schritt Integration über die unzähligen kleinen und großen Entscheidungen, die ich täglich treffe auf der Basis der erkennenden Liebe. Die Liebe wird individualisiert durch den Willen, und der Wille wird sozialisiert und wissend durch die Liebe. Womit ich mich verbinden will, so daß es mein Weg wird, und ob ich daran festhalte, und wie ich ihn verwirkliche, das kann die Liebe nicht alleine vollbringen.

Die Liebe braucht den Willen auch, damit ihre zusammenfügende Kraft keine Verschmelzung erzeugt, sondern ein Miteinander, damit nicht Regression in Undifferenziertheit geschieht, sondern Bezogenheit in Unterschiedenheit. Die indi­vidualisierende Kraft des Willens und die erkennende, verbindende Kraft der Liebe ergänzen einander zum ,Gewebe des Seins': „Es läßt sich nicht leugnen, daß das Sein eins ist und die Merkmale und Elemente des Seins ein Gewebe von miteinander ver­bundenen und einander widerstrebenden Kräften bildet ... Es ist eins in der Mannigfaltigkeit seines Gcwebes“(Tillich, 1991, S. 155). Das Gewebe des Seins wird aufgespannt von den einander widerstrebenden Kräften - das ist der Wille -, so daß es nicht in einen Punkt zusammenfällt. Und es wird zusammengehalten von den ver- bindenen Kräften der Liebe, so daß es nicht auseinanderdriftet in Unbezogenheit und Isolation.

Dieses Gewebe auch im menschlichen Bewußtseinsraum zu verwirklichen, im Innern als Gewahrsein der verschiedenen Anteile und Strebungen und deren har­monische Zusammenordung auf ein Ziel hin, und im Äußeren als Gewahrsein der Vielfalt des Lebens und seiner Erscheinungsformen und das aktive Sich-Einfügen und Mitwirken im harmonischen Zusammenschaffen zu einer großen Lebensordnung des Ganzen, ist die große Aufgabe unserer Zeit. Sie heißt bei C. G. Jung Individuationsprozeß und bei Assagioli Selbst-Verwirklichung.

III. Selbstverwirklichung: Die Vereinigung von Wille und Liebe

Menschenleben ach!Leben überhaupt - ist Dichtung.Uns selber unbewußt leben wir es, Tag um Tag wie Stück um Stück, in seiner unantastbaren Ganzheit aber lebt es uns, dichtet es uns.Weit, weitab von der alten Phrase vom ,Sich-das-Leben-zum-Kunstwerk-machen‘; wir sind nicht unser Kunstwerk.

Lou Andreas-Salome

„Eine der Hauptursachen des heutigen Durcheinanders ist der Mangel an Liebe auf seiten derer, die ,Willen' haben, und der Mangel an Willen bei jenen, die liebevoll sind“ (Assagioli, 1982 S. 87).

Das Arbeiten mit Wille und Liebe bedeutet also zunächst immer die Stärkung des unterentwickelten Poles. Der ,Willenstyp‘ muß seine Liebesfähigkeit entwickeln, und der ,Liebestyp‘ seinen Willen. Die Identifikation mit nur einem der beiden Pole muß aufgelöst werden, so daß der andere aus seinem Schattendasein heraustreten kann. Wenn beide einigermaßen im Gleichgewicht sind, kann eine Synthese ange­

53

Ulla Heist

strebt werden: „Diese Synthese hat eine unentwegte Wachsamkeit, eine beständige Bewußtheit (awareness) von Augenblick zu Augenblick zur Voraussetzung“ (a.a.O., S. 94). „Aber diese Bewußtheit, diese Einstellung, eine bewußte innere ,Gegenwart1 aufrechtzuhalten, bleibt nicht bei der Beobachtung dessen stehen, was sich in uns selbst und in der Außenwelt ,ereignet'. Sie macht die aktive Einmischung und Verpflichtung des Selbst möglich, das nicht nur ein Beobachter, sondern auch ein Wollender, ein Leiter des Spieles der verschiedenen Funktionen und Energien ist“ (a.a.O., S. 95, Hervorhebung von R. A.).

An dieser Aussage wird noch einmal deutlich, wie im Prozeß der Synthese beide Seiten beteiligt sind: Es braucht den Liebespol, der sich in Achtsamkeit als Bewußtheit und im Aufrechthalten der inneren Gegenwart ausdrückt ebenso wie den Willenspol der aktiven Einmischung und Verpflichtung. In diesem gleichge­wichtigen Miteinander von Wille und Liebe ist der Prozeß der Synthese auf den Weg gebracht. ,Tun' kann man ihn nicht. Denn Synthese ist ja kein Kompromiß zwi­schen den Polen, sondern deren Transzendieren in eine höhere Einheit. Das bedeu­tet, daß wir nun die horizontale Ebene der Gegensätze verlassen und uns einer ver­tikalen Ebene zuwenden müssen. ln der Psychosynthese nennt man sie die Ich-Selbstachse.

Das Ich ist nicht mit Freuds Ich zu verwechseln, das psychischer Apparat, Funktionsgefüge ist. Das Ich im Sinne Assagiolis ist weder Struktur noch Inhalt, noch Komplex, noch Konzept. Es ist das Zentrum der Bewußtseinsfähigkeit, ist Selbstbewußtheit, ist das, was im Erleben von persönlicher Identität und Kon­tinuität durch wechselnde Lebensumstände und sich verändernde Selbstkonzepte hindurch bestehen bleibt: Ich bin ich selbst. Ich bin. Ich bin mir meiner Erfah­rungen, meines Erlebens gewahr. Assagioli spricht auch vom ,Zeugen': Ich bezeuge meine Wirklichkeit. Ich bezeuge das Wissen um meine Vergangenheit, mein Gewordensein bis hierher. Ich bezeuge, daß ich hier bin, in diesem Moment der Gegenwart, und ich bezeuge meine Hoffnung auf Zukunft, mein kleines Wissen um und meinen größeren Glauben an meinen Werdeprozeß. Das Ich ist das Aufrecht- erhalten der inneren Gegenwart, ist Präsenz, und damit Beziehungsfähigkeit.

Auch das Höhere Selbst ist ein Bewußtseinszentrum. Wie das Ich ist es weder Struktur noch Inhalt, sondern Zentrum der Bewußtheit und der Kontinuität auf einer überpersönlichen Ebene. Man kann es sich am höchsten Punkt, genau auf der Peripherie des individuellen Bewußtseinsraumes vorstellen. Das heißt, es liegt eben­so innen wie außen, verbindet Innen und Außen und ist so gleichzeitig individueller und universeller Natur. Es ist ein Zentrum der Bewußtheit, in dem Individualität und Universalität keine Gegensätze mehr sind. Es ist Beziehungsfähigkeit in einem größeren ,Umfang', von umfassenderer Reichweite.

Der Prozeß der Synthese verläuft entlang der Achse vom Ich zum Selbst. Die Synthese von Wille und Liebe wird von Maslow folgendermaßen charakterisiert: „Ich gehe viel weiter in meiner Überzeugung, daß Wissen und Handeln oft syn­onym sind, in der sokratischen Manier sogar identisch. Wenn wir erst etwas voll­ständig und komplett wissen, folgt die angemessene Reaktion automatisch und reflexartig. Entscheidungen werden dann oft ohne Konflikt getroffen“ (Maslow, 1985 S. 77). Die Begriffe ,automatisch' und ,reflexartig' empfinde ich in diesem Zusammenhang als unglücklich gewählt, da sie im allgemeinen für instinktartige

54

Der Wille zur Liebe und die Liebe zum Willen

Reaktionen benutzt werden. Hier geht es aber gerade um wissendes Tun, um bewußtes Handeln. Der Begriff der Spontaneität beschreibt für mich besser, wie vollständiges Erkennen mit innerer Intention einwilligenden Handelns einhergeht. Erkenntnis der Wirklichkeit bringt Einwilligungswillen hervor. Wille und Liebe werden so immer mehr eins.

Es mag sein, daß Entscheidungen dann oft konfliktfrei getroffen werden, wie Maslow schreibt. Ich denke aber, daß das durchaus nicht immer so ist. Der Konflikt mag ebensogut bestehen bleiben. „Problems are never solved, they are forgotten“, war einer von Assagiolis berühmten Kardinalssätzen. Auch Konflikte werden nicht gelöst, sie werden überwunden. Was ich wirklich erkannt habe, das will ich auch handelnd verwirklichen. In diesem Wort steckt ein kleiner, aber wesentlicher Unterschied in der Sicht der Psychosynthese zu der Maslows. Es braucht den Willen, meinen eigenen ,guten' Willen, damit ich auch tue, was ich für recht erkannt habe. Entscheidung ist immer eine Willenshandlung. Der Akt des Willens ist die Entscheidung. Nur wird dieser Akt immer müheloser, je klarer die Erkenntnis des rechten Tuns, dessen, was nutzt und nicht schadet, ist. Selbstverwirklichung heißt: Ich verwirkliche mein Selbst. Ich bringe das Selbst bewußt handelnd in die Wirklichkeit. Durch die Wahl des Begriffes ,Selbstverwirklichung' hat Assagioli den Willenspol akzentuiert.

Beziehung, Individualität und Ganzheit

Über die beiden Zentren in seinem Bewußtseinsmodell, das Ich und das Selbst, sagt Assagioli, es handle sich nur scheinbar um eine Dualität: „Es gibt nicht wirklich zwei Selbste, zwei voneinander unabhängige und getrennte Wesenheiten. Das Selbst ist eine Einheit, es manifestiert sich jedoch in verschiedenen Graden von Bewußtheit und Selbstverwirklichung“ (1993, S. 26). So beschreibt Assagioli das Selbst als eine Einheit, die aus zweien besteht.

Assagiolis Bewußtseinsmodell ist im innersten Kern dialogisch angelegt. Be­wußtseinsentwicklung ist darin ein unaufhörlicher Dialog zwischen Ich und Selbst, zwischen dem, was ich bin und dem, was ich werden kann. Da das Ich keine eigene, d.h. unabhängige Existenz besitzt, folgt daraus: Das Empfinden von persönlicher Identität und der Kontinuität des eigenen Seins gründet letztlich im Bezogensein auf das Höhere Selbst, das „die leuchtende Quelle“ der persönlichen Bewußtheit ist. Persönliche Identität ist in dieser Sicht ein Beziehungsgeschehen! Sie erwächst von Moment zu Moment aus der Beziehung vom Ich zum Selbst (vgl. Firman und Rüssel, 1994).

Dialogische Beziehung bedeutet gegenseitige Abhängigkeit. Darin liegt eine unse­rer Schwierigkeiten begründet: Wir fürchten nichts mehr als das. Aber die Beziehung von Ich und Selbst ist tatsächlich absolutes Bezogensein, so wie jene zwi­schen Säugling und Mutter. Paradoxerweise liegt gerade darin die Möglichkeit zur Freiheit begründet. Die Abhängigkeit vom eigenen inneren Werdegesetz gibt Freiheit von äußerer Bedingtheit. Erinnern wir uns an Stern und Winnicott. Die ursprüngliche Beziehungs-Einheit von Mutter und Kind besteht nach Stern nicht in unabgegrenzter Symbiose, sondern in spezifischer, erkennender Bezogenheit. Die Einheit ,Mutter-und-Kind' gelingt dann, wenn gegenseitiges Wahrnehmen ausrei­

55

Ulla Heist

chend gegeben ist und angemessen beantwortet wird. Tn der Gegenseitigkeit dieser Beziehung gibt es auf der existentiellen Ebene ein Ungleichgewicht. Dort ist das Kind absoluter auf die Mutter angewiesen. Dieses Ungleichgewicht kann die Mutter durch die Freiwilligkeit ihrer Liebe ausgleichen. Tut sie das und ,schließt' mit ihrer Zugewandtheit diese Einheit, dann erschafft sie damit eine Hülle, eine Ganzheitsgestalt, die dem Kind ermöglicht, seinen Prozeß der Selbstwerdung zu entfalten. Die Freiheit der Selbstwerdung gründet in der Bezogenheit.

So wie aus dem Dialog zwischen Mutter und Kind Selbstwerdung entspringt, ent­springt aus jenem zwischen Ich und Selbst innere Intention, eigene Lebens­ausrichtung, das, was mir Sinn macht und meinem Leben Richtung gibt. ,Ich' entfal­te mich entlang der Achse zum Selbst und suche nach dem jeweiligen Schritt, dem passenden Selbstausdruck, der meine wirkliche Vergangenheit mit meiner mögli­chen Zukunft verknüpft, so daß mein eigenes, unverwechselbares Leben daraus wird.

Selbstsein, Ich-Sein, meint in diesem Sinne weniger Abgrenzung und Getrennt­sein - des Teils vom Ganzen -, als vielmehr Individualität, Ausdruck eigener Wirk­lichkeit und Wahrheit, die ,unantastbare Ganzheit des Menschenlebens' - Ausdruck des Ganzen durch den Teil. Ich bin ich selbst, indem ich meine ureigene Wirklichkeit und Wahrheit zum Ausdruck bringe. „Die Individualität ist nicht das notwendige und komplementäre Gegenstück zur Universalität, sondern der Brennpunkt, durch den allein Universalität erlebt werden kann“ (Govinda, in: Assagioli, 1982 S. 116). Individualität ist Ganzheit. „Der vollkommenste individuelle Selbstausdruck ist die objektivste Beschreibung der Welt“ (Govinda, 1988 S. 32).

„Will to Will!“

„Will to will!“, „Den Willen wollen!“, schrieb Assagioli auf eines der unzähligen Blätter, die er hinterlassen hat. Und darunter steht: „The will must be developed, grounded, re-oriented and used.“ „Der Wille muß entwickelt werden, verankert, neu-ausgerichtet und benutzt.“

Damit Dialog stattfinden kann, braucht es zwei Partner. Das Ich muß dem Selbst einerseits kraftvoll gegenübertreten, so wie es andererseits das Selbst in dessen Sein und Wollen erkennen, anerkennen und verstehen muß. Auf beiden Seiten muß ,jemand' sein, der hört - das ist der Liebespol -, und ,jemand', der spricht und ant­wortet - das ist der Willenspol. Es braucht beide Beziehungsmodalitäten, Wille und Liebe, damit Zwiesprache geschieht und Einheit erwächst aus dem Willen der bei­den. Das tatsächlich vollzogene Handeln, das, was ich wirklich tue und gestalte in meinem Leben - und das, was ich lasse! - ist die sichtbare, reale, wirkliche Einheitsfrucht der Verwirklichung: Die unantastbare Ganzheit' meines Lebens ist das Kunstwerk, das ,ich' in die Welt gebracht habe und das zuvor noch nicht da war. „Es ist nicht unser Kunstwerk“, sagt Lou Andreas-Salome. Das ist es nicht. Aber seit der Vertreibung aus dem Paradies liegt es an uns, wie es wirklich wird und was von seinen Möglichkeiten tatsächlich ins Leben kommt. Deshalb sagt und betont Assagioli, daß der Wille benutzt werden muß. Da müssen wirklich zwei sein, die sich gegenüber sind, Ich und Selbst, die das sensible Gleichgewicht aufrecht halten zwi­schen separater Bezogenheit und verbundener Unterschiedenheit. Dann kann

56

Der Wille zur Liebe und die Liebe zum Willen

Ganzheit erscheinen: kunstvoller, schöpferischer Lebensprozeß, aus verwirklichter Individualität geboren. Wille und Liebe der übergeordneten Ganzheit, und Wille und Liebe des persönlichen Ich sind die beiden Partner, die den Lebensprozeß gestalten.

Als ich von der Mutter-Kind-Einheit sprach, sagte ich, daß die Mutter auf der exi­stentiellen Ebene ein Ungleichgewicht ausgleichen muß. Das ist hier ebenso. Aber hier ist es das Ich, das ausgleichen muß. Es hat den aktiven Part. Es ist das Ich, das in frei williger Liebe hinhören muß, Bezogenheit aufrechterhalten muß, damit diese Einheit, die Ich-Selbst-Einheit, sich schließen kann zur Individualität. Das ist aus meiner Sicht der tiefere Grund, warum Assagioli dem Willen ein so außerordent­liches Gewicht gegeben hat. Die Verwirklichung des Höheren Selbst, des ,Lebens', der Zukunft, ist unabdingbar abhängig vom Willen des Ich. Das Höhere Selbst kann rufen und locken mit Träumen und ,Gipfelerfahrungen', mit Ahnungen und Visionen. Es kann auch streng werden und drohen mit Krankheit und Krise, mit Katastrophe und Leid. Aber ob ,ich‘ höre und wie ich antworte, das liegt nur an mir. Es hängt alles vom Willen des Ich ab.

Die Vorstellung eines automatischen und konfliktfreien Handelns, wie wir ihr bei Maslow begegnet sind und wie wir ihr oft begegnen in ,esoterischen' Kreisen, sehe ich als Wunschdenken an: Es gibt keine Rückkehr ins Paradies. Tatsächlich ist Selbstverwirklichung liebender Wille in Aktion: die vielen verschiedenen Strebun­gen und Impulse des Innern immer wieder neu zu versammeln auf das gute Ziel hin, dabei die schädlichen Impulse so einzufügen, zu zügeln und zu wandeln, daß sie den ,Ordnungen der Liebe' unterstellt werden, und dies in Entschlossenheit und Ausdauer zu verwirklichen. So sind guter, geschickter und starker Wille unermüd­lich an der Arbeit, um immer wieder von neuem individuellen Lebensausdruck zu erschaffen in - transpersonaler - Bezogenheit auf das Selbst.

Diese schöpferische Willensarbeit nennt Assagioli Psychosynthese', und er sagt: „Psychosynthese ist keine Aufgabe, die jemals ganz beendet werden könnte, kein Werk, das zu etwas hinführt, das endgültig oder statisch ist wie die Konstruktion eines Gebäudes. Psychosynthese ist ein lebendiger und dynamischer Prozeß, der uns immer neuen inneren Eroberungen und immer umfassenderen Integrationen entge­genträgt“ (1992 a, S. 6).

Anmerkungen

1. Ausnahmen sind z. B. Otto Rank und Rollo May.

2. Wie schwierig das Thema ,Hierarchiebildung‘ für unser heutiges Verständnis ist, darauf weist auch Wilber in seinem neuen Buch hin. Eine leidenschaftliche Debatte ist entbrannt zwischen den ,Hierarchisten‘ und den ,Heterarchisten‘, die alles Denken in hierarchischen Ordnungen als Herrschaftsdenken brandmarken. Wilber zeigt auf, warum sich menschliches Leben in qualitativen Maßstäben vollziehen muß, und Hierarchien deshalb für menschliches Sein konstitutiv sind. Zu Herrschaftsinstrumenten werden sie nur durch Ebenenverwechslung (Wilber, 1995 S. 33-35).

3. Interessierte seien hierfür auf „Die Schulung des Willens“ verwiesen, ein Buch, das es dem Leser nicht leicht macht, das eher spröde, schlicht und karg daherkommt, sich aber in großer Tiefe entfaltet, wenn man es wirklich studiert und zum Gegenstand eines kontemplativen Vorgehens macht. Assagiolis Beschäftigung mit dem Willensthema durchzog seine gesamte Schaffensperiode. Die ersten schriftli­

57

Ulla Heist

chen Bemerkungen dazu sind auf 1907 datiert, die letzten auf 1972. „Die Schulung des Willens“ ist eine eher unglückliche Übersetzung des Titels des englischen Originals von 1973, „Act of Will“, welcher einen gänzlich anderen Schwerpunkt setzt.

4. Dies hat v. a. Viktor Frankl betont und in der von ihm entwickelten Logotherapie ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.

5. Selbstverständlich gelten die hier erörterten Gesetzmäßigkeiten nicht nur auf der Ebene des ,Paares', der Verbindung von zweien, sondern ebenso für Gruppen - von Familien über Gemeinschaften aller Art bis hin zu ganzen Nationen usw. Es bleiben immer dieselben Gesetzmäßigkeiten. Der Stringenz der Argumentation halber erschien es mir einfacher, mich hier auf das einfache und grandlegende Gefüge ,Paar‘ zu beschränken.

The will to love and the love to will - a concept of psychosynthesis

Summary: The will docs not occupy much space in the psychotherapeutic theory discussion. In psycho- sythesis this is different, here the will is emphasized as a central power of the psyche and is esteemed and trained as a ‘tool’ for all the processes of growing and development. Assagioli’s concept of the will is going to be introduced briefly and the will as a power of individualization will be described. Love as a realizing power of connection is going to be examined as counterpoling completion of the will. The essay shows how will and love in the process of self realization are coming together and penetrate each other towards a synthesis, whereas the will holds a special position.

Key words: Will, love, self realization, individualization, connection, recognition, I, Self

LiteraturAssagioli, R. (1982): Die Schulung des Willens, Junfermann, Paderborn.Assagioli, R. (1992): Psychosynthese und transpersonale Entwicklung, Junfermann, Paderborn.Assagioli, R. (1992a): Psychosynthesis: Individual and social. Some suggested lines of research; in:

Gaetano, R. (Hrsg.), Psicosintesi, Heft April 92.Assagioli, R. (1993): Psychosynthese, Rowohlt, Reinbeck bei Hamburg.Buber; M. (1994): Ich und Du, Schneider, Gerlingen.Firman, ], und Russel, A. (1994): Healing the I Iuman Spirit, Psychosynthesis, Palo Alto.Govinda, Lama A. (1988): Schöpferische Meditation und multidimensionales Bewußtsein, Aurum,

Freiburg i. Br.Gradl, V. (ohne Jahresangabe): Die Ruhe des siebten Tages und die Ohnmacht der Kraft. Gedanken zur

geheimen Offenbarung des Johannes, Verlag Dr. Berg, D-86666 Burgheim.Gradl, V. (1994): Die Heiligung der Wirklichkeit, Verlag Dr. Berg, D-86666 Burgheim.Hillesum, E. (1985): Das denkende Herz, Rowohlt, Reinbeck bei Hamburg.Maslow, A. (1985): Psychologie des Seins, Kindler, München.Seifert, T. (1997): Verwirrt von 10000 Dingen. Ethisches Handeln, on-line mit dem Selbst. Transpersonale

Psychologie und Psychotherapie, 1/1997, S. 19-31.Stern, D. (1992), Die Lebenserfahrung des Säuglings, Klett-Cotta, Stuttgart.Tillich, P. (1991): Liebe, Macht, Gerechtigkeit, de Grayter, Berlin, New York.Wilber, K. (1996): Eros, Kosmos, l.ogos, Krüger, Frankfurt a. M.Winnicott, D. W. (1974): Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, Kindler, München.

Ulla Heist Tilsiter Straße 10 88267 Vogt

58

59

Transpersonale Psychologie und Psychotherapie1/98, 60-67

Ganzheit und Ganzheitlichkeit in der Psychotherapie*

Christian Scharfetter; Zürich

Zusammenfassung: Ganzheit - das Wort bedeutet je nach der Perspektive Verschiedenes:

1. Das Alle-Eine-Sein im Sinne der Philosophia perennis, Leitmotiv spirituell ori­entierten Lebens.

2. Im Bereich des Seienden das Vollständige, im Idealfall „Heile“, Gesunde. - Das Ganze bleibt dem Menschen in seiner immer partikular bleibenden Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit Idee und Ideal, wird aber nie erreicht im Sinne des Verfugens. Diese Perspektive ermöglicht selbstbescheidene Einordnung. Die anthropologische Grundlage muß den materiell-somatischen Bereich, den der individuell charakteri­sierten Persönlichkeit, den interaktionell-sozialen sowie den transpersonalen und transsozialen Bereich in Diagnostik, Aetiologie, Therapie als Hilfe zum Lebenlernen beachten.

Schlüsselworte: Ganzheit, Ganzheitlichkeit, Menschenbild, Depression.

1. Ganzheit - Idee und Ideal

Das Ganze im großen und tiefen Wortsinn meint das „einic sein“ (Meister Ekkehart), das transzendente All-Eine, die Einheit in, vor, unter und hinter aller Vielheit. In diesem Sinne sprachen schon die Griechen von dem Einen und Ganzen (hen kai pan) oder von to holon. Dieses Eine ist dem immer partikularen Menschsein als das Absolute, das Sein an sich, die Gottheit, Brahman, Atman, Tao nie faßbar, es wird nie zum handhabbaren Objekt. Der Mensch kann es weder kognitiv noch gar im Sinne der Verfügung haben.

Das griechische to holon spiegelt sich im englischen the whole, verwandt dem altenglischen hal, wovon sich hail und holy, heilig, ableitet. Verwandt ist auch das germanische heil, gesund, ganz, einig im Sinne von verbunden: verbunden mit dem einen Sein, dem Ermöglichungsgrund aller Existenz, dem All-Einen, in einer unio

* Vortrag zur Einweihung der ganzheitlichen Psychotherapieklinik Katharinenhof, Einsiedeln, am 28. 6. 1997.

60

Ganzheit und Ganzheitlichkeit in der Psychotherapie

(Einung), unification, einer oneness. Verbundensein des einzelnen mit diesem über­individuellen, in diesem Sinne transpersonalen All-Einen ist auch die Bedeutung von Yoga.

Im Ganzen als dem Heilen ist der Aspekt der Harmonie, d.h. das Zusammen­passen der Teile zu einer Einheit.

Die Zugänglichkeit des Ganzen für den Menschen ist immer nur partikular. Das Ganze kann geahnt werden, es kann als eidos wegleitend sein. Das Ganze ist Idee und Ideal. Das Ganze als das absolute All-Eine ist dem Menschen erahnbar und als Ideal wegleitendes Ziel: Leitstern. Das Ganze kann im Bewußtsein erahnt werden als ein daraufhin Leben, Offensein, daraufhin Gerichtetsein und gleichzeitig als das alles Fassen, Erfassen, Begreifen, Haben, gar als etwas Handbares, Objekthaftes, Überschreitendes.

Das Ganze als Idee und Ideal ist Orientierungspunkt. Diese Ausrichtung erlaubt ein selbstbescheidenes Einordnen des einzelnen in einen allgemeinsamen überindivi­duellen Zusammenhang: der Sinn von Yoga. Es gewährt das Bewußtsein der Teilhabe, der Verbundenheit, der Einbettung und Geborgenheit - im Gegensatz zu dem negativen Existentialismus im Sinne von Sartre und Camus als Geworfenheit in einen fremden Kosmos.

Das Ganze als Leitstern erlaubt Relationen zu setzen, Perspektiven zu gewinnen, Wertdimensionen in das Leben zu bringen. Dies ist der Sinn von Religion und von Philosophie im östlichen Sinne als a way of life, im Gegensatz zur westlichen Philosophie, die vielfach nur a view of life ist.

Der Mensch kann seine Partikularität nicht überwinden, aber er kann sich seiner Partikularität, seines Teil-Seins, seines fragmentarischen Partizipierens bewußt wer­den - es ist der Sinn des Wortes dukkha: leiden unter der Unvollständigkeit und Getrenntheit - und der Mensch kann daraus eine Erfahrung der Harmonie, des Sich- Einfügens in einen größeren, transobjektalen, transegohaften, transpersonalen Horizont oder Bewußtseinsbereich gewinnen. Die berühmte Formel aus dem Sanskrit dafür ist aham brahman asmi (ich bin Brahman), die Realisation, daß der innerste Kern der eigenen Existenz, in einem Wortgebrauch, daß das überpersön- liche Kernselbst identisch ist mit dem Überselbst oder Maha-Atman.

Rilke machte diese Erfahrung auf einem Spaziergang:

So faßt uns das, was wir nicht fassen konnten, voller Erscheinung, aus der Ferne an - und wandelt uns, auch wenn wirs nicht erreichen, in jenes, das wir, kaum es ahnend, sind. ...

Gerade der selbstbescheidene Respekt, die Achtung vor dem übergreifenden Einen, dem Urhervorbringenden und Wiederzurücknehmenden, Ursprung und Eingang Einschließenden wird uns vermeiden helfen, in megalomane Ich-Inflation der Verfügung über das Ganze zu geraten, sei es esoterisch, magisch, sei es im heuti­gen Sinne wissenschaftlich.

Wir können uns auf das Ganze zwar ausrichten - in der spirituellen Lebens­führung -, aber wir können es nicht fassen. Es gibt kein gesichertes Wissen davon. Deshalb gilt: Es gibt nicht Spiritualität als ein Vermögen, als eine Kapazität, als ein Potential - es gibt nur Hinwendung, Ausrichtung, Suche, demütige Suche, Weg­

61

Christian Scharfetter

suche. In diesem Weg liegt ein ständiges Loslassen, Annehmen dessen, was kommt, und wieder Loslassen.

Das finden wir in dem buddhistischen Mantra:

Gegangen, gegangen, hinüber gegangen, über das Letzte hinaus.

Spiritualität zeigt sich in der Lebensführung im Alltag, in Selbstbescheidung und universaler Verantwortlichkeit. Spiritualität als Lebenshaltung ist nicht zu einem Therapeutikum zu reduzieren und nicht in workshops zu vermitteln.

2. Das Menschenbild als Grundlage für die Annäherung an ein

ganzheitliches Therapieangebot

Dieses didaktische Schema dient als Instrument, um zu verdeutlichen, welche Bereiche wir mit welchen Methoden abzutasten, zu befragen, zu untersuchen haben. Es gibt nicht die eine zur Wahrheit führende Methode. Der zu untersuchende Bereich und die Fragestellung bestimmen, mit welcher Methode man zu brauchba­ren, nützlichen, hilfreichen, aber deshalb nicht dauerhaft wahren Antworten kom­men kann. Dieses Schema dient auch dazu, um sich zu überlegen, in welchem Bereich dem Patienten, seinen Beschwerden, seinem Nicht-mehr-Können in seinem Infirmsein therapeutisch zu antworten ist. Dabei sind die Felder dieses Schemas nicht nur additiv zu nehmen, sondern die Proportion zueinander ist aus der über­schreitenden und zugleich einordnenden, gewichtenden Perspektive auf das Ganze als Idee und Ideal zu gewinnen.

So kommen wir zu einem mehrdimensionalen Menschenbild und zu einem mehrdimensionalen Therapieangebot, ohne der Illusion zu verfallen, das Ganze in den Griff zu bekommen, expertenhaft kurativ handhabbar zu machen. Und ohne die Illusion, ein konflikt- und leidfreies Leben vermitteln zu können. Eliade (1984)

62

somatischphysiologisch psychologisch

sozial transpersonal

Ganzheit und Ganzheitlichkeit in der Psychotherapie

sprach eindrücklich von der Normalität des Leidens. Viele Idealbildungen unserer technischen, auf Machen und Beherrschen ausgerichteten Kultur und der Gesundheitsbegriff der WHO, die ja ein Exponent dieser Kultur ist, wecken mit ihrem Gesundheitsbegriff die Illusion, es gebe ein leidfreies Leben: optimales Funktionieren im physischen, psychischen, sozialen, ökonomischen Bereich.

3. Therapie zielt auf: Leben lernen

Therapieren heißt dem Leben gedeihlich dienen. Therapie heißt im besten Fall mit den Worten eines Patienten: leben lernen. Authentisch leben lernen.

Das Suchen nach der gemäßen therapeutischen Antwort beginnt mit dem behut­samen Erheben der beeinträchtigten Lebensbereiche, welche sich in den Beschwerden und Symptomen kundgeben, und mit der Frage der Zugänglichkeit des Patienten für bestimmte therapeutische Angebote.

Therapie im Sinne von Lebenlernen heißt auch lernen, mit den eigenen, nicht unerschöpflichen Kräften und Möglichkeiten haushalten zu lernen, es heißt Berücksichtigen der eigenen Grenzen, heißt Klären des Selbstbildes, einschließlich des Selbstvertrauens, des Selbstwertes, der Selbstbewahrung und des Selbstbehütens vor ungemäßen eigenen Ansprüchen und Erwartungen und denen anderer. Dazu gehören auch Selbstbescheidung, Selbstrelativierung, Abbau von Illusionen, Loslassen vom Verhaftetsein an Wünsche - nach Glück, Macht, Besitz, Vermögen, Ruhm. Dieses Therapieren kann den Mut stärken, mit der eigenen Vulnerabilität und Begrenztheit besser umgehen zu lernen.

Solches Therapieren kann im günstigen Falle zur Echtheit, zur Authentizität des je eigenen Selbstseins läutern - im Sinne des indischen sva-dharma, d.h. nach den eigenen Gesetzlichkeiten und Möglichkeiten leben.

Die Echtheit ist wichtiger als vermeintliche (illusionäre) Wahrheit über das Leben vor der Zeugung und nach dem Tod, über die Beeinflussung kosmischer Energien, von Karma und Wiedergeburt.

Die Hinorientierung auf das Eine, All-Eine, wird Patient und Therapeut vor der Illusion bewahren, das Ganze in den Griff zu bekommen. Wir erfassen nie alles vom Menschen, wir können Bewußtsein nie vollständig erfassen und begreifen, weil wir es selbst sind, wir können nie letztes Wissen über das Ich gewinnen, da wir es ja selbst sind.

Diese Hinorientierung auf das Ganze als Idee und Ideal erlaubt die selbstbeschei­dene Einordnung und Berücksichtigung der uns kognitiv und kurativ zugänglichen Bereiche des Menschen. Diese Ausrichtung setzt die Perspektiven und gewichtet die Dimensionen - und ist in diesem Sinne harmonisierend, integrativ.

Diese Reflexion wird uns davor bewahren, uns an Begriffe, Worte, Vorstellungen, Bilder, Konzepte, Konstrukte als an reale Sachen, Quasi-Objekte wie „Ich“, „Selbst“, „Sein“, „Spirituelles“, „Transpersonales“ zu klammern.

Wir werden versuchen, das Gesunde anzusprechen, zu entwickeln - wie das Griesinger schon 1871 für die Therapie gefordert hat, wie in neuerer Zeit Podvoll (1990) es am Aufsuchen, Bestärken, Verbreiten der und Brückenschlägen zwischen den Inseln der Klarheit gezeigt hat.

63

Christian Scharfeiter

4. Mehrdimensionales therapeutisches Angebot beim depressiven Syndrom

Dieses Konzept eines bescheidenen mehrdimensionalen Zuganges, ohne der Illusion zu verfallen, das Ganze erfassen zu können und handhabbar zu machen, kann am Beispiel des depressiven Syndroms erläutert werden.

Der prüfende Blick auf das depressive Syndrom, betrachtet nach diesem didakti­schen Menschenbild, wird den Körper und Leibbereich aufmerksam und behutsam als Austragungsort der Depressivität abtasten und gleichzeitig auch schon fragen, wieweit von diesem Bereich her therapeutische Hilfen angeboten werden können. Im Bereich des Psychischen werden je nach Perspektive verschiedenste Funktions­beeinträchtigungen zu erfahren sein: die kognitive Erstarrung und Blockade, die negativen kognitiven Muster, das negative Selbstbild und das schlechte Selbstwert­erleben als Kern des depressiogenen Charakters, die depressive Affektstörung, das Antriebs- und Energiedefizit. Im Bereich des Interpersonellen und des Sozialen wird die Isolation zu beachten sein, Scheu und Vermeidungsverhalten bis zu Sozialphobie und zum totalen Rückzug, andererseits auch Klammern, Haften, Saugen oder die Reaktionen auf die übergroße Verletzlichkeit gegenüber Kritik, Ärger, Wut. In dem personüberschreitenden, in diesem Sinne transpersonalen und gleichzeitig auch transsozialen Bereich werden wir das existentielle Fragen, die ver­zweifelte Sinnsuche, das Zweifeln an sich selbst und dem Sinn der eigenen Existenz, das Gefühl der eigenen Leere oder der Versteinerung, das Geworfensein in einen unheimlichen fremden Kosmos, das Erlebnis der Ungeborgenheit, die Kälte des Preisgegebenseins antreffen.

Wir werden für das Erstellen des individuellen Bildes des depressiven Menschen fragen, in welchen Beziehungen dieses depressive Syndrom zu Devitalisierung, zu Angst, zu Aggression, zum intersubjektiven Bereich steht.

Depressives SyndromSymptome nach didakt. Menschenbild

64

Schwere, Druck,VersteinerungLeereSchwächeErstarren

Biolog. Rhythmen

Intellekt. Funktionen

Negative kognit. Muster

Selbstbild, -wert Depress. Affektstörung Antrieb Energiedefizit

IsolationKlammern/HaftenSaugenScheu, Vermeiden Verletzlichkeit Kritik, Ärger

ZweifelLeereGeworfenseinUngeborgenheit

KÖRPER - LEIB PSYCHISCHES

SOZIALES TRANS-SOZIALESTRANSPERSONAL.

Ganzheit und Ganzheitlichkeit in der Psychotherapie

Devitalisierung

depr. Leiberleben

Hypochondrie

lustlos (Triebe)

Appetitstörung

depr. Egozentrismus

(ln-sich-sein)

Rückzug aus

Scham

Peinlichkeit

Vermeidung

IntersubjektiverBereich

DepressivesSyndrom

Klammern

Nörgeln

Kritik

Unzufriedenheit

Mißtrauen

Argwohn

Aggression

Depersonalisation,

Derealisation

Leere - Nihilismus

Versteinerung

Ohnmacht

Körper

(Hypochondrie)

Ökonom. (Verarmung)

Zukunft

Angst

Gewissen, Schuld

Scham

Verlassenheit

Sinn/Existenzangst

Zwänge

Selbstverletzung

Suicid

Wut

Trotz

„Panzer“

Dieses didaktisch zerlegte Schema des Menschenbildes als Hilfe für die Erstellung eines mehrdimensionalen Therapieangebotes über das übliche Schema der bio-psy- cho-sozialen Medizin (Engel 1977, 1980) hinaus sollte ein einer Individual diagnose entsprechendes individuelles Therapieangebot zu erstellen erlauben. Im somatischen Bereich geht es keineswegs nur um die Applikation von Medikamenten, allenfalls um den Einfluß von Licht, von Biorhythmen, von Diät, von Klima etc., sondern es geht um eine differenzierte leibeinbeziehende Therapie, die auf Bewegung, Atmung, Phonation, Spüren des eigenen Leibes und Akzeptanz des eigenen Leibes hin orien­tiert ist. Im psychologischen Bereich sind die verschiedenen Arten von Psycho­therapie zu differenzieren, die uns heute zur Verfügung stehen, um dem Depressiven entsprechende Angebote zu machen. Den interpersonellen und sozialen Bereich wird interpersonelle Psychotherapie, Paartherapie, Familientherapie, Verbesserung der kommunikativen Kompetenz beantworten. Im transpersonalen Bereich wird die Frage der Glaubensvorstellungen, nach dem Gottesbild des Depressiven, die Frage des Gewichtes von Sünde, Strafe, von schlechtem Gewissen, von Schuld, Scham, Ausgesetztsein an Himmel und Hölle - im weiten Sinne also auch eine Glaubens- beratung (pastoral counceling) in Betracht zu ziehen sein.

Spirituelle Übungen, besonders Meditation, sind nicht per se Therapieverfahren, sondern allenfalls therapiebegleitend, metatherapeutisch (im Sinne von Goleman 1971, 1973).

65

Christian Scharfetter

DepressionTherapeutische Ansätze

Eine Legende um Buddha aus der Zeit, als er vor seiner Erleuchtung versuchte, seine Erlösung durch extreme Askese zu erzwingen, mag an die Bedeutung des Einbeziehens des Leibes erinnern. Als Buddha bis zum Skelett abgemagert war, hör­te er nach der Legende eine Stimme, die aus seinem Leib herankam und vorwurfsvoll fragte: Warum quälst du mich? Du brauchst mich für deine Entwicklung zur Befreiung.

Im Indischen heißt der Leib auch die Brahma-Burg. Bei allem Wissen um die Vergänglichkeit des materiellen Anteils unserer Existenz ist der „begeisterte“, das heißt bewußtseinserfüllte Leib (Feuchtersleben, 1845) doch unausweichliches Vehikel unseres Lebensweges.

5. Die zwei Arten von Medizin

Die Besinnung auf die Bezogenheit des Menschen auf ein „einic sein“ (Eckehart), aus welchem wir kommen, in welches wir gehen, gestaltet unser Therapeutsein.

Wir werden nicht mehr zufrieden sein mit der „Feststellung“ von Symptomen und der diagnostischen Kategorisierung - und der Suppression oder Extinktion von Symptomen. Wir werden nicht mehr genügsam Neuroscience als alleinige Grundlage psychiatrischen Tuns akzeptieren. Therapie sollte im Sinne von Benedetti (1992) als existentielle Herausforderung des Therapeuten die Person fordern. Wir werden den Leib, den Körper des Patienten nicht reduzieren zur Applikationsstätte von Psychopharmaka.

Wir werden vorsichtig sein gegen ideologische Einseitigkeiten, Reduktionismen, seien sie morphologisch, physiologisch, psychologisch nach irgendeiner bestimmten psychologischen Perspektive, soziologisch - aber auch gegen ideologische Einseitig­keiten und euphemistische Umdeutungen von Psychosen unter der Fahne „trans- personal-spirituell“.

66

MedikamenteKörpertherapieAtmungBewegungKlimaLichtDiät

Psychotherapie (stützend, aufklärend, analytisch)

Verhaltenstherapie

Interpersonale Therapie

Partnertherapie

Familientherapie

Glaubensberatung

Gottesbild

Sünde, Strafe

Himmel/Hölle

SOMATISCHPSYCHOLOGISCH

SOZIAL TRANSPERSON

Ganzheit und Ganzheitlichkeit in der Psychotherapie

Wir werden die Perspektive vergrößern müssen - über die einseitige, wenn auch oft bequemere Fokussierung hinaus zu einer demütigen Verbeugung vor dem Ganzen.

So haben wir uns zu entscheiden, ob wir eine ausschließlich auf eine bestimmte Körperregion, ein bestimmtes Organ bezogene Therapie anbieten wollen oder ob wir vor dem Ganzen des überpersönlichen Selbst, Maha-Atman, Buddha-Natur, Sein an sich als dem Allgemeinsamen, auch Therapeut und Patienten Verbindenden, achtungsvoll unsere eigenen Relationen gewinnen können.

Bei all dieser Bemühung bleibt jede therapeutische Begegnung auch eine Prüfung für den Therapeuten, ob er dem Anspruch, der an ihn herangetragen wird, auch adä­quat antworten kann. Es bleibt zum Schluß immer die Frage, die Rilke in der 1. Duineser Elegie aussprach: „Das alles war Auftrag - aber bewältigtest du’s?“

Summary: Wholeness - the different meanings, dependent on the perspective (related to the metaphysi­cal absolute all-but-one or to the multitude of aspects of concrete objects) arc discussed. The whole in the sense of the absolute is seen as an idea and ideal which can be orientation in the course of life. Knowledge and faculty of therapeutically dealing with wholeness arc limited due to the inevitable particularity of men’s capacity to comprehend. To avoid the illusion of handling wholeness may be wholesome for the therapist.Key words: wholeness, holistic psychotherapy, depression.

LiteraturBenedetti, G. (1992): Psychotherapie als existentielle Herausforderung. Vandenhoeck & Ruprecht,

Göttingen.Eliade, M. (1984): Kosmos und Geschichte: Der Mythos der ewigen Wiederkehr. Insel, Frankfurt.Engel, G. L. (1977): The need for a new medical model: A challenge vor biomedicine. Science 196,

129-136.Engel, G. L. (1980): The clinical application of the biopsychosocial model. American Journal of

Psychiatry 137, 535-544.Feuchtersleben, E. v. (1845): Lehrbuch der ärztlichen Seelenkunde. Gerold, Wien.Goleman, D. (1971): Meditation as meta-therapy: Hypotheses toward a proposed fifth state of con­

sciousness. Journal of Transpersonal Psychology 3, 1-25.Goleman, D. (1973): The Buddha on meditation and higher states of consciousness. The Wheel

Publication, Kandy/Sri Lanka, 189-190.Griesinger, W. (1871): Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten. Krabbe, Stuttgart. Grof, S. (1978): Topographie des Unbewußten. Klett-Cotta, Stuttgart.Podvoll, E. M. (1979/80): Psychosis and the mystic path. Psychoanalytic Review 66, 571-590.Schuller, G. B. (1963): The mountain gorilla. University Press, Chicago. Bild in: Eibl-Eibesfeldt, I. (1969)

Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung: Ethologie, 2. Aufl. Piper, München, S. 256. Winnicott, D. W. (1965): Ego-distortion in terms of true und false self. In: The maturational process and

the facilitating environment. International University Press, New York, 140-152 (dt. Kindler, München 1974).

Prof. Dr. med. C. Scharfetter, Psychiatrische Universitätsklinik Postfach 68 8029 Zürich

67

Transpersonale Psychologie und Psychotherapie1/98, 68-82

Sinngebung oder Sinnfindung?

Ein gemeinsames Wirkprinzip von Psychotherapie und Meditation

Jürg Zöbeli, Zürich

Arbeite, als hinge alles vom Arbeiten ab.Bete, als hinge alles vom Beten ab.

Gurdjieff

Zusammenfassung: Das existentielle Dilemma zwischen den Grundbedürfnissen nach Selbstabgrenzung und Selbsthingabe ist sowohl Ursache unseres Leidens als auch Motor der Entwicklung. Während die Psychotherapie Einseitigkeiten der Entwicklung korrigiert und den Teil-Sinn praktischer Lebensbewältigung, den Sinn im Leben anstrebt, hat spirituelle Übungspraxis zum Ziel, den transzendenten Sinn, den Sinn des Lebens erfahrbar zu machen, indem der „Baumeister der Welt“, wie Buddha die dualistische Wahrnehmung bezeichnete, erkannt und transzendiert wird. Doch bedienen sich beide Disziplinen im Grunde derselben Methode der Reinszenierung des existentiellen Dilemmas in „homöopathischer Dosierung“, der Dialektik zwischen abgrenzender Struktur (therapeutisches Setting bzw. spirituelles Ritual) und entgrenzender Offenheit (freies Assoziieren bzw. Achtsamkeit).

Schlüsselworte: Transpersonale Psychologie, Sinnfrage, Selbstabgrenzung und Selbsthingabe, Psychotherapie und Meditation, Double-bind.

Die Frage, ob dem Arbeiten oder dem Beten, der aktiven Sinngebung oder der rezeptiven Sinnfindung der Vorrang gebührt, geht auf den alten Philosophenstreit zwischen den Nominalisten und Realisten zurück. Während diese glaubten, die Dinge hätten einen Eigenwert, waren jene der Ansicht, sie seien lediglich Artbezeichnungen (nomen), so daß ihnen Wert erst gegeben werden müsse. Im fol­genden soll gezeigt werden, daß diese akademische Frage, die die Philosophen inter­essieren mag, im praktischen Alltag der Psychotherapie und Meditation nicht mit einem Entweder-Oder zu beantworten ist, sondern daß beides zutrifft und daß Wert und Sinn weder ausschließlich er-funden noch ge-funden werden können. Der Sinn ist doppel-sinnig, Actio und Contemplatio, Handeln und Besinnung, Sinngebung und Sinnfindung in einem, ein Paradox jenseits der Grenzen rationaler Begrifflichkeit, Weg und Ziel zugleich. Er ist objektiv nicht greifbar, sondern immer an die subjektive Erfahrung geknüpft und nur als Bild oder Mythos andeutbar, als Symbol, das als Sinn-bild des Ganzen die Grenzen des rationalen Denkens tranzen-

68

Sinngebung oder Sinnfindung?

dieren und uns an den irrationalen, kollektiven Urgrund anschließen kann. Es geht um das transintellektuelle Erkennen des Paradoxons, daß der durch Sinngebung machbare Teil und das nur durch Intuition erahnbare Ganze, die prägnante vorder­gründige Figur und der diffuse Hintergrund scharf voneinander abgegrenzt und gleichzeitig in die restlos klare Wahrnehmung des Grundes aufgehoben sind (Frambach, 1996). Das Ganze, die implizite Ordnung, kann beispielsweise erahnt werden in der Erfahrung der Synchronizität, worauf R. Hämmerli (1996) hinweist. Scheinbare Zufälle vermitteln uns einen Hinweis auf sinnvolle Zusammenhänge, die uns i. S. der Sinnfindung spontan zu-fallen, ohne daß wir uns darum aktiv sinnge­bend bemühen müssen. „Als Mitarbeit mit dem, was sich selber als Sinn ausdrückt, besteht die Arbeit darin, die Selbstoffenbarung des Sinngefüges zu erkennen.“

Beide Sinn-Elemente, die abgrenzend-sinngebende Struktur und die entgren- zend-sinnfindende Offenheit, müssen Zusammenkommen, damit sich Sinn in seiner Ganzheit konstituieren kann. Dies ist besonders schön in diesem Gleichnis von Lao- Tse ausgedrückt:

Dreißig Speichen enden in einer Nabe, doch erst das Loch in der Nabe wirkt des Rades Brauchbarkeit; Ton knetend bildet man Gefäße; doch erst der Hohlraum gibt ihnen Brauchbarkeit. Mauern, von Fenstern und Türen durchbrochen, bilden Räume, doch erst die Leere des Raumes gibt ihnen Brauchbarkeit. So gibt das Sichtbare zwar Rahmen, aber das Unsichtbare erst den Gehalt.

So wie im allgemeinen Verständnis der Sinnerfahrung beides, Sinngebung und Sinnfindung, Teil- und Gesamtsinn untrennbar miteinander verknüpft sind, trifft dies im besonderen auch für eine sinn-volle psychotherapeutische und spirituelle Praxis zu, ja mehr noch, es ist das dialektische Wechselspiel dieser beiden Prinzipien, das die eigentliche Wirksamkeit und das Wesen beider Disziplinen ausmacht.

Wir sind als Menschen in mannigfaltige dualistische Bezüge und Erfahrungen der Welt und des Ich/Selbst eingebunden. Unser gesamtes Erleben der Wirklichkeit beruht auf einer dualistischen Wahrnehmung und Begrifflichkeit. Seit dem „Essen vom Baum der Erkentnis“ sind wir aus der paradiesischen Einheit und Ganzheit herausgefallen und vermögen die Welt nur noch als bruchstückhafte Teile, als Figur und Hintergrund und als dualistische Begriffspaare zu erfassen. Aus der Gegensatz­spannung der Teile, die aus dieser Spaltung entstanden sind, der Grundelemente von Yang und Yin, von Goethes aktiver „Systole“ und rezeptiver „Diastole“, ergeben sich der Puls und die Vielfalt der manifestierten Welt. Es ist dabei eine Frage der Perspektive, ob wir diese Spannung, das existentielle Dilemma, negativ oder positiv, pessimistisch wie etwa Freud, als quälende „Gebrochenheit des Daseins“ oder wie Adler als kreative Spannung und segensreiche Motivation der Entwicklung, als Möglichkeit zur Kompensation der angeborenen „Organminderwertigkeit“ und als „letzte Erfüllung der Evolution der Menschheit“ beurteilen (Adler, 1973). Aus theo­logischer Sicht scheint es hingegen klar zu sein, daß der Mensch „nicht vom Brot allein lebt“ und sich nicht ungestraft mit dem „Haben“, mit einem von ihm selbst hervorgebrachten „Teilsinn“ begnügen darf, sondern zu einem „Vorgefundenen

Gesamtsinn Vordringen muß“, ohne den jener letztlich sinn-los bleibt (Lotz, 1977).Ist Sinn aber heute nicht überhaupt ein „antiquierter Begriff“ und Psychotherapie

wie alles übrige auch nur ein Mittel zum Zweck, eine unzulässige Weise, das Gefühl der Sinnlosigkeit wegzutherapieren, etwa so, „wie wenn man in einer Hungersnot

69

Jürg Zöbeli

mit einer Spritze das Gefühl der Brotlosigkeit bekämpfen wollte, gegen Honorar“, wie Günter Anders sarkastisch feststellt? (Anders, 1981). Kann anderseits die Trans- personale Psychotherapie eine Brücke schlagen zwischen diesen pessimistischen Einschätzungen und den ausgesprochen optimistischen Prognosen einer Huma­nistischen oder Adlerschen Psychologie? Oder läuft auch sie Gefahr, die Grenzen zwischen der konventionellen Psychotherapie und der religiös-spirituellen Dimension synkretistisch zu verwischen? Ist die unzulässige Grenzüberschreitung von beiden Seiten, die „Therapeutisierung und der Verlust des spirituellen Eros“ an der Tagesordnung, wie Hans-Willi Weis uns weismachen will? (Weis, 1996). Kann Psychotherapie überhaupt Sinnfülle vermitteln, oder muß sie sich darauf beschrän­ken, die quälende Spannung zwischen existentiellen Gegebenheiten und neuroti­schen Ansprüchen aushalten zu lernen? Oder soll heute im Gegenteil das Tabu der Thematik von Sinn und Religion in der Psychotherapie gebrochen und diese Dimension nicht mehr „hilflos an die Seelsorge überschrieben“ werden (Petzold, 1991)? Besonders die Transpersonale Psychotherapie ist hier herausgefordert, Klarheit zu schaffen und Stellung zu beziehen.

Ken Wilber, „the brain“ der Transpersonalen Psychologie, hat mit seiner Synopsis der Evolution einen wesentlichen Beitrag zu diesem Brückenschlag nicht nur zwi­schen den einzelnen psychotherapeutischen Systemen, sondern auch zwischen Psychotherapie und Spiritualität geliefert. Bereits in seinen früheren Werken hatte er, aufgrund der These der Bewußtseinsentwicklung als eines Prozesses, den einzel­nen Phasen dieser Entwicklung, der präpersonalen, personalen und transpersonalen Phase und ihren Störungen, spezifische therapeutische Methoden zugeordnet. Obschon eine scharfe Trennung dieser Stadien als problematisch bezeichnet wurde (Zundel, 1994), erscheint sein Konzept dennoch als eine faszinierende Arbeits- und Forschungshypothese und als Beitrag zur Schlichtung des Kompetenzstreites unter den Schulen. Es wird dadurch begründbar, warum nicht alle Methoden für alle Krankheitsbilder gleichermaßen geeignet sind. So sind beispielsweise strukturbil­dende Methoden für narzistische Frühstörungen angemessen, für existentielle, „noogene“ Neurosen aber unzureichend, was von den Vertretern der betreffenden Schulen gerne geleugnet wird.

Mit seinem jüngsten großen Werk (1996) hat Wilber einen weiteren Beitrag zum Verständnis der Grenzthematik für die Psychotherapie geleistet. Er führt darin aus, daß unser Universum, die „große Kette des Seins“, auf Systemen von hierarchisch geordneten „Holons“ beruht, das heißt auf Teilen, die sich zu größeren Ganzen for­mieren, die wiederum Teile von Ganzen sind usw. Ein allen Holons gemeinsames Grundmuster besteht im dialektischen Wechselspiel zwischen den beiden Tendenzen des Teils zur Selbsterhaltung i. S. von Abgrenzung und Autonomie („Agenz“) einerseits und zur Selbstanpassung und Hingabe ans größere Ganze („Kommunion“) andererseits. Die Evolution beruht darauf, daß sich der Teil sowohl gegen die Umgebung abgrenzt als auch gegenüber dem größeren Ganzen öffnet und entgrenzt (Wilber, 1996). Wilbers These dieser Dialektik und Flexibilität der Grenze als eines Grundprinzips der Evolution läßt sich auch an der menschlichen Entwicklung und im besonderen an der psychotherapeutischen und spirituellen Praxis überprüfen. Dabei wird der Anteil der abgrenzenden Strukturierung und der festen Rahmenbedingungen im Vergleich zum Anteil der Öffnung und Hingabe ans

70

Sinngebung oder Sinnfindung?

übergeordnete Ganze natürlich bei unterschiedlichen psychotherapeutischen und spirituellen Systemen verschieden sein. Auch innerhalb der psychotherapeutischen Schulrichtungen wird entsprechend ihrem Menschenbild und Wertsystem der Akzent einmal mehr auf der aktiven Einflußnahme, der abgrenzend-strukturieren- den Aktivität der kleinen Schritte, auf Symptomreduktion, Ichstärkung und dem Teilziel des optimalen sozialen Funktionierens liegen. Ein anderes Mal wird die Betonung mehr auf einem nicht-direktiven Therapiestil und der Ausrichtung und Offenheit für bereits vorhandene Sinnstrukturen, auf der Be-sinnung und vorur­teilslosen Betrachtung des übergreifenden Ganzen i. S. der Vernetzung aller Phänomene, auf überindividuellen Zielen, Selbsttranszendenz und sozialer Verantwortung liegen.

Psychotherapie: Selbstverwirklichung oder Selbsttranszendenz?

In unserer Zeit, in der Machbarkeit und Effizienz vorrangig sind, hat auch in der Psychotherapie der Diskurs über die zu Grunde liegenden Menschenbilder, über Sinn und Werte erst spät eingesetzt. Doch scheint es für die Indikationsstellung der therapeutischen Methoden wichtig zu sein, sich darüber Klarheit zu verschaffen und das jeweilige Wertsystem offenzulegen. Für die Wahl der Therapieform wird es wesentlich sein, zwischen dem Teilziel einer praktischen Lebensbewältigung und Ichstärkung, dem Sinn im Leben einerseits, und der Suche nach einem transzenden­ten oder Gesamtsinn, dem absoluten Sinn des Lebens anderseits, zu unterscheiden. Dies heißt, daß für bestimmte Krankheitsbilder und Stufen der Bewußtseins­entwicklung spezifische Methoden angemessen sind, während andere eine Uber- bzw. Unterforderung i.S. des „Prä/trans-Irrtums“ (Wilber) bedeuten. Gemeint ist damit die Verwechslung einer präpersonalen mit einer transpersonalen Bewußt­seinsstufe, die zur Annahme verführen mag, die symbiotische Tendenz des präper­sonalen Stadiums sei ein echter Wunsch nach spiritueller Ganzheit. Dies kann zu einem „spiritual bypass“, einer verfrühten Beschäftigung mit existentiellen Themen führen, bevor eine stabile Ich/Selbst-Organisation gewährleistet ist. D.h., wir müs­sen zuerst „jemand“ sein, bevor wir sozusagen wieder „niemand“ werden können. Bei „gemeinen“ im Gegensatz zu „noogenen“ Neurosen kann daher aufgrund eines Selbstdefizits die Forderung nach Selbstdistanzierung und Selbsttranszendenz als Überforderung erlebt werden. D.h., der Sinnfindung muß die Selbstfindung, die Versicherung der eigenen Grenzen muß dem Transzendieren derselben vorangehen. Andererseits muß vermieden werden, daß etwa in einer bezüglich der Sinnfrage ideologisch eingeschränkten konventionellen Therapieform eine echte spirituelle Suche auf infantil-regressive Bedürfnisse reduziert wird.

So sind strukturbildende Therapiemethoden eher für das Erreichen eines Teilsinns in Form der Stabilisierung der Ich/Selbst-Organisation, also für Frühstörungen mit einem Ichstruktur-Defizit, geeignet, während existentielle Themen, die eher in der zweiten Lebenshälfte, bei den „erfolgreichen, scharfsichtigen Unzufriedenen“ (Tart) auftauchen, den neueren Methoden der Logotherapie, der Humanistischen und Transpersonalen Psychologie oder der Daseinsanalyse Vorbehalten bleiben, bei de­nen ein phänomenologischer Zugang i. S. der „Ge-lassenheit“ (Heidegger), das Zu­lassen des Sich-zeigenden und das vertrauensvolle Sich-ein-lassen Vorrang haben.

71

Jürg Zöbeli

Es wäre daher fruchtbar, anstelle der Rivalität um den Rang der „besten“ Therapieform und der gegenseitigen polemischen Entwertung der Schulen aufgrund ideologischer Begrenztheit und Feindbildprojektion, die letztlich auf latentem Selbstzweifel basieren, sich auf die grundlegenden Gemeinsamkeiten zu be-sinnen und für einen grenzüberschreitenden Dialog offen zu sein. Dies würde auch Mut zu einem therapeutischen Eklektizismus voraussetzen, der zwar im öffentlichen Diskurs immer noch tabuiert ist. Eine Auseinandersetzung darüber müßte aber heu­te möglich sein, wenn eine klare Abgrenzung der eigenen Positionen und das Bewußtsein der individuellen Besonderheiten mit Offenheit gegenüber dem Ändern und Fremden gepaart wäre. Heute scheint allerdings der Dialog aufgrund handfester ökonomischer Interessen der Schulen im Hinblick auf die Kassenzulassung beson­ders behindert zu sein, wodurch ideologische Grenzen und Vorurteile noch verfe­stigt werden. Kurzsichtige Argumente wie unmittelbare Effizienz, Machbarkeit und bloße Symptomreduktion scheinen Vorrang zu haben in einer „Gesellschaft der bedingten Reflexe“ (Mitscherlich) und des „eindimensionalen Werkzeugdenkens“ (Marcuse), in der direktive Sinngebung vor der Suche nach einem transzendenten Sinn steht.

Es ist einsichtig, daß jede Form des Reduktionismus oder eines ,,-ismus“ über­haupt, daß jede ideologische Begrenztheit sinnwidrig ist und den oft unversöhnli­chen und polemischen Streit unter den psychotherapeutischen Schulen verschärft. Hingegen kann Sinn definiert werden als harmonisches Gleichgewicht und Versöhnung von Gegensätzen anstelle ideologisch fixierter Grenzen und Ausgren­zung des Fremden, als Ganzheit in Form der Einheit von Körper, Seele, Geist und sozialer Bedingtheit. Daher ist sowohl der apersonal-materielle wie auch der psy- chologistische, der interpersonell-systemische ebenso wie der transpersonale Reduktionismus un-sinnig, und als ganzheitlich kann eine Therapie nur bezeichnet werden, wenn sie alle vier Dimensionen des Menschseins einschließt (Scharfetter, 1997). Der materialistische Reduktionismus, wie er etwa dem Behaviorismus und der klassischen Verhaltenstherapie vorgeworfen wurde, ist daher ebenso verfehlt wie der spirituelle Reduktionismus, wie er von gewissen Strömungen der Transperso­nalen Psychologie und des New Age gepflegt wird. Während jener den Menschen auf den Status eines manipulierbaren seelenlosen Reflexwesens erniedrigte, versucht dieser ihn auf dem Hintergrund der sinnenfeindlichen Kultur des jüdisch-christ­lichen Abendlandes zu einem esoterisch verklärten Übermenschen emporzustili­sieren.

Einigen Schulen, besonders im Umfeld der Humanistischen Psychologie, aber auch der Psychoanalyse und Analytischen Psychologie, wurde auch der Vorwurf der Wertblindheit, der sozialkritischen Abstinenz und Vernachlässigung sozialer Verantwortung gemacht, so daß hier nicht mehr von echter Ganzheit gesprochen werden könne. Die Ausgrenzung von Destruktivität, Macht und Willkür als Ausdruck des Ganzheitsschattens, besonders bei dem „von Natur aus guten Menschen“ der Humanistischen Psychologie, wurde als unrealistisch, ja gefährlich abgelehnt, indem die Totalität durch die Wiederkehr des Verdrängten totalitäre und faschistisch-ausgrenzende Züge annehmen könne. Diese Inflation des Ganz­heitsbegriffs ist als Reaktion der Schüler Freuds auf seine pessimistische und reduk­tionistische Haltung verstanden worden. Doch kann in diesem Zusammenhang die

72

Sinngebung oder Sinnfindung?

nüchterne Freudsche Sichtweise auch als realistischer Kontrapunkt zu einer infla­tionär überdehnten Ganzheitsvorstellung und die analytische Therapie als „heilsame Destruktion“ aufgefaßt werden, indem sie die illusionäre Ganzheit neurotischer Selbstbilder zu relativieren vermag. Außerdem kann die optimistische Überschät­zung der Möglichkeit zur Selbstbestimmung und Sinngebung bei Mißachtung tatsächlicher neurotischer Eingeschränktheit, wie sie gelegentlich bei Vertretern der Humanistischen Psychologie und der Logotherapie anzutreffen ist, als Überforde­rung oder bestenfalls als „Therapie für Gesunde“ erlebt werden.

Das einseitige Ganzheitsparadigma i. S. eines leidfreien Daseins und einer rausch­haften Entgrenzung mißversteht Ganzheit als ein real zu erreichendes Ziel statt eines „Leitsterns“ oder als „letzte nie ganz zu bezwingende Bergspitze auf unserer Lebensreise“ (Scharfetter 1997). Ganzheit ist daher immer nur als Utopie in der eigentlichen Wortbedeutung von Utopia als „Nicht-Ort“, jenseits der Grenzen von Raum und Zeit und unserer dualistischen Wahrnehmung zu verstehen (von Brück, 1996), da die Wirklichkeit aus „Holons in Holons“ aufgebaut ist, aus Teilen von Ganzen, die wiederum Teile/Ganze sind (Wilber, 1996), deren letzte Ganzheit aber nie restlos zu erkennen und zu verwirklichen ist.

Während daher Ganzheit als tatsächlich realisierbares Ideal abzulehnen und als abstrakter Begriff mit Vorsicht und Skepsis zu verwenden ist, kann Ganzheits-erfah- rung aber als realistische Möglichkeit verstanden werden i.S. einer „peak expe­rience“, welche die raumzeitlichen Grenzen zu transzendieren und das übergreifen­de Ganze ahnungsweise zu enthüllen vermag. Ganzheit ist daher nur sinn-voll als Symbol, als „Finger, der auf den Mond zeigt“, wie es im Zen heißt, als Spannung zwischen der „Gebundenheit menschlichen Handelns“ und dem „Impuls zur Freiheit durch inspirierte Schau“ (von Brück 1996), zwischen dem Status quo und dem Fremden und Neuen, zwischen Sinngebung und Sinnfindung. Sinn kann dabei verstanden werden als Ausgleich dieser gegensätzlichen Strebungen, als Dialektik, die die Teile zu einem größeren Ganzen zusammenfügt. Doch kann diese Spannung zwischen dem Ganzheitlichen und Fragmentarischen, zwischen Eros und Thanatos nie völlig beseitigt werden, sondern sie muß ausgehalten werden, da sie als Grundprinzip der Wirklichkeit überhaupt die Evolution in Gang hält. Dadurch bekommt das Minderwertige und Destruktive eine heilende und numinose Qualität, entsprechend dem Mythos von Chiron, dem „verwundeten Heiler“ und Stammvater der Heilkundigen, dessen nie heilende Wunde das Symbol seines nie erlahmenden Willens ist, das Kranke, Dissoziierte und Fragmentierte wieder heil und ganz wer­den zu lassen.

Wenn also sinn-volle Psychotherapie beide Aspekte der Sinnerfahrung umfassen soll, die Sinngebung als individuelles aktives Erschaffen eines Teilsinns und die Sinnfindung als rezeptive Ausrichtung auf einen überindividuellen Gesamtsinn, muß sie die geschilderten Extreme ideologischer Fixierung vermeiden und sowohl der Actio wie auch der Contemplatio, dem Tun und der Einsicht, der Verhaltens­änderung und der Selbsterkenntnis in ihrem Wertsystem und Menschenbild einen gebührenden Platz einräumen. Wenn auch der Akzent der beiden Sinnaspekte unterschiedlich sein mag, so ist das Grundprinzip, die dialektische Spannung zwi­schen beiden in allen therapeutischen Systemen dasselbe. Diese Tatsache könnte zu einem grenzüberschreitenden Dialog unter den Schulen und zum gegenseitigen

73

Jürg Zöbeli

Verständnis beitragen. Diese grundlegende Gemeinsamkeit ist aber nicht nur ein Ansatz für einen möglichen Diskurs innerhalb der therapeutischen, sondern auch zwischen den therapeutischen und spirituellen Systemen.

Der konkrete Wirkmechanismus der psychotherapeutischen und meditativen „Technik“ macht die grundlegende Dialektik zwischen Actio und Contemplatio sichtbar, den flexiblen Umgang mit Grenzen. Das Wechselspiel von Selbstabgren­zung und Selbstanpassung ist ein Grundprinzip sowohl der Evolution im allge­meinen als auch der individuellen Bewußtseinsentwicklung des Menschen und der psychotherapeutischen und spirituellen Praxis im besonderen.

Vom sinn-vollen Umgang mit Grenzen

Die psychische Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen kann als dauernde Auseinandersetzung mit Grenzen verstanden werden, im Dilemma zwischen der inneren Verwirklichung des Selbst, der Abgrenzung einer konturierten Identität einerseits und der Anpassung an die äußeren sozialen Normen andererseits. Dabei ergeben sich laufend, besonders in existentiellen Grenz- und Schwellensituationen, Wertkonflikte und Fehlentscheidungen mit entsprechenden Verbiegungen und Einseitigkeiten der Persönlichkeitsentwicklung. Dies ist auch bei optimalen Umweltbedingungen unvermeidlich, ja diese könnten sogar als problematisch gese­hen werden, wenn wir wie Alfred Adler die kreative Spannung zwischen dem ange­borenen Minderwertigkeitsgefühl und dem Drang nach Vollkommenheit als segens­reiche Motivation zur individuellen und kollektiven Vervollkommnung verstehen. Aufgabe der Psychotherapie ist es dann, Einseitigkeiten der Grenzziehung zwischen Autonomie und Anpassung zu korrigieren und die erstarrten Lösungsversuche zwi­schen Abgrenzung und Hingabe, die Dynamik des Lebensflusses wieder in Gang zu bringen und den Patientinnen bei der Entscheidung zu helfen, wieviel Sinngebung und Sinnfindung ihrer spezifischen Reifungsstufe angemessen ist.

Galuska verwendet für diese Dialektik des Entwicklungsprozesses zwischen abgrenzender Strukturgebung und entgrenzender Offenheit die treffende Metapher des Flusses, der durch das dynamisch fließende Wasser und die statisch abgegrenzte Struktur des Flußbettes konstituiert wird. Er weist darauf hin, daß auch die mensch­liche Entwicklung einer Struktur folgt, daß aber gleichzeitig innerhalb dieser Struktur etwas lebt und es Kräfte zu geben scheint, die diese Struktur ändern, und daß unsere Struktur selbst durch diese Energien gebildet wird. „Wie das fließende Wasser und das Flußbett komplementär aufeinander bezogen einen Fluß darstellen, so können wir auch eine Komplementarität von Energieprozessen für unser menschliches Leben annehmen“. Aus dieser Metapher leitet Galuska dann zwei gegensätzliche Formen psychischer Störung ab: die geschwächte Strukturbildung (das beschädigte Flußbett) hat die Gefahr der Überschwemmung mit unbewußten Inhalten, die Psychose, zur Folge und die in rigider Weise abgegrenzte Struktur (das verengte Flußbett) die neurotische Blockierung. Diese beiden Formen der Pathologie implizieren zwei verschiedene therapeutische Zugänge, die strukturbil­denden elterlichen Funktionen der Nachnährung einerseits und die aufdeckende Mobilisierung der blockierten Kräfte und das Verstehen der Sinnkontinuität des Lebens andererseits (Galuska, 1994).

74

Sinngebung oder Sinnfindling?

Ebenso wie der „Lebensfluß“ nicht ohne krisenhafte „Überschwemmungen“ und blockierende „Transformationsstaus“ (von Brück) und gesundes Wachstum nicht ohne „Wachstumsschmerzen“ vonstatten geht, kommt auch wirksame Psycho­therapie nicht darum herum, i.S. des „verwundenden Heilers“ Schmerzen zuzufü­gen, frühere Verletzungen aufzudecken, die Patientinnen in der Übertragung erneut mit schmerzhaften narzistischen Kränkungen und Enttäuschungen zu konfrontie­ren und illusionäre Selbst- und Weltbilder zu zerstören. Doch muß diese abgren- zend-konfrontierende durch die nachnährende und einfühlsame Haltung des „ver­wundeten Heilers“ ergänzt werden, der aufgrund eigener leidvoller Erfahrungen zu grenzüberschreitender Empathie fähig und bereit ist, i.S. der „therapeutischen Nierenfunktion“ (G. Benedetti) das Krankhafte der Patientinnen in seinem eigenen „psychischen Kreislauf“ zu entgiften.

Entsprechend der Typologie von Fritz Riemann charakterisiert Einseitigkeit in Form überwertiger Abgrenzung die zwanghaft-schizoide Persönlichkeit, überwer­tige Entgrenzung und der Wunsch nach Offenheit in Form von Harmonie und Spontaneität die depressivhysterische Charakterstruktur. Das Ziel der Psycho­therapie ist es, Verhaltensweisen, die in Einseitigkeit und Ambivalenz festgefahren sind, zu lockern und begrenzte Welt- und Selbstbilder zu erweitern. Aber auch die Therapeutinnen selbst sind herausgefordert, die Grenzen ihres eigenen, durch die familiäre und berufliche Sozialisation geprägten Menschenbildes dauernd neu zu hinterfragen. Eine übertriebene schizoid-zwanghafte Form der Abgrenzung i. S. der „affektiven Arteriosklerose“ (Greenson) bzw. des „Hintercouchlers“ (Tillmann Moser), wie sie als Witzblattfigur und Karikatur des orthodoxen Freudianers bekannt ist, wäre für Therapeutin und Patientin ebenso verfehlt und schädlich wie das Gegenstück einer Tendenz zu depressiver „grenzenloser“ Identifikation. Auch ist eine Haltung der Mißachtung eigener Grenzen i.S. einer therapeutischen Omnipotenzvorstellung besonders für Burnout gefährdet, da sie später zwangsläu­fig mit Enttäuschung endet.

Das Bewußtmachen der eigenen Begrenztheit aufgrund von „blinden Flecken“ geschieht zunächst in der sog. Lehranalyse oder therapeutischen Selbsterfahrung. Daß trotzdem ein Teil der Einschränkung als „Restneurose“ und unveränderliche Charakterstruktur bestehen bleibt, die bereits die Wahl der therapeutischen Schulrichtung beeinflußt hatte und später den persönlichen Therapiestil prägen wird, ist einleuchtend. Da psychische Gesundheit und Sinnorientierung bedeutet, sich um eine Balance zwischen abgrenzender Selbstbehauptung und ent-grenzender Selbsttranszendenz „immerstrebend zu bemühen“, kann das Burnout-Syndrom, die „Sinnkrise der Helfenden“, als mangelndes Gleichgewicht zwischen diesen beiden Grundstrebungen, zwischen Identifikation und Desidentifikation, aufgefaßt wer­den. Wolfram Kurz weist darauf hin, daß die Meditation als eine ausgezeichnete Möglichkeit, dieses Gleichgewicht herzustellen und sich innerlich zu zentrieren, auch ein wirksames Mittel der Psychohygiene für Helfende und außerdem ein feines diagnostisches Instrument zur ganzheitlichen Wahrnehmung der „Aura“ der Patientinnen ist. Sie habe daher eine empfangende (sinnfindende) und zeugende (sinngebende) Komponente (Kurz, 1986).

Die therapeutische Kunst könnte daher definiert werden - soweit Kunst sich überhaupt begrifflich eingrenzen läßt und sich letztlich nicht wesenhaft dem ratio-

75

Jürg Zöbeli

nalen Zugriff als ein Numinosum und Geheimnis entzieht - als die Fähigkeit, in der therapeutischen Begegnung sinnvoll und flexibel mit Grenzen, mit Nähe und Distanz umzugehen, um dadurch einseitig erstarrte Einstellungen und ideologisch beschränkte Werthaltungen in Frage zu stellen.

Der konkrete therapeutische Wirkmechanismus könnte als eine modellhafte Reinszenierung der Lebenswirklichkeit, sozusagen als experimentielle, „labor­mäßige“ Beobachtung und Neuerfahrung des existentiellen Dilemmas zwischen den beiden Grundstrebungen des Entwicklungsprozesses gesehen werden. Der Mikrokosmos der therapeutischen Situation hat die Aufgabe, den Konflikt zwischen frustrierender Einschränkung und befreiender Offenheit stets erneut zu reproduzie­ren, um schließlich Einsicht in neue Lösungsmöglichkeiten zu eröffnen. Das ständi­ge Wechselbad zwischen einschränkender Abstinenz und Deutungsaktivität anstelle von lustvollem Agieren und die Konfrontation mit den Grenzen der Realität einer­seits und das empathische „Holding“, die erfahrungszentrierte Beziehungsarbeit andererseits zwingt schließlich zur Auseinandersetzung mit dem fundamentalen Widerspruch zwischen Autonomie und Anpassung, mit dem existentiellen Gegen­satzpaar von Wille und Schicksal. Die beiden Aspekte der psychotherapeutischen Technik sind auch als „väterliche“ und „mütterliche“ Elemente bezeichnet worden: väterlich-strenge und begrenzende Rahmenbedingungen und Regeln, abstinente Haltung des Therapeuten einerseits und mütterlich-gewährende Eröffnung von Denk-Spielräumen durch den freien Einfall andererseits, das spielerische Experi­mentieren mit Phantasien, das Über-Grenzen-hinaus-denken als „Probehandeln“ (Freud) und die Übertragungsbeziehung als Tummelplatz für gefühlshafte Erfah­rungen, als „Experimentierfeld und ein Feld der Übung und des Lernens“ (Galuska, 1994). In diesem dialektischen Wechselspiel kommt dann für die Patientinnen zunächst Verwirrung auf. In diesem Konflikt, bei dem es sich nicht nur um einen künstlichen und illusionären, sondern um einen tatsächlichen Real-konflikt im Hier und Jetzt der therapeutischen Beziehung handelt, scheitern die bisherigen neuro­tisch eingeschränkten, regressiven Lösungsversuche, und es kommt zu der Heraus­forderung, schließlich nach reiferen Lösungen zu suchen.

Psychotherapie und Meditation: ein „Double-bind“? - Das existen­

tielle Dilemma in homöopathischen Dosen

Alan Watts (1981) hat darauf hingewiesen, daß es sich bei diesem Wechselbad im Grunde um eine bewußt inszenierte „double-bind“-Situation handelt, welche die paradoxe Forderung der Erziehung durch Eltern und Gesellschaft nach autonomer Eigenverantwortung und gleichzeitiger sozialer Anpassung und Einschränkung, das „soziale Spiel“ bzw. die „soziale Lüge“ in nuce nachzeichnet. Es handelt sich um eine Doppelbindung mit dem Inhalt: das Spiel ist ernst. Es ist insofern ernst, als wir uns als Objekt den sozialen Normen unterwerfen müssen, und gleichzeitig ist es ein freies Spiel, indem wir uns als autonomes Subjekt frei entfalten dürfen. Als Beispiel für diese paradoxe Situation erwähnt Watts die Mutter, die zu ihrem Kind sagt: „Du bist jetzt groß genug und willst doch nicht mehr im Dreck spielen!“ Die „soziale Lüge“ besteht hier darin, daß der autoritäre Befehl der Mutter als autonomer

76

Sinngebung oder Sinnfindung?

Wunsch des Kindes ausgegeben wird. Die Forderung der Mutter ist paradox; ihre Aussage „du bist jetzt groß genug“ bedeutet „du bist autonom“. Doch schließt die­se Feststellung bzw. die Forderung nach Autonomie aus, daß das Kind seinem eige­nen, autonomen Wunsch, im Dreck zu spielen, gehorcht. Die paradoxe Forderung nach Autonomie und gleichzeitgem Verzicht auf den autonomen Wunsch ist nicht erfüllbar.

Das Ziel der Therapie ist es, den double-bind-Charakter dieses prinzipiell unlös­baren Widerspruchs zu durchschauen und sich dadurch zu befreien, daß ein ver­nünftiger Kompromiß zwischen Autonomie und Anpassung gefunden wird. Dies geschieht in der Psychotherapie durch die Inszenierung eines „Gegenspiels“, das nach dem homöopathischen Prinzip des „similia similibus curentur“ das Gift der sozialen Paradoxie in kleinen und verkraftbaren therapeutischen Dosen zur Heilung einsetzt (Watts, 1981).

Nach Ansicht von Watts geht es ebenso wie in der Psychotherapie auch in den östlichen Befreiungswegen um eine bewußte Inszenierung dieses existentiellen Dilemmas, indem der Guru durch „barmherzige Tricks“ dem Schüler schrittweise die Augen öffnet für das grundsätzliche existentielle double-bind, den Ur-dualis- mus, auf dem unsere dualistische Konstruktion der Wirklichkeit aufgebaut ist. Es geht um das Erkennen der Tatsache, daß unser Sein durch unser Alltagsbewußtsein in ein Sub-ject und ein Ob-ject, in ein sich unterwerfendes Ich und ein gegen-ständ- liches Ding, aufgespalten wird.

In der meditativen Praxis liegt im Grunde ein identischer Wirkmechanismus wie bei der Psychotherapie vor. Auch hier geht es um eine dialektische Wechsel­beziehung zwischen abgrenzend-strukturierenden und entgrenzend-rezeptiven, sinngebenden und sinnfindenden Elementen. Auch hier wird eine modellhafte Rekonstruktion der Wirklichkeit vorgenommen und ein Dilemma erzeugt zwischen Entgrenzung und Abgrenzung, zwischen „Beten und Arbeiten“, weshalb die Klöster auch als „Laboratorien der Spiritualität“ bezeichnet worden sind. Die Meditierenden werden einerseits zu konsequenter Disziplin und anderseits zum Loslassen aller Strukturen des rationalen Denkens und des Haftens an den Dingen aufgefordert. Die Forderung, alles los- und zuzulassen, beinhaltet an sich schon, abgesehen vom Widerspruch zum rigiden Ritual, eine Doppelbindung i.S. der „sei- spontan-Paradoxie“ (Watzlawick). Einerseits sind die Meditierenden gehalten, sich z.B. den in einem Zen-Sesshin bis ins letzte Detail festgelegte rituellen Rahmen­bedingungen und einer strikten Disziplin zu unterwerfen, andererseits sollen sie ebenso wie beim freien Assoziieren der Psychoanalyse frei und offen als „Zeuge“ dem unzensurierten Gedankenfluß folgen. Sie sollen sich einerseits maximal bemühen und sich auf den Inhalt ihrer Übungspraxis, ob Koan, Atembeobachtung, Mantra oder einfache ununterbrochene Achtsamkeit konzentrieren, andererseits aber gleichzeitig alle Erwartungen und Zielvorstellungen loslassen. Sie werden auf­gefordert (und sollen sich selbst stets erneut dazu auffordern), „zu arbeiten, als ob alles ausschließlich vom Arbeiten abhinge, und gleichzeitig zu beten, als ob alles ein­zig vom Beten abhinge“ (Gurdjieff).

Die stets in der Zeit wiederholte Aufforderung, einzig des jetzigen Augenblicks jenseits der Zeit gewahr zu sein, beinhaltet ein unlösbares Paradox. Die Sinn­erfahrung und die sinn-volle spirituelle und psychotherapeutische Praxis sind damit

77

Jürg Zöbeli

nicht nur doppel-sinnig, durch die beiden Aspekte der Sinngebung und Sinnfindung konstituiert, sondern auch „doppelbödig“; sie haben einen „doppeltem Boden“, d.h., sie sind paradox, Weg und Ziel zugleich. Die Unlösbarkeit der paradoxen Forderung und des subjektiven Entschlusses, absichtslos zu sein, alles loszulassen und nichts zu erwarten, „zu wollen, nichts zu wollen“, der dauernde Willensimpuls (Sinngebung), sich ganz und absichtslos dem Sich-zeigenden hinzugeben (Sinnfindung), und das dauernde Scheitern und Zweifeln, dieses Paradox je lösen zu können, mag uns dann eines Tages ver-zweifeln lassen und gerade dadurch ein grundsätzliches Loslassen jenseits jedes Dualismus’ ermöglichen und zur Erkenntnis führen, daß Subjekt und Objekt, Ich und Selbst, Teil und Ganzes ein „Holon“, d.h. beides zugleich und dennoch verschieden, „zwei Seiten derselben Münze und eine bipolare Einheit der Wirklichkeit“ sind (Jäger ,1991).

Die Situation ist dieselbe wie in der Therapie, indem auch hier eine polare Spannung zwischen dem aktiv-strukturierenden (sinngebenden) Element des Rituals und dem entgrenzend-rezeptiven Element der Achtsamkeit (Sinnfindung) vorliegt. Beides ergibt einen dynamischen Prozeß, indem der Aspekt der Offenheit und Achtsamkeit nicht automatisiert werden kann, sondern stets erneut einen akti­ven Willensimpuls und ein diszipliniertes Üben erfordert. Das Resultat ist dasselbe wie in der Psychotherapie: das Auftauchen von unbewußten Vorstellungen und Gefühlen, die ebenso beglückend wie bedrohlich sein können. Auch hier wie in der Psychotherapie treten aufgrund der Begrenzung des Settings und der Verhinderung des Ausagierens von Wunschvorstellungen Übertragungsreaktionen, etwa i.S. einer strengen Vaterimago auf, die ebenso eine schütz- und haltsuchende wie eine kritisch- rebellische Qualität haben können. Dies ist eine Tatsache, die aber Meditationslehrer im allgemeinen unzureichend beachten, oder sie weigern sich, die Übertragung anzunehmen und zu bearbeiten, so daß die Meditierenden schließlich gezwungen sind, sich mit dem grundsätzlichen existentiellen Dilemma auseinanderzusetzen. Zwar wäre hier in Klammern anzumerken, daß Vertrautheit im Umgang mit dem Übertragungsphänomen auch für Meditationslehrer kein Luxus wäre, da es dazu beitragen könnte, allfällige neurotische oder gar psychotische Entgleisungen ich- schwacher Schüler und narzistischen oder sexuellen Mißbrauch durch „Meister, Gurus und Menschenfänger“ (Wilber/Ecker/Antony, 1995) zu vermeiden. Anderer­seits weist M. Epstein darauf hin, daß auch die Psychotherapeutlnnen durch die Meditation lernen können, wie das „heilsame Schweigen“ und die von Freud gefor­derte „gleichschwebende Aufmerksamkeit“ praktisch zu verwirklichen sind. Denn obschon bereits Ferenczi seufzte, daß es „so etwas Anstrengendes im Leben sonst kaum gebe“, wird sie bisher in keiner psychotherapeutischen Ausbildung gelehrt (Epstein, 1995). Auch Galuska legt in seiner „ganzheitlichen stationären Therapie“ großen Wert auf Schweigephasen, die tägliche Zeit der Stille, und versteht die thera­peutische Grundhaltung des „heilsamen Schweigens“ als „Erweiterung von Freuds Konzept der gleichschwebenden Aufmerksamkeit des Therapeuten“ (Galuska, 1994).

Spirituelle Praxis hat die Erkenntnis des fundamentalen Dualismus unserer Wahrnehmung zum Ziel, während es in der Psychotherapie darum geht, die inner­psychischen Konflikte zwischen individuellen und sozialen Werten und die Widersprüche innerhalb der sozialen Normen aufzudecken und zu klären. Anstelle

78

Sinngebung oder Sinnfindung?

des Erinnerns der verdrängten Inhalte und der Korrektur der Erfahrungen geht es in der Meditation um eine erkenntnistheoretische Dimension, um die Meta-Ebene der Einsicht in das Phänomen der Erfahrung selbst, um das „Wissen, wie wir wissen“. Während die Therapie darauf abzielt, Einseitigkeiten der Lebenseinstellung, neuro­tische Konflikte und lähmende Ambivalenz zu erkennen, um sie besser ertragen zu können oder einen leb-baren Kompromiß zu finden, um „neurotisches Leid in gewöhnliches Leid zu verwandeln“, wie es Freud formulierte, geht es in der spiritu­ellen Praxis letztlich um eine radikale Lösung des fundamentalen Widerspruchs zwi­schen Wille und Schicksal, um Einsicht in unser dualistisches Erfassen von Welt und Selbst. Wenn wir das Anhaften an den Dingen, die symbiotische Entgrenzung unse­rer Person i. S. des Habens zugunsten einer existentiellen Offenheit i.S. des Seins und unser rationalstrukturierendes Denken aufgeben zugunsten des Erkennens des „Baumeisters der Welt“, wie Buddha die Konstruktion der Alltagswirklichkeit durch unsere dualistisch- strukturierende Wahrnehmung bezeichnete, dann wird uns von ihm die radikale Erlösung von allem Leid in Aussicht gestellt. Wenn wir zum „reinen Bewußtsein“ jenseits der Abgrenzung zwischen Gedanken und Denker (Epstein, 1995) erwachen, kann letzter Sinn erfahrbar werden. Gelingt es uns, das „Koan, das wir selbst sind“ zu lösen und „zu werden, die wir sind“, ist auch die exi­stentielle Begrenzung durch die Zeitlichkeit und damit die tiefste Angst des Menschen transzendiert. Dann hat im christlichen Verständnis „der Tod seinen Stachel verloren“, das „Sein zum Tode“ (Heidegger) ist überwunden und die „Geworfenheit ins Dasein“ in eine letzte Geborgenheit aufgehoben. Dann wird es auch möglich, die Einschränkung durch das „gemeine“ Leid und den Narzißmus, der unser westliches „Zeitalter des Narzißmus“ (Ch. Lasch) charakterisiert und der Freud an einer endgültigen Heilung und an der „Beendigung der Analyse“ ver-zwei- feln ließ, zu transzendieren (Epstein, 1995). Dies ist nach Ansicht Epsteins auch der Grund, weshalb der Buddhismus für den Westen so attraktiv geworden ist.

In diesem Sinne ist Ganzheit als ein Erfahrungswert in gewisser Weise realistisch, doch ist hier nochmals zu betonen, daß es sich auch dann immer noch um ein „bruchstückhaftes Erkennen wie in einem Spiegel“ handelt, wie es im Korinther­brief heißt. „Der Sinn, den wir ersinnen, ist nicht der ewige Sinn“ (Lao-Tse). Zwar vermögen wir wohl in einer spirituellen Grenzerfahrung oder in einer Nah- Todeserfahrung einen kurzen Blick hinter die Kulissen dieser vordergründigen Alltagswirklichkeit zu werfen, der uns ahnungsweise einen Vorgeschmack der Nicht-Dualität und den Sinn des Ganzen eröffnet, einen Eindruck dessen, was die Mystiker das „ewige Nun“ genannt haben. Nach der „Gnade“ einer solchen Augenblickserfahrung der Sinnfindung scheint dann allerdings die eigentliche Arbeit der Sinngebung erst zu beginnen, wie uns alle „Erwachten“ immer wieder versichert haben. Doch ist dieser erste Eindruck der Ganzheit, das erste Überschrei­ten der Schwelle zum „leeren Raum“, das zugleich totale Sinnerfüllung bedeutet, der erste Schritt, der uns auf den Weg bringt und der die Sehnsucht und den „Hunger nach Sinn“ (Wirtz und Zöbeli, 1995) entfacht, wohl der entscheidende. Im Gleichnis eines Zen-Meisters ist die Kerze, die als erste das Dunkel eines Raumes erleuchtet, entscheidender als alle weiteren, die ihn noch mehr erhellen. So gibt es wohl „Stufen der Erleuchtung“, da auch die spirituelle Entwicklung auf hierarchisch geordneten Stadien, auf „Holons in Holons“ (Wilber, 1976) beruht und die letzte Ganzheit, der

79

Jürg Zöbeli

„Punkt Omega“, nicht von dieser Welt und für Sterbliche nicht völlig erreichbar ist. Insofern besteht auch hier zwischen dem schrittweisen Reifungsprozeß, auf den die psychotherapeutische Arbeit abzielt und den Stufen der spirituellen Entwicklung, die in einer meditativen Übungspraxis erfahrbar werden, kein prinzipieller Unterschied. Es stellt sich auch hier die Frage, ob nicht die östlichen Befreiungswege manchmal Gefahr laufen, einem ähnlichen illusionären Ganzheitsideal zu verfallen wie die westliche Psychotherapie.

Psychologie und Religion: ödipal rivalisierende oder transpersonal

vereinte Geschwister?

Sind wir heute immer noch, wie zu Freuds Zeiten, sozusagen auf das ödipale Niveau gegenseitiger Abgrenzung und polemischer Rivalität fixiert und sowohl als Vertreter der psychotherapeutischen Schulen untereinander wie auch mit den Theologen und den Vertretern spiritueller Traditionen in einen unbarmherzigen ideologischen Wettstreit verstrickt? Oder sind wir inzwischen fähig, im Zeitalter des „neuen Bewußtseins“, in dem selbst die Physik als die exakteste der Wissenschaften einen Paradigmenwechsel vollzieht, dieser nicht nachzustehen und ihren Bewußt­seinswandel mitzuvollziehen, indem wir auf ausgrenzende Feindbildprojektionen verzichten und uns auf eine versöhnlichere, sozusagen postödipale Plattform bege­ben? Können wir daher M. Epstein zustimmen, der findet, daß sowohl die Psychotherapie als auch die Meditation in einer Sackgasse endet, wenn sie die Zusammenarbeit und Kombination mit der anderen Disziplin verweigert, weil dann eines der brennendsten Probleme unserer Zeit, das des Narzißmus, nicht zu lösen sei (Epstein, 1995)?

Mir scheint der Boden heute für einen Dialog, der ideologische Grenzen trans­zendiert, genügend geebnet zu sein. Nachdem durch die polemische Haltung Freuds gegenüber der Thematik von Sinn und Religion die Lager anfänglich gespalten waren, schlugen schon seine Schüler wie etwa Jung und Adler einen versöhnlicheren Ton an, wurden dann aber von seiten der Theologen des Psychologismus und der Profanierung des Heiligen bezichtigt. Heute sind es Autoren, die in beiden Berei­chen zu Hause sind wie etwa der Psychoanalytiker und Theologe Dieter Funke, der anhand der Forschungen der Religionspsychologie und Religionsgeschichte darauf hinweist, daß die Gottesbilder Projektionen des Selbst darstellen und sich mit dem Reifungsgrad des Selbst wandeln (Funke, 1982). Indem sich somit die theologischen Gottesbilder ebenso wie die psychologischen Selbst- und Menschenbilder als Kon­strukte erweisen, wird sowohl der Vorwurf der psychologischen Reduktion religiö­ser Inhalte auf infantile Bedürfnisse von seiten der Theologie als auch der Vorwurf des spirituellen Reduktionismus von seiten der Psychologie hinfällig. Denn sowohl die moderne Selbstpsychologie als auch eine undogmatische Spiritualität befaßt sich mit dem grundsätzlichen Problem der Konstruktion der Wirklichkeit durch unseren rationalen Geist, und beide haben dasselbe Ziel, Vorurteile und Wahrnehmungs­verzerrungen zu entlarven (Fromm, 1972). Abgesehen von solchen theoretischen Überlegungen lassen sich aber auch im psychotherapeutischen und spirituellen Praxisalltag Gemeinsamkeiten feststellen, wie dargelegt wurde.

80

Sinngebung oder Sinnfindung?

Insgesamt ist heute die Beziehung zwischen Psychologie und Religion entspann­ter geworden. So wie die Meditation in kirchliche Institutionen Eingang gefunden hat, machten psychotherapeutische Schulen schon früh Anleihen bei spirituellen Traditionen, wie etwa die Gestalttherapie mit der Betonung der Achtsamkeit für das Hier und Jetzt beim Buddhismus oder auch die systemische und die Logotherapie mit der „paradoxen Intention“ bei der Koan-Technik des Zen.

Angesichts unserer heilungsbedürftigen Zeitsituation, die von Sinnkrise und „exi­stentiellem Vakuum“ (Frankl) mit einem reaktiven Aufblühen fundamentalistischer Positionen geprägt ist, kann die Transpersonale Psychologie einen möglichen Weg aus dem „Labyrinth von Sinn und Wert“ aufzeigen.

Giving or finding meaning

Summary: The existential dilemma in basic needs for self-preservation and self-adaption is the cause of our suffering as well as the motor of development. While psychotherapy corrects onesidedness of deve­lopment and strives towards partial meaning of handling life, the aim of spiritual practice is to experience transcendent meaning by basically looking through and transcending the dualistic perception. But both disciplines basically use the same “technique” of reproduction of the existential dilemma in “homoeopa­thic dosage”, of the dialectics between the delimiting structure of the therapeutic setting or spiritual ritu­al and the unlimited openness of free association or awareness.Key words: transpersonal psychology, problem of meaning, self-dimitation and selfdedication, psycho­therapy and meditation, double-bind.

LiteraturAdler, A. (1973): Der Sinn des Lebens, Fischer, Frankfurt/M.Anders, C. (1981): Die Antiquiertheit des Menschen, Beck-Verlag.Bühler, Cb. (1975): Die Rolle der Werte in der Entwicklung der Persönlichkeit und in der Psychotherapie.

Klett, Stuttgart. Amerikanische Originalausgabe 1962.von Brück, M. (1996): Haben wir eine Zukunft? Die Utopie des Menschen und der Mensch als Utopie der

Religionen, Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 2, S. 57-70.Epstein, M. (1995): Gedanken ohne den Denker. Das Wechselspiel von Buddhismus und Psychotherapie,

Krüger, Frankfurt/M.Frambach, L. (1996): Von der Unfähigkeit des Intellekts, das Absolute zu erkennen, oder der Wettlauf

zwischen Hase und Igel, Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 1, S. 51 —65.Fromm, E. (1972): Psychoanalyse und Zen-Buddhismus, ln Fromm, E./Suzuki, D.T./De Martino, R.:

Zen-Buddhismus und Psychoanalyse, Suhrkamp, Frankfurt.Funke, D. (1993): Der halbierte Gott. Die Folgen der Spaltung und die Sehnsucht nach Ganzheit, Kösel,

München.Galuska, J. (1994): Ganzheitliche stationäre Therapie transpersonaler Störungen. In: Zundel, K. und

Loomans, P. (Hrsg.): Psychotherapie und religiöse Erfahrung. Konzepte und Methoden transperso- naler Psychotherapie, Herder, Freiburg i. Br.

Hämmerli, R. (1996): Das Geheimnis der Zeit, Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 1, S. 35-50.

Jäger, W. (1991): Suche nach dem Sinn des Lebens. Bewußtseinswandel durch den Weg nach innen, Via Nova, Petersberg.

Lotz,J. B. (1977): Wider den Un-sinn. Zur Sinnkrise unseres Zeitalters, Knecht, Frankfurt/M.Pelzold, FI. (1991): Nootherapie und „säkulare Mystik“ in der Integrativen Therapie. In: Petzold, H.

(Hrsg.): Psychotherapie, Meditation, Gestalt. Paderborn Bd. 16.Scharfetter, Cb. (1998): Ganzheit und Ganzheitlichkeit in der Psychotherapie. In: Transpersonale

Psychologie und Psychotherapie 1, 1998.Scharfeiter, Cb. (1997): Eröffnungsvortrag des Therapiezentrums Katharinenhof, Einsiedeln vom 28. 6.

1997.

81

Jürg Zöbeli

Sedlak, E (1994): Die transpersonale Perspektive der Logotherapie und Existenzanalyse nach V. Frankl. In Zundel, E. und Loomans, P. (Hrsg.): Psychotherapie und religiöse Erfahrung. Konzepte und Methoden transpersonaler Psychotherapie, Herder, Freiburg i. Br.

Walts, A. (1981): Psychotherapie und östliche Befreiungswege, Kösel, München.Weis, H. W. (1996): Therapeutisierung und Verlust des spirituellen Eros. Transpersonale Psychologie und

Psychotherapie 1, S. 85-98.Wilber, K. (1996): Eros Kosmos Logos. Eine Vision an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend, Krüger,

Frankfurt/M.Wilber, K./Ecker, B./Antony, D. (Hrsg.) (1995): Meister, Gurus, Menschenfänger. Über die Integrität

spiritueller Wege, Krüger, Frankfurt/M.Wirtz, U. (1989): Seelenmord. Inzest und Therapie, Kreuz, Zürich.Wirtz, U. und Zöbeli,J. (1995): Hunger nach Sinn. Menschen in Grenzsituationen, Grenzen der Psycho­

therapie, Kreuz, Zürich.

Dr. med. Jürg Zöbeli, Belsitostrasse 9 CH - 8044 Zürich

82

Transpersonale Psychologie und Psychotherapie1/98, 83-91

Meditation - und ihre gesundheitsrelevanten Aspekte

Klaus Engel, Dortmund

Zusammenfassung: Meditation hat ihren Wert in sich selbst, sie stellt aber auch einen Weg dar, wesentliche Bereiche wie Gesundheit, Arbeits- und Partner- schaftsverhalten positiv zu beeinflussen. Vorgestellt werden einige Projekte, die die­sen Beitrag aufzeigen.

Schlüsselworte: Meditation, empirische Arbeiten, Gesundheit, Arbeitsplatz.

Einleitung

Meditation als Weg zur Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten ist über die Zeiten und unterschiedlichen Kulturen geübt worden. In der von Jaspers als Achsenzeit herausgestellten Periode um 500 v.Chr. haben praktische Vorgehens­weisen zu traditionellen Religionsgründungen geführt, wie im Buddhismus und im Jainismus. In einer der ,Achsenzeit' an Intensität vergleichbaren ,Großen Zeit' erreicht die meditative Bewegung um 1200 n. Chr. ihren Höhepunkt. Stellvertretend seien genannt: Dogen für die zenbuddhistische Tradition; Ibn al Arabi und Rumi für die Bewegung der Sufis innerhalb des Islams. Auch die meditative Bewegung des Christentums hat mit Meister Eckehard, Bonaventura und Franziskus um 1200 ihre ,Große Zeit'. In der Gegenwart scheint sich ein erneuter Höhepunkt abzubilden: einerseits im Zusammenfließen christlicher und zenbuddhistischer Praxis (z.B. Enomiya-Lasalle 1992); andererseits die großen Realisierungen in Indien, z.B. Ramana, Ananda Moi Ma. Hier möchten wir nur die Namen nennen, geschichtliche Entwicklung, Erfahrungsberichte, Lebensläufe großer meditativer Gestalten und gegenwärtiger Stand der meditativen Bewegung sind an anderer Stelle ausführlich dargestellt (Engel 1997 a). Die großen Gestalten und Spitzenerfahrungen beflügeln uns - an dieser Stelle möchten wir uns aber mit einigen praxisnahen Wirkungen der Meditation beschäftigen. Viele empirische Untersuchungen (Sammelreferate: z.B. Murphy a. Donovan 1988, Engel 1997 b) beschäftigen sich mit der Wirkung inner­halb konkreter Lebensbereiche.

1. Spezielle gesundheitsfördernde Wirkungen

Die Wirkung entspannender Meditation ist sowohl für somatische wie psychoso­matische Krankheitsbilder untersucht worden. In einem Übersichtsartikel kommt

83

Klaus Engel

Delmonte (1986) zu dem Resümee, daß neben der Angstreduktion die Senkung des Blutdruckes zu den gesicherten klinischen Wirkungen der Meditation gehören. Hierbei wird Meditation in der Regel mit anderen - z. B. medikamentösen oder psy­chotherapeutischen Therapieformen - kombiniert; eine Abschätzung der jeweiligen Anteile konnte noch nicht gesichert werden. Die Fülle der Arbeiten zu psychoso­matischen und psychoneurotischen Krankheitsbildern - bis hin zu malignen Erkrankungen und psychotischen Entgleisungen - sind in den oben genannten Sammelreferaten dargestellt. Neben der erwähnten Angstreduktion und Senkung von Bluthochdruck möchten wir auf zwei Praxisfelder hinweisen, in denen der posi­tive Einfluß von Meditation besonders herausgearbeitet wurde: Chronischer Schmerz und maligne Erkrankungen.

Die umfangreichsten und am besten kontrollierten Studien zum Miteinsatz von Meditation bei der Behandlung chronischer Schmerzpatienten wurden von Kabat- Zinn und Mitarbeitern vorgelegt. In seiner Arbeit von 1982 berichtet er über 51 Schmerzpatienten mit Rücken-, Nacken-, Schulter- und Kopfschmerzen, auch Schmerzen bei Angina pectoris und gastroinstestinalen Schmerzen. Nach zehn Wochen Meditation vom Typ der Konzentrations- und Achtsamkeitsmeditation gaben 65% der Patienten eine Reduktion der Schmerzen an. In einer Nach­folgearbeit (Kabat-Zinn et al. 1985) konnten bei 90 Patienten durch Einsatz medita­tiver Übungen der Verbrauch von Medikamenten gesenkt und die Schmerzzustände reduziert werden; außerdem war es möglich, die begleitenden psychologischen Phänomene wie Angst, Depression und negatives Körperbild zu bessern. Die von den Autoren zuletzt vorgelegte Studie an 225 Patienten (Kabat-Zinn et al. 1987) betreibt einen großen methodischen Aufwand an physiologischen und psycho­logischen Erhebungen und legt eine Follow-up-Erhebung über vier Jahre vor. Insgesamt wurde eine bedeutsame Linderung der Schmerzzustände nach den meditativen Übungen erreicht. Im deutschsprachigen Bereich ist der Ansatz von Kabat-Zinn ausführlich in der Übersetzung seines Buches (Kabat-Zinn, 1995) beschrieben.

Der Miteinsatz psychologischer Verfahren bei der Behandlung maligner Erkrankungen hat weite Verbreitung gefunden. Meditation zur Reduktion von Angst und Depressionen bei Krebserkrankungen, zur Gewinnung von Ruhe und Stabilität und insgesamt einer angemessenen Einstellung zum Leben ist von einer Reihe Autoren herausgearbeitet worden. In der Mehrzahl werden Fallberichte vor­gelegt (Magarey, 1983), bei denen z.B. visualisiernde Meditationsmethoden bei der Linderung oder gar Heilung bestimmter Stadien von Krebserkrankungen eingesetzt wurden. Besonders intensiv hat Mears auf dem Gebiet des Einsatzes von Meditation bei Krebsbehandlungen gearbeitet. In einer Reihe von Fallberichten (z.B. Mears, 1981) stellt er Behandlungen und Ergebnisse seiner Bemühungen dar. An einer größeren Population von 73 Patienten (Mears, 1980) konnte er die somatische Besserung und die Reduktion von Angst und Depression bei fortgeschrittenen Krebsfällen durch meditative Sitzungen zeigen; Arbeiten, die er in weiteren Fallberichten (Mears, 1982, 1983) fortsetzt.

84

Meditation - und ihre gesundheitsrelevanten Aspekte

2. Beitrag zum allgemeinen Gesundheitsverhalten

Die empirischen Arbeiten zum allgemeinen Gesundheits- bzw. Krankheits- verhalten und die Inanspruchnahme medizinischer Versorgung legen eindrucksvol­le Befunde zur gesundheitsrelevanten Wirkung von Meditation vor. Sie erinnern an die Arbeiten von Dührssen, die mit ihrem Nachweis, daß analytisch orientierte Psychotherapie Arbeitsfehltage und Krankenhaustage zu reduzieren vermag, dazu beitrugen, die Anerkennung von Psychotherapie als Krankenkassenleistung zu erreichen.

Orme-Johnson (1987) berichtet von einer 5 Jahres-Feld-Studie (1981-1985) über die Inanspruchnahme medizinischer Versicherungsleistungen an 2000 TM1 Praktizierenden im Vergleich zu 600 000 Versicherten der gleichen Versicherungs­gesellschaft, die als Normgruppe mit vergleichbaren sozialen Parametern gewählt wurde und sich von der TM-Gruppe nur dadurch unterschied, daß sie keine prakti­schen Meditationsübungen durchführte. Bezogen auf die von allen Versicherten durchschnittlich bei der Kasse gemeldeten Krankheitstage hatte die TM-Gruppe der 0-18jährigen 50,2%, die 19-39jährigen 15,1% und die über 40jährigen 69,4% weniger Krankenhaustage. Ambulante Arztbesuche waren für die gleichen drei Altersgruppen bei Meditierenden um 46,8%, 54,7% bzw. 73,7% geringer. Die Inzidenzrate (Krankheitsneumeldungen bezogen auf 1000 Fälle) war für alle großen Krankheitsbilder bei der Gesamtgruppe der Meditierenden deutlich erniedrigt: 55,4 % für gut- und bösartige Tumoren; 87,3 % für die Gruppe der Herz­krankheiten; 30,4% für Infektionskrankheiten; 30,6% für psychische Erkran­kungen und 87,3 % für Erkrankungen des Nervensystems.

In der Diskussion seiner Befunde beschäftigen sich Orme-Johnson mit der Frage, ob es sich bei der TM-Gruppe um eine sich selbst seligierende Gruppe handele, die mit der Normgruppe nicht vergleichbar sei und die sich von dieser nicht nur durch die Praxis in der Meditation unterscheide. Er führt an, daß sich oft gerade ,Problemfälle' zur Meditation entschließen, die sich mit ernsthaften psychosozialen Schwierigkeiten oder körperlichen Beschwerden auseinanderzusetzen hätten. Doch selbst wenn es sich um eine ,self-selected-group‘ handelt, wäre es eben von großer Bedeutung, daß es einem Menschen gelingt, zu dieser Gruppe - hier der Gruppe der Meditierenden - hinzuzukommen und sich in ihr zu halten. Sicher wird es sich bei den Meditierenden um die ,better choices' handeln, die mehr ,health-supporting choices' machen; aber eben dies ist ein Argument für die Meditation und für die vor­gelegte Untersuchung und nicht gegen sie.

Wir möchten noch auf eine ähnliche Studie zum allgemeinen Gesundheits­verhalten von Meditierenden - hier wieder TM Meditierenden - hinweisen, die aus Schweden berichtet wird, und zitieren nach Fehr (1996): „Epidemiologische Studien der Nationalen Gesundheitsbehörde Schwedens (Socialstyrelsens Byra 1975) durch eine Fragebogenaktion an allen 182 psychiatrischen Institutionen mit einer Rücklaufquote von 85 % belegen, daß für TM Meditierende die Einweisung in die Psychiatrie etwa 150-200 mal weniger wahrscheinlich war als in der nor­malen Bevölkerung. Es wurden lediglich acht psychiatrische Patienten mit TM- Kontakt landesweit anstelle der statistisch zu erwartenden 1750 gefunden. Der wis­senschaftliche Berater der Gesundheitsbehörde, Ottosen (1977), schloß aus diesen

85

Klaus Engel

Daten auf einen beträchtlichen Wert der TM in der Prävention psychiatrischer Krankheiten“.

3. Meditation am Arbeitsplatz

Zu einer eigenen Richtung beginnen sich die Arbeiten des Einflusses von Meditation am Arbeitsplatz auszuweiten. Diese Untersuchungen beschäftigen sich hauptsächlich mit der Reduktion von arbeitsbedingtem Streß. Delmonte 1984 faßt die bisher bekannt gewordenen empirischen Arbeiten zusammen, die sich auf große Firmen beziehen, in denen es gelungen war, Gruppen von Mitarbeitern über eine längere Zeit zu Meditationsgruppen zusammenzufassen. Alexander et al. (1991) berichtet über eine prospektive Studie an US-Büroangestellten über 3 Monate, die zweimal pro Tag über 20 Minuten TM-Meditation übten, und verglichen mit sozio- ökonomisch parallelisierten Angestellten ohne Meditationspraxis. Bei der Medi­tationsgruppe wurde u.a. verminderter Alkohol- und Zigarettenkonsum gefun­den, bessere Arbeitszufriedenheit und befriedigendere zwischenmenschliche Beziehungen.

Neben der direkten Einführung von Meditationszeiten am Arbeitsplatz beginnen generell spirituell geprägte Ansätze das Verständnis und die Organisation von Arbeit zu beeinflussen. Traditionell waren religiöse Systeme immer bemüht, der Arbeit eine tiefere Bedeutung zu geben, in unserer Tradition - auch der hinduisti­schen - sie zu ,heiligen', in eher buddhistisch geprägten Ansätzen durch stärkere Einführung von Achtsamkeit und Gelassenheit. ,Einfach und wiederholbar' gilt in den zen-buddhistisch geprägten Ländern eine Arbeit als meditativ wertvoll. Arbeit als spirituelle Disziplin bearbeiten in neuerer Zeit Poe (1991) unter buddhistischen Ansätzen, Redfield (1996) mit christlich geprägten Überlegungen und Chopra (1994) auf der Grundlage der indisch-vedischen Tradition. Für die postmoderne spirituelle Zukunft der Arbeit stellen Bibermann und Whittry (1997) in ihrem Paradigma Bestimmungsstücke der zukünftigen Arbeitswelt zusammen: Bedeut­samkeit (purpose and meaning), Beziehung (connectedness), Vertrauen (trust others), Informationsmitteilung (share information), Stärkung der Eigenverant­wortung (empower the co-worker). Meaning, interconnectedness, cooperation, empowerment - also die transpersonale Perspektive - prägt einen Arbeitsansatz, der uns nicht entfremdet und erschöpft, sondern in sich Sinn macht.

4. Meditation für umschriebene Gruppen: Kinder, ältere Menschen,

Randgruppen

Meditation nicht nur für Erwachsene anzubieten, sondern schon in das Schul­system einzuführen und Kinder an meditative Praxis heranzuführen hat besonders in Indien eine längere Tradition. So berichtet z.B. Yogananda 1950 von einem Schulsystem, das neben dem regulären Unterricht meditative Übungen berücksich­tigt. Empirischen Arbeiten zur Meditation von Kindern liegen fast ausschließlich aus dem Bereich der TM vor. Während von Erwachsenen bei der TM-Technik zwei­

86

Meditation - und ihre gesundheitsrelevanten Aspekte

mal pro Tag 20 Minuten mit geschlossenen Augen meditiert wird, ist die Technik für Kinder modifiziert worden; wenige Minuten 2 mal pro Tag mit offenen Augen. Die Einzelarbeiten möchten wir hier nicht darstellen (s. z.B. Dillbeck et al. 1990). Gefunden wurde die Verbesserung verschiedener kognitiver Fähigkeiten wie Informationsverarbeitung, Flexibilität und eine verbesserte Merkfähigkeit. Alexan­der, Davies et al. (1990) fassen die umfangreichen Arbeiten in Gruppenvergleiche und Longitudinalstudien zusammen.

Auch Yoga-Schulen wenden sich der Arbeit mit Kindern zu. Uma et al. (1989) berichteten von einer Untersuchung an 90 geistig zurückgebliebenen Kindern. 45 von ihnen wurden 5 St. pro Woche über ein Jahr nach dem klassischen Yoga- Programm trainiert (Asanas, Pranayama, Meditation) und den übrigen 45 Kindern gegenübergestellt, die einen vergleichbaren sozio-ökonomischen und Intelligenz- status aufwiesen. Bei den Kindern, die das Yoga-Training erhielten, konnte eine Verbesserung ihrer Intelligenz und Sozialentwicklung beobachtet werden. Damit beginnen auch andere Meditationsschulen Untersuchungen vorzulegen, die eine systematische Förderung von Kindern überprüfen.

Der Wert der Arbeiten zur Meditation bei Kindern dürfte neben ihren inhaltli­chen Ergebnissen besonders in dem methodischen Ansatz liegen: Meditation zu einem Bestandteil der Lebensführung schon in der Kindheit zu machen und deren Verlauf und Ergebnis empirisch zu kontrollieren.

Besonders beeindruckend sind die Untersuchungen der Wirkung von Medita­tionen bei Menschen in fortgeschrittenem Alter.

In einer prospektiven Studie untersuchen Alexander et al. 1989 Bewohner von 6

Altersheimen. 73 Freiwillige (60 Frauen und 13 Männer) mit einem Durchschnitts­alter von 80,7 Jahren nahmen an dem 3 Monate dauernden Programm teil. Durch einen Vortest ausgeschlossen waren nur solche Probanden, die eine Instruktion von einem auf den anderen Tag nicht mehr behalten konnten. Die Probanden wurden danach per Zufall auf 4 Gruppen aufgeteilt:

1. TM-Meditation,2. Aufmerksamkeitstraining,3. Entspannungsprogramm,4. keine Behandlung.

Bei den Verbesserungen nach 3 Monaten - in psychologischen Bereichen z. B. kognitive Flexibilität und Selbstwerteinschätzung; in physiologischen Parametern z. B. Blutdruck - hatte die TM-Gruppe in den meisten Bereichen am besten profi­tiert. Eine 9-Jahres-Nachuntersuchung ergab einen besonders bemerkenswerten Befund: die Überlebensrate der TM-Gruppe betrug 100 %, in der Gruppe mit Auf­merksamkeitstraining 78,5 %, der Entspannungsgruppe 65 %, der Gruppe ohne Behandlung 77,3 %. Die generelle Überlebensrate der 478 Bewohner der untersuch­ten Altersheime, die nicht an dem Programm teilgenommen hatten, lag bei 62,6%. Wenn damit die generelle Überlebensrate der untersuchten Population mit reichlich 60% sich so deutlich von der Meditationsgruppe (100%) unterscheidet, muß nach den Ursachen gefragt werden. Da die Meldung zu den Gruppen freiwillig erfolgte (keine zufällige Auswahl), scheinen die 73 Probanden des Übungsprogramms zu den Menschen zu gehören, die überhaupt stärker motiviert waren und noch etwas in ihrem Leben machen wollten. Die Aufteilung auf die Gruppen war dann aber zufäl­

87

Klaus Engel

lig, so daß das gute Abschneiden der Meditationsgruppe auf einen genuinen Effekt der Meditation hinweisen könnte.

Auch an Randgruppen wie chronischen Alkoholikern oder Strafgefangenen wur­de versucht, durch Meditation eine Verbesserung der Situation zu erreichen.

Bleick a. Abrams (1987) berichten von 259 begnadeten Verbrechern im Vergleich zu einer gleichgroßen Anzahl von Kontrollprobanden, bei denen durch ein Medita­tionsprogramm in einer über 6 Jahre laufenden Studie eine Senkung der Rezidivrate (Wiedereinweisung ins Gefängnis) erreicht werden konnte. Ähnlich Alexander (1982) in einer Studie an 133, 20 bis 29 Jahre alten Sicherheitsgefangenen, die etwa zur Hälfte unter Mordanklage standen und beinahe ausnahmslos zusätzlich Drogenmißbrauch betrieben hatten. Für diese Art der Strafgefangenen wurde oft das zusammenfassende Urteil trotz verschiedenster Angebote zur Resozialisierung gefällt: ,Nothing works'. Hier konnte nach einem Meditationsprogramm die Rezidivrate um ein Drittel gesenkt werden.

Auch wenn schwer nachvollziehbar ist, wie es gelang, ehemalige Schwer­verbrecher zum Erlernen von Meditation zu motivieren und sie über einige Zeit bei der Meditationspraxis zu halten, ist doch erstaunlich, daß solche Versuche über­haupt unternommen wurden und offenbar, wie die Senkung der Rezidivrate zeigt, Ergebnisse brachten. Nicht die Ergebnisse beeindrucken, diese können immer nur geglaubt werden, sondern der Mut, solche Versuche zu wagen.

5. Beispiel für ein praktisches Angebot

Bei den Hinweisen für ein praktisches Vorgehen stehen wir vor einem Dilemma. Umfangreiche und kontrollierte Studien zur praktischen Relevanz von Meditation liegen zum größten Teil aus dem Bereich der TM vor. Diese hat bei uns aber wieder an Bedeutung verloren. Andere Meditationsformen haben sich stärker in den Vordergrund geschoben, wie etwa die Zen-Meditation. Vergleichende Arbeiten zwi­schen den meditativen Schulen stehen noch aus. In dem am Ende dieser Arbeit erwähnten Projekt möchten wir hier einen Beitrag leisten und hoffen, daß im Bereich der Meditation nicht die gleichen Fehler wie in der Psychotherapie gemacht werden, etwa im Nachgehen der Frage, wer ist der Beste, wer ist der Schnellste. Für die Meditation wäre dies ohnehin ein kontraproduktiver Ansatz. Eher sollte es dar­auf hinauslaufen, daß es zwar unterschiedliche Wege mit unterschiedlichen Schwerpunkten in der Übungspraxis gibt, diese aber ihre je eigene Bedeutung haben. Die zunehmend herauszuarbeitende Frage wird sein: was, für wen, wieviel?

Hier möchten wir hinweisen auf das Zusammenfließen der christlichen Tradition und der Zen-Meditation, eingeleitet durch den Jesuitenpater H. Enomiya Lassalle. In Japan gründlich ausgebildet, brachte er es zur Zen-Lehrer- und Meisterschaft, so daß er in Deutschland Kurse anbieten konnte, die heute von mehreren Lehrern fort­gesetzt werden, die die Zen-Technik weitergeben. Wir sprechen von Zen-Technik, da diese im wesentlichen theorie- und glaubensfrei ist und sich auf Handlungs­anweisungen beschränkt bzw. einen Weg beschreibt, wobei das Erlebte nachträglich interpretiert werden kann.

Einige wesentliche Punkte dieses Zen-Weges seien genannt:

88

Meditation - und ihre gesundheitsrelevanten Aspekte

Die Grundanweisung: Sich im Körper aufrichten und das Denken lassen bzw. los­lassen (um zu spüren und zu erfahren).

Die Sitzhaltung: Um die Wirbelsäule gerade zu halten, bequem zu sitzen und nicht einzuschlafen wird ein Sitzbänkchen benutzt, ein Kissen oder eine gefaltete Decke, so daß das Gesäß unterstützt und die Füße davor ruhen können. Die Augen bleiben offen, ruhen etwa 90 cm vor dem Körper auf dem Boden, ohne einen Punkt zu fixieren (der ,blinde Blick'; Kopp 1994).

Der zeitliche Rahmen: Nach einem Wochenend-Einführungskurs soll zweimal 25 Min. pro Tag gesessen werden, ergänzt durch zwei Kurse im Jahr (erweiterte Wochenenden), in dem Sitzen (je 25 Min.) und konzentratives Gehen über den Tag ausgedehnt werden.

Die Übung: Die Aufmerksamkeit bleibt bei der Ein- und Ausatmung, ohne sie zu beeinflussen. Um das Denken etwas zu zentrieren, werden die Atemzüge gezählt, jeweils bis zehn. Später kann die Übung mit einer sinnfreien Silbe (Koan) hinzu­kommen.

Der Weg: Das Bewußtsein der Sinneswahrnehmungen und des Denkens (d. h. des ,Ich‘ und einer erlebten Außenwelt) wird lassend durchübt. Auftauchende Gefühle und Phänomene des Unter- und Unbewußten werden ebenfalls lassend durchübt, um sich so der eigenen Mitte anzunähern. Deren Erfahrung, ,satori' wird nicht in Kategorien des Denkens beschrieben. Wert gelegt wird auf den Weg selbst, nicht der Erreichung eines Zieles.

Jedes Vorgehen, das in das Leben eines Menschen eingreift, muß neben den erwünschten positiven Wirkungen auch mit unerwünschten Nebenwirkungen rech­nen; auf diese soll im folgenden Abschnitt hingewiesen werden.

6. Abbrüche, Gefahren, Nebenwirkungen, prognostische Faktoren

Der meditative Weg wird oft mit großem Einsatz begonnen und endet für viele schon bei den ersten Schwierigkeiten. Abbruchraten von über 50 % nach ein bis zwei Jahren (Delmonte, 1988) konnten für verschiedene Meditationsrichtungen und unterschiedliche Populationen gefunden werden. So überzeugend der positive Gewinn von Meditation sein kann, so erheblich auch die Nebenwirkungen. Beschrieben worden sind Angst, Konfusion, körperliche Mißempfindungen bis hin zur desintegrativen Krise (Scharfetter, 1983). Innerhalb der Tradition des Zen wer­den diese Phänomene zusammenfassend als Zenkrankheit beschrieben. Der Vermei­dung bzw. Überwindung dieser Negativfaktoren ist in der Tradition viel Auf­merksamkeit geschenkt worden, wie die Begleitung durch einen erfahrenen Lehrer und Gleichgesinnte (Freunde), neutralisierende Arbeit und geregelte Lebens­führung. Ein stabiler kognitiver Rahmen (Interpretationssystem) und gesichertes soziales Umfeld können als die beiden wesentlichen Bedingungen zur Vermeidung negativer Nebenwirkungen gelten. Gute Freunde sei nicht der halbe, sondern der ganze (meditative) Weg, war die Aussage Gotoma Buddhas zu diesem Problem. Die Herausarbeitung prognostischer Faktoren für den Fortgang von Meditation steckt noch in den Anfängen; bisher kann nur zusammengetragen werden, was in den ein­zelnen Arbeiten als hilfreich bzw. hinderlich beschrieben worden ist (Engel, 1996).

89

Klaus Engel

7. Abschließende Bemerkungen:

Der meditative Weg ist ein das ganze Leben begleitender Prozeß. Unter Anleitung und eingebettet in stabile Bezugssysteme kann er einen Beitrag zur Entwicklung und Zentrierung des Menschen leisten. Bewähren muß er sich nicht nur im innerpsychi- schen Erleben, sondern in seinen Auswirkungen auf die konkreten Lebensbereiche,d.h. in der Beziehungs- oder Arbeitsfähigkeit, wobei der Körper nicht vergessen, sondern als Basis und Mitte betrachtet werden sollte, so daß sich Meditation auch und vor allem im Gesundheitsverhalten manifestieren muß.

Abschließend möchten wir uns noch einen Hinweis gestatten: wir führen derzeit ein größeres Forschungsprojekt durch (Meditation Research Network), in dem wir auch möglichen körperlichen und geistig-seelischen Beschwerden nachgehen (Darstellung in Engel, 1997 b, Anhang). Meditierende oder Personen mit Kontakt zu Meditationsgruppen, die bereit wären, einen Fragebogen auszufüllen, würden uns helfen, eine möglichst breite empirische Basis zu finden (Kontaktaufnahme s. Anschrift unten).

Anmerkungen1 TM (Transzendentale Meditation); einfache Meditationsart über 2 mal 25 Min./Tag, in der eine sinn-

freie Klangfolge wiederholt wird.

Meditation and its Relevance for HealthSummary: Meditation is not only of value in itself, it is also a way of influencing important things in lifesuch as health and one’s behaviour in the workplace or in relationships. The article aims to give the readera deeper understanding of what a number of projects can achieve in this area.Key words: Meditation, empirical research, health, workplace.

LiteraturAlexander, Ch. N. (1982): Ego development, personality and behavioral change in innates practicing the

TM technique or participating in other programs: A cross sectional and longitudinal study. Dissertation Abstracts International 43 (2-B) 539.

Alexander, CH. N., Langer, E.J., Newman, R.J., Chandler, M. M. a. Davies, J. L. (1989): Transcendental Meditation, Mindfulness and Longevity: An Experimental Study with the Elderly. J. Personality a. Social Psychology. 57,6: 950—964.

Alexander, CH. N.; Davies, J. Dixon, C. A. et al. ( 1990): Growth of higher states of consciousness: The Vedic psychology of human development. In: Alexander, Ch. N. a. Langer, E. J. (Eds.): Higher stages of human development: Perspectives on adult growth (p 286-340) New York: Oxford University Press.

Alexander, Ch. N.; Swanson, G. O.; Rainforth, M. V. et al. (1991): The TM Program and Business: A pro­spective Study. In: Orme-Johnson, D.W. a. Farrow, J.T. (Eds.): Scientific Research on the TM Program: Collcdcd Papers. Vol. V. New York, MERU Press.

Bibermann, J. a. Whitty, M. (1997): A postmodern spiritual future for work. J. Organisational Change Management. 10 (2), 130-138.

Bleick, C. R. a. Abrams, A. J. (1987): The Transcendental Meditation Program and criminal recidivism in California. ]. of Criminal Justice 15 (3), 211-230.

Chopra, D. (1994): The Seven Spiritual Laws of Success: A Practical Guide to the Fulfillment of Your Dreams. Amber-Allen Publ., San Rafael.

Delmonte, M. M. (1984): Meditation Practice as related to occupational Stress, Health and Productivity. Perception a. Motor Skills. 59: 581-582.

Delmonte, M. M. (1986): Meditation as a Clinical Intervention Strategy: A Brief Review. Intern. J. of Psychosomatics 33,3: 9-12.

90

Meditation - und ihre gesundheitsrelevanten Aspekte

Delmortte, M. M. (1988): Personality Correlates of Meditations Practice. Frequency and Dropout in an Outpatient Population. J. Behavioral Medicine 11,6: 593-597.

Dillbeck, M. C.; Msemaje, H. J.; Clayborne, B. M. a. Dillbeck, S. L. (1990): Effects of the Transcendental Meditation Program with Low-lncome Inner-City Children. Paper Presented at the 98th Annual Convention of the American Psychological Association. Boston.

Engel, K. (1996): Meditation: Abbruche, Nebenwirkungen, prognostische Faktoren. Grenzgebiete der Wissenschaft, Resch, Innsbruck: 45,3: 245-255

Engel, K. (1997 a); Meditation, Vol. I. History and Present Time. P. Lang, Frankfurt.Engel, K. (1997 b): Meditation Vol. 11. Empirie and Theory. P. Lang, Frankfurt.Enomiya-Lasalle, H. M. (1992): Zen-Weg zur Erleuchtung. Herder, Freiburg.Fehr, Th. G. (1996): Therapeutisch relevante Effekte durch transzendentale Meditation. Psychother.,

Psychosom. med. Psychol. 46: 178-188.Kabat-Zinn,J. (1982): An outpatient program in behavioural medicine for chronic pain patients based on

the practice of mindfullness meditation: theoretical considerations and preliminar results. Gen. Hosp. Psychiatry 4: 33-47.

Kahat-Zinn, J.; Lipworth, L. a. Barney, R. (1985): The clinical use of mindfullness meditation for the self-regulation of chronic pain. J. Behav. Med. 8: 163-190.

Kahat-Zinn, J.; Lipworth, L. a. Barney, R. et al. (1987): Four-year follow-up meditation-based program for the self-regulation of chronic pain: Treatment outcomes and compliance. Clinic J. of Pain 2; 159-173.

Kabal-Zinn, J. (1995): Gesund durch Meditation. O. W. Barth, Bern, München.Kopf), J. (1994): Schneeflocken fallen in die Sonne; Christuserfahrung auf dem Zen-Weg. Plöger,

Anweiler.Magarey, C. (1983): Holistic cancer therapy. J. of Psychosomatic Research. 27 (3): 181-184.Meares, A. (1980): What can the cancer patient expect from intensive meditation. Australian Family

Physician. 9:322-325.Meares, A. (1981): Regression of recurrence of carcinoma of the breast at mastectromy site associated with

intensive meditation. Australian Family Physician. 10: 218—19.Meares, A. (1982): Stress, meditation and the regression of cancer. The Practitioner (Australia), 226:

1607-1609.Meares, A. (1983): A form of intensive meditation associated with the regression of cancer. American J. of

Clinical Hypnosis. 25 (2—3): 114—121.Murphy, M. a. Donovan, St. (1988): The physical and psychological Effects of Meditation. Esalen

Institute, San Rafael, CA, USA.Orme-Johnson, D. (1987): Medical Care Utilization and the Transcendental Meditation Program.

Psychosomatic Medicine. 49: 493-507.Poe, R. (1991): The new discipline. Success 38(6) 80 pp.Redfield, J. (1996): The Tenth Insight: Holding the Vision. Warner Books, New York.Scharfetter, Ch. (1983): Über Meditation, Begriffsfeld, Sichtung der Befunde, Anwendung in der Psycho­

therapie. In: Petzold, H. (Hrsg.): Psychotherapie, Meditation, Gestalt. Paderborn, Junfermann.Uma, K., Nagendra, H. R., Nagarathana, R. et al (1989): The integrated approach of Yoga: a therapeutic

tool for mentally retarded children: a one year controlled study. J. Mental Deficiency Research. 33,5: 415-21.

Yogananda, P. (1950): Autobiographie eines Yogi. Barth, Weilheim.

Prof. K. Engel; Postfach 41 03 45; 44273 Dortmund

91

92

Buchbesprechungen

Ken Wilber: Eine kurze Geschichte des Kosmos, Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt/Main, 1997, 427 S.

Nun ist sie auch erschienen, Ken Wilbers leicht verdauliche Zusammenfassung seines Werkes „Eros, Kosmos, Logos“. Der amerikanische Titel trifft es noch ge­nauer: A brief history of everything. Das Buch ist im Interviewstil geschrieben: Ein fiktiver Interviewer befragt Ken Wilber zu seinen Theorien und seinen Auffas­sungen über die Evolution, Spiritualität, Wissenschaft, die Aufklärung, Ökologie, die Frauenbewegung usw. Der Aufbau des Buches folgt ziemlich genau seinem Werk „Eros, Kosmos, Logos“. Es geht um die Holon-Theorie, die vier Quadranten, die Entwicklung der Kulturen und Gesellschaften, die Entwicklung des individuellen Bewußtseins, die transpersonalen Stufen, die Verbindung von Aufstieg und Abstieg, die Auseinandersetzung mit der Aufklärung, der Moderne und Postmoderne. Es geht um Ökologie und Tiefenökologie, um Feminismus und Öko-Feminismus, selbst zum Internet finden wir einige Anmerkungen. Das Buch ist von leichter Fland geschrieben, und wer Ken Wilbers Werk nicht kennt, der wird sicherlich motiviert sein, ins Detail zu gehen. Aber auch die Kenner von „Eros, Kosmos, Logos“ werden hier eine Repetition des Wesentlichen erfahren können und in einigen Bereichen, wie z.B. dem transpersonalen Bewußtsein und der Erleuchtung, noch einige wertvolle ergänzende und vertiefende Hinweise erhalten. Vielleicht gelingt es Wilber, mit diesem Buch eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Es wäre ihm jedenfalls zu wünschen.

Dr. Joachim Galuska, Bad Kissingen

Klaus Engel: Meditation, Geschichte, Systematik, Forschung, Theorie, 1995, 320 Seiten

Klaus Engel: Meditation, Vol. 1, History and Present Time, 1997, 243 Seiten Klaus Engel: Meditation, Vol. 2, Empirical Research and Theory, 1997, 178 Seiten, Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt a. Main

Endlich eine wissenschaftliche Übersicht zum Gebiet der Meditation in deutscher Sprache! Klaus Engel legt eine äußerst wertvolle Zusammenfassung der Geschichte der Meditation und ihrer wissenschaftlichen Erforschung vor. Es ist ihm gelungen, ein solch gewaltiges Gebiet übersichtlich darzustellen; schon die enorme Arbeit ist bewundernswert.

Eine historische Zusammenfassung skizziert die Entwicklung der Meditation in Asien und in Europa. Ein systematischer Überblick findet sich über das Yoga- System, und auch die buddhistische Meditationsmethodik wird kurz dargestellt. Interessante Bezüge der Meditation werden zu Erich Fromms „Kunst des Liebens“

93

Buchbesprechungen

und zum „Autogenen Training“ von Schultz dargestellt. Persönliche Erlebnis­berichte veränderter Bewußtseinszustände von Gopi Krishna, Yogananda und Seraphim von Sarow und die Analyse dieser Berichte runden den ersten Teil ab. Die englische Ausgabe, Vol. 1, bezieht sich auf diesen ersten Teil, ergänzt allerdings durch eine ausführliche Beschreibung von für die Meditation bedeutenden Personen der Gegenwart: Rama Krishna, Yogananda, Aurobindo, Ramana Maharshi, Poonjaji, Anandamayi Ma, Enomiya Lassalle, Bhagwan Rajneesh, Sri Chinmoy. Sicherlich ließe sich dieser Teil weiter entwickeln und ergänzen, durch die Sufis Hazrath Inayat Khan oder Vilayat Inayat Khan, durch konfessionsübergreifende wie Krishnamurti oder Abendländer wie Karlfried Graf Dürckheim. Eine weitere Anregung wäre, den Bezug zu weiteren meditativen oder meditationsähnlichen westlichen Methoden herzustellen wie zur Progressiven Relaxation, kognitiven Therapien und Methoden der transpersonalen Psychotherapie.

Die zweite Hälfte des Buches, die im englischen zweiten Band aktualisiert worden ist, gibt die empirische Meditationsforschung wieder. Beeindruckend ist die Fülle von Studien zur Wirkungsweise der Meditation. Auffällig ist dabei der hohe Anteil der Forschung zur transzendentalen Meditation (TM, eine Mantra-Meditation). Zunächst werden die Forschungsergebnisse zu den physiologischen Wirkungen - insbesondere auch vertiefter Meditation - dargestellt. In der englischen Ausgabe findet sich auch eine Darstellung der Differenzierung zwischen vertiefter Meditation (Samadhi) und psychotischen Zuständen. Anschließend werden die Befunde zu den psychischen Wirkungen von Meditation sowohl im klinischen Sektor als auch bei Normal-Probanden erläutert. Für den Kliniker interessant sind die Nachweise einer positiven Wirkung bei Suchterkrankungen, Angstsyndromen und psychosomatischen Erkrankungen. Die Forschung bei Borderline-Patienten und Psychosen scheint noch ungewiß. Erfreulich ist auch ein Kapitel über die nega­tiven „Nebenwirkungen“ der Meditation und ihre Überwindung. Abschließend werden theoretische Modelle der Meditation diskutiert, und einige Erhebungs­instrumente für die Forschung im Gebiet veränderter Bewußtseinszustände und spi­ritueller Entwicklung werden erläutert. Auch für den Nicht-Wissenschaftler bietet dies interessante Ansätze zur Entmystifizierung der Meditation und ihrer Praxis.

Die wissenschaftliche Perspektive des Autors ermöglicht eine aufgeklärte und konfessionsübergreifende Sicht, die dem gesamten Gebiet erheblich nutzen kann. Sie zeigt den Stand des Gebietes (State of the art), der bisher vorwiegend durch ame­rikanische Autoren und Forschungsvorhaben bestimmt ist. Hier besteht in Deutschland dringender Nachholbedarf. Dazu möchte der Autor durch ein eigenes Forschungsprojekt, das er leider nur im Anhang der englischen Ausgabe skizziert, beitragen. Die erste deutsche Auflage ist momentan leider vergriffen, die zweite Auflage dieses wichtigen Basiswerkes jedoch in Vorbereitung.

Dr. Joachim Galuska, Bad Kissingen

Siegfried Gröninger, Jutta Stade-Gröninger: Progressive Relaxation, Indikation, Anwendung, Forschung, Honorierung. Pfeiffer Verlag München 1996, 314 Seiten, (mit Audiocassette)

94

Buchbesprechungen

Was auf den ersten Blick als ein allein in die Hand des Arztes gehöriges Fachbuch anmutet, das gehört sinnvollerweise in die bewährte Buchreihe mit dem Titel „Leben lernen“ (Band 105) hinein. Das besagt: Strenggenommen, wendet es sich an beide, an psychosomatisch orientierte Ärzte und Therapeuten, aber auch an jeden, der sich neue Möglichkeiten des Leben-Lernens erschließen will. Und dies wird hier durch zwei erfahrene Autoren vermittelt: Siegfried Gröninger ist Facharzt für psy­chotherapeutische Medizin, seine als Coautorin tätige Frau verfügt als Kunst­therapeutin über zwanzigjährige Erfahrung in Meditation und Relaxationstherapie. Darunter ist ein anerkannt effektives, dabei leicht praktizierbares Entspannungs­verfahren mit einem weitreichenden Wirkungsradius zu verstehen.

Die Vorgehensweise lernt man auf einprägsame Weise kennen, indem man dem von den Autoren besprochenen Tonband (Audiocassette) folgt. Dabei wird der Vollzug auf elementare Weise rasch und unkompliziert erlernt. Es geschieht durch leicht nachvollziehbare, organisch aufgebaute Übungen willkürlicher Muskel­anspannung und deren rasch folgende Lockerung. Ein übersichtlich gestaltetes Programm, dessen Anwendungsart sich zwecks Wiederholung ohne Schwierigkeit einprägt.

Diesem Prinzip folgend ist das didaktisch gut gegliederte und aufbereitete Buch gestaltet. Weil es von der ersten Seite an die persönliche Erfahrung der Autoren zur Geltung bringt, kommt das Gefühl, daß man ein Fachbuch liest, erst gar nicht auf. Eingehend werden die nachgewiesenen Wirkungen geschildert. Zu den Anwen­dungsbereichen gehören funktionelle und vegetative Störungen, u. a. Kopf­schmerzen, Schlafstörungen, Hypertonie, Rückenschmerzen, depressive Ver­stimmungen, insbesondere wenn sie mit Angst und Spannung verbunden sind, nicht zuletzt Folgen von Streß aller Art. Schon von daher ergibt sich, daß die progressive Relaxation ein weites Feld abdeckt. Entsprechend breit ist die Integrationsfähigkeit dieser Technik in den Rahmen tiefenpsychologischer wie verhaltenstherapeutischer Psychotherapien.

Man wird über den mittlerweile fortgeschrittenen Stand der Forschung infor­miert, und - dies geht ebenfalls speziell an die Adresse der Fachleute - der Honorier- barkeit bzw. der Abrechnungsmöglichkeit dieser Behandlungsart ist entsprechend breiter Raum gewidmet, und zwar bis hin zu ethischen Aspekten bei der Honorargestaltung.

Besondere Aufmerksamkeit darf das abschließende Kapitel beanspruchen, das Zusammenhänge der progressiven Relaxation und der Meditation behandelt. Wer therapeutisch oder meditativ mit der Relaxation Response umgeht, der stellt sich in eine große spirituelle Tradition hinein. Daß die Verfasser ihre Behandlungsweise nicht allein als eine bloße „Technik“ begreifen, daß sie z.B. den aus der buddhisti­schen Überlieferung geläufigen Begriff der Achtsamkeit anwenden, ohne sich jedoch auf ein einziges religiöses Bekenntnis festzulegen, ist ein charakteristisches Indiz ihrer Vorgehensweise in Übungsanleitung und theoretischer Grundlegung. Daher die Empfehlung, die praktische Anwendung im Alltag so zu gestalten, daß auch der geistige Hintergrund der Menschheitserfahrung transparent wird. Darauf deuten abschließende Betrachtungen hin, etwa:

„Wir beschwören also im Loslassen der bisherigen kausalen Abläufe und Gewohnheiten die geheimnisvollen Kräfte der Koinzidenz und des Geschickes.

95

Buchbesprechungen

Dieses Wort kommt von schicken, wie Koinzidenz etwas mit zusammenfallen, Zufall zu tun hat. In viele solche Übungswege läßt sich progressive Relaxation wun­derbar einfügen: Zuerst loslassen und eintauchen in die tiefere Schicht unserer Persönlichkeit. Danach eine der regelmäßigen Übungen als Kontrapunkt zu dem heutigen Streß, der bekanntlich zu viel Energie verschleudert. . . . “

Mit einem Satz: den beiden in medizinischer wie in therapeutisch-spiritueller Hinsicht kompetenten Autoren ist ein aktuelles Buch gelungen, das in diesem Doppelbereich menschlicher Existenz Orientierung, Hilfe und Geleit zu geben ver­mag.

Gerhard Wehr

June Campbell, Göttingen, Dakinis und ganz normale Frauen. Weibliche Identität im Tibetischen Tantra, Theseus 1997, 320 S.

Eine langjährige Insiderin des tibetischen Buddhismus hat ein Buch über weibli­che Identität im tibetischen Tantra geschrieben. Drei faszinierende Themen: Frauen, Tibet, Tantra. June Campbells Thesen verstören und machen nachdenklich. Auch wenn man ihre teilweise radikalen Thesen nicht alle teilen mag, ihr Buch ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einer dringend notwendigen kulturkritischen Rezeption des tantrischen Buddhismus im Westen. Die Engländerin lebte Anfang der Siebziger als Übersetzerin für ihren tibetischen Lehrer in Nordindien und begleitete ihn auch auf seinen Reisen in den Westen. Einige Jahre lebte sie als seine geheime Gefährtin. Nach Jahren des Stillschweigens reflektiert sie ihre Erfahrungen und untersucht die soziale Rolle von Frauen und Männern im tibetischen Buddhismus und die religiöse Philosophie, die diesen Rollen zugrunde liegt. Die Brisanz des Buches liegt vor allem in einer sehr grundsätzlichen Kritik am tibeti­schen Tulku-System, in dem „die Idee des erleuchteten männlichen Subjekts propa­giert wurde“ und das die durchgängige Benachteiligung der Frauen im religiösen Leben zur Folge hatte. Anschaulicher Bestandteil dieser Kritik ist eine Beschreibung ihrer Zeit als geheime Gefährtin eines offiziell zölibatär lebenden Lamas. In der öffentlichen Rezeption des Buches wird dieser Aspekt so sehr in den Vordergrund gestellt, daß die vielen klugen und gründlichen Analysen anderer Aspekte ganz unverdient in den Hintergrund treten.

Sehr lesenswert ist der gründliche Überblick über unterschiedliche feministische und psychoanalytische Ansätze zur weiblichen Identität im allgemeinen und im Buddhismus im besonderen. Neu dürfte selbst für Kennerinnen des tibetischen Buddhismus das „weibliche“ Vorleben des bekannten männlichen Bodhisattva Avalokiteshvara als Lotusgöttin Manipadma sein. Spannend und informativ sind die Recherchen über schamanische und Bön-Einflüsse auf die religiöse Praxis in Tibet und eine differenzierte Zusammenfassung der Haltungen klassischer Orientalisten und moderner Tibetforscher. Man merkt schon auf den ersten Seiten, daß das Buch aus der Feder einer gebildeten Europäerin stammt, die gerne nachdenkt. Theo Kierdorf und Hildegard Höhr haben das Buch in ein gut lesbares flüssiges Deutsch gebracht.

96

Buchbesprechungen

Zwei Einwände werden immer wieder gegen das Buch vorgebracht. Zum einen der etwas altmodische Vorwurf der persönlichen Betroffenheit, die eine objektive Analyse behindere. June Campbell schreibt als Frau, die ihre geheimgehaltene sexu­elle Beziehung zu ihrem Lehrer heute als Mißbrauch interpretiert. Vielleicht gibt das ihrem Blick die Schärfe, die es braucht, überkommene und liebgewordene Idealisierungen fallenzulassen und zu sehen, was ist. Der zweite, geradezu klassische Vorwurf lautet, sie schütte das Kind mit dem Bade aus. Ihre Kritik sei zwar ordent­lich und gerechtfertigt, was die Rolle der Frau angehe, schieße aber insofern über das Ziel hinaus, als alle patriarchalen Verzerrungen die Essenz der Lehren nicht tangier­ten. Das klingt wie ein Echo der späten Siebziger, als die Linke die Frauenfrage als Nebenwiderspruch abtat. June Campbell gibt den Frauen Denkanstöße und Argumentationshilfen, die sich nicht geschlossenen Auges auf den Weg zur Befrei­ung und Erleuchtung machen wollen, sondern die sozialen Strukturen und symbo­lischen Systeme und Werte des Buddhismus vor dem Hintergrund ihrer westlich demokratischen und humanistischen Werte genau unter die Lupe nehmen wollen.

Sylvia Wetzel, Jütchendorf

Ingrid Riedel: Träume - Wegweiser in neue Lebensphasen. Kreuz Verlag, Stuttgart, 1997, 199 Seiten.

In diesem kompakten, dicht geschriebenen Buch beschreibt Ingrid Riedel Träume in ihrem Wandlungspotential. Dabei wird das Konzept der Lebensphasen zugrunde gelegt, wie es in der Entwicklungspsychologie entwickelt wurde. Frau Riedel bezieht sich auf Autoren wie Erikson und Guardini, aber auch auf Jungs Konzept des Individuationsprozesses. Sie befragt Träume nach ihrem Potential, Wegweisung für Schwellensituationen in neue Lebensphasen hinein zu geben. In solchen Träumen erscheinen oft Symbole des Überganges, wie sie auch aus Ritualen für Schwellensituationen bekannt sind. Hier wirkt die ,transzendente Funktion' der Psyche (Jung), die neue Form für bisher Unvereinbares findet und so von der Unerschöpflichkeit und grenzenlosen Kreativität des Lebensprozesses kündet.

Der größte Teil des Buches stellt Träume der verschiedenen Lebensschwellen vor, von der Adoleszenz bis hin zur abschiedlichen Phase des hohen Alters. Die Träume zeigen an, was jeweils bevorsteht, was zurückgelassen werden muß und was zu ent­wickeln ist. Der Schwerpunkt kann dabei ganz verschieden sein: von konkreten Änderungen, die im äußeren Leben vollzogen werden müssen, über innere Einstellungsänderungen bis hin zu Bildern, wie die vom ,gütigen Todesengel', die ganz direkt in die Transzendenz hinüberweisen, sprechen sie jedoch immer von der Notwendigkeit des Loslassens alter Selbstkonzepte und dem Verwirklichen neuer Stufen der Integration. Sehr gelungen empfinde ich darin, wie durch die je individu­elle Ausgestaltung von Lebensweg und Entwicklungsaufgabe der allgemeine Charakter der Lebensphase und deren Erfordernisse durchscheinen und verständ­lich gemacht werden.

Ingrid Riedels liebevolle Deutungen führen uns beim Lesen mit leichter Hand in die Lebens- und Seelenlandschaft des Träumers oder der Träumerin hinein und ver-

97

Buchbesprechungen

mitteln ein tiefes Verständnis der Wandlungsbewegung, die sich hier vollziehen will. Es ist ein ermutigendes Buch: Die Deutungen zeigen, daß die Träume in jeder Situation, mag sie auch noch so verzweifelt erscheinen, die gute, sinnvolle Lösung bringen wollen und können. Die Träume sprechen davon, wie sich das Spirituelle im Leben dieses Menschen verwirklichen und ausdrücken will, und zeigen die jeder Lebensphase gemäße Form und Möglichkeit dafür an. Hier werden Bilder der Transzendenz sichtbar, nicht wie sie gesucht und geschult werden in spiritueller Übung und Meditation, sondern wie sie aus dem Leben selbst erwachsen, auch unabhängig vom Lebensalter, obwohl sie mit zunehmender Reife häufiger erschei­nen. Werden die Träume beachtet und die Lebensübergänge, von denen sie künden ernstgenommen und bestanden, ist dies letztlich eine ,Ars moriendi': Die lebenslan­ge Einübung in Abschied, Wandlung und Neuwerdung, die ,Kunst der Transzen­denz'. Mit diesem Hinweis auf den alten Schulungsweg unserer Vorfahren schließt das Buch, das ich als einen rechten Führer zum Erlernen der eigentlichen Lebenskunst' bezeichnen möchte.

Ulla Heist, Vogt

Monika Flückiger Schüepp, Die Wildnis in mir. Mit Drogenabhängigen in den Wäldern Kanadas. Sandmann Verlag, Alling, 1998, 280 Seiten.

Aus erster Hand erhalten wir hier einen Einblick in die engagierte therapeutische Arbeit mit Drogenabhängigen. Die Autorin beschreibt ihre Erfahrungen als Leiterin eines Therapieprojekts, das drogenabhängige Jugendliche während 15 Monaten begleitet. Kernstück dieser Arbeit - und damit Zentrum des Buches - ist der drei­monatige Aufenthalt in den Wäldern Kanadas. Der erzählende Teil schildert in der Form eines Tagebuchs das Leben in der Wildnis: den Alltag in einer Extremsituation, welche die Gruppenteilnehmer zu Wachheit und Eigeninitiative herausfordert. Kursiv gedruckte Textstellen unterbrechen den Fluß der Erzählung. Sie kommentieren und reflektieren das Geschehen und geben die Therapiekonzepte bekannt, welche hinter bestimmten Entscheidungen und Interventionen stehen. Ein zweiter Teil des Buches ist allein dem „theroretischen und praktischen Wissen und Können“ gewidmet, in dem Flückiger ihre reiche, langjährige Erfahrung zusammenfaßt und weitergibt. Das Buch schließt mit einem interessanten Nachwort aus dem psychologischen Institut der Universität Basel, welches das beschriebene und andere entsprechende Projekte wissenschaftlich begleitet hat. Das Buch Flückigers zeichnet sich aus durch die Verbindung von großer Praxisnähe mit gründlicher und differenzierter Reflektiertheit. Mit wachen, äußeren Sinnen werden die Menschen und Umstände wahrgenommen und zugleich immer auch von innen gesehen und erkannt. Das Prinzip des erlebnistherapeutischen Ansatzes, durch die Konfrontation mit den elementaren Gesetzen der Wirklichkeit zum Leben zu erwa­chen, ist noch zu wenig bekannt. Sich durch die Unausweichlichkeit der ganz kon­kreten Gegebenheiten und durch die Verbindlichkeit und Gesetzmäßigkeit des gemeinschaftlichen Zusammenlebens „belehren“ zu lassen und dadurch wieder ins Gleichgewicht zu kommen und heil zu werden, das ist letztlich auch eine wesent-

98

Buchbesprechungen

liche spirituelle Praxis! Darum ist dieses Buch nicht nur für den Praktiker, der mit Drogenabhängigen therapeutisch arbeitet, von großem Wert, sondern auch für jeden, der diesem Impuls in seiner therapeutischen und spirituellen Arbeit Gewicht geben will.

Dr. Rudolf Hämmerli, Thun

Bei der Redaktion eingegangene weitere Neuerscheinungen:

Thich Nhat Hanh: Nimm das Leben ganz in deine Arme, Theseus-Verlag,Fumon S. Nakagawa: ZEN - Weil wir Menschen sind, Theseus-Verlag,Rudolf Walter (Hrsg.): Laß Dir Zeit, Entdeckungen durch Langsamkeit und

Ruhe, Herder Spektrum, Band 5006,Norman Vincent Peale: Dazu bestimmt, mit den Sternen zu reisen; Visionen, die

das Leben beflügeln, Herder Spektrum, Band 5004,Eugen Drewermann: Zeiten der Liebe, Herder Spektrum, Band 5012,Antoine de Saint Exupery: Man sieht nur mit dem Herzen gut, Herder Spektrum, Band 5005,Anselm Grün: 50 Engel für das Jahr, ein Inspirationsbuch, Herder Spektrum,

Band 5003,Volker Friebel: Schlüssel in kleine Hände, Phantasiereisen, Geschichten und

Vorstellungsübungen für Kinder, Herder-Verlag,Gertraud Meinel: Magischer Mond, Mythos, Märchen und Mirakel, Edition

Herder,Walter von Lucadou, Manfred Poser: Geister sind auch nur Menschen. Was steckt

hinter okkulten Erlebnissen? Ein Aufklärungsbuch, Herder Spektrum, Band 4562, Frederik Hetmann: Siddhartas Weg, Die Geschichte vom Leben und der Lehre

des Buddha, Herder Spektrum, Band 4594,Dalai Lama: Tod und Unsterblichkeit im Buddhismus, Über die Buddha-Natur,

Herder Spektrum, Band 4555,Udo Becker (Hrsg.): Lexikon der Astrologie, Herder Spektrum, Band 4596, Carole Potter: Wie man die schwarze Katze streichelt, Glücksmagie von A-Z,

Herder Spektrum, Band 4560,Lawrence Le Shan: Vom Sinn des Meditierens, Herder Spektrum, Band 4615.

99

Tagungen

Tagungen

Basler Psychotherapietage, 21. bis 23. Mai 1998Sinn und Unsinn der Psychotherapie; Kongreß für Fachleute und Laien;Vorträge, Seminare und Workshops mit: Gabrielle St. Clair und Michael Plesse, Ruth Cohn, Rüdiger Dahlke, Joachim Galuska, Karl Geck, David Gilmore, Alfried Längle, Tilmann Moser, Henning von der Osten, Rainer Pervöltz, Ingrid Riedel, Christian Scharfetter, Peter Schellenbaum, Berthold Ulsamer, Martin Vosseler, Paul Watzlawick, Caecilia Weber-Ebeling, Jürg Willi, Edith Zundel. Anmeldung und Information: perspectiva, Bahnhofstr. 63, CH-4125 Riehen 1, Tel.: 0041 61 641 64 85, Fax: 0041 61 641 64 87, Internet: http://www.perspectiva.ch

Transpersonale Psychotherapie und Meditation, „Der Alltag als Übung“ Internationale Tagung in Todtmoos, 15. bis 20. September 1998Referenten: Zentatsu Baker Roshi, Michael von Brück, Joachim Galuska, Pieter Loomans, Anandi Ma, Rüdiger Müller, Norbert Mayer, Jill Purce, Ingrid Riedel, Rupert Sheldrake, Gerhard Wehr, Edith Zundel u.a. Anmeldung und Information: Rütte-Forum, Graf-Dürckheim-Weg 5, D-79682 Todtmoos-Rütte, Tel.: 0 76 74/ 85 11, Fax: 0 76 74/85 61, Internet: www.transpersonal.com/ruette-forum

Dreitägige Konferenz „The Chain of Being as visioned by Ken Wilber“,30. April bis 3. Mai 1998Kontext: Ist ein Consensus in der Philosophia Perennis möglich? Medizin, Psychologie, Biologie, Ökologie, Theologie, Kommunikation, Anthropologie auf dem Weg in das dritte Jahrtausend. Veranstalter: Gilde Living Gestalt & Körper­bewußtsein, Institut für Integrative Erwachsenenbildung. Konferenzort: Integra Zentrum, Maienbergstraße 12, 86424 Dinkelscherben/Oberschöneberg. Call for Papers und Programm: Tel.: 0 82 92-2618, Fax: 0 82 92-32 10, e-mail: LivingNetz @aol.com.

Symposium 98 - Internationale FachtagungVeranstalter und Konferenzort: „Freie gemeinnützige Beratungsstelle für Psychotherapie e.V.“, veranstaltet vom 19. bis 21. Juni 1998 im Haus Steprath/NRW zum Thema „Visionen in der Psychosenpsychotherapie“. „Psychiatrie und Psycho­therapie ... wächst zusammen, was zusammen gehört?“ Referenten: Theo Meisel, Andreas von Wallenberg Pachaly, Anna-Maria Hafers, Elisabeth Aebi. Informa­tionen und Anmeldung: Freie gemeinnützige Beratungsstelle für Psychotherapiee.V., Berliner Allee 32, 40212 Düsseldorf, Tel.: 02 11-8 80 00 99, Fax: 0211 -8 80 0097.

Die Schule für Transpersonale Psychologie und Psychotherapie bietet ab Früh­jahr 1999 eine dreijährige Fort- und Ausbildung in Transpersonaler Psychotherapie an. Adressaten: Hoch- und Fachhochschulabsolventen in helfenden Berufen mit therapeutischer Grundausbildung und an intensiver Selbsterforschung und theoreti­scher Arbeit Interessierte. Einführungswoche: 18.-22. November 1998, Haus Jonathan am Chiemsee. Information: Dr. Ingo Jahrsetz, Wendlingerstraße 32A, 79111 Freiburg, Tel.: 0761-4758 46, Fax: 0761-47 46 46.

100

Die Autoren dieser Ausgabe

Engel, Klaus, Prof. Dr. med. Dr. phil., Jahrgang 1941, Facharzt für Psycho­therapeutische Medizin, tätig in der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik der Psychiatrie Dortmund, Unterricht an der Universität Bochum im Fach Psychosomatik, Praxis im Zen, theoretische und empirische Arbeiten zum meditativen Weg, Buchveröffentlichungen: Meditation, Geschichte, Systematik, Forschung, Theorie.

Galuska, Joachim, Dr. med., Jahrgang 1954, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin und für Psychiatrie, Chefarzt der Fachklinik Heiligenfeld in Bad Kissingen; Gestalttherapie und Integrative Therapie (FPI), Orgodynamik, langjähriger Schüler von Ayya Khema, die ihn zur Lehre buddhistischer Meditation autorisierte.

Heist, Ulla, Dipl.-Päd., Jahrgang 1953, Psychotherapeutin in eigener Praxis, Mitbegründerin des Psychosynthese-Hauses und mitverantwortliche Leiterin der „Lehrkurse in therapeutischer Psychosynthese“. Gesprächspsychotherapie und Psychosynthese. Schwerpunkte: Focusing, spirituelle Traumarbeit, Arbeit mit Krebskranken, Begleitung von Sterbenden, Bewußtseinsforschung.

Marseille, Jeremias, Jahrgang 1962, Benediktiner-Pater in der Abtei Königsmün­ster, Meschede. Ausbildung in Religionspädagogik, Theologie und Logotherapie, seit 1991 Kontakt zur transpersonalen Psychologie in Kalifornien, Meditations­praxis, Leitung von kontemplativen Exerzitien.

Scharfetter, Christian, Prof. Dr. med., Psychiater, tätig in der Forschungsabteilung der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, Schwerpunkte: Psychopathologie, insbesondere bei schizophrenen Menschen, interkulturell vergleichende Psychiatrie, Ethno-Psychotherapie, Bewußtseinsforschung, diverse Veröffentlichungen zur Psychopathologie, Schizophrenie und Meditation, z.B. „Schizophrene Menschen“, „Der spirituelle Weg und seine Gefahren“.

von Tresckozv, Peter, Jahrgang 1936, machte 30 Filme für die ARD zum Thema Umweltschutz, ständiger Mitarbeiter der FAZ und des FAZ-Magazines („Skizzen aus Alaro“), Büchcrillustrationen, Zen-Meditation. Anschrift: Peter von Tresckow, Apartado 56, E-074340 Alaro, Mallorca, Spanien.

Yeomans, Thomas, Ph.D., Jahrgang 1940, Gründer und Direktor des Concord- Institute, zahlreiche Veröffentlichungen in USA, Psychosynthese-Ausbilder in USA und Europa, Entwicklung des „Corona-Prozess“, einer Gruppen-Technik, die die spirituelle Dimension ins Bewußtsein hebt.

Zöbeli, Jürg, Dr. med., Jahrgang 1933, Spezialarzt für Psychiatrie und Psycho­therapie, Psychoanalytiker in freier Praxis in Zürich, Mitbegründer der Schweize­rischen Gesellschaft für Gruppendynamik und Gruppentherapie, Zen- Meditation, Schwerpunkte: Beziehung zwischen Buddhismus und Psychotherapie, Psycho-On- kologie, Buchveröffentlichung: „Hunger nach Sinn“ (zusammen mit Ursula Wirtz).

101

102

Manuskripteinsendungen werden an einen der Schrift­leiter erbeten (s. Impressum).

Für die Zeitschrift werden nur unveröffentlichte Beiträge angenommen, die nicht gleichzeitig an anderer Stelle zur Veröffentlichung eingereicht werden. Mit dem Abdruck des Beitrags erwirbt der Verlag alle Rechte, insbesondere das alleinige und ausschließliche Recht für die Ver­öffentlichung, für die weitere Vervielfältigung und zur Übersetzung für alle Sprachen und Länder.

Das Manuskript sollte klar und übersichtlich sein und durch Zwischenüberschriften gegliedert werden. Die Schriftleitung behält sich das Recht vor, notwendig erscheinende Verbesserungen vorzunehmen.

Das Manuskript ist in zweifacher Ausfertigung maschi­nengeschrieben, möglichst 1/2-zeilig einzusenden. Es sollte maximal 20 Manuskriptseiten nicht überschreiten.

Dem Manuskript ist eine deutsche Zusammenfassung mit dem Umfang von 10-15 Zeilen und ein englisches Summary mit dem englischen Titel der Arbeit beizufü­gen. Im Anschluß an die Zusammenfassungen werden jeweils 3 bis 6 deutsche Schlüsselworte und 3 bis 6 engli­sche Keywords formuliert.

Im Text der Arbeit sind in Klammern Autorenname und Erscheinungsjahr anzugeben, z.B. (Walsh, 1993). Im sel­ben Jahr erschienene Arbeiten des gleichen Autors wer­den durch a, b, c usw. hinter der Jahreszahl gekennzeich­net, z.B. (1992b).Im Literaturverzeichnis werden alle im Text zitierten Arbeiten aufgeführt. Es ist alphabetisch geordnet.

Zeitschriftenbeiträge werden folgendermaßen zitiert: Sämtliche Autorennamen mit nachgestellten Initialen der Vornamen, Erscheinungsjahr in Klammern, Beitragstitel, Name der Zeitschrift in der gültigen Abkürzungsform, Band- und Seitenzahl. Beispiel: Walsh, R. (1993): The Transpersonal Movement: A History and State of the Art. The Journal of Transpersonal Psychology 25, 123-139.Bücher werden folgendermaßen zitiert: Sämtliche Auto­rennamen mit nachgestellten Initialen der Vornamen, Erscheinungsjahr in Klammern, vollständiger Buchtitel, Verlag, Verlagsort. Beispiel: Wilber, K. (1988): Die drei Augen der Erkenntnis. Kösel, München.

Zur Leserinformation sind folgende Angaben sinnvoll: Geburtsjahr, Titel, Beruf und gegenwärtiges Tätigkeits­feld, Funktionen wissenschaftlicher, beruflicher oder politischer Natur, Interessenschwerpunkte und Hin­weise auf eigene Publikationen.

Hinweise für Autoren:

Allgemeines:

Gestaltung:

Form und Umfang:

Zusammenfassungen:

Literatur:

Informationen über den Autor:

Einladung zu einem Abendseminar des Verlages Via Nova:

Thema:

Abendseminar mit Drs. Arnold und Amy Mindell in FRANKFURT (M.)in Zusammenarbeit mit dem „Frankfurter Ring"

Die Psychologie im 21. JahrhundertKonfliktarbeit, Spiritualität und Psychologie Vortrag - Gespräche - Übungen

Frankfurt (M.) Dienstag. 12. Mai 1998 - 19.30 Uhr, Ende: gegen 22.00 UhrStadtteil Bonames, Zentrum am Bügel, Ben-Gurion-Ring 110 a

Arnold Mindell. 1940 in New York geboren, Magister der Physik. Dr. der Psychologie, Aus­bildung und Diplom in Analytischer Psychologie am C.G. Jung-Institut in Zürich.Die Entdeckung, daß Träume und Körpersymptome dieselbe Wahrheit ausdrücken wollen, führte zu seiner „Traumkörperarbeit“ und schließlich zur Gründung der Forschungsgesell- schaft für Prozeßorientierte Psychotherapie.Der Autor von 14 Büchern arbeitet als Analytiker, spiritueller Lehrer und Seminarleiter in allen Erdteilen mit Gruppen und Großgruppen über soziale und globale Konflikte. Bezie- hungs-, Welt- und Umweltprobleme.Wie sollen wir Menschen an der Schwelle zum dritten Jahrtausend unsere gigantischen Pro­bleme lösen? Ausgehend von seinen Erfahrungen in der psychotherapeutischen und supervi- sorischen Arbeit mit Einzelnen und Gruppen in vielen Teilen der Welt hat Arnold Mindell Ansätze für eine Methode entwickelt, die zukunftsweisend sein wird. Welche Antworten wird die Psychologie im 21. Jahrhundert geben?

Seminarbeitrag: 40 - DM (Ermäßigung 30 - DM) • Kartenvorverkauf beim Verlag VIA NOVA. Neißer Str. 9.36100 Petersberg. Fax (0661) 62973

oder beim „Frankfurter Ring". Kobbachstraße 12,60433 Frankfurt,Telefon: 069/511555, Fax: 069/51 2220

Vorankündigung:Abendseminare mit Pater Willigis Jäger (Roshi) und Barbara Schenkbierin Berlin (2.11.1998). Düsseldorf (4.11.1998).

Osnabrück (3.11.1998) München (5.11.1998)

Thema: „Schritte in die mystische Erfahrung, Stufen zur Erleuchtung“

Bücher aus dem Verlag Via Nova:

Das Enneagramm der GesellschaftDie Übel der Welt, das Übel der Seele. Claudio Naranjo168 Seiten, gebunden. 10 Zeichnungen - ISBN 3-928632-37-X

Das Wissen um die Tiefenstrukturen der Seele mit Hilfe des Enneagramms führt zur Erkenntnis des eigenen Charakters mit seinen Stärken. Schwächen und verborgenen Potentialen. In diesem Buch weist Claudio Naranjo - Arzt,Psychiater, weltbekannter Bewußtseinsforscher und Therapeut - nach, daß die Mißstände der Welt in den Übeln unserer Seele begründet liegen.

Es werden dabei folgende Themen behandelt:• Das Enneagramm als Landkarte der Übel, Sünden und grundlegenden Leidenschaften in der indi­

viduellen Psyche sowie die Beziehungen zwischen diesen Übeln und den Krankheiten der Seele.• Eine detaillierte Beschreibung der Störungen der Persönlichkeit oder Charakterneurosen, die sich

aus jeder einzelnen dieser Übel oder krankhafter Zustände ableiten lassen.• Eine Diskussion der Verwirrungen der Liebe, die jedem einzelnen dieser menschlichen Charaktere

des Enneagramms zu eigen sind.• Eine Betrachtung eines möglichen „Enneagramms der Gesellschaft" als eine kurze sozialkritische

Abhandlung aus der Perspektive der psychischen Krankheiten des individuellen Charakters.

Durchs Herz zur SeeleVom alten Paradigma ins Neue

Margret Rueffler136 Seiten, gebunden - ISBN 3-928632-34-5

Was ist das Neue, das uns erwartet? Wie sieht die neue Realität aus?Durchs Herz zur Seele vermittelt eine neue innere Haltung, die von unserer alten, begrenzenden Lebensweise zu neuen Werten und damit zu einer neu­en Lebenseinstellung führt. Diese neue Sicht erlaubt es, die Seele, „das Selbst“, als spirituelle Mitte des Menschen und seiner Persönlichkeit zu würdigen und ihr in der Psychologie den ihr gebührenden Platz wieder ein­zuräumen. Dieses Buch ist für alle diejenigen geschrieben, die eine neue Psychologie suchen und am eigenen Wachstum durch Selbsterfahrung inter­essiert sind. Durch sorgfältig aufeinander aufgebaute Übungen mit begleitenden Beschreibungen der Erfahrungen von Übungsteilnehmerlnnen werden die neuen psychologischen Prinzipien darge­stellt. Der/die Leserin wird liebevoll zum Entfalten der eigenen Herzensqualitäten angeregt. Dies führt zum Erkennen des „Ich bin ein Selbst” als Wesensmitte und zum Erleben des unermeßlichen Potentials des Menschen. Durchs Herz zur Seele vermittelt die Werkzeuge, die alten Glaubens- muster. die unsere Lebensqualität bestimmen und uns an die Angst binden, wahrzunehmen, sich ihnen liebevoll zuzuwenden und sie gehen zu lassen. Dadurch kann ein neuer Bewußtseinszustand entstehen und die Erkenntnis wachsen, daß wir in Liebe gehalten sind.

Öffne dich dem TrostMeditationen und Mandalas für die Trauerzeit Angelika und Michael Kuhn48 Seiten. 22 vierfarbige Mandalas, gebunden - ISBN 3-928632-35-3

Dieses Buch wendet sich mit meditativen Texten und wunderschönen Aqua­rell-Mandalas an Menschen, die sich von einer geliebten Person an der Schwelle des Todes verabschieden und dann ihren schmerzlichen Verlust verkraften müssen. Menschen, die sich dem Gedanken aufgeschlossen haben, daß das Sterben nicht nur Teil des Lebens, sondern dessen spiritueller Höhe­punkt ist. können im bewußten Erleben von Abschied und Trauer ein großes eigenes spirituelles Wachstum erfahren. Eine meditative Versenkung in die Texte ermöglicht das „Loslassen" und stellt eine innere Offenheit her. in der der Trost als Geschenk empfangen werden kann. Jeder Text bringt eine andere Saite der Abschieds­gefühle zum Schwingen, und zu jedem gibt es ein Mandala, das ebenso zur Meditation einlädt. Die Beschäftigung mit der uralten Ausdrucksform von Mandalas kann zusammen mit dem Hören von sanfter Musik Bewußtseinsveränderungen herbeiführen. Die einfachen, klaren Bilder können auch Anregung sein, sich selbst mit der Gestaltung von Mandalas zu befassen, um daraus noch mehr Kraft zur Bewältigung der verschiedenen Phasen des Trauerprozesses bis hin zum Annehmen des Verlusts und zum Getröstet-Sein zu schöpfen.

Dreißig Schritte, um absolut jedes Problem zu lösenChuck Spezzano120 Seiten, gebunden - ISBN 3-928632-33-7

Dies ist ein Buch für Menschen, die sich nicht mit ihren Problemen abfin- den wollen. Ein Buch, das dem Leser zu erkennen hilft, daß jedes Problem eine Chance für persönliches Wachstum in sich birgt. Ein Buch, das den Leser zu seiner eigenen Kraft und zu jenem Urvermächtnis von Wahrheit,Wandlung und Wundern zurückfinden läßt, das uns allen innewohnt. In sei­ner ebenso liebevollen wie leicht verständlichen Sprache erläutert Chuck Spezzano nicht nur die wichtigsten Kräfte, die immer wieder bei der Ent­stehung von Problemen am Werke sind, sondern auch die entsprechenden Heilungsprinzipien, mit denen jedes Problem ganz einfach aufgelöst werden kann. Praktische Übungen lassen den Leser über das rein intellektuelle Verstehen hinausgehen und ihn die jeweiligen Prinzipien selbst erfahren. Dieses Buch möchte den Leser auf seinem Weg begleiten, ihm ein treuer Freund und Gefährte sein, der immer zur Hand ist. wenn man ihn braucht.

Der Weg durch den SturmWeltarbeit im Konfliktfeld der Zeitgeister Arnold Mindell248 Seiten, gebunden - ISBN 3-928632-29-9

Wie sollen wir Menschen an der Schwelle zum dritten Jahrtausend unsere gigantischen Probleme lösen? Ausgehend von seinen Erfahrungen in der psychotherapeutischen und supervisorischen Arbeit mit Einzelnen und Gruppen in vielen Teilen der Welt hat Mindell Ansätze für eine Methode entwickelt, welche Lösungen nicht von außen überstülpt, sondern Gruppen und Großgruppen dabei unterstützt, sich selbst kennenzulernen und bisher unterdrückte oder übersehene Teile als Ressourcen für den Umgang mit ihren Schwierigkeiten und zur Entwicklung von Gemeinschaft zu nutzen.Wie können Betroffene dabei unterstützt werden, aus ihrem Prozeß und ihrem jeweiligen Feld her­aus Zugang zu den eigenen Potentialen von Führungskraft und Weisheit zu finden? Dieses Buch schildert Schritte auf dem steinigen Weg der Suche nach einer neuen „Weltarbeit", welche Erkennt­nisse aus der Psychologie, den modernen Naturwissenschaften und den alten spirituellen und scha­manistischen Traditionen zusammenbringt, um den Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen.

Wir sind alle einsDie Bestätigung der mystischen Erfahrungdurch die Vernunft

Anton Neuhäusler160 Seiten, gebunden - ISBN 3-928632-27-2

Wie kann man als naturwissenschaftlich geprägter, aufgeklärter, moderner Mensch über Dinge reden, die unser Erkennen übersteigen? Letzte Sinn­fragen kann die Wissenschaft nicht beantworten. Doch als nachdenkende Wesen können wir sie nicht verdrängen, wollen und müssen wir darüber reden: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was kommt nach dem Tod?Was ist der Mensch? Was ist der Kosmos? Das Buch stellt sich diesen Fragen auf einer philosophisch, naturwissenschaftlich und argumentativ anspruchs­vollen Ebene. Es sollen die Gesetze der Logik und Vernunft gelten, und das Hinhören auf die eigene Erfahrung. Der Autor und sein Werk zeigen eine Weltanschauung, die gekennzeichnet ist von kriti­schem Geist und dennoch offen ist für letzte Fragen und Einsichten: Das „Ursein“ ist philosophisch begründbar. Es gibt eine kosmische Religiosität ohne Grenzen und Begrenzung. Die Regeln des strengen Denkens bestätigen die von den Mystikern erlebte Wahrheit des Einsseins: „Wir sind alle eins". Es gibt eine Mystik der Vernunft, die re-ligio/Spiritualität/Seinsgeborgenheit des freien, kriti­schen, liebenden, lust- und lebensvollen Menschen.