Trauma und geistige Behinderung Fachtagung Barmherzige Brüder Algasing am 19.4.2012

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Trauma und geistige Behinderung Fachtagung Barmherzige Brüder Algasing am 19.4.2012 Klaus Hennicke Trauma und geistige Behinderung Zugänge zu einem bedrückenden Thema

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Trauma und geistige BehinderungFachtagungBarmherzige Brüder Algasing am 19.4.2012

Klaus Hennicke

Trauma und geistige Behinderung

Zugänge zu einem bedrückenden Thema

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Gliederung

1. Was ist ein Trauma? Trauma ist mehr als Stress!

2. Bedrückendes Thema: Menschen mit geistiger Behinderung und ihre hohen Risiken der Traumatisierung

3. Symptomatik der posttraumatischen Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung

4. Spektrum der Traumafolgestörungen5. Diagnostik und therapeutische Strategien6. Schlussfolgerungen für Psychiatrie und

Behindertenhilfe

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Stress!

Bei jeder körperlichen oder seelischen Belastung kommt es zum (automatischen, angeborenen) Ablauf vegetativer Reaktionsphasen des Organismus = Stressreaktion als Anpassungsleistungen des Organismus an die Belastungen

Entdeckt in den 1930er von Hans Selye (1907-1982), weltberühmter österreichisch-kanadischer Mediziner Lehre vom Anpassungs- oder Adaptationssyndrom des Körpers auf erhöhte Belastungen („Stresskonzept“, „Stressmodell“)

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Trauma ist mehr als Stress!

Stress/Belastung Körper und Seele reagieren (aktivieren sich) auf die Anforderungen, dabei zwei grundsätzliche Möglichkeiten:

1. Ich stelle mich der Herausforderung und mobilisiere Kräfte, diese zu bewältigen („Kampf“)

2. Ich stelle mich nicht der Herausforderung und mobilisiere Kräfte, mich irgendwie davor zu drücken („Flucht“)

Ich habe Handlungsmöglichkeiten, damit umzugehen! („Anpassung“)

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Trauma ist mehr als Stress!

Disstress Körper und Seele reagieren (aktivieren sich) andauernd auf Anforderungen, die ich letztlich nicht oder nur unzureichend bewältigen kann:

1. Ich muss ständig „kämpfen“ ohne wirklich zu „gewinnen“.

2. Ich versuche ständig zu „fliehen“ ohne den Anforderung wirklich zu „entkommen“.

Ich habe zwar Handlungsmöglichkeiten, ohne aber wirkliche Bewältigungschancen! („Unzureichende Anpassung“ F43.2 Anpassungsstörung)

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Trauma ist mehr als Stress!

Trauma Körper und Seele werden übermäßig aktiviert, ohne die Situation bewältigen zu können,

1. … weil das Ausmaß der Bedrohlichkeit /Gefährlichkeit extrem ist

2. … weil ich keine (wirklichen) Chancen habe, mich dagegen zu wehren („schutzlos ausgeliefert“)

Ich habe keine Handlungsmöglichkeiten, damit umzugehen! (keine „Anpassung“!)

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Das bedeutet

1. Weder kämpfen noch fliehen können (sog. „traumatische Zange“) Erstarrung (Konstriktion)

2. Andauernde, fortwährende Aktivierung von Körper und Seele („Hyperarousal“, übermäßiges Erregungsniveau)

3. Situation/Ereignis verbleibt unverändert/ unverarbeitet in der Seele („Intrusion“)

Seele und Körper sind nicht mehr ausreichend und nur sehr wechselnd in der Lage, auf die innere seelische und körperliche Situation Einfluss zu nehmen (Regulationsstörung)

Kernsymptomatik der posttraumatischen Belastungsstörung

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Der Terror im Kopf Der Terror im Kopf bleibtbleibt

TriggerbareTriggerbare, , dh. durch dh. durch spezifische spezifische Reize Reize auslösbare auslösbare Erinnerungs-Erinnerungs-fragmente und fragmente und Handlungs-Handlungs-muster muster FlashbacksFlashbacks

Folie: Lutz Besser, 2007

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Bedrückendes Thema

Das hohe Risiko von Menschen mit Intelligenzminderungstark belastenden, oftmals mit Gewalt verbundenen Situationen ausgesetzt zu sein, unddadurch traumatisiert zu werden!

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Prävalenz von Misshandlung und Missbrauch bei Menschen mit geistiger Behinderung

Life-time Prävalenz 90% (REYNOLDS 1997) 39-68% der Mädchen und 16-30% der Jungen werden vor

ihrem 18. Geburtstag sexuell mißbraucht (SOBSEY 1994) nahezu 100% der männl. und weibl. Heimbewohner (ZEMP

2002) 69% der Erwachsenen 75% der Kinder des ambulanten

Klientels (SINASON 1993) 14,3% des Klientels eines ambulanten Dienstes für Kinder

und Jugendliche waren als Opfer und als Täter in sexuellen Mißbrauch verwickelt (21 Opfer, 6 Täter, 16 beides) (FIRTH et al. 2001)

Dunkelziffer 1:30 (d.h. nur ein Fall von 30 Mißhandlungsfällen bei Menschen mit geistiger Behinderung wird bekannt) (THARINGER et al. 1990)

Nur die krassesten Vorfälle in Einrichtungen werden berichtet (MARCHETTI & McCARTNEY 1990)

Vgl. auch ZEMP et al., 1997; KLEIN et al., 1998

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Warum ist diese Prävalenz so hoch? (1)

Herabgesetzte Hemmungen der TäterGeringschätzung bis aggressive Abwehr von BehindertenUnterstellung, Behinderte wüssten nicht was mit ihnen passiertHohes Suggestibilität (Strafandrohungen werden strikter befolgt)Behinderte können nicht darüber berichten; ihnen wird auch nicht geglaubtGeringe/fehlende Gegenwehr bei weitgehender Außenorientierung der Behinderten (Objekt/Opferrolle; fehlende eigene Maßstäbe)Nähe-Distanz-Unsicherheit

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Warum ist diese Prävalenz so hoch? (2)

Weitgehende bis totale Abhängigkeit von Betreuungspersonen (Grenzüberschreitungen und Eingriffe in die körperliche und seelische Autonomie sind selbstverständlich und gerechtfertigt) extreme Machtfülle

„Gewalt und Gegengewalt“ in der familiären Erziehung und institutionellen Betreuung („Subkultur der Gewalt“)

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Meinungen zu alltäglicher Gewalt (Michalek, 2000)

Konfliktfall 1: „Der 23jährige geistig behinderte Martin weigert sich regelmäßig zu duschen. Jeden Samstag zwingen ihn zwei männliche Betreuer unter heftiger Gegenwehr dennoch unter die Dusche." (Beurteilung durch MitarbeiterInnen und BewohnerInnen)Konfliktfall 3: „Der 40jährige Thorsten tritt dem Zivi seiner Wohngruppe häufig und mit Absicht schmerzhaft gegen die Schienbeine. Der Zivi hat sich angewöhnt, in gleichem Maße zurückzutreten." (Beurteilung durch MitarbeiterInnen und BewohnerInnen)

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Das Risiko der Traumatisierung bei Menschen mit geistiger Behinderung ist signifikant erhöht, weil… (1)

… Annahme der erhöhten Vulnerabilität(kognitive Beeinträchtigung im Umgang mit Belastungen, Gefahren, Gewalt; Geringe oder fehlende Sprachkompetenz)

… frühe emotionale Beeinträchtigungen(unsichere Bindung, Deprivation, frühe Verlusterfahrungen; unangemessene Erziehung)

… geringe/fehlende schützende Faktoren (Verfügbarkeit/Qualität der sozialen Unterstützung)

… niedriger („früher“) sozio-emotionaler Entwicklungsstand

Vgl. u.a. Voss, 2010; Senckel, 2008; Berger, 2005; Tomasulo & Razza, 2007; Herpertz-Dahlmann, 2008; Streek-Fischer et al., 2009; Mevissen & de Jongh, 2010; Fischer & Riedesser; 1999; Litz & Roemer, 1996; Kapfhammer, 2000

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Das Risiko der Traumatisierung bei Menschen mit geistiger Behinderung ist signifikant erhöht, weil… (2)

… objektiv belastende, unangemessene Lebensumstände (Über- und Unterforderungen, Unverständnis, Diskriminierung, Isolation, Mobbing; „Förderterror“; medizinische Maßnahmen)

… häufig polytraumatisch (multipel und/oder sequentiell und/oder kumulativ auf allen Dimensionen incl. „geringer bewertete“ Belastungen, sog. Mikrotraumen)

… hohes Risiko der Retraumatisierung

… geringes Bewusstsein für die Risiken bei den Betreuungspersonen und professionellen Helfern

… oftmals sehr nahe Beziehung zum Täter

Vgl. u.a. Voss, 2010; Senckel, 2008; Berger, 2005; Tomasulo & Razza, 2007; Herpertz-Dahlmann, 2008; Streek-Fischer et al., 2009; Mevissen & de Jongh, 2010; Fischer & Riedesser; 1999; Litz & Roemer, 1996; Kapfhammer, 2000

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Das bedeutet zusammengefasst …

Menschen mit Intelligenzminderung sind – aufgrund zahlreicher individueller und psychosozialer Bedingungen und Faktoren - einem hohen Risiko ausgesetzt, belastende Erfahrungen zu machen und durch diese Belastungen traumatisiert zu werden.

Diese Risiken sind signifikant höher als bei nicht intelligenzgeminderten Personen

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Symptomatik

der Traumareaktion („Kernsymptome“: Konstriktion, Intrusion, Hyperarousal) und Traumafolgestörungen (zahlreiche Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störungen) und ihre „Gestaltung“ bei Menschen mit Intelligenzminderung

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1. Konstriktion

„Einschnürung“, „Erstarrung“, „Vermeidung“, seelische Lähmung/Betäubung, „Einfrieren“

Vermeidung von Situationen und Reizen, die als bedrohlich empfunden werden und die daraus resultierende psychische Erstarrung

Ausweitung dieser Vermeidungshaltung, um die möglichen Risiken zu verringern

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2. Intrusion

Aufdrängen, Eindringen und Verbleiben unauslöschliche Prägung durch die

traumatische Erfahrung, welche sich in Form von ungewollt aufdrängenden Gedanken und Erinnerungen an das traumatische Ereignis äußert „flashbacks“ oder Nachhallerlebnisse

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3. Hyperarousal

Chronisch erhöhtes (vegetatives und psychisches) Erregungsniveau („ständiger Alarmzustand“) mit

Schlafstörungen (Einschlaf-, Durchschlaf-schwierigkeiten, Albträume),

allgemeinen Angstsymptomen Erniedrigung der Reizschwelle (erhöhte

Schreckhaftigkeit und Lärmempfindlichkeit) Erhöhte motorische Aktivitätsniveau (Unruhe,

Rastlosigkeit bei rascher Erschöpfbarkeit)

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Dissoziation (Trennung und Auflösung zusammen-gehörender Denk-, Handlungs- od. Verhaltensabläufe va. der traumatischen Erlebnisse)Desintegration der persönlichen Identität, des Gedächtnisses, der Wahrnehmung und des Bewusstseins

Derealisation und Depersonalisation (Verlassen des Körpers und der Realität)Auflösung der Einheit von Ich/Person und Umwelt; Entfremdung einer Person gegenüber sich selbst und seiner Umwelt traumhaft-unwirklich; Zuschauer auf sich selbst

Affektregulationsstörung (Erschwerte Möglichkeit, innere gefühlsmäßige Zustände zu kontrollieren)

Weitere posttraumatische Äußerungsformen/ Veränderungen

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emotionale Verarmung oder Abstumpfung, emotionsloses, roboterhaftes Verhalten

Kontakt- und Beziehungsunfähigkeit Rückzug in die eigene Welt („psychose-ähnlich“) körperliche Einengung und Erstarrung („Autistische

Züge“) ausgeprägte Vermeidungsstrategien Haltung der Unentrinnbarkeit in Gewaltsituationen,

absolute Hilflosigkeit, willenloses Opfer(DD: Dissoziation, Derealisation, Depersonalisation)

Konstriktion bei Menschen mit geistiger Behinderung

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Nicht einfühlbare, situationsunabhängige oder durch Reize ausgelöste („getriggerte“) Extrem-verhaltensweisen („Außer-sich-Geraten“)

Verlust der Selbststeuerung und Kontrollverlust Autoaggressionen Reinszenierungen der traumatischen Erlebnisse

(DD: Dissoziation, Depersonalisations-, Derealisationszustände, Affektregulationsstörung)

Instrusion/Nachhallerinnerungbei Menschen mit geistiger Behinderung

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Unruhe, Hyperaktivität bis Erethie

Impulskontrollunfähigkeit

schwere affektive, aggressive Entäußerungen

Schlafstörungen, Schreien

(DD: Konstriktion, Dissoziation, Affektregulationsstörung)

Hyperarousalbei Menschen mit geistiger Behinderung

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… nämlich: Störungen der Selbstregulationsfähigkeitenwirken kumulativ auf die behinderungstypischen Regulationsprobleme (Affekt, Motorik, körperliche Bedürfnisse) (vgl. Sack, 2005; Voss, 2010; Sarimski, 2000; Došen, 2010)

d.h. einige der „behinderungstypischen“ Verhaltensweisen könnten auch Ausdruck einer posttraumatischen Belastungsreaktion sein

Kernsymptomatik der posttraumatischen Reaktionen …

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Traumafolgestörungen

Psychophysische Veränderungen, Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störungen infolge traumatisierender Lebenserfahrungen bzw. erlittener Traumata

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Traumafolgestörungen

Allgemeine Erkenntnisse

1. Es gibt keinen direkten und unmittelbar nachvollziehbaren Zusammenhang zwischen den belastenden bzw. den traumatisierenden Ereignis/sen und den seelischen Kurzzeit- und Langzeitfolgen

2. Folgen sind von zahlreichen objektiven und persönlichen Faktoren abhängig und daher im Einzelfall nicht voraussagbar

3. Es muss von äußerst vielgestaltigen Reaktionsformen mit unterschiedlichen Symptomatiken, Störungsbildern und Langzeitfolgen ausgegangen werden

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Traumafolgen Schwerwiegende Belastungen/Trauma sind grundlegende

Risikofaktoren für psychische Störungen; dabei kann jedes Störungsbild und jede Verhaltensauffälligkeit im Prinzip Folge traumatischer Lebenserfahrungen sein.

Die Störungsbilder und Auffälligkeiten sind daher aufgrund ihrer Vielgestaltigkeit und Komplexität oftmals nicht eindeutig zu diagnostizieren

Die Aussagen gelten auch für Menschen mit geistiger Behinderung!

D.h. eine Vielzahl (30-50%) der ungewöhnlichen Verhaltensauffälligkeiten (z.B. Problemverhalten, Herausforderndes Verhalten o. challenging behavior) könnten auch Folge traumatischer Lebenserfahrungen sein

Dringende Berücksichtigung in der Diagnostik!

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Mod.n.: zptn – Lutz Besser - 2007

Posttraumatische Störungsbilder, Traumafolgestörungen und Komorbiditäten

PosttraumatischePosttraumatischeStörungsbilderStörungsbilder

SuchSuchttAngststörungen

Angststörungen & Phobien / F.40 / 41

& Phobien / F.40 / 41

Persönlichkeits-Persönlichkeits-

Störungen / F 60…

Störungen / F 60…

SomatoformeSomatoforme Störungen /Störungen /F 45. …F 45. …

DissoziativeDissoziative Störungen /Störungen / F. 44. …F. 44. …

Depressive Depressive

StörungenStörungen

PräsuizidalesPräsuizidales Syndrom / Syndrom / SVVSVV

Anpas

sung

s-

Anpas

sung

s-

Stör

unge

n / F

43.

2

Stör

unge

n / F

43.

2

Zwangs- Zwangs- StörungeStörungenn

Ess- Ess- StörungeStörungenn

PTSD / F 43.1

PTSD / F 43.1

ADHSADHS

Kontakt- Kontakt- & & Beziehungs-Beziehungs-Störungen / Störungen / Bindungsst.Bindungsst.

AkuteAkuteBelastungsBelastungs--Reaktion /Reaktion / F 43.0F 43.0

F62.0 Andauernde

Persönlichkeitsveränder

ung nach

Extrembelastung

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Epidemiologie Traumfolgestörungen

Punktprävalenz: 5 - 10% Lebenszeitprävalenz

10 - 18% für Frauen 5 - 10% für Männer

„Subsyndromale“ Störungsbilder (die nicht dem Vollbild der psychischen Störung PTSD entsprechen) sind wesentlich häufiger als PTSD

Komorbide Störungen in 50 - 70%Quellen: Kapfhammer, 2000; Flatten et al. 2001; Hamblen, 2002

Bei Menschen mit geistiger Behinderung: 2,5 – 60% (Mevissen & de Jongh, 2010)

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Warum hat nicht jede schwere oder Extrembelastung tiefgreifende seelische Folgen? Objektive Bedingungen und

Umstände Subjektive Voraussetzungen

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TraumafolgenObjektive Bedingungen

Art und Weise, Dauer, Schweregrad und Brutalität des Missbrauchs/der Gewalt (Körperlich, sexuell, emotional: Ausmaß der Demütigung, Erniedrigung , körperlichen Verletzung, Schmerz, „Todesnähe“)

Häufung traumatischer Ereignisse bzw. Umstände und deren zeitliche Verlaufsstruktur; individuelle Lerngeschichte (frühere Traumaerfahrungen)

Emotionale Beziehung zwischen Täter und Opfer (Angehöriger, Nahestehende Vertrauensperson, fremde Person)

Fischer & Riedesser; 1999; Litz & Roemer, 1996; Kapfhammer, 2000

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TraumafolgenSubjektive Bedingungen

Primärpersönlichkeit: Lebensalter und Entwicklungsstand (je jünger, desto verletzender); Abwehr-, Coping- und Persönlichkeitsstile und deren Wahrnehmungs-/Verarbeitungsmöglichkeiten

das Ausmaß der erlebten Bedrohung und Gewalt Schützende Bedingungen und Faktoren (die die Folgen

abmildern können): Verfügbarkeit und Qualität persönlicher/sozialer Unterstützung; „Erholungs“-Möglichkeiten im Umfeld)

Vorhandensein von Risikofaktoren, die dessen Auswirkungen noch verstärken können ( Menschen mit Intelligenzminderung)

Fischer & Riedesser; 1999; Litz & Roemer, 1996; Kapfhammer, 2000

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Diagnostik der PTSD bei Menschen mit geistiger Behinderung

Es gibt keine speziellen diagnostischen Instrumente! PTSD ist eine klinische Diagnose Symptomatik (spezifische Ausgestaltung) Verhaltensbeobachtung,

Verhaltensanalyse Ausführliche, differenzierte Anamnese

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Diagnostik posttraumatischer Störungsbilder und der Traumafolgestörungen (1)

Nachweis belastender/traumatisierender Lebensereignisse

Einschätzung ihrer Qualität und Quantität

häufig „Einbruch in die Kontinuität der Lebensentwicklung“ und mit nachhaltigen Entwicklungs-blockaden(Sorgfältige Anamnese, Biografiearbeit, „Rehistorisierung“)

Klinisch-psychiatrische Untersuchung (Symptomatologie und ihre „Ausgestaltung“ bei Menschen mit geistiger Behinderung), der zusätzlichen („komorbiden“) Störungen und der Traumafolgestörungen (Exploration und Verhaltensbeobachtung)

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Diagnostik posttraumatischer Störungsbilder und der Traumafolgestörungen (2)

Qualität der Kontaktgestaltung und der Beziehungs-fähigkeiten (z.B. impulsiv, aggressiv; verweigernd, verschlossen)

Beachtung von Übertragungsphänomene

Verhaltensanalyse bei Verdacht auf „Triggersituationen“ (nur möglich in Betreuungskontexten)

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Grundsätzliche therapeutische Strategien bei posttraumatischen Störungen

Stabilisierung (Voraussetzung für alle nächsten Stufen)

Spezielle Traumatherapie („Traumabearbeitung“: manchmal nicht möglich oder auch nicht notwendig!)

Rehabilitation und Re-Integration, Normalisierung

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Stabilisierung

Erhöhung der selbstregulatorischen Möglichkeiten und Fähigkeiten

Selbstberuhigung, Selbstmanagement, Affektwahrnehmung, Sorgsamkeit, Achtsamkeit …

… im Kontext von (personalem) Schutz, Sicherheit, Fürsorge, Pflege, Empathie, Autonomie, Respekt, Akzeptanz ( Reaktivierung alter Tugenden der Fürsorge)

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Kontextgestaltung:Heil-Pädagogische Strategien in der Behindertenhilfe zur Stabilisierung

Beziehungsgestaltung: „eine wohlwollende, Sicherheit spendende Beziehung anbieten“, „brachliegende Ressourcen reaktivieren, neue Kompetenzen aufbauen und das Selbstbild in eine positive Richtung beeinflussen“ (Senckel, 2008), klare überschaubare Strukturen schaffen, Retraumatisierungen vermeiden ( Schaffung eines „sicheren Ortes“; z.B. Luxen, 2011; Kühn, 2011; Saathoff 2011)

Heranführen an angenehme, positive, entlastende Zustände (evtl. mit imaginativen Techniken; Achtung: Nur unter fachpsychologischer Anleitung!)

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Kontextgestaltung:Heil-Pädagogische Strategien in der Behindertenhilfe zur Stabilisierung

Körperliche Stabilisierung (Pflege, Bewegung, Ernährung, Selbstwahrnehmung/“Achtsamkeit“

Lernen, die eigenen Grenzen zu kennen und zu stärken, auch im Sinne von Grenzsetzungen gegenüber versuchten Übergriffen!

Sichtweise der Betreuungspersonen im Alltag (verändern): das auffällige Verhalten ist nicht primär behinderungs-bedingt, sondern …

Intensivbetreuung? Evtl. Einsatz von Psychopharmaka zur

(vorübergehenden) Beeinflussung belastender, störender, schmerzhafter Symptome

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Wichtiger Hinweis:Neuroleptika sind nicht die primäre Option!

Versuch einer rationalen Behandlung!

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Zwingend sind

Multimodale Hilfe- und Unterstützungsangebote von verschiedenen Fachdisziplinen unterschiedlichen Berufsgruppen

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Multimodalität heißt, therapeutisch wirksame Interventionen …

auf verschiedenen Ebenen (Klient, Herkunftsfamilie, Heim-Mitarbeitergruppe, Umfeld)

mit unterschiedlichen Methoden (körperlich-medizinische, psychologische, heil-/sozialpädagogische, soziale)

in verschiedenen Settings stationär in der psychiatrischen Klinik zur kurz-/mittelfristigen

Krisenintervention, Diagnostik, Behandlung und zur Einleitung ambulanter Hilfen

Stationär im Heim zur langfristigen Stabilisierung ( Kontextgestaltung, Traumpädagogik), Intensivbetreuung?

Ambulante (heil-)pädagogische und psychotherapeutische Therapieangebote

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„State-of-the-Art“: TherapieMevissen, L., de Jongh, A. (2010): PTSD and its treatment in people with intellectual disabilities. A review of the literature. Clinical Psychology Review 30 (2010) 308-316

keine empirisch-wissenschaftlich begründeten Behandlungsmethoden für PTSD bei Menschen mit geistiger Behinderung; einige Einzelfall- und Therapieberichte, aber keine Studien

Methoden: Psychopharmakotherapie Kognitiv-behaviorale Therapien EMDR Psychodynamische Konzepte

Empfehlung: Orientierung und Modifikation der Erfahrungen bei nichtbehinderten Klienten

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Aber …

… ermutigende klinische Erfahrungen in allen Kontexten der psychosozialen Versorgung

Verlag der Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V.ISBN 978-3-88617-319-8 17,50 €

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Einrichtung spezialisierter (teil-)staionärer psychiatrisch-psychotherapeutischer Diagnostik- und Behandlungsangebote für Menschen mit Intelligenzminderung(gem. Art.24 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen )

Qualifizierung des ambulanten Angebots Etablierung eines klinisch-wissenschaftlichen Zugangs zu

den seelischen Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung

Einrichtung von Kooperationsangeboten für die Behindertenhilfe „in Augenhöhe“

Bringeschuld der Psychiatrie

Schlussfolgerungen für die Psychiatrie/Psychotherapie

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Schlussfolgerungen für die Behindertenhilfe

Verstärkte Wahrnehmung der außergewöhnlichen Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen mit Intelligenzminderung als Ausdruck innerseelischer Zustände (seelische Störungen, Traumfolgestörungen)

Verstärkte Nutzung interner Ressourcen für den (heil-)pädagogischen und alltagspädagogischen Umgang (Professionalisierung)

Bereitstellung eines „therapeutischen Milieus“ Einleitung externer Hilfen und Vernetzung mit

regionalen Hilfeangeboten ( Intensivierung der Problemanzeigen)

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Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit !