trend Dokumentation zum Wirtschaftstag 2002

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7 t r e nd III. Quartal 2002 WOHLSTAND D eutschland hat kein Erkenntnisdefizit, son- dern ein Umsetzungsdefizit. Wir hören die Forderungen der Experten, unser Land brau- che eine Entlastung von Steuern und Abgaben, von Bürokratie, von Regulierungen. Wir sehen die Bei- spiele von Ländern, die besser mit den Herausforde- rungen der Globalisierung fertig werden als Deutsch- land. Trotzdem handeln wir nicht konsequent danach. Diese Kluft zwischen dem Wissen um die Notwendigkeit von Reformen und der Enttäuschung durch tatsächlichen Stillstand und teilweise Rück- schritt ist ein wesentlicher Grund für die Politikver- drossenheit vieler Bürgerinnen und Bürger in Deutschland. Deshalb geht es darum, den Menschen wieder den Glauben daran zurück zu geben, dass wir gegen die schleichende Erstarrung und Aushöhlung unserer Leistungsfähigkeit nicht machtlos sind. Unsere Botschaft muss sein: Wir können etwas bewe- gen. Wir können Zukunft aktiv gestalten. Quittung für falsche Politik Rot-Grün ist 1998 angetreten mit dem Pro- gramm: „Innovation und Gerechtigkeit“. Schröder hat angekündigt: „Wir werden Deutschland ent- schlossen modernisieren“ (Regierungserklärung vom 10. 11. 98). Tatsächlich haben die vergangenen vier Jahre vielfach Rückschritte gebracht. Rot-Grün hat den Arbeitsmarkt immer weiter verriegelt. Rot-Grün hat die Bürokratielasten nicht vermindert, sondern erhöht. Rot-Grün hat das Steuersystem nicht nur Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident des Freistaates Bayern, Kanzlerkandidat der CDU und CSU Wohlstand für alle muss erwirtschaftet werden Erneuerung in sozialer Verantwortung und im gesellschaftlichen Konsens ...

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trend Dokumentation Wirtschaftstag 05.06.2002

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Deutschland hat kein Erkenntnisdefizit, son-dern ein Umsetzungsdefizit. Wir hören dieForderungen der Experten, unser Land brau-

che eine Entlastung von Steuern und Abgaben, vonBürokratie, von Regulierungen. Wir sehen die Bei-spiele von Ländern, die besser mit den Herausforde-rungen der Globalisierung fertig werden als Deutsch-land. Trotzdem handeln wir nicht konsequentdanach. Diese Kluft zwischen dem Wissen um dieNotwendigkeit von Reformen und der Enttäuschungdurch tatsächlichen Stillstand und teilweise Rück-schritt ist ein wesentlicher Grund für die Politikver-drossenheit vieler Bürgerinnen und Bürger inDeutschland. Deshalb geht es darum, den Menschenwieder den Glauben daran zurück zu geben, dass wir

gegen die schleichende Erstarrung und Aushöhlungunserer Leistungsfähigkeit nicht machtlos sind.Unsere Botschaft muss sein: Wir können etwas bewe-gen. Wir können Zukunft aktiv gestalten.

Quittung für falsche PolitikRot-Grün ist 1998 angetreten mit dem Pro-

gramm: „Innovation und Gerechtigkeit“. Schröderhat angekündigt: „Wir werden Deutschland ent-schlossen modernisieren“ (Regierungserklärung vom10. 11. 98). Tatsächlich haben die vergangenen vierJahre vielfach Rückschritte gebracht. Rot-Grün hatden Arbeitsmarkt immer weiter verriegelt. Rot-Grünhat die Bürokratielasten nicht vermindert, sondernerhöht. Rot-Grün hat das Steuersystem nicht nur

Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident des Freistaates Bayern, Kanzlerkandidat der CDU und CSU

Wohlstand für alle musserwirtschaftet werden

Erneuerung in sozialer Verantwortungund im gesellschaftlichen Konsens

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komplizierter, sondern auch ungerechter gemacht.Entlastet wurden vor allem die Kapitalgesellschaften.Die Arbeitnehmer und der Mittelstand sind dagegenauf der Strecke geblieben. Die Quittung für diesefalsche Politik hat Deutschland mehrfach bekom-men: Spitzenreiter bei der Neuverschuldung desöffentlichen Gesamthaushalts in ganz Europa,Schlusslicht beim Wirtschaftswachstum in Europa,Schlusslicht beim Beschäftigungswachstum, Spitzen-reiter bei den Unternehmenspleiten – diese Schluss-lichtposition hat Deutschland nicht verdient. DieMenschen wollen und können etwas leisten, aber diePolitik setzt nicht die richtigen Rahmenbedingungenund Anreize, sondern richtet Hürden auf undbremst. Auch das schürt Politikverdrossenheit.

Politik muss wieder von Glaubwürdigkeit bestimmt sein

Noch größer allerdings ist die Enttäuschung überden Mangel an Visionen, an Perspektive, anZukunftsorientierung. Unter Rot-Grün ist Politikzum Krisenmanagement verkommen. Der Machter-halt wurde zur obersten Maxime. Schröder selbst hatdavon gesprochen, Rot-Grün sei zu sehr zum „Prag-matiker und Techniker der Macht“ geworden.Deutschland braucht eine Zukunftsoffensive!Deutschland braucht eine Regierung, die sich den

Herausforderungen stellt und unserem Land seinewirtschaftliche und soziale Leistungsfähigkeit zurückgibt! Wir haben nicht ewig Zeit, die Weichen richtigzu stellen. Das Tempo von Wettbewerb und Wandelin der Globalisierung nimmt zu. Nicht alle sind demgewachsen. Der Zuwanderungsdruck nimmt eben-falls zu. Das stellt neue Anforderungen an die Steue-rung der Zuwanderung und an die Integration. Dra-matisch ist aber vor allem die Veränderung der Alters-struktur unserer Bevölkerung. Bereits in 10 bis 15Jahren ist die Hälfte der Bürgerinnen und Bürgerüber 50 Jahre alt. Und es ist absehbar, wann ein aktivErwerbstätiger für einen Rentner aufkommen muss.Bereits heute sind die Rentenkassen leer, die rot-grüne Rentenreform Makulatur und unser Gesund-heitssystem überlastet. Trotz Beitragssteigerungbeträgt das Defizit der Krankenkassen im erstenQuartal bereits wieder über 800 Millionen €. Wirmüssen die Weichen heute stellen – bevor die gesell-schaftlichen Spannungen zu groß werden und dieHandlungsspielräume zu klein. Der Rechtsruck invielen unserer europäischen Nachbarländern sollteuns eine Warnung sein: Wer Problemlösungen auf-schiebt, wer die Sorgen der Menschen nicht ernstnimmt, wer Politik nicht als Zukunftsgestaltung,sondern als Machtspiel begreift, der handelt unver-antwortlich. Die Bürgerinnen und Bürger müssenwieder darauf vertrauen können, dass politischesHandeln auf einem festen Fundament beruht undeiner konsequenten Linie folgt und nicht in Belie-bigkeit oder bloßes Krisenmanagement verfällt. Poli-tik muss wieder von Glaubwürdigkeit bestimmt sein,nicht von gebrochenen Versprechen.

Wir lösen unsere Versprechungen einDas ist unsere Stunde. CDU und CSU können

mit ihren Erfolgen in den Ländern glaubwürdig ver-mitteln: Wir haben die richtigen Konzepte und wirversprechen nicht nur, sondern wir lösen unsere Ver-sprechen auch ein. CDU und CSU haben ein festesWertefundament, von dem sie sich im politischenHandeln leiten lassen. Wir wissen um die Bedeutungvon Freiheit, Eigenverantwortung und Subsidiaritätals Motor einer leistungsfähigen Gesellschaft. Wirwissen aber auch um die Bedeutung von Solidarität

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Wer die Sorgen der Menschen nicht ernst nimmt, handelt unverantwortlich

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und sozialer Sicherheit als Garant für eine mensch-liche und gerechte Gesellschaft. Es sind CDU undCSU, die für die Soziale Marktwirtschaft als erfolg-reiche und tragfähige Verbindung zwischen Markt,Wettbewerb und sozialem Ausgleich stehen. DieseSoziale Marktwirtschaft muss neu belebt werden.Lassen Sie mich einige wesentliche Ansatzpunkte her-ausgreifen.

Offensive für ExistenzgründerDeutschland braucht eine Offensive für Existenz-

gründer. Nach einer Studie des Weltwirtschafts-forums beträgt allein der Zeitaufwand für eineExistenzgründung in Deutschland 30 Tage, in Groß-britannien sind es sieben Tage. Von der Verfügbarkeitvon Wagniskapital und unternehmerischem Klimagenerell will ich gar nicht reden. Vor allem im Ostenmüssen wir mehr Existenzgründungen anstoßen.Dem Osten laufen die Menschen weg – leider vorallem die jungen, innovativen. Wir brauchen eine„Offensive Zukunft Ost“ mit gezielter Förderung vonExistenzgründern in Handwerk, High-Tech undDienstleistung. Wer Arbeitsplätze will, braucht auchArbeitgeber, und das heißt: Existenzgründer undinnovative Unternehmer.

Bürokratie abbbauenFür mehr Dynamik müssen wir auch Bürokratie

abbauen. Initiative und Unternehmergeist dürfennicht in Bürokratie erstickt werden. Gerade der Mit-telstand leidet überdurchschnittlich unter diesenLasten. Ich bin gerade vor diesem Hintergrund froh,dass ich Lothar Späth für mein Kompetenzteamgewinnen konnte. Er hat die notwendige politischeErfahrung als erfolgreicher Ministerpräsident. Er hatdie notwendige unternehmerische Erfahrung alserfolgreicher Unternehmensführer.

Wachstum und Beschäftigung fördernVor allem aber müssen Reformen auch ineinander

greifen. Deshalb werden wir das Wirtschaftsressortneu zuschneiden. Wirtschaftspolitik, Ordnungspoli-tik und Arbeitsmarktpolitik müssen in einer Handliegen. Schließlich wird immer klarer: Deutschlandbraucht nicht nur mehr Wachstum, um seineArbeitslosigkeit abzubauen. Deutschland brauchtauch umgekehrt mehr Beschäftigung, um seinWachstumspotenzial zu mobilisieren.

Wer Wachstum und Beschäftigung fördern will,der muss Einstellungen erleichtern. Wenn Unterneh-men nicht auf Überstunden ausweichen, sondernNeueinstellungen vornehmen sollen, dann brauchensie mehr Flexibilität. Wir werden gerade in derArbeitsmarktpolitik dafür sorgen, dass Einstellungs-hürden beseitigt, effizienter gefördert und neueChancen für neue Arbeitsplätze eröffnet werden.

Besonders dringend sind finanzielle Anreize zurArbeitsaufnahme im Niedriglohnbereich. Arbeitmuss sich lohnen! Wir wollen nicht Arbeitslosigkeitfinanzieren, sondern den Einstieg in Arbeit unddamit zugleich den Ausstieg aus der blühendenSchwarzarbeit! Was werden wir tun? Erstens: DieGrenze für geringfügige Beschäftigung wird von 325auf 400 Euro angehoben. Die Bürokratie fällt kom-plett weg. Der Arbeitgeber führt eine Pauschalsteuervon zwanzig Prozent ab, die den Sozialversicherun-gen zufließt. Zweitens: Zwischen 400 und 800 Eurosollen die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitneh-mer nur allmählich von Null auf den Normalbetrag

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Initiative und Unternehmergeist dürfen nicht durch Bürokratieerstickt werden

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von 20,5 Prozent steigen. Drittens: Zuschüsse zumLohn sollen die Einhaltung des Lohnabstandsgebotssicherstellen und damit Anreize für Arbeitslose oderSozialhilfeempfänger verbessern, eine Arbeit anzu-nehmen. Viertens: Wir müssen qualifizieren und för-dern, aber im Gegenzug auch die Sanktionen für dieverschärfen, die arbeitsfähig, aber nicht arbeitswilligsind. Fördern und Fordern gehören zusammen! Mitdiesem Programm können bis zu 800.000 neueBeschäftigungsverhältnisse entstehen.

Darüber hinaus wollen wir betriebliche Bündnissefür Arbeit erleichtern. Und wir werden neue Chan-cen für ältere Arbeitslose schaffen, indem wir ihnenein Wahlrecht zwischen dem bestehenden Kündi-gungsschutz und einer Abfindungszusage des Arbeit-gebers einräumen.

Mehr Luft für den MittelstandStichwort Steuerpolitik: Die Belastungsunter-

schiede von Personenunternehmen gegenüber denKapitalgesellschaften müssen beseitigt werden. DerMittelstand braucht Luft für mehr Investitionen undfür mehr neue Arbeitsplätze, und zwar nicht erst2005. Deshalb wollen wir schon zum 1. 1. 2004 einegroße Steuerreform in Kraft setzen, die auch denMittelstand entlastet.

Politik der drei mal vierzig

Deutschland braucht eine offensive Politik derdrei mal vierzig, das heißt: Erstens Senkung des Spit-zensteuersatzes von 48,5 Prozent auf 40 Prozent unddamit eine Entlastung auf der ganzen Linie, die allenzugute kommt. Zweitens Senkung der Staatsquoteauf unter 40 Prozent. Drittens Senkung der Sozial-versicherungsbeiträge auf unter 40 Prozent. Ich weiß,das sind ehrgeizige Ziele. Wir können sie nur mittel-bis langfristig erreichen. Aber CDU und CSU habennach der Regierungsübernahme 1982 bis zur Wie-dervereinigung schon einmal bewiesen, dass sich dieStaatsquote senken lässt. Niemand ist arm geworden,sondern im Gegenteil: Das Steueraufkommen ist indiesen Jahren trotz einer umfassenden Steuerreformum 90 Milliarden € gestiegen. Das verfügbare Ein-

kommen der Haushalte ist um 275 Milliarden €

gestiegen. Das Sozialbudget ist um hundert Milliar-den € gestiegen. Damit haben wir zum Beispiel dasBundeserziehungsgeld einführen und so vielen Fami-lien helfen können. Die Zahl der Beschäftigten ist umzwei Millionen gestiegen, die Arbeitslosigkeit umzwei Prozentpunkte gesunken.

Dahinter steckt nichts anderes, als die Grundein-sicht der Sozialen Marktwirtschaft: Wohlstand füralle und soziale Sicherheit für alle müssen erwirt-schaftet werden. Die wirtschaftliche Leistungsfähig-keit ist der tragende Pfeiler, auf dem alles ruht. Jahr-zehnte des wirtschaftlichen Erfolgs haben uns diesenPfeiler der Sozialen Marktwirtschaft zur Selbstver-ständlichkeit werden lassen. Wir haben uns nur nochauf die Verteilung konzentriert. Jetzt ist dieser Pfeilerins Wanken gekommen. Unser Ziel ist es, ihn wiedertragfähig zu machen.

Bei Reformen die Menschen mitnehmen

Die Mehrheit der Menschen spürt, dass dazuReformen notwendig sind. Doch Reformen verunsi-chern gleichzeitig auch. Viele haben Angst, dass sie

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Der Mittelstand braucht Luft für mehr Investitionen und Arbeitsplätze

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den Anforderungen des globalen Wettbewerbs nichtgewachsen sind. Trotz aller Unzufriedenheit undtrotz aller Forderungen nach Reformen ist deshalbdie Haltung, mit der die Politik konfrontiert ist:Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass. Des-halb wird eine Reformpolitik nur dann erfolgreichsein, wenn sie die Menschen mitnimmt. Die Bürge-rinnen und Bürger müssen darauf vertrauen können,dass es bei den Reformen gerecht zugeht. Sie müssendarauf vertrauen können, dass ihr Bedürfnis nachsozialer Sicherheit ernst genommen wird. Auch indiesem Punkt hat Rot-Grün versagt. Es mag erstaun-lich für eine sozialdemokratisch geführte Regierungsein, die die Forderung nach sozialer Gerechtigkeitsogar zum Schwerpunkt im Wahlkampf 1998gemacht hat: 83 Prozent der Bürgerinnen und Bür-ger beklagen einen Verlust an sozialer Gerechtigkeitin Deutschland.

Ich muss in diesem Zusammenhang aber aucheinen Appell an die Wirtschaft richten, denen dasRegierungsprogramm von CDU und CSU in einigenPunkten nicht weit genug geht: Sie dürfen dieReformbereitschaft der Menschen nicht überfordern.Maximalforderungen werden schnell zur Überforde-rung und provozieren Totalverweigerung. Nur wenndas soziale Gleichgewicht erhalten bleibt, sind dieMenschen für die notwendigen Reformen zu gewin-nen.

Den Föderalismus stärkenWir brauchen diese Reformen und ich bin sicher:

Wir werden sie auch erreichen. CDU und CSU wer-den bei einem Wahlsieg am 22. September in derLage sein, auch auf eine Mehrheit der CDU/CSU-regierten Länder im Bundesrat bauen zu können. Daswird Reformen wesentlich erleichtern. Doch wo esum die Fähigkeit zur Gestaltung der Zukunft unse-res Landes geht, dürfen wir nicht auf Zufälligkeitenbauen. Wir müssen die Grundlagen für neue Hand-lungsfähigkeit der Regierung nachhaltig und durchinstitutionelle Reformen verbessern. Dazu gehörtganz wesentlich die stärkere Trennung von Aufgabenund Kompetenzen zwischen Bund und Ländern, zwi-schen Bundestag und Bundesrat. Wir müssen denFöderalismus stärken! Die dringend notwendige Ent-flechtung der Zuständigkeiten im Hochschulrah-mengesetz ist dabei nur ein Beispiel von vielen. Wennich zum Bundeskanzler gewählt werde, werde icheinen Konvent einberufen, der eine solche grundsätz-liche Reform der Institutionen vorbereiten soll. Nurein Land, das schnell, flexibel und zukunftsorientiertauf neue Anforderungen reagieren kann, hat im glo-balen Wettbewerb eine Chance. Meine Agenda fürDeutschland heißt: Erneuerung unseres Landes insozialer Verantwortung und im gesellschaftlichenKonsens. �

Aus Rede Wirtschaftstag 2002

In der Arbeitsmarktpolitik Einstellungshürden beseitigen und Chancen für neue Arbeitsplätze eröffnen

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Gerade Berlin, aber auch ganzDeutschland, verdankt Amerikasehr viel. Ohne Amerika wären

wir heute gewiss nicht mit Bundestag undBundesregierung in Berlin. Nach denschrecklichen Ereignissen des 11. Septem-ber 2001 dürfen die Zusicherungen, dasswir beim Kampf gegen den Terror fest ander Seite Amerikas stehen, nicht zu hoh-len Phrasen werden. Diese Terroran-schläge haben tiefe Spuren in Amerikaund in der ganzen Welt hinterlassen. Die-ses Datum wird noch in 200 Jahren jedesKind in Amerika genauso wie die Grün-dungsgeschichte des eigenen Landes ken-nen. Amerika ist tief verletzt. Und Ame-rika wird seine Schlussfolgerungen ziehen.

An der Seite Amerikas

Die neuartige Bedrohung durchSelbstmordattentate hat gerade im trans-atlantischen Verhältnis neue Gemeinsam-keiten und Verantwortungen geschaffen.Sie hat bestehende Gemeinsamkeiten undVerantwortungen deutlich aufgewertet.

Präsident Bush hat in seiner Rede vordem Deutschen Bundestag deutlichgemacht, dass die weltweite Bekämpfungdes Terrors für die Vereinigten Staaten, fürdie Europäische Union und für alle zivili-sierten Länder dieser Welt zu einergemeinsamen großen politischen Aufgabegeworden ist.

An der Seite Amerikas zu stehen, istdeshalb bei weitem nicht allein ein Gebotder Solidarität oder der Dankbarkeit. Bei-des wäre schon Grund genug. Es ist viel-mehr mindestens genauso ein Gebot derVerantwortung für unser Land und fürunsere Freiheit, mit Amerika entschlossenden Kampf gegen den religiös-fundamen-talbegründeten, aber in Wahrheit aus kei-ner Religion dieser Welt begründbarenTerror aufzunehmen und entschlossenfortzusetzen.

Die militärische Bekämpfung des Ter-rors ist das eine. Aber auch die Gestaltungder Globalisierung zum Vorteil aller Staa-ten dieser Welt und ihrer Völker ist nachdem 11. September noch stärker als bis-her die gemeinsame Aufgabe von Ameri-kanern und Europäern.

Gemeinsame Aufgaben

Die Vereinigten Staaten und dieEuropäische Union sind gegenwärtig diebeiden größten Wirtschaftsräume derWelt. Zusammen produzieren beide mehrals die Hälfte des weltweiten Sozialpro-dukts. Sie vereinigen 37 Prozent desGüterwelthandels und sogar 45 Prozentdes weltweiten Handels mit Dienstleis-tungen auf sich. Die wirtschaftliche Ver-flechtung beider Seiten ist so eng wie niezuvor. Europa insgesamt ist trotz der Hin-wendung der Amerikaner zum pazifischenRaum für die USA nach wie vor dergrößte Investor, der größte Arbeitgeberund auch, abgesehen von Kanada, dergrößte ausländische Handelspartner. DasGesamtvolumen der gegenseitigen Inves-titionen beträgt derzeit rund 750 Milliar-den €. Etwa 60 Prozent der ausländischenInvestitionen in den USA stammen ausder Europäischen Union. 45 Prozent allerAuslandsinvestitionen der Amerikanergehen in die Europäische Union. BeideSeiten wickeln annähernd zwanzig Pro-zent ihres jeweiligen Handels miteinanderab. Und all denjenigen, die nach wie vordie Ursachen für die deutsche Wirt-schaftsschwäche vor allem in Überseesuchen, sei gesagt: Die deutschen Exportein die USA sind im zurückliegenden Jahr2001 mit neun Prozent kräftig gewachsenund haben sogar deutlich stärker zuge-nommen als die deutschen Ausfuhren ins-gesamt. Die USA bleiben für uns alsonoch lange Zeit zweitwichtigster Handels-partner nach Frankreich.

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Friedrich Merz MdB, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion

WirtschaftspolitischesLeuchtfeuer entfachen

Ordnungspolitischrichtige und notwendigeAntworten geben

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Verantwortung übernehmenVon uns als europäische Mittelmacht

und als bevölkerungsreichstes Land Euro-pas in der strategischen geopolitischenMitte des Kontinents wird also zu rechterwartet, dass wir ein erhebliches Maß aneuropäischer, aber auch an internationalerVerantwortung übernehmen.

Dies können wir nur, wenn wir imeigenen Land die anhaltende Wachstums-und Beschäftigungskrise, wenn wir dieLethargie bei der notwendigen Verände-rung unserer strukturell begründeten öko-nomischen Schwäche überwinden: Wirmüssen endlich bereit sein, wie es übri-gens die Benchmarking Gruppe im Auf-trag des Bündnisses für Arbeit und Wett-bewerbsfähigkeit dem Bundeskanzlerschon vor Jahresfrist aufgeschrieben hat,uns in viel stärkerem Maße einem kriti-schen Vergleich mit unseren Partnerlän-dern und Wettbewerbern in Europa aberauch außerhalb Europas zu stellen, um zusehen, was andere besser machen als wir.

Eine im Wesentlichen angebotsorien-tierte Wirtschaftspolitik, flexible Arbeits-märkte, der Zugang zu Risikokapital, risi-kobereite Unternehmer, eine positiveGrundstimmung und Optimismus: Dasalles hat in Amerika ganz nachhaltig dazubeigetragen, die amerikanische Volkswirt-schaft leistungsfähiger und wider-standsfähiger gegen äußere Einflüsse zumachen.

Fatale GewohnheitenUmgekehrt haben wir uns in Deutsch-

land schon viel zu sehr an die übermäch-tige Zahl von staatlichen Eingriffen undReglementierungen, an diese schrecklicheÜberbürokratisierung fast aller Lebensbe-reiche und einen damit zwangsläufig ein-hergehenden fatalen ungeheuren Verlustöffentlicher Finanzmittel gewöhnt.

Mehr und mehr geht die Vorstel-lungskraft in diesem Land dafür verloren,dass auch und gerade die Kräfte des Mark-tes viel mehr als wir glauben zur Lösungunserer strukturellen Probleme beitragenkönnen. Es muss endlich ein Ruck durchdieses Land gehen – in der Wirtschafts-und Arbeitsmarktpolitik, in der Neuaus-richtung der Sozialpolitik, in der Bil-dungspolitik, in der Finanz- und Steuer-politik, in der Familienpolitik und nichtzuletzt in der Gesellschaftspolitik.

Mut hat sich bewährt

Ludwig Erhard hatte 1948 den Mut,die Deutsche Mark einzuführen und diestaatliche Bewirtschaftung der Lebensmit-tel abzuschaffen. Anfang der 60er Jahrehatte ein Wohnungsbauminister PaulLücke den Mut, in Westdeutschland diestaatliche Bewirtschaftung des Wohn-raums abzuschaffen. Beide Entscheidun-gen, die von Ludwig Erhard wie die vonPaul Lücke, mussten gegen den erbitter-ten Widerstand der Sozialdemokratenund der Gewerkschaften in Deutschlanddurchgesetzt werden. Alle Behauptungen,es käme zu einer Unterversorgung derBevölkerung mit Lebensmitteln undWohnraum, haben sich als völlig falscherwiesen.

Vor zwölf Jahren hatten zwei Postmi-nister in Deutschland den Mut, die staat-liche Bewirtschaftung der Postdienstleis-tungen aufzuheben. Beide, ChristianSchwarz-Schilling und Wolfgang Bötsch,sind heute noch Mitglieder unserer Bun-destagsfraktion. Das Ergebnis ihrer Poli-tik war nicht die von vielen befürchteteAusdünnung des ländlichen Raums mitPost und Telefon, sondern eine rasantetechnologische Entwicklung, eine Sys-temführerschaft in Europa, ein Vorbildfür die ganze Welt und eine Versorgungbis in den letzten Winkel unserer Repu-blik mit Post und Telekommunikations-

dienstleistungen in einem Umfang und ineiner Qualität, die sich noch vor fünf Jah-ren niemand von uns hätte vorstellen kön-nen.

Wenn diese historischen und ökono-mischen Erfahrungen richtig sind, wenndie Aufhebung der Bewirtschaftung mehrFreiräume für mehr Wettbewerb schafftund das richtige Rezept ist, dann müssenwir in Deutschland jetzt den Mut haben,die staatliche Bewirtschaftung unseresArbeitsmarktes Schritt für Schritt zurück-zuführen. Wir bewirtschaften die Arbeits-losigkeit in Deutschland mit rund 90 Mil-liarden € im Jahr, davon allein 50 Milliar-den € für eine sogenannte aktive Arbeits-markt- und Beschäftigungspolitik. Daranmüssen wir, daran wollen wir, und daranwerden wir etwas ändern.

Klare Alternativen

Unsere Vorschläge zur Neuordnungder Arbeitsmarktpolitik liegen auf demTisch. Sie sind eine klare Alternative zumrot-grünen Regierungsprogramm. Siesind eine klare Alternative zur weiterenVerfestigung der Wachstumskrise, derArbeitslosigkeit und der damit zwangsläu-fig einhergehenden Perpetuierung derstrukturellen Überforderungskrise alleröffentlichen Haushalte. Wir wollen alswirtschaftspolitisches Leuchtfeuer, andem wir uns orientieren und auf das wir

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„An der Seite Amerikas zu stehen ist auch ein Gebot der Verantworung für unser Land“

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Schritt für Schritt zugehen, eine Rück-führung der Staatsquote auf 40 Prozent.

Ein Gesamtkonzept, das die Zusam-menhänge richtig erkennt und in politi-sches Handeln umsetzt, ist der entschei-dende Schlüssel zum Erfolg. Dies will icham Beispiel der Familienpolitik kurzerläutern:

1. Die Stärkung der Erziehungskom-petenz der Eltern ist angesichts der festzu-stellenden zunehmenden moralischenund seelischen Verwahrlosung in unserenFamilien und bei unseren Kindern über-fällig.

2. Die Vereinbarkeit von Familie undBeruf, gerade für Frauen, die in der deut-schen Wirtschaft angesichts der demogra-fischen Entwicklung in den nächsten Jah-ren und Jahrzehnten dringender denn jegebraucht werden, muss gestärkt werden.

3. Ein Familiengeld, das die Leistun-gen für Familien mit Kindern in Deutsch-land deutlich gegenüber dem gegenwärti-gen Stand erhöht, ist erforderlich.

Eine Million Kinder in Deutschlandlebt ganz oder teilweise von Sozialhilfe.Mittlerweile haben wir Sozialhilfekarrie-ren in Deutschland in der zweiten undzum Teil in der dritten Generation. Wirsprechen in der Politik über Kombilohn

und übersehen dabei ganz offensichtlich,dass ein Kombilohnsystem seit Jahren undJahrzehnten hervorragend funktioniert –nämlich die Kombination aus sozialenTransfereinkommen und Erwerbsein-kommen in der Schattenwirtschaft.Warum aber, so fragen viele Sozialhilfe-empfänger, sollen sie denn aus derArbeitslosigkeit in die Beschäftigungwechseln, wenn sie auf dem Weg dorthindie Hälfte der Leistungen für ihre Kinderverlieren.

Weil diese Zusammenhänge auch vonuns lange Zeit nicht richtig gesehen wor-den sind, haben unsere Vorschläge zurFamilienpolitik nicht nur etwas mit derfinanziellen Lage der Familien zu tun. Siesind die ordnungspolitisch richtige undnotwendige Antwort auf die Herausforde-rungen, die sich auf dem ersten Arbeits-markt für uns stellen. Nur wenn das Exis-tenzminimum der Kinder unabhängigvom Beschäftigungsrisiko der Eltern gesi-chert wird, haben wir eine Chance, dieSchwelle zum Eintritt in den erstenArbeitsmarkt wieder so weit abzusenken,dass sich Arbeit im ersten Arbeitsmarktauch wieder lohnt.

Die Devise muss lauten: In diesemLand muss derjenige wieder mehr Geldverdienen, der im ersten Arbeitsmarktarbeitet, als derjenige, der nicht arbeitetund soziale Transferleistungen bekommt.

Blauer Brief als Abschlussbilanz

Ich will klar und deutlich sagen: Eswird mit einer unionsgeführten Regie-rung zu keinem Zeitpunkt der euro-päische Stabilitäts- und Wachstumspaktin Frage gestellt. Die Verabredung zur Sta-bilität, die Einhaltung der Maastricht-kriterien, insbesondere was das laufendeDefizit in den öffentlichen Hauhaltenbetrifft, dürfen im Interesse des poli-tischen Vertrauens und der ökonomischenStabilität in unsere Währung, in denEuro, weder von Deutschland noch vonFrankreich noch von sonst einem euro-päischen Land in Frage gestellt werden.

Die gegenwärtige Finanzpolitik, diegegenwärtige Haushaltspolitik und diegegenwärtige Arbeitsmarkt- und Sozial-politik der gegenwärtigen Bundesregie-rung werden dazu führen, dass wir schonin diesem Jahr größte Schwierigkeitenhaben werden, das laufende Defizit unterdrei Prozent zu halten. Wir werden alsAbschlussbilanz der rot-grünen Bundes-regierung zum Jahresende 2002 den„Blauen Brief“ 2001 von Brüssel, der nieabgeschickt wurde, aber doch irgendwieangekommen ist, 2002 endgültig be-kommen. Das wird die Bilanz sein, vor diewir gestellt sind, wenn wir Regierungsver-antwortung in Deutschland wieder über-nehmen werden.

Es bleibt beim Dreiklang der Union

Deshalb bleibt es beim Dreiklang:

� Erst den Arbeitsmarkt in Ordnungbringen,

� dann mehr Wachstum in Deutschlandschaffen und

� anschließend eine grundlegende Steu-erreform, beginnend mit dem Jahre2004, vornehmen.

Dann kann das Schwungrad in Ganggesetzt werden, das uns wieder zu deneuropäischen Ländern, die ihren Weglängst gegangen sind, aufschließen lässt.Und das Schwungrad muss auch in Ganggesetzt werden, so kräftig, dass es seinenNamen wirklich verdient.

Die Menschen in Deutschland sind zueinem solchen Aufbruch bereit. �

Aus Rede Wirtschaftstag 2002

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„Die neuartige Bedrohung hat neue Gemeinsamkeiten und Verantwortungen geschaffen“

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WIRTSCHAFTSRAT

www.wirtschaftsrat.de

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Der Wirtschaftstag 2002 findet ineinem grundlegend verändertenpolitischen Umfeld und Klima

statt. Wir richten unseren Blick schon festauf die Bundestagswahl am 22. Septem-ber. Der fulminante Erfolg der Union inSachsen-Anhalt gibt uns allen ein Hoff-nungssignal, dass es im September zueinem politischen Richtungswechsel inDeutschland kommen wird.

Mit Freude und Zustimmung neh-men wir zur Kenntnis: Die Unionspar-teien haben sich unter dem Kanzlerkandi-daten Edmund Stoiber kraftvoll neu auf-gestellt. Wir bezeugen Angela Merkelunseren Respekt. Sie hat sich in bester Tra-dition der Union ganz in den Dienst dergemeinsamen Sache gestellt. Durch dieUnion ist buchstäblich ein Ruck gegan-gen.

Die große Geschlossenheit der Uni-onsparteien trägt heute dazu bei, dassneue Kräfte mobilisiert werden. Mit demgemeinsamen Regierungsprogramm legtdie Union das Fundament für dringendnotwendige Reformen:

� in unserem Staat,� in unserer Wirtschaft und� in unserer Gesellschaftsordnung.

Wir unterstützen nachhaltig die For-derung der Unionsparteien, das Wirt-schaftsministerium und das Arbeitsressortzusammenzulegen und wieder mit einemUnionsvertreter zu besetzen. Dies ent-spricht einer frühzeitigen Empfehlung desWirtschaftsrates. Es ist Zeit, dass nach 35Jahren die Union mit Lothar Späth wie-der einen eigenen Wirtschaftsministerund Arbeitsminister stellt. Lothar Späth

Bundesdelegierten-Versammlung 2002

Deutschlands Weg an die SpitzeFit für die nächste Generation

Kurt J. Lauk

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WIRTSCHAFTSRAT

www.wirtschaftsrat.de

ist der geeignete Mann, Wirtschaft undArbeit zu verbinden und den Aufbau Ostwieder voranzubringen. Lothar Späth hatdie Kompetenz und die Kreativität, hierentscheidend neue Impulse zu setzen.

Die Union hat eine lange Geschichtewirtschaftlicher Kompetenz in diesemLand vorzuweisen.

� Mit Konrad Adenauer und LudwigErhard hat die Union den Wiederauf-stieg Deutschlands erfolgreich gestaltet.

� Mit Helmut Kohl, Gerhard Stolten-berg und Theo Waigel wurde die eu-ropäische Einigung vorangetrieben.

� Der Wohlstand wurde gesichert unddie deutsche Wiedervereinigung er-reicht.

Mit Edmund Stoiber und LotharSpäth verbinden wir heute die Hoffnung,dass die dringend notwendigen Reformenvon Staat und Wirtschaft ab Herbst 2002auf den Weg gebracht werden.

Die Soziale Marktwirtschaft muss weiter entwickelt werden

Die Soziale Marktwirtschaft muss wei-ter entwickelt werden. Die freiheitlicheGrundordnung darf dabei nicht verlorengehen. Nur so können wir die Zukunfts-aufgaben bewältigen. Aus diesem Grundsagen wir heute ein grundsätzliches „Ja“zum Regierungsprogramm der Union.

Im Februar 2002 hat der Wirtschafts-rat seine Vorstellungen für die kommendeLegislaturperiode als erster Verband recht-zeitig vorgelegt. Unser Leitmotto lautet:„Deutschlands Weg an die Spitze!

Zehn Leitlinien zum Regierungspro-gramm 2002-2006“. Die Reformagendaist pointiert auf die wirtschaftspolitischeErneuerung ausgerichtet. Wir braucheneine wachstumsorientierte Wirtschafts-,Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik. Ohnedie Zurückdrängung des Staatsinterven-tionismus wird eine erfolgreiche Reform-agenda nicht möglich sein.

Überregulierender Staatsinterventio-nismus ist ein Kennzeichen der rot-grünen Koalition und hat unser Land aufdie europäische Schlusslichtposition ge-bracht: Wir haben die rote Laterne! FürDeutschland, auf dem Weg von der In-dustrie- in die Wissensgesellschaft, ist diesein Schandfleck. Deutschland hat einebessere Regierung verdient! Eine Regie-rung, die uns wieder auf die europäischeSpitzenposition bringt und Deutschlandfit macht für die nächste Generation.

Auf den Wirtschaftstagen 2000 und2001 haben wir begonnen, neue Perspek-tiven zu entwickeln. Wir haben besonde-res Gewicht darauf gelegt,

� die Außenansicht Deutschlands und� das internationale Benchmarking zu

verstärken.

Diese Konzeption wird mit dem Wirt-schaftstag 2002 fortgesetzt.

Das Präsidium des Wirtschaftsrateshat mit der Fraktionsspitze der UnionEnde Januar rechtzeitig über die Konzep-tion eines Regierungsprogrammes 2002beraten. Wir haben dies in zwei Strategie-klausuren getan.

Wir bedanken uns bei allen Beteiligtenfür die vertrauensvolle Zusammenarbeitund sehen uns in der Anlage des Regie-rungsprogramms bestätigt. Viele zentralePunkte des Wirtschaftsrates wurden in dasRegierungsprogramm aufgenommen. Al-lerdings ist zuzugeben, noch nicht alle.

Das Präsidium hat in diesem Jahreinen Beirat des Wirtschaftsrates berufen.Wir konnten maßgebliche Persönlichkei-ten der deutschen Wirtschaft für diesenBeirat gewinnen.

Wir bedanken uns bei Dr. Karl-Her-mann Baumann, Vorsitzender des Auf-sichtsrates der Siemens AG; Dr. RolfBreuer, Vorsitzender des Aufsichtsrates derDeutsche Bank AG; Dr. Klaus Mangold,Vorsitzender des Vorstandes der Daimler-Chrysler Services AG; Klaus-Peter Müller,Sprecher des Vorstandes der Commerz-bank AG. Als ständige Gäste nehmen teil:Hans Reichenecker, Storopack Hans Rei-chenecker GmbH & Co KG; ProfessorDr. Bernhard Schäuble, Vorsitzender derGeschäftsleitung der Merck AG.

Vier Bundessymposien haben wir ver-anstaltet und uns mit großer Resonanzzum Aufbau Ost positioniert. Wir habenReformkonzepte vorgelegt für unsereStaatsordnung, für die Energiepolitik undfür die Zukunftsmärkte der Informationund Kommunikation.

Im Namen des Präsidiums und desBundesvorstandes danke ich allen Vorsit-zenden unserer Bundesfachkommissionenund den über 500 Vertretern aus Wirt-schaft, Politik und Wissenschaft. Sie allehaben uns mit ihrem Sachverstand konti-nuierlich beraten. Wir danken unserenehrenamtlichen Landesvorsitzenden, denSektionssprechern und unseren Delegier-ten für Ihre engagierte Unterstützung!

Mein ebenso herzlicher Dank giltunserem Landesverband in Brüssel und

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seinem engagierten Vorstand für die vor-zügliche Arbeit in der Europapolitik.Mein herzlicher Dank gilt schließlichunserem Hauptamt, den engagierten Mit-arbeitern auf Bundes- und Landesebene.

Paradigmenwechselfür den Weg aus der Krise

Die Wirtschaftspolitik im vergange-nen Jahrhundert hatte ein zentralesThema: Die Erkenntnis, dass der Staateine Rolle in der Wirtschaftspolitik spie-len kann und muss. Keynes war der großeTheoretiker dieser Erkenntnis.

Zu der politischen Leistung des letz-ten Jahrhundert gehörte es, eine möglichstgroße Zahl von Bürgern an den Erfolgender Wirtschaft teilhaben zu lassen. Staat-liche Wirtschaftspolitik und Wohlfahrts-staat sind dabei die zentralen Begriffegeworden.

Nicht umsonst hat deshalb in derersten Wahlperiode des Deutschen Bun-destages die Sozialpolitik eine zentraleRolle gespielt. Die Soziale Marktwirtschaftvon Ludwig Erhard hat hier ihre histori-schen Wurzeln und ihre politischenGrundlagen. In den folgenden Jahrzehntenhat die Ausgestaltung der Sozialen Markt-wirtschaft aber nicht nur mehr sozialeGerechtigkeit und mehr Wohlstand für alleerreicht, sondern auch über die Jahrzehntezu enormen Rigiditäten geführt.

Überbürokratisierung ist der Aus-druck dafür, dass zu viele Dinge in Wirt-schaft und Gesellschaft vom Staat geplantund verwaltet werden. Dies hat dazugeführt, dass erforderliche grundlegendeStrukturveränderungen nicht mehr statt-finden: Der Staat beschäftigt sich vorallem mit sich selbst, statt Leistungen fürden Bürger zu erbringen.

Für den Weg aus dieser Krise brau-chen wir einen Paradigmenwechsel. Dienotwendigen gesellschaftlichen Umbrü-che in Deutschland sind unmittelbar nachdem Zweiten Weltkrieg in einem radika-len Neuanfang erzwungen worden. Heutemuss die Kraft zur grundlegenden Struk-turveränderung aus der Gesellschaft selbstkommen.

Wir müssen uns die Fragen beant-worten:

� Wie kann unsere Gesellschaft wettbe-werbsfähig bleiben und gleichzeitig ih-ren sozialen Zusammenhalt und ihrepolitische Freiheit bewahren?

� Und wie können wir zwischen diesendrei Zielen einen Weg finden, der Le-benschancen und Wohlfahrt der Bür-ger erhöht?

� Längst sind massive Konflikte um die-se Balance ausgebrochen. Die Mehr-zahl der Bevölkerung ist davon betrof-fen:

Insbesondere die sogenannte Mittel-schicht, die in Industriegesellschaften gut70 Prozent der Bevölkerung ausmacht.

Diese große Gruppe wird zunehmendängstlich, weil sie einer ungewissen Zu-kunft entgegensieht.

Sie erkennt keine glaubwürdige Per-spektive mehr zur Verwirklichung ihrerLebensentwürfe.

Zum ersten Mal seit Generationenmüssen Eltern ihren Kindern sagen: „Eswird euch möglicherweise nicht mehr sogut gehen wie uns.“ Das Gefühl, dassgroße Reformen notwendig sind, abernicht angegangen werden, ist allgegen-wärtig. Die Angst, bei den Veränderungenzu den Verlierern zu gehören, ist beherr-schend. Dies ist der tiefere Grund dafür,dass die bürgerliche Mitte an Selbstbe-

wusstsein verloren hat. Die politischeStimmung ist ausgesprochen wechselhaft.An die Stelle mutiger Reformen tretenSelbstblockaden.

International gibt es gleichwohl Ge-sellschaften, die die Kraft zur Erneuerungaus sich selber heraus hervorgebrachthaben. Sowohl Ronald Reagan als auchMargaret Thatcher stehen für diese Neu-strukturierung der Gesellschaft. Auch inDeutschland müssen wir auf neue Her-ausforderungen neue Antworten geben –genauso, wie es im vergangenen Jahrhun-dert Konrad Adenauer und LudwigErhard mit der Sozialen Marktwirtschaftgetan haben.

Konvent zur StaatsreformWas will der Wirtschaftsrat vor diesem

Hintergrund erreichen? Deutschlandbraucht einen Konvent zur Staatsreform,der noch in den ersten einhundert Regie-rungstagen der neuen Legislaturperiodeeinen ordnungspolitischen Kassensturzund eine Generalrevision der Staatsaufga-ben in Angriff nimmt.

Die Ziele müssen sein:

� bis 2010 die Absenkung der Staats-quote auf unter 40 Prozent,

� bis spätestens 2006 der völlige Abbaudes Staatsdefizits,

� klare Zuständigkeiten der Gebietskör-perschaften nach der Devise: „Wer be-stellt, bezahlt“, sowie ...

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� die Entflechtung der Gesetzgebungs-kompetenzen von Bund und Ländern.

Lebensperspektiven wieder selbst gestalten

Öffentliche Hände greifen letztlichimmer in private Taschen. Unsere Steuer-und Abgabenlast wird längst als konfiska-torisch empfunden. Bürger können ihreLebensperspektive und die ihrer Kindernicht mehr ausreichend selbst gestalten.Das Leitbild des „aktivierenden Staates“ist das rot-grüne Versprechen des letztenJahrhunderts.

Es ist von uns scharf kritisiert worden.Im neuen Wahlprogramm reißt sich dieSPD selbst die Maske vom Gesicht, inGewerkschaftsmanier wird formuliert:„Der Staat hat Lenkungsfunktion.“ Dasist die Philosophie des letzten Jahrhun-derts. Das letzte Jahrhundert ist allerdingszu Ende gegangen. Offenbar haben dasnoch nicht alle bemerkt.

Der Wirtschaftsrat setzt dagegen aufden freiheitlichen Staat, der den Bürgernwieder Luft zum Atmen lässt. Der Wirt-schaftsrat fordert: Die Blockaden auf demArbeitsmarkt müssen unmittelbar nachder Bundestagswahl eingerissen werden.Die Rigiditäten des Arbeitsmarktesfördern vor allem die Schwarzarbeit. Nursie hat in Deutschland Konjunktur.

Sie erreicht im Jahr 2002 einen Anteilvon 16 Prozent des Bruttoinlandsproduk-

tes oder 350 Milliarden Euro. Dadurchgehen uns 500.000 reguläre Arbeitsplätzeverloren.

Diese verheerende Bilanz ist das ge-meinsame Ergebnis rot-grüner Politik unddes verantwortungslosen Verhaltens derGewerkschaften im Tarifkartell. NeueDynamik auf dem Arbeitsmarkt erforderteine Dreifachstrategie: die Sprengung derRiester-Ketten, betriebliche Bündnisse fürArbeit mit Mehrheit der Belegschaft –aber ohne Vetorecht der Gewerkschaften,die Schaffung eines attraktiven Niedrig-lohnsektors – das Ziel lautet:

Arbeit muss sich stärker lohnen alsNicht-Arbeit!

Wille zu grundlegendenReformen fehlt

Wir erleben erneut, dass der Wille zugrundlegenden Reformen des Arbeits-marktes fehlt. Der diesjährige Lohnab-schluss fügt sich lückenlos ein in eine langeKette von Absurditäten ein, die Kennzei-chen eines reformunfähigen Systems sind.Wieder haben wir erlebt, wie die Gewerk-schaften in wirtschaftlich schwierigerSituation sich aus ihrer Verantwortung fürdie Beschäftigung stehlen wollen. IG-Metall-Chef Zwickel hat jüngst zu den6,5-prozentigen Lohnforderungen erklärt:„Wir streiken für mehr Geld, um den Auf-schwung zu fördern.“ Damit kann er nurden Aufschwung im Ausland gemeinthaben. Auch unsere Gewerkschaften wis-

sen doch: Das Kaufkraftargument ist totund selbst im internationalen Gewerk-schaftslager begraben. In den ökonomi-schen Lehrbüchern der Welt spielt eslängst keine ernsthafte Rolle mehr. Eintatsächlicher Tarifabschluss in einerGrößenordnung von vier Prozent treibtdie Arbeitsplätze weiter aus dem Land.

Wie ernst meinen wir es eigentlich mitder Sozialen Marktwirtschaft?

� Das erstarrte Tarifkartell und die Poli-tik haben seit Jahren keinen wirksa-men Weg mehr zum Abbau der struk-turell hohen Arbeitslosigkeit gefun-den.

� Deshalb: Der Wirtschaftsrat lehnt einTariftreuegesetz ab, auf Bundes- wieauf Landesebene.

Unternehmen, gerade aus den neuenBundesländern, sollten nicht vonöffentlichen Aufträgen ausgeschlossenwerden, nur weil sie keine Tariflöhnezahlen können!

Die Union sollte gerade wegen deraktuellen Steuerschätzung und der schwa-chen Konjunktur nicht von ihren Steuer-plänen abrücken. Selbst nach der neues-ten Prognose werden 2006 rund 90 Mil-liarden € mehr in die Staatskassen fließen– ein Zuwachs von 20 Prozent gegenüber2001.

Zur Überwindung der hohen Arbeits-losigkeit und als Grundlage für neuesWachstum braucht dieses Land wiedereine Steuerpolitik, die einfach, trans-parent und zukunftsorientiert ist. Nurdann haben die Bürger wieder eineChance, ihre Lebenschancen für sich unddie nächste Generation selber zu gestalten.

Unsere Kernforderung ist:

� Mehr Netto für Bürger und Unter-nehmen, um die Investitionskraft unddie Fähigkeit zur privaten Vorsorge zustärken.

Eine umfassende Steuerreform mussschon im ersten Regierungsjahr parla-mentarisch verabschiedet werden.

Der Wirtschaftsrat setzt sich konkretfür folgendes Reformkonzept ein: ...

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� Erste Stufe 2003: Aussetzen der Öko-steuer-Erhöhung.

� Zweite Stufe 2004: Abschaffung derGewerbesteuer und Senkung des Ein-kommensteuer-Spitzensatzes auf 42Prozent.

� Dritte Stufe 2005: durchgängigeAbsenkung des Einkommensteuerta-rifs und Reduzierung des Spitzensat-zes auf 35 Prozent.

Die bisherige steuerliche Benachteili-gung von Personengesellschaften mussschnellstens beseitigt werden.

� Eine mittelstandsfreundliche Steuer-reform darf im Gegenzug nicht zuhöheren Lasten für Kapitalgesellschaf-ten führen.

� Die von der Union angekündigte Über-prüfung der Steuerfreiheit für Veräuße-rungsgewinne zwischen Kapitalgesell-schaften sollte im Ergebnis auf keinenFall zur Doppelbesteuerung führen.

� Für jede Gesetzesänderung muss eineausreichende Karenzzeit gelten.

� Ziel bleibt die Gleichbehandlung vonPersonen- und Kapitalgesellschaften,und das mit einem international wett-bewerbsfähigen Steuersatz.

In engster Beziehung zur Steuerpolitiksteht die Unternehmensfinanzierung. DieVerschärfung der Kreditbedingungendurch Basel II ist eines der drängendstenProbleme, das gelöst werden muss.Andernfalls werden wir ein großes Mittel-standssterben in diesem Land erleben.DieEigenkapitalquote deutscher Unterneh-men liegt heute im Schnitt unter 18 Pro-zent. In vielen mittelständischen Unter-nehmen werden nicht einmal zehn Pro-zent erreicht. Die US-Firmen liegen dage-gen bei einer Quote von durchschnittlich45 Prozent. Im internationalen Wettbe-werb haben sie so bei Investitionen dieNase vorn und sind wesentlich resistentergegen Krisen.

Wir können entweder die Steuersitua-tion für die mittelständischen Unterneh-men verbessern, Eigenkapital aufbauenund dann Basel II einführen oder Basel IIohne Steuerreform einführen und damit

auch den Mittelstand zum Auswandernbewegen. Der Wirtschaftsrat wird sich zudiesem Thema mit Nachdruck einbrin-gen. Ferner werden wir uns für die längstüberfällige Reform der Unternehmens-finanzierung mit eigenen Vorstellungenzu Wort melden.

DemographischeZeitbombe entschärfen

Von besonderer Wichtigkeit ist, dasswir endlich die demographische Zeit-bombe in unseren Sozialsystemen ent-schärfen: Bereits im Jahr 2011 wird überdie Hälfte der Bevölkerung über 50 Jahrealt sein. Wir sind damit das älteste Volkdieser Welt. Explodierende Abgabenlastenerdrosseln schon heute unsere Wettbe-werbsfähigkeit.

In 30 Jahren werden einhundertErwerbstätige 73 Rentner versorgen müs-sen – fast doppelt so viele wie heute. Wirbringen unsere Kinder um ihre Zukunfts-chancen, wenn wir die Alterssicherungnicht auf neue Beine stellen.

Ohne grundlegende Reformen dro-hen Sozialversicherungsbeiträge von 65Prozent und mehr! Notwendig sind des-halb:

� internationale Standards und mindes-tens 40 Prozent Kapitaldeckungsanteilbei der Alterssicherung sowie

� der Einstieg in die kapitalunterlegtePflege- und Krankenversicherung.

Die Reformen bei Rente und Gesund-heit müssen schon im ersten Regierungs-jahr auf den Weg gebracht werden!

Private Kapitaldeckung ist notwendig

Wir haben Verständnis für die Verun-sicherung und Ängstlichkeit der breitenMasse unserer Bürger. Die Bürger habenein gutes Sensorium dafür, dass tiefgrei-fende Reformen notwendig sind. DieBevölkerung ist in diesem Punkt weiter alsviele Politiker glauben möchten: Die Poli-tik muss aufhören, dem Bewusstsein derBürger hinterherzuhinken. Die Union istim Gegensatz zur SPD hier in der richti-gen Richtung unterwegs.

Enttäuschend bleibt jedoch: Im Wahl-programm der Union fehlt die Forderungnach privater Kapitaldeckung im Gesund-heitswesen. Die Union hat schon bei derRente den Einstieg in die internationalübliche Kapitaldeckung verpasst. Bei derGesundheitspolitik sollte sie nicht dengleichen Fehler machen.

Bildungssystembraucht mehr Wettbewerb

Bei Bildung und Innovation mussDeutschland wieder internationale Spit-zenpositionen erreichen. PISA standfrüher für den schiefen Turm. Heute den-ken dabei alle an die Schieflage unseresBildungssystems. Die Wettbewerbsfähig- ...

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keit einer Industrienation beruht aufWissensträgern, die gut ausgebildet undkreativ sind. Unsere Zukunft beruht aufbester Bildung.

Es ist überhaupt nicht einzusehen,

� dass ein Handwerker, der die Meister-ausbildung anstrebt, für die Prüfungs-vorbereitung und die Prüfungsgebüh-ren einen beachtlichen Anteil der biszu 13.000 € aus eigener Tasche zu zah-len hat,

� solange Ärzte, Juristen und Ingenieurean Universitäten ohne Gebühren stu-dieren können.

Nicht nur das Bundesministerium fürBildung und Forschung, sondern auch dieKultusministerkonferenz sollten hier end-lich für Abhilfe sorgen. Ein bedeutenderPolitiker dieser Republik musste sich ein-mal entschuldigen für den Satz: „Im Ver-gleich zur Kultusministerkonferenz ist derHeilige Stuhl eine reformfreudige Veran-staltung.“

Wenn die Kultusministerkonferenzschnelle Reformen verweigert, dann wirdes in Zukunft keinen Anlass mehr gebenkönnen, sich für eine solche Aussage zuentschuldigen. Sinn der Studiengebührenist es, unser Bildungssystem wieder leis-tungsfähiger zu machen.

Der Grundsatz dabei muss natürlichbleiben, dass keiner, der von seinen Fähig-

keiten und seiner Leistungsbereitschafther zum Studium geeignet ist, aus finan-ziellen Gründen daran gehindert wird. Esgibt heute genügend Finanzmodelle, diees den später besser Verdienenden erlau-ben, einen Teil der Kosten, die die Gesell-schaft für ihre Ausbildung aufgebrachthat, wieder zurückzuzahlen.

Roman Herzog hat 1997 in seinerBildungsrede auf dem Berliner Gendar-menmarkt nachdrücklich gewarnt: „Werglaubt, auf Leistungen der Schule ver-zichten zu können, schafft Kuschelecken,aber keine Bildungseinrichtungen für das21. Jahrhundert!“ Unser Bildungssystembraucht dringend mehr Internationalität,mehr Wettbewerb und mehr Leistungs-orientierung sowie eine gezielte Elitenför-derung.

Wie weit ist es eigentlich in Deutsch-land gekommen, wenn es im Wesentli-chen nur noch drei Institutionen gibt, diesich ihre Klientel nicht selbst suchen kön-nen: Schulen, Hochschulen und Gefäng-nisse!

Deshalb:

� Die Universitäten müssen sich ihreStudenten selbst auswählen können.

� Lehrer und Professoren sollten nurnoch in Ausnahmefällen verbeamtetwerden und nur nach Verdiensten inForschung und Lehre.

� Wissenschaft und Praxis müssendurch die Förderung von Unterneh-mensausgründungen aus den Univer-sitäten wieder enger verzahnt werden.

Wir können es uns in Deutschlandnicht länger leisten, uns auf die Ausbil-dung von Museumswärtern zu konzen-trieren.

In den letzten zehn Jahren ist

� der Anteil der Sprach- und Kulturwis-senschaftler unter den Studenten aufüber 20 Prozent angestiegen,

� während im Ingenieurwesen der An-teil auf weniger als 18 Prozent gefallenist.

� Im Jahr 2004 werden nur sechs Pro-zent der Studenten einen Abschluss imSchlüsselbereich Informatik aufwei-sen.

Verheerend wirkt sich aus, dass bei unsein Informatikstudium an der Universitätsieben Jahre dauert – im europäischenAusland sind es nur vier Jahre. Zugleichliegt die Abbrecher-Quote in diesem Fachbei 70 Prozent. Mitschuld daran ist auchdie Praxisferne unserer Universitäten.

Wenn wir diese fundamentalen Män-gel nicht schleunigst beseitigen, vergeu-den wir unsere wichtigste Ressource fürWachstum und Fortschritt und damit dieZukunft der nächsten Generationen.

Mut macht attraktiv – Mut schafft Gerechtigkeit

Das Geheimnis der Freiheit ist derMut. Ohne Mut wird uns die neueBalance, die Balance für das 21. Jahrhun-dert zwischen Freiheit, sozialer Gerechtig-keit und Wettbewerbsfähigkeit nichtgelingen. Die Sozialdemokratie hat unsmit ihrer Philosophie aus dem letztenJahrhundert von Wachstum und Innova-tion weggeführt.

Wir alle sind gefordert, ein Beispiel zugeben und ein mutiges Profil mit Eckenund Kanten in das neue Regierungspro-gramm einzubringen. Es geht um unsereZukunft, die Zukunft unserer Kinder undunserer Mitarbeiter. Es geht um den Fort-schritt in Deutschland. Mut macht attrak-tiv. Mut schafft Gerechtigkeit. �

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Abends wird der Faule fleißig

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Mit der dritten Bundesdelegier-tenversammlung in Berlin kannvermeldet werden, dass der

Wirtschaftsrat seinen Platz im Umfeld desParlamentes und im Konzert der unter-nehmerischen Berufsverbände gefundenhat. Mit dem Ablauf dieses Jahres werdenwir auch die Lasten des Umzuges erfolg-reich bewältigt haben.

Es gibt also allen Anlass, dem Präsi-dium, dem Bundesvorstand und dergesamten Bundesdelegiertenversammlungherzlich für die Begleitung zu danken. Essteht uns auch gut an, noch einmal unse-rem Ehrenpräsidenten, Dieter Murmann,und unserem ehemaligen Schatzmeister,Hartwig Piepenbrock, für ihre jeweils lan-gen und erfolgreichen Amtszeiten zu dan-ken. Beide sahen es als eine persönlicheVerpflichtung an, selbst noch den Umzug

nach Berlin mitzuvollziehen. Dieses hoheEngagement ist von Dr. Kurt Lauk, demneuen Präsidium sowie unserem neuenSchatzmeister, Dr. Carl Hermann Schlei-fer, fortgesetzt worden. Auch ihnen giltunser herzlicher Dank für die Unterstüt-zung in der zurückliegenden Zeit.

2001 haben wir unseren Berichtschwerpunktmäßig auf das medialeUmfeld konzentriert, in dem wir uns mitunserer Arbeit bewegen. Mit der in derZwischenzeit vollzogenen Erneuerungund ständigen Pflege unseres Internetauf-trittes haben wir neue Kommunikati-onsebenen betreten, die auch in Zukunftausgebaut werden müssen.

Das Fundament weiterhin stärkenDie Vernetzung zwischen der Bundes-

ebene und den Landesverbänden muss

verbessert werden. Deshalb werden wirauch als nächste Aufgabe unsere EDV-Infrastruktur den modernen Erfordernis-sen anpassen. Hierfür sind auch Rückla-gen gebildet worden.

Hinweisen darf ich auf unsere Zeit-schrift „trend“. Sie können aus den letz-ten Nummern ersehen, dass wir unserenAuftritt auch hier deutlich verbesserthaben.

Zum Jahreswechsel belief sich derMitgliederbestand auf 9.493 Mitglieder.Wir haben einen Nettozuwachs von 3,1Prozent erreicht und setzten damit denAufwuchs des Mitgliederbestandes derletzten Jahre fort. Wir müssen auch inZukunft unsere Anstrengungen fortset-zen, das Fundament des Wirtschaftsratesweiterhin zu stärken, damit wir den aufuns zukommenden Aufgaben gewachsensind.

Mit 1.114 Veranstaltungen im Jahre2001 legen wir eine Veranstaltungsbilanzvor, die dem gesteigerten Informations-und Kommunikationsbedarf unserer Mit-gliedschaft entspricht.

Mit der Einrichtung einer Landesge-schäftsstelle für den LandesverbandMecklenburg-Vorpommern in Schwerinist eine wesentliche Organisationslückegeschlossen worden. Der deutlichgewachsene Landesverband Hessen, derjetzt auf einen Bestand von 1.000 Mit-gliedern zugeht, ist mit einem Referentenpersonell verstärkt worden. Wir gehendavon aus, dass mit dieser Personalver-stärkung die deutlich intensivierte Arbeitdes Landesverbandes erfolgreich fortge-setzt werden kann.

Unter der Leitung von Dr. Lauk hatsich das Präsidium in zwei Klausurtagun-gen eindringlich mit allen Fragen derOrganisation, der Finanzen und der sach-politischen Arbeit des Wirtschaftsratesbeschäftigt. Der Bundesschatzmeister, Dr.Schleifer, behandelt in einer Arbeits-gruppe aus Mitgliedern der Bundes-geschäftsführung und der Landesverbän-de Fragen der Mitgliederwerbung und derinneren Kommunikation.

Der Wirtschaftsrat ist unternehme-rischer Berufsverband mit der satzungs-mäßigen Aufgabe,

Dem Prinzipder Verantwortung entsprechenVornehmste Aufgabedemokratischer Politik

Rüdiger von Voss

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� aktiv und möglichst kompetent an derErhaltung und Fortentwicklung einerOrdnung der Sozialen Marktwirt-schaft mitzuwirken,

� deutlich Position zu beziehen und fürdie Anliegen seiner Mitglieder einzu-treten sowie

� an der Formulierung einer modernenOrdnung der Sozialen Marktwirt-schaft im Kontext einer globalisiertenWeltwirtschaft gestaltend mitzuwir-ken.

Bei allen unseren großen Tagungen,insbesondere bei den Wirtschaftstagennach dem Umzug nach Berlin sind wirdeshalb bestrebt, die Außenansicht aufDeutschland zu akzentuieren und gleich-zeitig neue Begründungen für dringendnotwendige Reformen unserer Wirt-schafts- und zugleich Staatsordnung aufden Weg zu bringen. Auch wir dankenunseren acht Bundesfachkommissionenherzlich für die Arbeit im Jahr 2001.

Deutschland leidet unterWahrnehmungslücken

Mit der Einrichtung vertraulichtagender „Sachverständigengespräche“wenden wir uns mit Intensität den aktu-ellen Themen der Finanz-, Wirtschafts-und Sozialpolitik zu. Außerhalb öffent-licher Wahrnehmung werden hier dieSachfragen behandelt, die von Konfliktenund von einem hohen Abstimmungsbe-darf gekennzeichnet sind.

Dies alles spiegelt eine Lage wieder,die Deutschland in besonderer Weise cha-rakterisiert. Nach wie vor müssen wir lei-der feststellen, dass Deutschland andersals andere vergleichbare Staaten unterWahrnehmungslücken leidet. Dieseführen entweder zu Blockaden beiReformvorhaben oder aber zeigen, dass esuns kaum gelingt, pragmatische und zeit-nahe Schlussfolgerungen aus Fehlent-wicklungen zu ziehen, die inzwischendazu geführt haben, dass dieses Land eineuns alle besorgende Wachstumsschwächeausweist.

Russlands Präsident Putin beklagtejüngst in seiner Botschaft zur Lage derNation die Reformblockaden in seinemLand. Seine Warnung lautet: „In der heu-tigen Welt will uns niemand mehr befeh-den. Aber auf uns wartet auch niemand.

Um einen Platz an der Sonne müssen wirselber kämpfen!“ Diese Worte könnteman auch im Deutschen Bundestag sagen.

„Ordnungspolitisches Gewissen“neu gefordert

Aufmerksame, ausgesprochen gutwil-lige Beobachter und Begleiter des Wirt-schaftsrates weisen uns heute darauf hin,dass neue Anstrengungen unternommenwerden müssen, um die ordnungspoliti-schen, historisch gewachsenen Wissensbe-stände der Ordnung der Sozialen Markt-wirtschaft zu bewahren und für dieZukunft als Gestaltungsmodell einermodernen und zugleich aufgeschlossenWirtschaftsordnungspolitik zu erhalten.

Insoweit ist der Wirtschaftsrat als„ordnungspolitisches Gewissen“ neugefordert, damit die „Akten der SozialenMarktwirtschaft“ nicht in Vergessenheitgeraten. Jeder, der sich jemals intensiv mitden Denkschriften der Freiburger Schule,mit den Programmschriften von LudwigErhard und Müller-Armacks beschäftigthat, weiß, dass eine gestaltende Politikohne eine geistig tragfähige Fundamentie-rung nicht lebensfähig ist.

Der Generalsekretär der CDU, Lau-renz Meyer, sagte in einem erläuterndenSchreiben zur sogenannten „Stoiber Kam-pagne“ vom 4. April d. Jahres: „Wir müs-sen die Wählerinnen und Wähler davonüberzeugen, dass die Union die besserenIdeen hat, um die Probleme Deutschlandszu bewältigen.“ Dies ist richtig und ver-langt, dass intensiv daran zu arbeiten ist,dass die Ideengrundlagen und die hieraufbasierenden Vorschläge einer „Ordnungs-politik der Sozialen Marktwirtschaft“plausibel begründet sind. Aus einer sol-chen Anlage von Reformpolitik mussneue Glaubwürdigkeit entspringen, dienicht nur Wähler überzeugt, sondernauch Ausweis dafür ist, dass dieses Landaus einer lang anhaltenden Blockade ihrerWirtschafts- und Gesellschaftspolitikbefreit werden kann.

Mut machtattraktiv

Wir sagen überzeugt: Mut machtattraktiv! Es bleibt auch dabei: PolitischeFührung bedeutet im Kern, den Vor-entwurf in die Zukunft zu wagen, ohnesicher sein zu können, dass Mehrheiten zugewinnen sind.

Wir wissen heute: Hätte man denNATO-Doppelbeschluss „Runden Ti-schen“, „Konsensrunden“ welcher Artauch immer ausgeliefert, so wäre dieseexistentielle Entscheidung für unser Landniemals so ausgefallen, wie sie dann dochgefällt worden ist. Hätte man den „Euro“den Widersprüchen und Gegnerschaftenausgeliefert, die im Zuge der Formulie-rung dieser Politik zu Tage traten, wärediese Schwelle zu einer Neuformierungeuropäischer Politik niemals erfolgreichüberschritten worden.

Nicht die „Mehrheitsfrage“ war bei die-sen Entscheidungen ausschlaggebend. Ent-scheidend war der politische Wille, diesenWeg einzuschlagen, von dem die Überle-bensfähigkeit und Existenzkraft unseresLandes und der Europäischen Gemein-schaft abhing. Wir sehen heute: Diese Poli-tik war nicht nur richtig. Sie war zugleicheine Vorbereitung für die Osterweiterungder Europäischen Gemeinschaften.

Es mag ja richtig sein, dass bei der For-mulierung von Rechten eine Regierung,wie es General de Gaulle gesagt habensoll, „kurz und dunkel“ sein soll, um derRegierung Bewegungsspielraum zu lassen.Wir bleiben aber davon überzeugt, dassBürger einer Politik bereitwillig folgen,die Zukunftsaufgaben auch dann klar be-schreibt, wenn Opfer verlangt werdenmüssen.

An diesem Punkt wird sich mitent-scheiden, ob bei der Bundestagswahlzukunftsfähige Mehrheiten gewonnenwerden können. Hierzu können wir nurdas unterstreichen, was Dr. Lauk deutlichwerden ließ: Vornehmste Aufgabe demo-kratischer Politik ist und bleibt es, demPrinzip „Verantwortung“ zu entsprechen.Politische Verantwortung in einer Demo-kratie entscheidet sich an der Frage, obParteien und Regierung Wahrheiten sobeschreiben, dass dem Bürger Mitverant-wortung für das Schicksal seines Landesabgefordert werden kann.

Abkehr und Misstrauen gegenüber derPolitik ereignen sich immer dann, wenndemokratische Politiker nicht den Mutbesitzen, den Bürgern unabweislicheEntscheidungen und damit auch Verän-derungen der Politik so darzustellen, dasssie darauf mit einem klaren Ja oder Neinantworten können.

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Das hat sich an der Rentenpolitik derletzten Regierung überaus deutlichgezeigt. Das erleben wir heute bei derSteuerpolitik und insbesondere bei derSozialpolitik dieses Landes, die heuteschon den sozialen Rechtsstaat an dieGrenze seiner Leistungsfähigkeit führt.

Wer allerdings glaubt, schwierigenEntscheidungen durch Verschweigen odergar Täuschung ausweichen zu können,wird die Glaubwürdigkeit der demokrati-schen Ordnung und damit der Ordnungder Sozialen Marktwirtschaft in unverant-wortlicher Weise beschädigen.

Aus diesem Grunde sagen wir: Nurmit einem gesteigerten Engagement derVerantwortungsträger, der ehrenamtlichMitwirkenden, der Unternehmer vor Ort,der Mitarbeiter des Wirtschaftsrates aufBundesebene und auf Länderebene wer-den wir imstande sein, unserer Verant-wortung zu entsprechen, die in unsererSatzung eindeutig beschrieben ist.

„Überzeugungsgemeinschaft“Der Wirtschaftsrat ist im Kern seiner

ordnungspolitischen Grundüberzeugun-gen eine „Überzeugungsgemeinschaft“.Nicht der einzelwirtschaftliche und dereinzelbetriebliche Nutzen ist die Existenz-frage an den Wirtschaftsrat.Entscheidendbleibt die in seinem Gesamtauftritt deut-lich werdende Fähigkeit, für eine Ord-nung der Sozialen Marktwirtschaft unter

veränderten Bedingungen kraftvoll arbei-ten zu können.

Der eigentliche Nutzen unserer Arbeitist die „Rückversicherung“ für freiheit-liche Betätigung und soziale Mitver-antwortung. Wer einer Ordnung derSozialen Marktwirtschaft zu dienen bereitist, dient der Freiheit der Unternehmerund zugleich der freiheitlichen Gestaltungunserer Wirtschafts- und Gesellschaftspo-litik für alle Bürger. Er dient unseremLande und auch einer freiheitlichenGestaltung europäischer Politik.

Wenn wir nächstes Jahr am 17. Juni2003 das 40-jährige Bestehen des Wirt-schaftsrates begehen, werden wir diesenAnforderungen neu entsprechen unddiese überzeugend darstellen müssen. Nurwenn wir aus einer solchen inneren Über-zeugung handeln, wird sich die Kraft fürdie Aufgaben mobilisieren lassen, die wirfür morgen benötigen.

Unternehmer zu sein, heißt Zukunftzu erkennen und vorab zu gestalten. Ausdiesem Grunde sind wir von einem kraft-vollen Optimismus für die Zukunft desWirtschaftsrates getragen.

Revision der Staatstätigkeit muss auf die Agenda

Unsere Konzeption verdeutlicht zumeinen unsere Grundüberzeugungen. Zumanderen beschreibt sie die von uns für not-

wendig gehaltenen Reformen unsererStaats- und Wirtschaftsordnung. Unserprogrammatisches Bemühen war insbe-sondere darauf konzentriert, für dieReformen des sozialen Rechtsstaates neuePlausibilitäten zu finden. Zugleich ist esder Versuch, Strategien gegen das Staats-versagen zu beschreiben, das wir glaubendiagnostizieren zu müssen.

In einer Hommage zum 10. Todestagdes Ökonomen und SozialphilosophenFriedrich August von Hayek erinnert unsKurt Leube in einem Aufsatz in der Frank-furter Allgemeinen Zeitung an die War-nung Hayeks, dass auch der „betreuendeWohlfahrtsstaat“ in einer unbeschränktenDemokratie keinerlei Garantien für dieAufrechterhaltung individueller Freiheitbiete.

Wolfgang Reinhard beschreibt in sei-ner bedeutsamen „Geschichte der Staats-gewalt“ den modernen Interventions- undSozialstaat als eine „totale Endstufe vonStaatsgewalt“.

Wolfgang Kersting spricht in seinemschwergewichtigen Buch zu den „Theo-rien der sozialen Gerechtigkeit“ von dem„überbeanspruchten Sozialstaat“, der inseiner Wirkung individuelle Freiheitenbeschädigt und die Leistungsfähigkeit derDemokratischen Ordnung als Ganzes inFrage stellt.

Seine kritische Beschreibung desstaatlichen Mandats zur Verteilung wirdvon uns geteilt, wenn er sagt: „Nurinnerhalb des durch politische Solidaritätgezogenen Rahmens der bedürfnisorien-tierten mitbürgerlichen Hilfsbereitschaftgibt es legitimes staatliches Verteilungs-handeln.“

Die Tarifverhandlungen des Jahres2002 legen die Vermutung nahe, dass dieGewerkschaftsmacht nicht mehr davorzurückscheut, den Staat als Ganzes zuprovozieren.

Damit ist die Frage der Gewerk-schaftsmacht in unserem Staate zu einerkritischen Masse geworden, mit der wiruns über die Mitbestimmung hinausstreitfähig beschäftigen müssen. Überunsere Positionierung hinaus glauben wirsogar, dass in der nächsten Legis-laturperiode eine Gesamtrevision der

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Staatstätigkeit auf die Agenda der Politikkommen muss.

Die Gefahr von Staatsversagen ist aktuell

Die Gefahr von Staatsversagen istaktuell. Die Neuverschuldung des Staats-haushaltes weist darauf hin, dass staatlicheAusgaben nicht ausreichend effizientbetrieben werden. Die Folge ist, dass derdemokratische Staat zunehmend vor derGefahr des Versagens seiner Institutionensteht.

Die Auseinandersetzungen um dieOrganisationsreform der Bundesanstaltfür Arbeit ist nur ein Signal unter vielenanderen. Die Verschwendung vonTransferleistungen, die Unfähigkeit, denSozialstaat auf Bedürftigkeitskriterien neuauszurichten, sind alles Zeichen dafür,dass der demokratische Staat von Grup-peninteressen usurpiert wurde. Damitwerden die politischen Gestaltungsspiel-räume immer enger eingegrenzt. Uns wirddie Chance genommen, neue Zukunfts-aufgaben rechtzeitig aufzugreifen und zugestalten. Die bisherige Familienpolitikunseres Landes liefert Hinweise darauf,dass wir die Zukunft unseres Staatesgefährden, wenn nicht bald neue Prioritä-ten gesetzt werden. Das Wahlprogrammder Union weist in eine neue Richtungund deshalb müssen auch wir uns damitbeschäftigen.

Insgesamt gilt: Ohne eine Organisati-onsreform der Staatstätigkeit wird es nichtgelingen, die Ordnung der SozialenMarktwirtschaft auf neue Zukunftsaufga-ben einzurichten. Aus diesem Grundeschlagen wir eine Kommission für dieModernisierung des Landes unter einerneuen Regierung vor. Dann allerdingsmüssen Kernkompetenzen der Staatstätig-keit, die Privatisierung der öffentlichenAufgaben, die Neuausrichtung gesell-schaftlicher Verantwortung und individu-eller Mitverantwortung auf die Tages-ordnung gesetzt werden.

Dazu gehören eine umfassende Ver-schlankung der Gesetzgebungs- und Ver-waltungsregeln, die Straffung des Beam-tenrechtes sowie eine Neudefinition der„Durchgriffsverantwortung“ für politi-sche Tätigkeit und für Verwaltungshan-deln.

Es geht um die persönlich zuzuord-nende Verantwortung für gesellschaftlicheFehlentwicklungen, die heute immerdeutlicher in den Vordergrund tiefgrei-fender Auseinandersetzungen geraten.

Die Frage nach Freiheit und Solidarität

Wir sprechen deshalb auch von derNotwendigkeit einer umfassenden Orga-nisationsreform der Bundesregierung undder Bundesverwaltung. Gleiches gilt fürdas Regierungs- und Verwaltungshandelnauf Länderebene und auf der Ebene derKommunen. Jürgen Jeske fordert zurechteine „Staatsordnungspolitik“, um dieOrdnungspolitik der Sozialen Marktwirt-schaft zukunftsfest zu machen. Diesmeint: Freiheit und Gerechtigkeit müssenan den Prinzipien der Marktkonformitätorientiert werden.

Um es deutlich zu sagen: WeitereReformen der Renten- und Sozialversi-cherungen müssen auf den Weg gebrachtwerden. Wir werden in der kommendenLegislaturperiode vor die Frage gestelltsein, ob es gelingt, die Staatstätigkeit alsGanzes zum Gegenstand kompetenterund zugleich kritischer Auseinander-setzungen zu machen. Voraussetzungdafür ist, dass eine solide Debatte nichtwiederum mit ideologischen Vorbehaltenbefrachtet wird, die jede Reform vonAnbeginn an diskreditieren.

Es mag provozierend klingen, aber wirmüssen uns mit der Frage beschäftigen, obder Sozialstaat in zunehmendem Maße zueiner bloßen „Verteilungsmaschine“ dege-neriert ist. Friedrich August von Hayeksprach in diesem Zusammenhang von derGefahr einer „Wohlstandsdiktatur“.

Wolfgang Reinhard spricht vom„Zusammenhang von Sozialstaat undTotalstaat“. Wolfgang Kersting formuliertüberaus eindrucksvoll, wenn er sagt: „DieGleichheitspolitik der Verteilungsgerech-tigkeit beruht auf einer systematischenVerletzung, der dem Liberalismus heiligenGrenze zwischen dem Inneren und demÄußeren, dem Privaten und demGesellschaftlichen.“

Er sagt dann: „Diese Gleichheitspoli-tik sprengt die personale Einheit auf, sieberaubt den Menschen seiner In-dividualität und reduziert ihn auf eineMaschinerie volksproduktiver Eigen-schaften, die zuerst einer ökonomischenEvaulation und dann einer kompensato-rischen Egalisierung unterzogen werden.“

Es ist eben keine Provokation, son-dern eine Wahrheit, wenn Wolfgang Kers-ting sagt: „Der Wohlfahrtsstaat setzt dieAtomisierungstendenzen der kapitalis-tischen Wirtschaftsgesellschaft fort. DerWohlfahrtsstaat ist eine bürokratischeMeisterleistung der Versorgungstechnik,aber er ist darum zugleich auch ein effek-

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tives Unternehmen der Bürgerverhinde-rung.“

Übersetzen wir diese zugegebenerMaßen zugespitzten Formulierungen, sostehen wir heute vor der Frage: WelchesVerständnis haben wir von individuellerFreiheit, von persönlicher Handlungs-möglichkeit? Welches Verständnis habenwir von Freiheit und Solidarität im demo-kratischen Staat und der auf ihn angeleg-ten Ordnung der Sozialen Marktwirt-schaft?

Wer alles dies heute sagt, steht erneutvor dem Vorwurf, den Umbau des sozia-len Rechtsstaates nur mit dem Ziel zu ver-folgen, soziale Errungenschaften abzu-bauen, und damit die Erwartungen aufsoziale Gerechtigkeit in unserer Ordnungzu verringern. Wir sollten uns auf diesenStreit einlassen, weil diese Totschlag-Argu-mente jedes Bemühen um eine chancen-reiche Zukunft verschütten.

Mit Kraft die Bedürftigkeitsfrage stellen

Der soziale Rechtsstaat ist auf Exis-tenzsicherung in einer Weise angelegt, kei-nen Bürger so in Not geraten zu lassen,dass er aus dem Solidaritätszusammen-hang freier Bürger herausfällt.

Wer dies allerdings ernst nimmt, mussalles tun, damit die Ausweichreaktionender Bürger in den schwarzen Markt und

den Missbrauch von Transferleistungenverhindert werden. Denn diese be-schädigen die solidarische Ordnung derDemokratie in einer Weise, die nichtmehr verantwortbar ist.

Wer den sozialen Rechtsstaat zu-kunftsfähig machen will, muss die Kraftbesitzen, die Bedürftigkeitsfrage im Inter-esse der solidarischen Mitverantwortungaller Bürger zu stellen. Wer den demo-kratischen Staat in seiner Handlungs-fähigkeit erhalten will, muss die Ord-nungspolitik der Sozialen Marktwirt-schaft durch eine „Staatsordnungspolitik“ergänzen.

Das Ziel ist klar: Es geht im Kern umdie „innere Souveränität“ des demokrati-schen Staates, wenn wir heute über Refor-men sprechen, die Voraussetzung dafürsind, dass wir neue Aufgaben bewältigenund unseren Staat zukunftsfähig werdenlassen können.

Wir haben vor längerer Zeit von derNotwendigkeit einer neuen „Ethik derGenerationenverantwortung“ gespro-chen:

Eine solche Ethik stellt sich der Frage,ob wir zu unserer Zeit imstande gewesensind, die Freiheitschancen und Hand-lungsmöglichkeiten für die nach unskommenden Generationen zu gewährleis-ten und zu stärken. In dieser Frage liegt

das ernste Motiv, auch bei Streitfragen,Mut und Zivilcourage zu beweisen.

Fähig zu ehrlicher KritikWir müssen auch gegenüber eigenen

Freunden zu ehrlicher und aufrichtigerKritik fähig sein. Wir wollen damit denethischen Geboten entsprechen, die denGründern unserer Republik ermöglichthaben, Demokratie und Soziale Markt-wirtschaft für dieses Land durchzusetzen.

Wohlstand für alle war ein Programmfür persönliche Freiheit und zugleichpersönliche Verantwortung. Hieraus ersterwuchs die Dynamik des Erhard’schenProgramms „Wohlstand für Alle“.

Herbert Kremp warnte davor, Polari-sierungsfallen zu umgehen und den poli-tischen Anspruch auf Regierungstätigkeitaus der „Tiefe der Leere“ zu erheben.Auch der Wirtschaftsrat ist also geistiggefordert, seine programmatischen Vor-stellungen notfalls im streitbaren Wider-spruch zu begründen, um damit an derprogrammatischen Gestaltung zukünfti-ger Regierungstätigkeit konstruktiv undkritisch mitwirken zu können.

Ein festes Fundament für unsereKinder und Kindeskinder

Ludwig Erhard sagt am Ende seinesbedeutsamen, heute wieder gültigen geis-tigen Vermächtnisses in seinem Buch„Wohlstand für Alle“: „Unser Tun dientnicht nur der Stunde, dem Tag oder die-sem Jahr. Wir haben die Pflicht, in Gene-rationen zu denken und unseren Kindernund Kindeskindern ein festes Fundamentfür eine glückliche Zukunft zu bauen. Ichlege vor jedem Bürger unseres Volkes dasVersprechen ab, all meine Kraft, meinWissen und meine ganze Erfahrung fürdie Sicherung unserer inneren und äuße-ren Freiheit, für die Festigung des demo-kratischen Lebens und für das Wohlerge-hen des Deutschen Volkes einzusetzen. Ineiner sich bewegenden Welt werden wirnicht erstarren dürfen, aber wir haben diePflicht, in der Verfolgung der Ziele unse-rer Politik fest zu bleiben.“

Er schließt mit den Versen: „Denn derMensch, der zur schwankenden Zeit auchschwankend gesinnt ist, der vermehret dasÜbel und breitet es weiter und weiter.Aber wer fest auf dem Sinne beharrt, derbildet die Welt sich.“ �

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Präsidium und Bundesvorstand desWirtschaftsrates beschlossen einstimmig,Egon Klopfleisch mit der Ehrenmitglied-schaft und der Ludwig-Erhard-Gedenk-medaille auszuzeichnen.

Der Präsident, Dr. Kurt J. Lauk,erklärte in seiner Laudatio vor der Bun-desdelegiertenversammlung u. a.:

„Es ist eine gute Tradition des Wirt-schaftsrates, seinen Dank und Respektfür besondere Leistungen im ehrenamtli-chen Engagement im Interesse unsererOrganisation zum Ausdruck zu bringenund zu bezeugen. Die Bundesdelegier-tenversammlung ist auch der Ort, umerkennbar werden zu lassen, welche Be-deutung wir der unternehmerischen Ein-satzbereitschaft in unserer Organisationzumessen.

Es ist mir eine besondere Freude,unser Mitglied des Präsidiums und Vor-sitzenden des Landesverbandes Thürin-gen, unseren Freund Egon Klopfleisch,mit Ihrer aller Zustimmung zum Ehren-mitglied und Träger der Ludwig-Erhard-Gedenkmedaille des Wirtschaftsrates derCDU in Silber zu berufen.

Egon Klopfleisch ist Mitglied desWirtschaftsrates seit dem 1. September1990. In der Gründungsphase der Lan-desverbände in den damals noch soneuen Bundesländern hat sich EgonKlopfleisch als damaliges Mitglied desVorstandes der Umform- und Kunstoff-technik AG Erfurt bereiterklärt, den Lan-desvorsitz im Wirtschaftsrat Thüringenzu übernehmen. 1991 wurde er zum Mit-glied des Präsidiums des Wirtschaftsratesberufen und hat dann maßgeblich dazu

beigetragen, dass wir unsere Organisati-onsstrukturen in den neuen Bundeslän-dern schnell und zügig aufbauen undhandlungsfähig werden lassen konnten.

Im Frühjahr dieses Jahres hat er sichaus dem Präsidium zurückgezogen. Wirhaben an seiner Stelle Hermann-JosefLamberti in das Präsidium berufen. AlsEhrenmitglied des Wirtschaftsrates wirdEgon Klopfleisch auch in Zukunft alsRatgeber an unserer Seite stehen und unshelfen, die besonderen Interessen unsererFreunde in den neuen Bundesländern imAuge zu behalten.

Bald wird er nun auch den Landes-vorsitz in Thüringen an seinen Nachfol-ger übergeben. Sie, lieber Herr Klop-fleisch, zeigen einmal mehr mit dieser

Entschlossenheit, für die Zukunft vor-zusorgen, in beispielhafter Weise Verant-wortungsbewusstsein und die Sie soüberaus kennzeichnende noble Gesin-nung.

Wir danken Ihnen für Ihren Einsatzfür den Wirtschaftsrat der CDU. Siehaben sich um den Aufbau der markt-wirtschaftlichen Ordnung in den neuenBundesländern verdient gemacht.

Wir hoffen sehr, dass Ihr Vorbildunsere Mitglieder nicht nur in Thürin-gen, sondern weit darüber hinaus ermun-tert, uns auch in der vor uns liegendenZeit zu helfen, den Wirtschaftsrat zu stär-ken und als Anwalt der Ordnung derSozialen Marktwirtschaft kraftvoll zuarbeiten.“

Ludwig-Erhard-Gedenkmedaille und

Ehrenmitgliedschaft

Egon Klopfleisch ausgezeichnet

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Wirtschaftstag 2002

Freiheit für Bürger und MärkteReformagenda Soziale Marktwirtschaft

Der amerikanische Ökonom undNobelpreisträger für Wirtschaftswissen-schaften, Michael Spence, hob den Ein-fluss der rasanten Entwicklung in derInformationstechnologie in den vergan-genen zehn Jahren auf die Produktivitätder Volkswirtschaften hervor.

Schon in den 40 Jahren zuvor habesich zwar die Leistung von Computer-prozessoren alle 18 Monate verdoppelt.Jedoch hätten Ökonomen keinen signifi-

kanten Einfluss der Informationstechno-logie auf die Produktivität hoch ent-wickelter Volkswirtschaften messen kön-nen, betonte Spence. Die Verbreitungdes Internets habe hingegen die ökono-mischen und gesellschaftlichen Bezie-hungen weltweit stark verändert, sagteder Wirtschafts-Nobelpreisträger des ver-gangenen Jahres.

Dies sei zwar keine Revolution, wieoft behauptet werde, „gleichwohl aber

eine enorm schnelle, bis vor zehn Jahrenweder gekannte noch erahnte evolu-tionäre Entwicklung für die Produkti-vität wirtschaftlicher Prozesse“.

Die entscheidende Veränderungdurch die Entwicklung eines Standard-übertragungsprotokolls, das dem welt-weiten Datennetz zu Grunde liegt, seiaus ökonomischer Sicht der rasanteRückgang so genannter Transaktionskos-ten. Durch das World Wide Web seien

Prof. A. Michael Spence Ph. D.Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften 2001, Stanford University

Die transatlantische Partnerschaft vor neuen Aufgaben

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89trendIII. Quartal 2002

Datenbanken auf der ganzen Welt simul-tan und zu jeder Zeit verfügbar – ganzgleich ob Anwender oder Programmierervon den USA, Europa oder dem asiati-schen Kontinent aus auf Informationenzugriffen. Das Internet habe aus dieserSicht regelrecht für eine Überwindungvon zeitlichen und räumlichen Distanzengesorgt. Friktionen wie etwa Suchpro-zesse, die ökonomische Prozesse ver-langsamen und verteuern, würden durchdas Internet deutlich verringert.

Potenzielle Marktpartner fändenüber das Netz schneller zusammen,erläuterte Spence. Dies führe auch dazu,dass mehr und mehr Arbeiten aus denUnternehmen ausgegliedert werdenkönnten, etwa weil es kaum noch eineRolle spiele, ob ein Programmierer vonIndien oder den USA aus seiner Arbeitnachgehe. Noch bedeutender aber seiendie bis vor wenigen Jahren kaum vor-stellbaren Produktivitätsfortschritte, diedurch das weltweite Datennetz in wis-sensbasierten Volkswirtschaften Einzughielten. Hätten zurzeit der industriellenRevolutionen noch Wachstumsraten vonrund einem Prozent aus wirtschaftlicherSicht eine neue historische Epoche ein-geläutet, seien heute wegen des Produk-tivitätsschubs Wachstumsraten von biszu zehn Prozent möglich, betonteSpence.

Dies wiederum habe gravierende Fol-gen für Wirtschaft und Gesellschaft. InVolkswirtschaften, die mit rund einem

Prozent pro Jahr wachsen, hätten Arbeit-nehmer die Gewissheit, nur einmal imLaufe ihres Lebens einen Beruf erlernenzu müssen und diesen im Laufe ihresErwerbslebens auch nicht wechseln zumüssen. Wachse eine Wirtschaft dagegenüber einen längeren Zeitraum mit vierProzent pro Jahr, entwickele sich dieGesellschaft durch den langfristig weithöheren Wachstumspfad aufgrund desjedes Jahr akkumulierten Wachstumsganz anders. Arbeitnehmer, betonte derWirtschaftswissenschaftler, müssten vielflexibler sein als früher, weil sie im Laufeihres Lebens aufgrund des beschleunig-ten Strukturwandels mindestens zweiMal einen neuen Job erlernen müssten.

Voraussetzung für eine solche Ent-wicklung seien allerdings flexible Arbeits-und Kapitalmärkte, unterstrich Spence.Menschen und Kapital müssten dieFreiheit haben, sich ungehindert dorthinzu bewegen, wo sie ihre höchste Pro-duktivität entwickeln könnten.

Aus Sicht der Entwicklungsländerbesteht allerdings das Problem extremhoher Fixkosten, die der Aufbau einesDatennetzes verschlinge. Spence rief dieIndustrieländer darum dazu auf, die Ent-wicklungsländer beim Aufbau einerInfrastruktur für die Informationstech-nologie zu unterstützen.

Offene Grenzen und marktwirt-schaftliche Wirtschaftsordnungen, einfunktionierendes Rechtssystem und gesi-

cherte Eigentumsrechte seien heuteallenfalls noch eine notwendige, inZukunft aber keine hinreichende Bedin-gung mehr für Wachstum und Wohl-stand. Eine weitere Voraussetzung für eindauerhaft nachhaltiges Wachstum einerVolkswirtschaft sei ein Produktivitäts-schub, der heute mehr und mehr von derAusstattung mit einer zeitgemäßen Infor-mationsinfrastruktur abhänge.

Unterstützten die Industriestaatendie weniger weit entwickelten Länder,täten sie auch etwas zur Bereitstellungeines internationalen öffentlichen Gutes,erklärte Spence, weil Wachstum in weni-ger reichen Ländern auf lange Sicht einenwichtigen Beitrag zur Vermeidung desweltweiten Terrorismus beitrüge.

„Ich glaube nicht nur, dass wir etwasGutes tun, wenn wir diesen Ländern hel-fen. Ich bin überzeugt, dass es unserePflicht ist, ihnen mehr finanzielle Unter-stützung zukommen zu lassen“, sagte derWissenschaftler. Spence erinnerte zudeman die heterogene Gruppe der Globali-sierungsgegner, die sich heute rund umden Erdball zu Protesten zusammen-schlössen.

Auch diese müssten wie die Entwick-lungsländer von den Vorteilen offenerMärkte und der Globalisierung über-zeugt werden. „Das marktwirtschaftlicheSystem und offene Volkswirtschaftensind starke Waffen im Entwicklungspro-zess“, betonte Spence. Sie seien so wich-tig, „weil sie nötig sind für einen effizi-enten Umgang mit knappen Ressour-cen“.

Aber es sei eben falsch, heute so zudiskutieren, als seien ein kapitalistischesWirtschaftssystem und offene Märkteschon hinreichend, um den wirtschaft-lichen Aufholprozess in Entwicklungs-ländern zu sichern. „Und diese Theorienund Überzeugungen sagen uns auchnicht, wo wir ansetzen müssen, um denEntwicklungsländern zu helfen.“

Aus Sicht des Ökonomen ist derwichtigste Punkt, an dem die Industrie-staaten ansetzen sollten, das Datennetz,weil es die Voraussetzungen für einenProduktivitätsschub schaffe, aber auchzur Verbreitung von Bildung und Infor-mation beitrüge.

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1. In den ersten 100 Tagen nach der Bundestagswahl sollten ein ordnungspolitischerKassensturz und ein „Konvent zur Staatsreform“ in Angriff genommen werden

Alle europäischen Länder, die in denvergangenen Jahren ihr Haushaltsdefizitund ihre Staatsquote konsequent zurück-geführt haben, erzielen heute die höchstenWachstumsraten.

Die Ziele des Staatskonvents müssendeshalb sein:

� bis 2010 die Reduzierung der Staats-quote von derzeit rd. 49 auf unter 40Prozent;

� bis spätestens 2006 der völlige Abbaudes Defizits von Staats- und Bundes-haushalt;

� klare Zuständigkeiten der Gebietskör-perschaften nach der Devise: Werbestellt, bezahlt;

� die Entflechtung der Gesetzgebungs-kompetenzen von Bund und Ländern.

Öffentliche Hände greifen immer inprivate Taschen. Privatisierung, Subventi-onsabbau, Einschnitte in den Staatskon-sum sowie der Abbau von Gesetzesflutund Genehmigungsbürokratie müssengenutzt werden, um die wirtschaftlicheLeistungsfähigkeit Deutschlands wiederzu erhöhen.

2. Arbeitsmarktblockadenbeseitigen – betrieblicheBündnisse für Arbeit stärken

Die jüngsten Tarifabschlüsse in derMetall- und Elektroindustrie liegen weitoberhalb des Produktivitätszuwachses undtreiben die Arbeitsplätze weiter ins Aus-land. Unser Arbeitsmarkt ist inzwischenso stark reguliert, dass erst ab einem realenWachstum von rund 2,5 Prozent neueArbeitsplätze jenseits der Schwarzarbeitentstehen, während die Beschäftigungs-schwelle in den Vereinigten Staaten nurbei 0,5 Prozent Wachstum liegt. NeueArbeitsmarkt-Dynamik erfordert unmit-telbar nach der Bundestagswahl:

� Die Gesetze zu Scheinselbstständig-keit, befristeten Arbeitsverhältnissenund Teilzeitarbeit müssen zurückge-nommen werden.

� Wir brauchen eine echte Modernisie-rung der betrieblichen Mitbestim-mung, die dem Bedarf an flexiblenund schnellen betrieblichen Entschei-dungen gerecht wird.

� Der Niedriglohnsektor sollte so ausge-baut werden, dass sich Arbeit künftigstärker lohnt als Nicht-Arbeit.

� Die Bundesanstalt für Arbeit sollte aufKernkompetenzen konzentriert wer-den.

� Den Betriebsparteien muss die Abwei-chung vom Flächentarifvertrag beiqualifizierter Mehrheitsentscheidungder Belegschaft ermöglicht werden –aber ohne Veto-Recht der Gewerk-schaften.

Der Wirtschaftsrat lehnt einTariftreuegesetz auf Bundes- oder Landes-ebene ab. Ein solches Gesetz ist wettbe-werbsfeindlich und vernichtet weitereArbeitsplätze, gerade in den neuen Bun-desländern. Statt Unternehmen außerhalbdes Flächentarifvertrages zu benachteili-gen, brauchen wir dringend mehr betrieb-liche Bündnisse – die schaffen Arbeit!

3. Umfassende Steuerreform zu Beginn der Legislaturperiodeverabschieden!

Die Union sollte gerade wegen derjüngsten Steuerschätzung nicht von ihrenSteuerplänen abrücken und schnellstmög-lich ein Wachstumssignal für die bisherbenachteiligten mittelständischen Unter-nehmen geben.

Selbst nach der neuen Prognosenimmt das Steueraufkommen Jahr fürJahr weiter zu. 2006 werden rund 90 Mil-liarden € – oder 20 Prozent mehr Steuerngezahlt werden müssen als 2001.

Nachhaltige Steuersenkungen sind

Anforderungen an das Regierungsprogramm 2002-2006

Deutschland braucht den Rich-tungswechsel weg vom rot-grü-nen Staatsinterventionismus hin

zu einer wachstumsfördernden Wirt-schaftspolitik.

Verpasste Reformchancen haben dieMassenarbeitslosigkeit zementiert, diesoziale Sicherung gefährdet und Wachs-tum verhindert.

Deutschland ist EU-Spitzenreiter beiden Unternehmenspleiten und Letzterbei den Unternehmensgründungen.

Unser Wohlstand ist seit 1990 von 80auf 70 Prozent des US-Niveaus gesun-ken. Wer wirtschaftlich zurückfällt, wirdbald auch sozial absteigen.

Die Rückkehr Deutschlands an dieSpitze der erfolgreichen Wirtschaftsnatio-nen erfordert deshalb vor allem:

� eine Generalrevision der Staatsaufga-ben,

� die Auflösung der Arbeitsmarkt-blockaden,

� eine neue umfassende Steuerreform,

� mehr Eigenverantwortung und Kapi-taldeckung bei Rente und Gesundheit,

� eine neue Strategie für den AufbauOst sowie

� die Stärkung von Bildung und For-schung.

Im Gegensatz zur SPD setzt dieUnion mit ihrem Regierungsprogrammein klares Zeichen der Erneuerung.

Dieses Signal sollte durch einen straf-fen Zeitrahmen und schärfere Konturender Reformvorhaben gestärkt werden.

OrientierungspunkteRichtungswechsel: Wachstumspolitik statt Staatsinterventionismus

Anforderungen an das Regierungsprogramm 2002-2006

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zugleich der entscheidende Schlüssel, umein neues Mittelstandsterben durch BaselII zu verhindern. Noch im ersten Regie-rungsjahr sollte ein dreistufiges Gesamt-konzept zur Steuerreform parlamentarischverabschiedet werden.

� Erste Stufe 2003: Aussetzen der wei-teren Ökosteuer-Erhöhung.

� Zweite Stufe 2004: Abschaffung derGewerbesteuer und Senkung des Ein-kommensteuer-Spitzensatzes auf 42Prozent.

� Dritte Stufe 2005: durchgängigeAbsenkung des Einkommensteuer-tarifs und Reduzierung des Spitzen-satzes auf 35 Prozent ab einem Ein-kommen von 65.000 €.

Das Bruttofinanzierungsvolumen die-ser Steuerreform beträgt insgesamt 41Milliarden €. Zur Gegenfinanzierung set-zen wir auf globale Ausgabenkürzungen inallen öffentlichen Haushalten, die Rück-führung von Subventionen, die Privatisie-rung, die Streichung von Steuervergünsti-gungen sowie die Selbstfinanzierungdurch neue Wirtschaftsdynamik.

Die von der Union angekündigteÜberprüfung der Steuerfreiheit von Ver-äußerungsgewinnen zwischen Kapitalge-sellschaften sollte im Ergebnis keinesfallszu einer Doppelbesteuerung führen. Fürjede Gesetzesänderung muss eine ausrei-chende Karenzzeit gelten. Ziel bleibt dieGleichbehandlung von Personen- undKapitalgesellschaften, und das mit eineminternational wettbewerbsfähigen Steuer-satz.

4. Eigenvorsorge und Kapitaldeckungbei Rente und Gesundheitausbauen!

Explodierende Sozialabgaben erdros-seln unsere Wettbewerbsfähigkeit schonheute. Im Jahr 2011 wird über die Hälfteder Bevölkerung über 50 Jahre alt sein. In30 Jahren werden 100 Erwerbstätige 73Rentner versorgen müssen – doppelt soviele wie heute. Ohne weitere Reformendrohen Sozialversicherungsbeiträge von65 Prozent. Notwendig sind deshalb vorallem:

� mehr Eigenvorsorge bei der Alterssi-

cherung nach internationalen Stan-dards, die Zulassung von reinen Bei-tragszusagen und der schrittweise Aus-bau des privaten Kapitaldeckungsan-teils auf mindestens 40 Prozent;

� mehr Eigenvorsorge bei der Kranken-versicherung und die generelle Ein-führung einer Kapitaldeckung vonzehn Prozent bis 2010 und insgesamt30 Prozent bis 2030;

� die langfristige Begrenzung des Bei-trags zur gesetzlichen Pflegeversiche-rung auf 1,7 Prozent und der Einstiegin eine private Versicherung auf Kapi-talbasis.

Die von Sozialdemokraten undGewerkschaften geforderte Anhebung derVersicherungs-Pflichtgrenze ist genau derfalsche Weg: Sie erstickt den dringendbenötigten Wettbewerb und baut dieZwangsmitgliedschaft im alten Kollektiv-system zu Lasten der privaten Kranken-versicherungen aus. Die zugleich vorge-schlagene Erhöhung der Beitragsbemes-sungsgrenze würde zu Beitragssteigerun-gen um bis zu 33 Prozent führen.

5. Neue Wege und Öffnungsklauseln für den Aufbau Ost erschließen

Das seit der Wiedervereinigung erst-malige Negativwachstum im letzten Jahrist mitverantwortlich dafür, dass dieArbeitslosenquote in Ostdeutschland mitfast 20 Prozent inzwischen zweieinhalb

mal so hoch wie in Westdeutschland ist. Der Wirtschaftsrat fordert:

� Öffnungsklauseln für Bundesgesetzesollten durchgesetzt werden, um denOsten vom Ballast überzogener Re-gulierungen insbesondere im Gewer-be-, Bau- und Umweltrecht zu be-freien.

� Eine verfrühte West-Ost-Lohnanglei-chung beim öffentlichen Dienst über-fordert die öffentlichen Haushalteund gefährdet wegen ihrer falschenSignalwirkung Arbeitsplätze in derPrivatwirtschaft. Die Lohnentwick-lung sollte von Wirtschaftlichkeit undProduktivität in den Betrieben abhän-gig bleiben.

� Die Förderpolitik nach dem Gießkan-nenprinzip muss beendet werden. DieErhöhung der niedrigen Selbstständi-genquote in Ostdeutschland könntevor allem durch eine Konzentrationder Förderung auf Wachstumszentrenund Hochschulstandorte erreicht wer-den.

� Eine generelle Verschlechterung derKreditkonditionen für den deutschenMittelstand durch Basel II muss ver-hindert werden. Zudem sind dieNovellierung des Gesetzes zur Verbes-serung der Zahlungsmoral und derÜbergang zur Ist-Besteuerung bei der

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Mehrwertsteuer erforderlich.6. Bildungspolitik an den internationalerfolgreichsten Vorbildernorientieren

Die Wettbewerbsfähigkeit derZukunft beruht auf High-Potentials, Wis-sen und Kreativität! Unser Bildungssystembraucht deshalb auf allen Ebenen drin-gend mehr Internationalität, Wettbewerb,Leistungsorientierung und eine gezielteElitenförderung:

� Wir brauchen in den Schulen eineStärkung der mathematisch-naturwis-

senschaftlichen Fächer und der bilin-gualen Ausbildung sowie die generelleAbiturprüfung nach zwölf Jahren.

� Lediglich neun Prozent der Schülervon zwölf bis 19 Jahren verfügen bis-her über einen PC in ihrem Klassen-raum, obwohl die deutsche Wirtschaftim EU-Vergleich einen Spitzenplatzbei der Finanzierung von Schul-PC’sund Internet-Anschlüssen belegt. Dieöffentliche Hand sollte hier nochdeutlich nachlegen.

� Eine innovative Hochschulpolitik

erfordert die eigenständige Auswahlvon Studenten und Professoren durchdie Hochschulen, sozialverträglicheStudiengebühren sowie die Straffungder Studieninhalte. Hochschullehrersollten nur noch in Ausnahmefällenund bei besonderen Verdiensten in For-schung und Lehre verbeamtet werden.

7. Forschung und Entwicklungstärken – Innovationen schneller in neue Produkte umsetzen

Die deutsche Grundlagenforschungist weltweit anerkannt. Gleichwohl ist derdeutsche Weltmarktanteil bei der Ausfuhrvon Spitzentechnologie auf 9,4 Prozentgesunken und erreicht damit gerade ein-mal ein Drittel des Anteils der VereinigtenStaaten. Deutschland rangiert bei denAufwendungen für Forschung und Ent-wicklung gemessen an der Wirtschafts-kraft weltweit lediglich an siebter Stelle –hinter Korea. Kernelemente einer neuenForschungspolitik müssen werden:

� Die Vernetzung zwischen Hochschu-len und Unternehmen sollte durcheine Steigerung der Drittmittel-For-schung und der Unternehmensaus-gründungen aus den Universitätenausgebaut werden, um die Vermark-tung von Forschungsergebnissen zubeschleunigen.

� Durch gemeinsame Internet-Plattfor-men von Unternehmen und Hoch-schulen können die Transaktions- undSuchkosten reduziert sowie die Chan-cen für die Verwertung von For-schungsergebnissen erhöht werden.

� Die Innovations- und Verwertungs-leistung von Forschungseinrichtungenmuss durch eine leistungsabhängigeBezahlung und ein flexibles Haus-halts- und Dienstrecht verbessert wer-den.

� Bereits beim Einstellungsverfahrensollten zwischen Hochschule und For-scher das Recht auf Patentanmeldungund die Beteiligung an den Verwer-tungserlösen geregelt werden.

Gerade in den SchlüsselbereichenPharma- und Gentechnologie sollten wirunsere Zukunftschancen nicht durchüberzogene Gesetze verbauen, sondernuns an den Maßstäben wichtiger Konkur-

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renzländer orientieren. �Dr. Burckhard BergmannVorsitzender des Vorstandes Ruhrgas AG,

Stellv. Vorsitzender des Ost-Ausschusses

der Deutschen Wirtschaft

,,... Die Osterweiterung der EU wirdvon der Industrie voll mitgetragen. AusSicht der Wirtschaft bietet sie mehr Chan-cen als Probleme. Nur ist die Wirtschaftetwas vorsichtiger in der Beurteilung derwirtschaftlichen Konsequenzen als diePolitik. Die Entwicklung der Wirtschafts-beziehungen zwischen den Beitrittskandi-daten und der Europäischen Union istbereits auf einem sehr dynamischen Weg,und dieser Weg wird auch weiter gegan-gen. Der Beitritt ist aus Sicht der Wirt-schaft aber kein Quantensprung mehr,sondern gewissermaßen das I-Tüpfelcheneiner Entwicklung, die schon sehr weitvoran geschritten ist. Sorge bereitet aller-dings die innere Struktur der Europäi-schen Union. Das wird das größte Pro-

blem des Erweiterungsprozesses sein.Ohne institutionelle Reformen wird dieEU dem Erweiterungsprozess nichtgewachsen sein. Was jetzt schon – wie etwadie Agrarpolitik – bei 15 Ländern ein

Osterweiterung der EuropäischenUnion: Mehr Wettbewerb stattProtektionismus

Podium I

In das Thema „Osterweiterung derEuropäischen Union: Mehr Wettbewerbstatt Protektionismus“ führten ein ausSicht der Beitrittsländer: WojciechKostrzewa, Vorsitzender des VorstandesBRE Bank SA Warschau sowie aus Sichtder Europäischen Union: Prof. Dr.Hans-Gert Pöttering MdEP, Vorsitzen-der der EVP-ED-Fraktion im Europäi-schen Parlament in Brüssel.

Unter der Moderation von Dr. h.c.Horst Teltschik, Beauftragter des Vor-standes der BMW Group AG, diskutier-ten: Dr. Burckhard Bergmann, Vorsit-zender des Vorstandes Ruhrgas AG,Stellvertretender Vorsitzender des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft;Dr. Klaus Friedrich, Chefvolkswirt derAllianz Gruppe und Dresdner Bank AG;S.E. Gergely Pröhle, Botschafter derRepublik Ungarn in Deutschland sowieDr. Wolfgang Schäuble MdB.

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Für den Vorstandschef der polni-schen BRE Bank, Wojciech Kostrzewa,beinhaltet die Osterweiterung der Euro-päischen Union auch große Chancen fürdie bisherigen Mitgliedsländer. So könnedie Osterweiterung in den heutigen EU-Staaten wegen des verschärften Wettbe-werbs zum Beispiel einen Anstoß geben,verkrustete Strukturen in der öffent-lichen Verwaltung und auf den Arbeits-märkten aufzubrechen. „Vor ihnen liegenLänder, die seit zwölf Jahren das Bestetun, um sich nach 50 Jahren Planwirt-schaft der Marktwirtschaft anzupassen“,sagte Kostrzewa.

Parallel dazu müssten binnen kürzes-ter Zeit auch die Rechtssysteme an dieBedingungen einer liberalen Gesell-schaftsordnung und an die Verhältnissein der EU angepasst werden. Dies seiheute in einer globalisierten Weltwirt-schaft aber deutlich schwieriger als nachdem Zweiten Weltkrieg, als sich die west-lichen Länder auf den Weg in die offeneGesellschaft und die Marktwirtschaftgemacht hätten.

„Polen, Tschechien und Ungarnhaben es heute mit einer komplexerenUmwelt zu tun verglichen mit denfünfziger und sechziger Jahren“, hob

Kostrzewa hervor. „Und wir müssen vie-les parallel machen, wofür sie 50 JahreZeit hatten“, erinnerte Kostrzewa. DerBankvorstand begrüßte die Festlegungeines festen Zeitrahmens für die Bei-trittsverhandlungen mit den mittel- undosteuropäischen Ländern. „Das Nenneneines festen Datums ist notwendig, umdas politische Momentum in diesen Län-dern zu behalten, da die Unterstützungfür die europäische Idee auch nicht ewiganhält“, betonte Kostrzewa. Denn dieBeitrittsländer hätten neben den Vortei-len eines EU-Beitritts auch erheblicheAnpassungslasten zu bewältigen. Darumsei es verständlich, dass sich angesichtsder anspruchsvollen Beitrittskriterienauch Widerstand in der Öffentlichkeitder Beitrittsländer rege und die Zahl derEuroskeptiker zunehme. „Das sind beun-ruhigende Tendenzen“, sagte Kostrzewa.

Dennoch sprächen sich zum Beispielin Polen und in Ungarn nach wie vorzwei Drittel der Bürger für einen EU-Beitritt aus. Kostrzewa hob hervor, dassdie Öffnung der Märkte einen verschärf-ten Wettbewerb und damit einen erheb-lichen Anpassungsdruck vor allem in dentraditionellen Industriezweigen Stahl,Kohle und in der Schwerindustrie mitsich brächte. Dies beinhalte aber auch die

Chance für sinkende Preise, mehr Qua-lität und Effizienz.

Weniger beachtet werde in derÖffentlichkeit dagegen der ebenso wich-tige Bereich der Dienstleistungen. Auchhier nehme der Wettbewerb zu, und imUnterschied zu den traditionellen Bran-chen seien im Dienstleistungssektor vielgrößere Wanderungsbewegungen sowohlder Arbeitskräfte als auch der Unterneh-men zu beobachten. „Die modernenIndustrien sind flexibel und kaum stand-ortgebunden“, sagte Kostrzewa. „Unddas bedeutet auch, dass die Menschen,die in diesen Industrien arbeiten, einfachin den Westen gehen können und dieUnternehmen von Westen nach Ostenabwandern können.“ Dennoch rechnetKostrzewa nicht damit, dass die Öffnungder Grenzen zu Wanderungsbewegungenin großem Stil führen werden.

„Wenn selbst in Polen innerhalbeines Landes mit gleicher Sprache, glei-cher Kultur und gleichem Rechtssystemdie Menschen aus monetären Gründenkaum den Wohnort wechseln, warumsollten sie dann in Scharen nachDeutschland, Frankreich oder Österreichauswandern?“, fragte Kostrzewa. Dies seieine Vorstellung von Mobilität, die mitder Realität nur wenig zu tun habe.

Es sei vielmehr damit zu rechnen,dass vor allem, junge, hoch qualifizierteMenschen aus den Beitrittsländern eineZeit lang in den Westen gingen, umberufliche Erfahrungen zu sammeln. „Siekommen aber nicht nur nach Deutsch-land, sondern werden auch nachEngland, Frankreich und in die Vereinig-ten Staaten gehen“, prognostizierteKostrzewa.

Auf diese Weise trügen die vermehr-ten Migrationsbewegungen auch zur Fle-xibilität und zur Überwindung der ver-krusteten europäischen Arbeitsmärktebei. Kostrzewa betonte zudem, dass sichdas polnische Bankensystem inzwischenauf EU-Standard bewege. Beim Aufbaueiner kapitalgedeckten Altersvorsorge seiPolen sogar weiter als viele westeuropäi-sche Länder, sagte Kostrzewa.

Dr. Wojciech KostrzewaVorsitzender des Vorstandes BRE Bank SA, Warschau

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„Die Europäische Union steht voreiner Herausforderung, wie sie in dieserDramatik noch nie zu bewältigen war“,sagte der Vorsitzende der EVP-ED-Frak-tion im europäischen Parlament, Hans-Gert Pöttering. Gleichwohl sei diegeplante Erweiterung der europäischenUnion um zehn neue Mitgliedsländer imJahr 2004 für Deutschland ein großesGlück.

„Denn wir haben zu Beginn des 21.Jahrhunderts die Chance, mit allen unse-ren Nachbarn im Norden, im Süden, imWesten und im Osten in Partnerschaftund Freundschaft zu leben.“ Pötteringbetonte, die Beitrittsländer hätten gewal-tige Anstrengungen zu bewältigen, weilsie sich den hohen Idealen der EU-Wer-tegemeinschaft und dem Wettbewerb aufdem europäischen Binnenmarkt stellenmüssten.

Zum Teil werde es auch sehr harteund schwierige Verhandlungen geben,etwa hinsichtlich der Frage der Agrarsub-ventionen. Nach Ansicht Pötteringsmüssen die Unterstützungszahlungen inder Europäischen Union zu einem erheb-lichen Teil schrittweise vom Süden in dieMitte Europas, vor allem nach Polen,umgelenkt werden. Im Gegenzug ver-lange die EU zu Recht, dass dieBeitrittskandidaten eine rechtsstaatlicheOrdnung und eine funktionierendeöffentliche Verwaltung aufbauten.

„Da ist wohl auch die schwierigsteAufgabe der Beitrittsländer nach 50 Jah-ren Kommunismus“, sagte Pöttering. Einstarker europäischer Binnenmarkt seijedoch gleichzeitig Voraussetzung dafür,auf den Weltmärkten wettbewerbsfähigzu bleiben. Die Europäer müsstengemeinsam handeln, um ein starker undgleichberechtigter Partner der USA zuwerden. Die Beitrittsverhandlungen dermittel- und osteuropäischen Staaten er-forderten vor allem eine Weiterentwick-lung der europäischen Institutionen, wiesie derzeit der EU-Konvent erarbeitet.

„Die Verhandlungen sind öffentlichund wir wollen, dass dieser Konvent eineVerfassung vorschlägt“, sagte Pöttering.

Im Sommer nächsten Jahres sollendie Vorschläge für eine grundlegendeReform des europäischen Vertragswerkesvorgelegt werden. „Wir waren nichtzufrieden mit dem Vertrag von Nizzaund er hat die Europäische Union nichtwirklich erweiterungsfähig gemacht“,betonte Pöttering. Heute gehe es darum,ein starkes europäisches Parlament zuschaffen. „Wir brauchen ein Parlament,das in allen Fragen der Gesetzgebung mitdem EU-Ministerrat gleichberechtigtist“, sagte Pöttering.

Das EU-Parlament benötige zudemdie volle Haushaltsbefugnis, „denn dasist ein Vetorecht jedes Parlaments“,betonte Pöttering. Zudem müsse erreichtwerden, dass das Parlament die EU-Kommission wähle und der EU-Minis-terrat öffentlich tage. „Heute tagt derMinisterrat bei Gesetzesentscheidungenhinter verschlossenen Türen.

In Zukunft muss das Gremium nichtnur nach der Mehrheit entscheiden, son-dern seine Entscheidungen auch transpa-rent machen und gegenüber der Bevöl-kerung vertreten“, forderte der Europa-Parlamentarier. Wichtigstes Ziel derEuropäischen Union sei die Vermeidungvon politischem Opportunismus, sagte

Pöttering. „Denn dann würde jedes Landdas machen, was es will. Wenige Großewürden sich zusammen tun und die Klei-nen dominieren“, warnte der Europaab-geordnete. In Zukunft sei daher beson-ders darauf zu achten, dass die politi-schen Institutionen strikt dem euro-päischen Recht unterworfen werden.

Eine klare rechtliche Grundlageschaffe die Voraussetzungen dafür, dasstrotz aller Interessengegensätze in EuropaKonflikte künftig friedlich ausgetragenwerden könnten. Pöttering erinnertezudem an den beschwerlichen Weg, dendie mittel- und osteuropäischen Länderdurch die Unterjochung und anschlie-ßende Befreiung von kommunistischenRegimen in den letzten Jahren gegangenseien. Heute stünden die Gesellschaftendes ehemaligen Ostblocks auf denFundamenten der Menschenwürde, derDemokratie und der marktwirtschaft-lichen Ordnung.

„Lassen Sie uns die Freude über die-sen großartigen politischen und geistes-geschichtlichen Prozess niemals neh-men“, sagte Pöttering, „die Herausforde-rungen vor denen wir heute stehen, ste-hen in keinem Verhältnis zu diesemhistorischen Prozess.“

Dr. Hans-Gert Pöttering MdEPVorsitzender der EVP-ED-Fraktion im Europäischen Parlament

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großes Problem ist, wird mit 25 Ländernnicht mehr zu lösen sein. Weniger Pro-bleme dürften dagegen die wirtschaftli-chen Übergangsfristen bereiten. Jedochmuss man sehr vorsichtig mit ihnen umge-hen: Sie sollten zeitlich begrenzt werdenund am besten von selber, also ohne einenneuerlichen politischen Entscheidungs-prozess, auslaufen. Sonst besteht dieGefahr, dass man sie nicht mehr los wird.Eine Hoffnung ist, dass die Beitrittsländeretwas beitragen zum Abbau der Überregu-lierung in der Europäischen Union ...“

Dr. Klaus FriedrichChefvolkswirt der Allianz Gruppe

und Dresdner Bank AG

,,... Aus politischer Sicht ist die Ost-erweiterung der Europäischen Union un-

eingeschränkt und mit aller Leidenschaftzu begrüßen. Jedoch darf dabei nicht dieökonomische Vernunft auf der Streckebleiben. Man muss auch leidenschaftlichfür die ökonomische Vernunft plädieren,sonst wird der politische Einigungsprozessgefährdet. Die Europäische Union ist aufdie Osterweiterung gegenwärtig nochnicht vorbereitet. Das gilt insbesonderefür den Finanzplan. Würde zum Beispieldie Agrarpolitik der alten Mitgliedstaatenso auch ohne Einschränkungen auf dieBeitrittsländer angewandt, die EU würdeeinfach überfordert. Die Zusatzkosten derOsterweiterung könnten sich nach einerStudie der Dresdner Bank im Jahr 2005auf 44 Milliarden € pro Jahr belaufen.

Dabei wurde unterstellt, dass es in der EUnicht zu einer grundlegenden Reform derFörderpolitik kommt. Auch nach demGipfel von Nizza ist die EU auf den Bei-tritt der mittel- und osteuropäischen Län-der kaum vorbereitet. Sie berücksichtigtbei ihrer Haushaltsplanung nicht ausrei-chend die Kosten der Erweiterung. Esbesteht die Gefahr, dass die Chance einerNeugestaltung der EU-Institutionen undihrer ineffizienten Fördermechanismenvertan wird ...“

S.E. Gergely PröhleBotschafter der Republik Ungarn

in Deutschland

,,... Im Zuge der Erweiterungsver-handlungen der Europäischen Union istes von eminenter Wichtigkeit, dass wiruns immer auch ein bisschen in die Lageunserer Verhandlungspartner hineinver-setzen. Dabei geht es darum, auch dieinnenpolitischen und gesellschaftlichenAuswirkungen in den Ländern unseresGegenübers zu berücksichtigen. Währenddie Beitrittsländer verstehen müssen, wodie Grenzen der Belastbarkeit bei denheutigen Mitgliedstaaten liegen, müssendiese auch gewisse Empfindlichkeiten inden Beitrittsländern verstehen lernen. AlsBeitrittskandidaten können wir selbstver-ständlich nicht die Regeln des Clubsbestimmen, dem wir noch nichtangehören, dem wir aber gerne beitretenmöchten. Die beiden schwierigsten Kapi-tel der Beitrittsverhandlungen sind zwei-felsohne die Bereiche Agrarpolitik und

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Wettbewerb, denn hier geht es um Geld.Die Ängste vor allzu großen Migrations-bewegungen nach einer Grenzöffnung

sind dagegen eher politisch-psychologi-scher Natur. Das zeigt auch die GreenCard, gerade 400 Ungarn sind nach derInitiative der Bundesregierung nachDeutschland gekommen. Selbst innerhalbUngarns halten sich die Migrationsbewe-gungen in sehr engen Grenzen. Das zeigt,dass die Menschen auch in einem Bin-nenmarkt, der Osteuropa einschließt,nicht in großer Zahl in die Westeuropäi-schen Länder strömen werden...“

Dr. Wolfgang Schäuble MdB,,... Die Osterweiterung der Euro-

päischen Union ist ein gutes und chan-

centrächtiges Projekt, und zwar in politi-scher wie in wirtschaftlicher Hinsicht.Aus politischer Sicht, weil sie zumZusammenwachsen des Kontinentsbeiträgt. Aus ökonomischer Sicht, weil siedie wirtschaftliche Dynamik Europasbeschleunigen wird. Gleichzeitig wird dieOsterweiterung auch die Deutschenzwingen, sich bei den nötigen Reformenstärker zu bewegen. Wir können nichtmehr alle Besitzstände verteidigen undich erwarte, dass die Beitrittsländer neuenSchwung in die Europäische Union brin-gen. Das gegenwärtige Maß an Regulie-rungsdichte in Europa muss herunterge-schraubt werden. In einer globalisiertenWelt werden wir das Wohlstandsniveau

nur halten können, wenn wir uns öffnenund wettbewerbsfähig bleiben. Das giltselbstverständlich auch für die Öffnungnach Mittel- und Osteuropa. Aufgabe derPolitik ist es, der Bevölkerung verständ-lich zu machen, dass die Osterweiterungkeine milde Gabe für die Beitrittsländerist, sondern genauso im Interesse derheutigen Mitgliedsländer liegt. Die Bei-trittsverhandlungen werden im Laufe der

dänischen EU-Präsidentschaft abge-schlossen sein. Dabei geht es auch darum,die Debatte um die Agrarsubventionenkünftig ernsthafter zu führen. Eineweitere wichtige Aufgabe ist eine stärkereDezentralisierung der Aufgabenvertei-lung in der EU, um die Effizienz zustärken...“

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Prof. Dr. Norbert BertholdLehrstuhl für Volkswirtschaftslehre

Universität Würzburg

,,... Die Globalisierung ist keine Bedro-hung, sondern schafft Wohlstand undbringt den Menschen so erst die Vorausset-zungen, ihre individuellen Präferenzen bes-ser realisieren zu können. Nötig ist aller-dings, dass die Märkte weltweit wirklichgeöffnet werden. Wenn wir weltwirtschaft-lich über verschiedene Märkte stärker ver-flochten sind, dann brauchen wir auchgrößere Anpassungskapazitäten auf nationa-ler Ebene. Oder wie schon Ludwig Erhardtsagte: Wir brauchen mehr Flexibilität. MehrFlexibilität bekommt man aber nur durchmehr Wettbewerb. Und obwohl diese Ein-sicht sich inzwischen herumgesprochen hat,gelingt es der Politik wegen der ihr inne-wohnenden Fokussierung auf die Maximie-

rung von Wählerstimmen offenbar nicht,die nötigen Reformen einzuleiten, weil sie

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Globalisierung – gemeinsameChance für Industrie- und Entwicklungsländer

Podium II

In das Thema „Globalisierung –gemeinsame Chance für Industrie- undEntwicklungsländer“ führte ein: Her-mann-Josef Lamberti, Mitglied des Vor-standes Deutsche Bank AG.

Unter der Moderation von Carl GrafHohenthal, Stellvertretender Chefredak-teur, Die Welt, diskutierten: Prof. Dr.Norbert Berthold, Lehrstuhl für Volks-wirtschaftslehre Universität Würzburg;Andreas de Maizière, Mitglied desVorstandes Commerzbank AG; Mat-thias Wissmann MdB, Wirtschaftspo-litischer Sprecher der CDU/CSU-Frak-tion im Deutschen Bundestag sowie Dr. Wolfgang Ziebart, StellvertretenderVorsitzender des Vorstandes Continen-tal AG.

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Deutsche-Bank-Vorstand Hermann-Josef Lamberti lenkte die Perspektive aufdie erste Globalisierung der Weltwirt-schaft in den Jahren 1890 bis 1910. Zudieser Zeit sei die Weltwirtschaft „imPrinzip mindestens schon genauso ver-netzt gewesen wie heute“, sagte Lam-berti. Auch die Deutsche Bank sei zu die-ser Zeit bereits international tätig gewe-sen, etwa bei der Finanzierung der Eisen-bahn in den USA mit einer Bondanleihe.Der Bau der Eisenbahn sei zwar keinetechnologisch induzierte Produktivitäts-revolution wie heute, habe aber eineMobilitätsrevolution ausgelöst. „Unddiese Mobilitätsrevolution hat dann inden OECD-Staaten letztendlich zu die-sem dramatischen Wachstum der In-dustrieproduktion und zu dem heutigenBruttosozialprodukt geführt“, betonteLamberti.

Inzwischen stünde die Welt aber voreiner Situation, wo es „nicht mehr wei-tergeht wie in der Vergangenheit“. Auchund gerade die Deutschen stünden vorder Frage, entweder einen Umbau ihrerGesellschaftsordnung in Angriff zu neh-men oder aber „abbruchartige Verände-rungen“, etwa in den Sozialsystemen, inKauf nehmen zu müssen. Aus Sicht einerglobal operierenden Bank seien die stark

regulierten und bürokratisierten Arbeits-märkte ein zentrales Problem. Die Glo-balisierung, wobei es sich im Kern umeine „Entgrenzung wirtschaftlicher Akti-vität“ handele, wirke auf jeden Einzel-nen, in den Entwicklungsländern wieauch in den Industriestaaten. „Und pro-voziert bei den Individuen natürlichauch Ängste“, hob Lamberti hervor.

Eine zentrale Frage sei darum, woherdas Unbehagen rühre und wie dem ent-gegen getreten werden könne. Aus Sichtder Deutschen Bank heiße Internationa-lisierung nicht zwingend, weltweit in dasso genannte Retail-Geschäft, also durchEröffnung von Filialen ins Geschäft mitden Endkunden einzusteigen. „Interna-tionalisierung bedeutet, dass wir vor allenDingen die Kapitalmarktprodukte inden verschiedenen Ländern anbieten“,sagte Lamberti. Diese Kapitalmarktpro-dukte wie Finanzderivate seien die „spie-gelverkehrte Seite“ der Warenströme, dieweltweit das Wachstum der internatio-nalen Vernetzung widerspiegelten. Lam-berti erinnerte an das „Saysche Theorem“aus der Volkswirtschaftslehre, wonachsich zwar jedes Angebot seine Nachfrageschaffe, Unterschiedsbeträge aber durchdie monetäre Seite, also durch Inflationoder eine Veränderung der Geldmenge

ausgeglichen würden. Finanzprodukteseien ein guter Indikator dafür, um sichein Bild von der Vernetzung der Welt-wirtschaft zu machen. So habe sich dasVolumen der weltweit gehandelten Kre-ditderivate in den vergangenen fünf Jah-ren versechsfacht.

„Wir sprechen von einem Devisen-handelsumsatz von rund 1200 Milliar-den Dollar pro Tag“, sagte Lamberti.Dieser Größe stünden allerdings nurrund zwei Prozent in realen Warenströ-men gegenüber. „Im Grunde genommenfindet also für einen Dollar Welthandeldas 50-fache an Devisentransaktionenstatt“, betonte Lamberti. Würden diesevon Globalisierungsgegnern oft kritisier-ten Devisenbewegungen jedoch miteiner „Tobin-Tax“ besteuert, könnten dieKapitalströme umgelenkt werden in Län-der, die eine solche Abgabe nicht erhe-ben, weil es nicht gelingen werde, eineTobin-Steuer gleichzeitig in allenOECD-Staaten einzuführen. Zudem seibei einer solchen Steuer eine Risikoabsi-cherung bei internationalen Warentrans-aktionen durch „Hedging-Geschäfte“nicht mehr möglich, die für eine Risi-kotransformation im internationalenWarenhandel aber unbedingt notwendigsei. Lamberti hob hervor, dass aus Sichteines global agierenden Konzerns wie derDeutschen Bank der Begriff „GlobalDiversity“ eine entscheidende Rollespiele. Dabei gehe es darum, heterogeneKulturen sowohl in Konzerne als auch ininternationale Organisationen wie dieWelthandelsorganisation WTO zu inte-grieren. „Global Diversity bedeutet, dasssie unterschiedliche Sichtweisen zulassenund unterschiedliche strategische Rich-tungen erlauben“, sagte Lamberti. Dieheterogenen europäischen Kulturenseien so zum Beispiel für die DeutscheBank eine entscheidende Voraussetzungdafür gewesen, das amerikanische Insti-tut Banker´s Trust erfolgreich in denKonzern zu integrieren. Das zentrale Pro-blem beim Aufbau einer globalen Präsenzsei heute aber, „dass die Unternehmennicht genügend Leute finden, die in derLage sind, unterschiedliche lokale Struk-turen und Märkte zu verstehen“, sagteLamberti.

Hermann-Josef LambertiMitglied des Vorstandes Deutsche Bank AG

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Angst hat, Wähler zu verlieren. Der Aufbaueiner internationalen Ordnung für die Glo-balisierung fängt jedoch zu Hause an. Esmacht wenig Sinn, internationale Rahmen-bedingungen für die Globalisierung zu for-dern, gleichzeitig aber die nötigen Reformenzu Hause nicht anzupacken. Ökonomischeund politische Rationalität passen also oftnicht zusammen. Darum hoffe und erwarteich, dass die Globalisierung uns gewisser-maßen zu Hilfe kommt und den PolitikernBeine macht, damit diese endlich ihreHausaufgaben machen ...“

Andreas de MaizièreMitglied des Vorstandes Commerzbank AG

,,... Globalisierung ist die Überwin-dung von Schranken: wirtschaftlicher,

politischer und kultureller Art. Globali-sierung ist nicht nur digital, nicht alleindie Beschleunigung von Information undderen simultane Verfügbarkeit rund umden Erdball stehen im Mittelpunkt. Glo-balisierung ist ganz real und betrifftdarum jeden Menschen unmittelbar. DieRisiken bestehen in der Vertiefung vonGräben, die Chancen der Globalisierungbestehen darin, dass Gräben überwundenwerden können.

In den Industrieländern steht dieSorge im Mittelpunkt, dass Veränderun-gen zu schnell gehen, vor allem der Verlustvon Arbeitsplätzen macht den MenschenAngst. Aus Sicht der Entwicklungsländerist das Hauptproblem dagegen eine wei-tere Verschärfung der Armut. Die Völker,

die wie etwa die Chinesen 60 Stunden proWoche arbeiten, die Kinder großziehen,die Konsumverzicht üben, haben einengrößeren Anspruch auf den Kuchen, derweltweit erwirtschaftet wird. Diesen Pro-zess können wir gar nicht aufhalten. Esmacht also keinen Sinn, sich nationalabzuschotten, ein international nichtwettbewerbsfähiges Tarifrecht fortzu-schreiben oder ähnliches. Wer in einer

Bewahrungsgesellschaft lebt, an dem läuftdie Globalisierung und damit der Wohl-stand vorbei. Und das ist in Deutschlandin den letzten zehn Jahren ein ganzesStück weit schon geschehen. Die Politikmuss den Mut aufbringen, die Bürgerauch mit bitteren Wahrheiten zu kon-frontieren und das Beharrungsvermögengegen Veränderungen zu knacken ...“

Matthias Wissmann MdBWirtschaftspolitischer Sprecher der CDU/

CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag

,,... Wir haben in der Bevölkerung eindramatisches Wissensdefizit über wirt-schaftliche Zusammenhänge. Das gilt fürinternationale Wirtschaftsfragen nochmehr als im nationalen Kontext. Darumbesteht ein enormes Verhetzungspoten-zial, durch das Menschen mit Vorurteilengegen die Globalisierung mobilisiert wer-den können. Aufgabe der Politik, derMedien, der Wissenschaft und der Unter-nehmen ist es also, für Aufklärung undVerständnis zu sorgen. Je früher, destobesser. Wirtschaftliche Erziehung fängt inden Schulen an, denn auch hier bestehtein erheblicher Mangel an wirtschaftlicher

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Ausbildung. Die Kernaufgabe der Politikist die Schaffung internationaler politi-scher und rechtlicher Rahmenbedingun-gen, die den rasanten Veränderungspro-zess positiv begleiten und unterstützen.Die gegenwärtigen Institutionen sinddem nicht mehr gewachsen. Aber auchdas muss kommuniziert werden, um Ver-ständnis zu schaffen. Sonst bekommenwir Akzeptanzprobleme und es entsteht

die Gefahr, dass die Globalisierung ausdem Ruder läuft. Wir sollten nicht glau-ben, wir könnten die Internationalisie-rung der Wirtschaft aufhalten. Wir müs-sen sie begleiten. Gleichzeitig müssen wiruns den Aufgaben auf nationaler Ebenestellen. Und das heißt vor allem, Deregu-lierung und Entbürokratisierung voran zutreiben ...“

Dr. Wolfgang ZiebartStellvertretender Vorsitzender

des Vorstandes Continental AG

,,... Die Globalisierung ist ein Fakt.Man kann nicht dafür oder dagegen sein,man muss sich der Öffnung der Märkteund der Verflechtung der Weltwirtschaftstellen. Globalisierung ist Gewinn undBedrohung zugleich, und man muss esoffen ansprechen: Globalisierung bedeu-tet auch einen Export von Arbeitsplätzen.Das ist aber nichts Schlechtes. Ein inter-national operierender Konzern steht nichtetwa vor der Frage, ob er nur in Deutsch-land produziert und ausländische Märkteallein durch den Export bedient. Er mussden Absatzmärkten folgen, ohne Produk-tionsstätten in den Ländern, deren Märk-

te bedient werden sollen, ist internationaleGeschäftstätigkeit gar nicht möglich. Wirkönnen nicht die Arbeitsplätze inDeutschland halten und unsere Produkteetwa in den USA verkaufen. Die Produk-tion muss der Nachfrage zu einem gewis-sen Grad immer auch folgen. Man kann

zwar mit dem Export starten, aber auflange Sicht ist es eine Illusion zu glauben,ausländische Märkte allein aus dem Hei-matland bedienen zu können. Wer be-hauptet, Produktionsstätten würden alleinnach der Frage der Lohnkosten ausge-wählt, springt vor diesem Hintergrund zukurz. Continental hat auch Produktions-stätten in Ungarn und in Tschechien, diesaber als Sozialdumping zu bezeichnen, istverfehlt: Die Alternative wäre, in diesenLändern gar nichts zu produzieren ...“ �

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Dieter AlthausVorsitzender der CDU-Fraktion im

Thüringer Landtag

,,... Die neuen Bundesländer werdenseit 1998 wieder zunehmend vom Westenabgehängt. Die Schere öffnet sich jedesJahr weiter. Jetzt geht es darum, auch diejungen Länder mitzunehmen. NebenReformen muss auch dafür gesorgt wer-den, dass die Menschen in Ostdeutsch-land motiviert bleiben, damit sie nicht inden Westen abwandern. Darum ist einSonderprogramm für den Osten notwen-dig, das wieder Stimmung bringt und ins-besondere die Wirtschaft zu Investitionenmotiviert.

Bei den anstehenden gesellschaftli-chen und wirtschaftspolitischen Refor-men darf nicht der Fehler gemacht wer-den, Wirtschaft und Politik gegen dieMenschen zu stellen. Schritt für Schrittmüssen die nötigen Veränderungen auf

den Weg gebracht werden und dabei istbesonders darauf zu achten, die Menschenmitzunehmen. Veränderungen in der Bil-dungspolitik sind dringend nötig. Hoch-schulen sollten einem stärkeren Wettbe-

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Vision 21:Nationale Reformen für Freiheitund Wettbewerb

Podium III

In das Thema „Vision 21: NationaleReformen für Freiheit und Wettbewerb“führten ein aus Sicht der Politik: RolandKoch MdL, Ministerpräsident des Lan-des Hessen sowie aus Sicht der Wirt-schaft: Dr. Michael Rogowski, Präsidentdes Bundesverbandes der DeutschenIndustrie e. V.

Unter der Moderation von Dr. Peter Gillies, Journalist Berlin/Bonn, disku-tierten: Dieter Althaus MdL, Vorsitzen-der der CDU-Fraktion im ThüringerLandtag; Dr. Adam S. Posen, Senior Fel-low, Institute for International Econo-mics, Washington D.C.; Prof. Dr. Heinz Riesenhuber MdB, Vorsitzender desAusschusses für Wirtschaft und Techno-logie, Deutscher Bundestag sowie WolfJürgen Röder, Geschäftsführendes Vor-standsmitglied der Industriegewerk-schaft Metall.

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Der hessische MinisterpräsidentRoland Koch (CDU) warb aus Sicht derPolitik für schrittweise Reformen inWirtschaft und Gesellschaft. „Ich willetwas erreichen, und deshalb nehme ichmir kleinere Schritte vor“, sagte Koch.Die Politik müsse zwar Visionen, aberauch erreichbare Ziele für eineLegislaturperiode von vier Jahren formu-lieren. „Das erwarte ich von einem Bun-deskanzler der Bundesrepublik Deutsch-land. Er soll nicht beruhigen und sagen,alles bleibt so wie es ist – ich erwarte aberauch kein Idealbild von Deutschland. Er muss pragmatisch sagen, was er vonden Menschen verlangt und was sie invier Jahren dafür bekommen“, sagteKoch.

Die Politik sei in den vergangenenJahren häufig daran gescheitert, denMenschen zu vermitteln, dass Verände-rungen in Wirtschaft und Gesellschaftden Korridor erweiterten und mehrWohlstand schaffen könnten.

In Deutschland seien viele Bürgermit ihrer Situation im Grunde ganzzufrieden und darum nicht an Verände-rungen und Reformen interessiert, weildiese immer auch ein Risiko mit sichbrächten. Als Beispiel führte Koch das

Gesundheitswesen an. Bereits heute gebees eine Zweiklassen-Medizin, die zuLasten der Geringverdiener ginge. „Undtrotzdem empfindet es jeder als eineungemein gefährliche und sehr schwerverkraftbare Angelegenheit über Modellewie die Selbstbeteiligung in die eigeneRisikoverantwortung zu kommen“, sagteKoch. „Abstrakt wissen wir, dass dasGesundheitssystem für alle günstigerwird, wenn wir es marktwirtschaftlichöffnen. Individuell aber haben nahezualle in dieser Gesellschaft Angst, dass esfür sie privat teurer wird.“

Entscheidend für eine Erneuerungder Gesellschaft und eine Stärkung derWettbewerbsposition Deutschlands iminternationalen Vergleich sei zunächstein grundlegender Paradigmenwechsel.In den kommenden zehn Jahren müss-ten die Begriffe Leistung und Wachstumwieder neu definiert werden.

So müsse etwa die Bildungspolitikeiner Wissensgesellschaft in den Schulendas soziale Umfeld für Kreativität schaf-fen, gleichzeitig aber auch Leistung undFähigkeit benotet werden. „Wir brau-chen die Mitwirkung der Eltern, aber wirmüssen ihnen auch Richtlinien geben“,sagte Koch.

Die deutsche Bildungsbürokratiehabe sich aber in den vergangenen 25Jahren einer sinnvollen Politik verwei-gert. Die Pisa-Studie, die dem deutschenSchulsystem im vergangenen Jahr iminternationalen Vergleich einen Platzunterhalb des Mittelfeldes bescheinigthat, müsse zum Anlass für einen Reform-impuls genommen werden.

Zudem solle über den Begriff Wachs-tum wieder anders gedacht werden als inden achtziger Jahren, als nach der in densiebziger Jahren vom Club of Romeangestoßenen Debatte vornehmlich überdie „Grenzen des Wachstums“ diskutiertworden sei.

Heute müsse man sich wieder imKlaren darüber werden, dass es gelte, dieWachstumskräfte einer Volkswirtschaftzu stärken. „Wenn wir diese beiden Para-digmenwechsel hinbekommen, dann hates die Politik auch ein bisschen einfacher,über Reformen zu sprechen, die wirdann Schritt für Schritt umsetzen müs-sen“, sagte Koch. Der hessische Regie-rungschef warb für das so genannteWisconsin-Modell nach dem Vorbild desgleichnamigen amerikanischen Bun-desstaates, mit dem arbeitslose Sozial-hilfeempfänger stärker gefördert, gleich-zeitig aber auch mehr gefordert werdensollen.

Nach Ansicht Kochs hilft das Sozial-system der USA den Menschen in Wahr-heit mehr als das deutsche. Auf demArbeitsmarkt seien zwar Reformen undeine „Entriegelung“ notwendig, Kochaber hob auch die Vorzüge des deutschenSystems mit seinem ausgeprägten Kün-digungsschutz und der vergleichsweisestarken Bindung der Arbeitnehmer anihre Betriebe hervor.

„Ich bin auch immer ein Freund desFlächentarifvertrages gewesen und ichglaube, er wird auch in Zukunft inDeutschland eine friedensstiftendeFunktion haben.“ Nicht alles solle ausden USA übernommen werden, „weilwir ein bisschen anders sind als die Ame-rikaner“, betonte der hessische Minister-präsident.

Roland KochMinisterpräsident des Landes Hessen

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Der Präsident des Bundesverbandesder Deutschen Industrie (BDI), MichaelRogowski, warb für eine neue Balancezwischen Freiheit und Sozialstaat. Zwarplädiere er nicht dafür, die Gesell-schaftsordnung der Vereinigten Staatenzu kopieren, „aber der Sozialstaat istdoch nicht dafür geschaffen worden,dass er diejenigen subventioniert, diearbeiten können, aber nicht wollen,sondern denjenigen auf die Beine hilft,die wollen, aber nicht können“, sagteRogowski.

Der BDI-Präsident betonte, dass derStaat künftig wieder dem grundsätzli-chen Gedanken folgen müsse, Arbeitstatt Arbeitslosigkeit zu fördern. „Ist esetwa sozial gerecht, wenn ein Sozialhil-feempfänger selbst ohne Schwarzarbeitmehr Netto in der Hand hat als derje-nige, der eine einfache Tätigkeit ausübtund acht Stunden am Tag arbeitet?“,fragte Rogowski.

Der BDI-Chef erinnerte daran, dassdurch Schwarzarbeit inzwischen 16 Pro-zent des Bruttoinlandsprodukts erwirt-schaftet werden, weil es offenbar attrak-tiver sei, sich dem Staat zu entziehen, alseiner steuer- und sozialversicherungs-pflichtigen Beschäftigung nachzugehen.

„Der Staat ist einfach zu teuer gewor-den“, kritisierte Rogowski. Darum müss-ten Steuern und Sozialabgaben gesenktwerden. Dies ist aus Sicht Rogowskisauch eine entscheidende Voraussetzungdafür, dass die Bürger angesichts derKrise der umlagefinanzierten Sozialkas-sen in entsprechendem Umfang privateVorsorge betreiben könnten.

Rogowski monierte, dass der Staat inDeutschland inzwischen fast 50 Prozentdes Sozialprodukts absorbiert: „Das istkeine freie, das ist nicht einmal einesoziale Marktwirtschaft“, sagte Rogows-ki. Darum sei es dringend geboten,möglichst rasch einen ausgeglichenenStaatshaushalt vorzulegen. Das Ziel sei,dies möglichst schon bis 2004, undnicht wie von der Bundesregierunggeplant, erst im Jahr 2006 zu realisieren.„Und wir müssen uns an die Ausgabenheranmachen“, forderte Rogowski.

Dabei ginge es vor allem um dieRückführung der konsumtiven Staats-ausgaben. „Und man muss den Bürgernoffen sagen, dass gar kein Weg daranvorbei führt.“ In Zukunft gelte es, dieBeitragssätze in der Sozialversicherungzu senken, jeder müsse mehr aus dereigenen Tasche für seine soziale Sicher-

heit aufwenden. Auf der anderen Seitesei es das Gebot der Stunde, die staatli-chen Aktivitäten in eine zukunftsträch-tige Richtung zu lenken.

Die Investitionsquote, die in denvergangenen zehn Jahren von 16 Prozentdes Bruttosozialprodukts auf heute zehnProzent zurückgefahren worden sei,müsse darum wieder gesteigert werden.Jedes Jahr fehlten rund 2,5 Milliarden €allein für die Instandhaltung der Ver-kehrsinfrastruktur.

Auch für Forschung, Bildung undEntwicklung, so die Kritik Rogowskis,gäben die Deutschen gemessen an derwirtschaftlichen Leistung weit wenigeraus als die meisten anderen OECD-Staa-ten. „Wir wissen, dass andere Länder, diemehr Wettbewerb in diesen Systemenzulassen, wesentlich weiter kommen“,sagte Rogowski.

Und nun schicke sich die Bundesre-gierung wider jede Vernunft an, Studi-engebühren für ein Erststudium generellzu verbieten. „Warum sollen Studienge-bühren nicht möglich sein?“, fragteRogowski. Der BDI-Präsident regte imBildungssektor zudem mehr projekt-orientierte Förderung an, weil diese effi-zienter sei als die alleinige finanzielleFörderung von Institutionen.

Die Misere auf dem Arbeitsmarktlässt sich nach Einschätzung des BDI-Präsidenten am effektivsten mit einerOffensive für mehr Selbstständigkeitund weniger Bürokratie beheben.Deutschland habe nur zehn ProzentSelbstständige, mahnte Rogowski, schonein Prozent mehr aber könne einen enor-men Beschäftigungsschub auslösen, weiljeder Selbstständige im Durchschnittzwei bis drei neue Arbeitsplätze schaffe.

Voraussetzung sei allerdings, dass dieBürokratie massiv abgebaut werde: „Mitkleinen Veränderungen werden wir esnicht schaffen.“ Dazu gehören nachAnsicht des Industrie-Präsidenten auchmehr Flexibilität bei den Flächentarif-verträgen und Bündnisse für Arbeit inden Betrieben.

Dr. Michael RogowskiPräsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie

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werb ausgesetzt werden, Studiengebührendürfen kein Tabu mehr sein. Gleichzeitigist aber auch über einen sozialverträgli-chen Ausgleich nachzudenken. Gegen dasschlechte Image von Unternehmern,besonders in Ostdeutschland muss etwasgetan werden. Bereits jungen Leuten solltedarum vermittelt werden, dass Unterneh-mer mit großen Risiko und hohem per-sönlichen Einsatz einen positiven Beitragfür die Gesellschaft leisten ...“

Dr. Adam S. PosenSenior Fellow, Institute for International

Economics, Washington D.C.

,,... Die Deutschen sollten gewarntsein vor der Entwicklung in Japan zuBeginn der neunziger Jahre: ÜberzogenesBeharrungsvermögen, Reformunwillig-

keit und mangelnde Reformanstrengun-gen im Finanzsektor. Es ist ein großes Pro-blem, dass zuviel de facto negativ realver-zinstes Geld der Bürger in uneffizienteWirtschaftsstrukturen geleitet wird,obwohl es an anderen Stellen viel rendite-trächtiger investiert werden könnte.Genau dies ist auch in Japan passiert. DieJapaner haben wegen ihres ineffizientenFinanzsystems viel Geld verloren. DieReformdebatte in Deutschland ist teil-weise deprimierend, weil Interessengrup-pen und Klientelpolitik im ModellDeutschland nach wie vor eine sehr großeRolle spielen. Auch das Ausbildungs-system muss reformiert werden. Zu starkwird auf die Ausbildung in großen Betrie-ben gesetzt, zu wenig dagegen auf einestärkere Position von privaten Bildungs-

trägern und Hochschulen. In einemSystem, in dem vor allem Großkonzernehochqualifizierte Beschäftigte ausbilden,haben vor allem kleinere Betriebe Schwie-rigkeiten, gut ausgebildetes Personal zuakquirieren ...“

Prof. Dr. Heinz RiesenhuberVorsitzender des Ausschusses für Wirtschaft

und Technologie, Deutscher Bundestag

,,... Politik muss den Bürgern die Pro-bleme der Sozialsysteme, des Arbeits-marktes, der Bildungspolitik und derenReformbedarf auch richtig vermitteln. Beiden drängenden Reformen müssen dieMenschen mitgenommen werden. Zwarist es richtig, auf mittelfristige Sichtanspruchsvolle Ziele zu formulieren. Aberin dem Moment, wo die Politik majes-

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tätisch startet und die Menschen nichtmitnimmt, bekommt sie Probleme. Esschadet dem Ansehen aller Parteien, wennetwa vor einer Wahl eine Verdopplung derForschungsmittel versprochen wird, amEnde einer Legislatur dann aber nur einBruchteil davon erreicht worden ist.Darum sind schrittweise Reformen undrealistische Ziele notwendig, die sichneben langfristig angelegten Reformpro-jekten wie das Absenken der Staatsquote,des Spitzensteuersatzes und der Sozialab-gaben auf unter 40 Prozent Schritt fürSchritt auf das jeweils Machbare konzen-trieren. Diese Einzelschritte müssen sichdann an den langfristigen Zielen orientie-ren und sich immer wieder an diesen mes-sen lassen ...“

Wolf Jürgen RöderGeschäftsführendes Vorstandsmitglied

der Industriegewerkschaft Metall

,,... Die weit verbreitete Kritik, dieGewerkschaften verweigerten sich gesell-schaftlichen Reformen oder verhindertenVeränderungen, ist unbegründet. Manmuss die Reformen nur mit uns und nichtgegen uns machen. Aus Sicht der Arbeit-nehmer ist der Flächentarif auch heuteunverzichtbar. Das Günstigkeitsprinzip inseiner heutigen Auslegung, das heißt, dassvon tarifvertraglich vereinbarten Mindest-löhnen nur nach oben, also zu Gunstender Arbeitnehmer, aber nicht nach unten,also zu Lasten des Einkommens abgewi-chen werden kann, schafft die gleichenGrundvoraussetzungen für alle Arbeit-nehmer einer Branche und verhindert die

Konkurrenz zwischen Mitarbeitern einesSektors. Eine differenziertere Tarifpolitikist aber auch aus Sicht der IG-Metallgeboten, dies ist in unserem „Zukunfts-manifest“ berücksichtigt. Zu bedenken istaber ebenso: Manager in Deutschlandhaben bis zu 150 mal mehr Einkommenzur Verfügung als Facharbeiter. Diese Ent-wicklung hat nicht gerade die Motivationder Arbeitnehmer und auch nicht die

Bereitschaft zu Reformen gefördert. DerTarifabschluss der IG-Metall, der vielfachals zu hoch kritisiert wurde, ist vor diesemHintergrund gerechtfertigt. Die Arbeit-nehmer der Metall- und Elektroindustriehatten etwas nachzuholen ...“

Berichterstattung Wirtschaftstag 2002:

Peter Hahne

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