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ISSN 1437-8019 · Einzelverkaufspreis 4,– Zeitschrift des Tumorzentrums München an den Medizinischen Fakultäten der Ludwig-Maximilians-Universität und der Technischen Universität TZM Myelodysplastische Syndrome Aristoteles Giagounidis, Düsseldorf Chronische lymphatische Leukämie (CLL) Clemens M. Wendtner, München Nierenzellkarzinom und andere urologische Tumoren Arthur Gerl, München Integrative Medizin in der Onkologie Ulrich R. Kleeberg, Hamburg Ambulante spezialärztliche Versorgung? Wolfgang Abenhardt, München „Der König aller Krankheiten. Krebs – eine Biografie“ Michaela Erdmann, München Sonderausgabe 2012 www.tumorzentrum-muenchen.de News Herrschinger Hämato-Onkologie- Symposien 2012 Sonderausgabe

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ISSN 1437-8019 · Einzelverkaufspreis 4,– €

Zeitschrift des Tumorzentrums München an den Medizinischen Fakultäten der Ludwig-Maximilians-Universität

und der Technischen Universität

TZM

Myelodysplastische SyndromeAristoteles Giagounidis, Düsseldorf

Chronische lymphatische Leukämie (CLL)Clemens M. Wendtner, München

Nierenzellkarzinom und andere urologische TumorenArthur Gerl, München

Integrative Medizin in der OnkologieUlrich R. Kleeberg, Hamburg

Ambulante spezialärztliche Versorgung?Wolfgang Abenhardt, München

„Der König aller Krankheiten. Krebs – eine Biografie“Michaela Erdmann, München

Sonderausgabe 2012

w w w . t u m o r z e n t r u m - m u e n c h e n . d e

News

Herrschinger Hämato-Onkologie-

Symposien 2012

S o n d e r a u s g a b e

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Liebe Leserin, lieber Leser,unsere Herrschinger Symposien am Ufer des Ammerseeserfreuen sich seit 14 Jahren einer langen und erfolgreichenTradition mit viel positiver Resonanz. Heuer trafen wiruns am 17. März und am 14. Juli zum 14. HerrschingerHämato-Onkologie-Symposium beziehungsweise zum 4. Herrschinger Onkologie-Fachtag. Wir sind stolz, dasswir davon in dieser Sonderausgabe der TZM-News heraus -ragende Vortragsmanuskripte ausgewiesener Expertinnenund Experten veröffentlichen könnnen:

A. Gerl berichtet über den in den letzten sechs Jahren er-folgten grundlegenden Wandel in der medikamentösenBehandlung des fortgeschrittenen Nierenzellkarzinomsdurch die zielgerichteten Therapien, die erst nach Aus-schöpfen der Metastasenchirurgie eingesetzt werden solltenund durch die die Prognose dieses Krankheitsbildes ent-scheidend verbessert worden ist. Auch bei anderen urolo-gischen Tumoren hat man in den letzten Jahren signi fi -kante Fortschritte erzielt.

Von C. M. Wendtner erfahren wir aus erster Hand nachSchilderung des aktuellen CLL-Therapiestandards von in-novativen Therapieansätzen. So stellen für die CLL z. B.Inhibitoren, welche die sogenannte Bruton’s Tyrosinkinase(BTK) blockieren, eine hochinteressante wirksame Sub-stanzgruppe dar.

A. Giagounidis berichtet über die neuesten Entwicklungenin Diagnose und Therapie der Myelodysplastischen Syn-drome (MDS). Die Zytogenetik gewinnt in den Progno-se-Scores zunehmend an Bedeutung. Therapeutisch kom-men EPO plus G-CSF, demethylierende Substanzen wieAzacitidin und Decitabin sowie beim 5q-minus-SyndromLenalidomid infrage. Die Eisenüberladung findet als un-abhängiger Prognoseparameter und somit für die Eisen-chelation zunehmende Beachtung.

Hermann DietzfelbingerVolkmar Nüssler

U. R. Kleeberg, der Nestor der niedergelassenen Onkologen,vermittelt uns in seinem Beitrag „Integrative Medizin inder Onkologie“ wichtige Orientierung in dem stets heißdiskutierten Spannungsfeld zwischen naturwissen schaft -lich begründeter Medizin (Evidenz-basierte Medizin,EbM), komplementärer und Alternativmedizin (KAM)und Quacksalberei. Letztere ist an zehn markanten Indizienzu erkennen. In der ganzheitlichen Betreuung des Patientensind die Ebenen der äußeren Evidenz, d. h. der naturwis-senschaftlichen Medizin, mit denen der inneren Evidenz,also den Bedürfnissen des unverwechselbaren Indivi -duums, sorgfältig abzustimmen.

Mit dem Vortrag von Frau M. Erdmann ist es gelungen,einen Blick über den Zaun von aktuellen onkologischenStudien und Daten zu werfen: Sie bringt uns das neue, mitdem Pulitzerpreis gekrönte Bestsellerbuch „Der Königaller Krankheiten. Krebs – eine Biografie“ näher, in demder renommierte Krebsforscher Siddhartha Mukherjee dieaufregende, 5000 Jahre alte Geschichte des Krebses mitallen Irrungen und Wirrungen mit Kriminalroman-ähn-licher Spannung beschreibt.

Mit den aktuellen Problemen der Gesundheitspolitik wer-den wir in dem Artikel von W. Abenhardt rasch wiederauf den Boden des onkologischen klinischen Alltags zu-rückgezogen.

Wir wünschen Ihnen viel Freude bei der „Nach-Lese“ unserer diesjährigen Symposiums-Vorträge.

Mit herzlichem Gruß

Volkmar Nüssler Hermann Dietzfelbinger

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Myelodysplastische Syndrome ...................................................4Aristoteles Giagounidis, DüsseldorfDie Verdachtsdiagnose eines myelodysplastischen Syndroms sollte ins-besondere dann ins Auge gefasst werden, wenn nicht erklärbare peri-phere Zytopenien bei Patienten über 60 Jahren auftreten. Insbesonderemakrozytäre Anämien mit fehlender adäquater Steigerung der Retikulo -zyten und bi- oder trilineäre periphere Zytopenien sind verdächtig.

Chronische lymphatische Leukämie (CLL) ................................8Clemens M. Wendtner, MünchenObwohl die Chronische lymphatische Leukämie (CLL) als häufigste Leukämie im Erwachsenenalter nur in wenigen Fällen heilbar ist, gibtes für die Patienten aufgrund zahlreicher Entwicklungen in den letztenJahren beachtliche Fortschritte in der Behandlung, zumindest für körperlich fitte CLL-Patienten.

Nierenzellkarzinom und andere urologische Tumoren..........13Arthur Gerl, MünchenDie zielgerichteten Therapien haben die medikamentöse Tumortherapiedes fortgeschrittenen Nierenzellkarzinoms in den letzten sechs Jahrengrundlegend verändert. Die medikamentöse Therapie sollte beginnen,sobald die therapeutischen Maßnahmen der Metastasenchirurgie aus-geschöpft sind.

Integrative Medizin in der Onkologie.....................................17Ulrich R. Kleeberg, HamburgNahezu jeder Krebspatient will mehr gegen seine Erkrankung tun alsder schulmedizinisch ausgebildete Onkologe leisten kann. Die sogenannteIntegrative Medizin, die schulmedizinische wie komplementärmedi -zinische Methoden auf Grundlage der bestehenden Evidenz nutzt, istdeutschlandweit auf dem Vormarsch.

Ambulante spezialärztliche Versorgung? ...............................22Wolfgang Abenhardt, MünchenMit Beginn dieses Jahres entstand neuer gesundheitspolitischer Wirbeldadurch, dass das neue Versorgungsstrukturgesetz (VStG) in Kraftgesetzt wurde. Im neuen §116b SGB V taucht erstmals die sogenannteASV (Ambulante spezialärztliche Versorgung) auf.

„Der König aller Krankheiten. Krebs – eine Biografie“ ........24Michaela Erdmann, MünchenEin Jahr nach seiner Veröffentlichung wurde dieses Buch des indisch-stämmigen Onkologen und Krebsforschers Siddhartha Mukherjee mitdem begehrten Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Seit dem Frühjahr diesesJahres liegt eine sehr gute und uneingeschränkt empfehlenswerte deut-sche Übersetzung vor.

Inhalt

Soeben

erschienen

Reihen-Herausgeber: Gerhard Ehninger, Mathias Freund, Friedrich Overkamp

Band-Herausgeber: Stephan Petrasch, Duisburg; Gerhard Ehninger, Dresden

Mit Beiträgen von D. Arnold, U. Dührsen, G. Ehninger, R. Ordemann, Th. Otto, S. Petrasch, U. Platzbecker, K. Possinger, R. Sabatowski, P. Schafhausen, M. Schaich, J. Schetelig, B. Schubert, U. Schuler, J. Schütte, Chr. Thiede, M. Weller und M. Wolf

618 Seiten, durchgängig vierfarbig mit mehr als 200 Tabellen und AbbildungenISBN 978-3-933012-23-4 · Preis: 49,50 €

Erhältlich im Fachbuchhandel oder direkt beimVerlag (ohne Berechnung von Versandkosten):

LUKON-Verlagsgesellschaft mbH

Landsberger Straße 480a · 81241 MünchenFon: 089-820 737-0 · Fax: 089-820 737-17Mail: [email protected] · URL: www.lukon.de

Col oquiumOnko ogie 14UpdateHämatologie / Onkologie 2012

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mosomenmaterials vom anderen Allel repariert wird. DieserVerlust der Heterozygotie ist dann von Belang, wenn als Ergebniszwei krankhafte Gene in einer Zelle resultieren.

Hochauflösende Genuntersuchungen haben nachweisen können,dass bei myelodysplastischen Syndromen in bis zu 25% der Fälleein Verlust der Heterozygotie erkennbar ist [5]. Nicht alle Geneeiner Zelle werden im Zellzyklus zu jeder Zeit im gleichen Maßebenötigt. Die Abschaltung bestimmter Gene geschieht durchsogenannte epigenetische Maßnahmen. Dabei handelt es sichvereinfacht gesagt um die Anlagerung von Methylgruppen anPromotorregionen von Genen, sodass diese Gene nicht abgelesenwerden, bzw. um die Veränderung von Histonbestandteilendurch Acetylierung, die sich dadurch verstärkt an DNA anlagernund dadurch ein Ablesen der DNA verhindern. Sowohl abnormePromotormethylierung als auch abnorme Histonkonfigu ra -tionen sind bei myelodysplastischen Syndromen nachgewiesenworden [6].

Eine Deletion am langen Arm von Chromosom 5 ist in bis zu15% aller myelodysplastischen Syndrome nachweisbar. AktuelleUntersuchungen zeigen, dass ein Gen für Ribosomensynthese(RPS14) die wahrscheinlichste Ursache für die 5q-MDS-Ano-malie darstellt. Der Verlust eines RPS14-Allels führt zu deutlichreduzierter erythropoetischer Proliferation [7].

DiagnoseDie Verdachtsdiagnose eines myelodysplastischen Syndromssollte insbesondere dann ins Auge gefasst werden, wenn nichterklärbare periphere Zytopenien bei Patienten über 60 Jahrenauftreten. Insbesondere makrozytäre Anämien mit fehlenderadäquater Steigerung der Retikulozyten und bi- oder trilineäreperiphere Zytopenien sind verdächtig.

MDS-Erkrankungen vor dem 50. Lebensjahr sind extrem seltenund müssen besonders sorgfältig untersucht werden, um nichteine andere Grunderkrankung zu übersehen. Grundsätzlichhandelt es sich bei der Diagnose MDS um eine Ausschluss -diagnose, sodass vor allem autoimmune Zytopenien (Immun -thrombozytopenie, autoimmunhämolytische Anämien, Auto -immun erkrankungen), aber auch Anämien bei chronischen Erkrankungen (Tumor-/Infektanämien, rheumatische Erkran -kungen), andere sekundäre Zytopenien (Hypersplenismus beiLeberzirrhose, chronische Infektionserkrankungen) und die paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (LDH! Retikulozyten!)ausgeschlossen werden müssen.

Junge Patienten mit langsam sich ausbildender Panzytopenie,insbesondere bei auffälliger Familienanamnese, sollten auf Te-lomerasedefekte untersucht werden. Ausgeprägte LDH-Erhö-hungen (>600 U/L) bei Trizytopenien sind ungewöhnlich fürMDS und sprechen für megaloblastäre Anämien, periphere Zy-topenien bei anamnestischer Tumorerkrankung sollten eine ge-

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MyelodysplastischeSyndrome

Priv.-Doz. Dr. med. Aristoteles Giagounidis ist Chefarzt der Klinik für Onkologie, Hämatologie und Palliativmedizin am Marienhospital Düsseldorf

Myelodysplastische Syndrome (MDS) treten üblicherweise imhöheren Lebensalter in verschiedenen Schweregraden auf undneigen regelhaft zum Übergang in akute myeloische Leukämien.Von akuten myeloischen Leukämien unterscheiden sich MDSdurch stärkere dysplastische Veränderungen der hämatopoe-tischen Zellen und durch einen niedrigeren medullären Blas-tenanteil. MDS gehören zu den häufigsten hämatologischenErkrankungen des älteren Menschen [1]. Das mediane Erkran -kungsalter liegt bei 70 Jahren, Männer sind etwas häufiger be-troffen als Frauen (1,2:1). Während die Gesamtinzidenz derMDS über alle Altersstufen auf etwa 5/100.000 Personen ge-schätzt wird, steigt die Inzidenz in höheren Altersstufen starkan und erreicht nach Untersuchungen des Düsseldorfer MDS-Registers für Männer >70 Jahre 42/100.000 [1]. Hinweise füreinen Anstieg der Inzidenz myelodysplastischer Syndromeüber die Zeiträume 1991 bis 2001 ergaben sich nicht [2].

Chromosomale AnomalienEtwa 50% der MDS gehen mit Karyotyp-Anomalien einher.Meistens handelt es sich dabei um unbalancierte Anomalien wieDeletionen oder Additionen chromosomalen Materials (z.B.del(7q) oder Trisomie 8). Balancierte Chromosomen-Anomalienwie Translokationen, Inversionen und Insertionen sind bei MDSselten. Zytogenetische Aberrationen haben erhebliche prognos-tische Bedeutung und gehen deshalb in alle aktuellen Scoring -systeme ein [3].

Bei sekundären MDS liegt die Rate chromosomaler Anomalienbei etwa 80% [4]. 50% aller Patienten mit MDS weisen keinezytogenetischen Anomalien auf. Bei etwa der Hälfte dieser Pa-tienten lassen sich molekulare Veränderungen nachweisen. Dabeikann es sich um Punktmutationen einzelner Gene handeln, häu-fig aber auch um den Verlust der Hetero zygotie (loss of hetero -zygoty, LOH). Beispiele sind der Verlust eines Allels auf einemChromosom (Deletion), Rearrangements in der Mitosephase,sodass versehentlich zwei väterliche oder mütterliche Allele einerTochterzelle zugewiesen werden, oder der Verlust von Chromo-somenmaterial auf einem Allel, der durch Kopie dieses Chro-

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In der Krankheitsgruppe der myelodysplastischen/myeloproli-ferativen Neoplasien wurde die refraktäre Anämie mit Ringsi -deroblasten und Thrombozytose (RARS-T), die bislang als pro-visorische Kategorie in der MDS/MPD-U-Gruppe aufgeführtwurde, als eigenständige Entität akzeptiert. Diese Patienten prä-sentieren sich mit einer ringsideroblastischen Anämie undThrombozytenwerten > 450.000/µl und sind molekular bio lo -gisch häufig durch Nachweis der JAK2 V617F-Mutation, seltenerdurch Nachweis der MPL W515K/L-Mutation gekennzeichnet.Chronische myelomonozytäre Leukämien werden nach demBlastenanteil im peripheren Blut und Knochenmark in CMML-1und CMML-2 unterteilt.

PrognosefaktorenAngesichts der prognostischen Heterogenität der MDS ist dieKenntnis valider Prognosefaktoren von entscheidender Bedeu-tung. Zur besseren Abschätzung der individuellen Überlebens-prognose und Beurteilung der Therapiebedürftigkeit von MDS-Patienten sind in den letzten Jahren verschiedene Scoring-Systeme entwickelt worden, die auf leicht erhebbaren Laborpa-rametern, morphologischen Befunden und Chromosomendatenberuhen. Weiteste Verbreitung hat das Internatio nal PrognosticScoring System (IPSS) gefunden, bei dem die MDS-Patientenunter Berücksichtigung von drei Risikomerkmalen (medullärerBlastenanteil, Anzahl peripherer Zytopenien, Karyotyp) in vierPrognosegruppen (niedriges Risiko, intermediäres Risiko 1,intermediäres Risiko 2, hohes Risiko) eingeteilt werden (Tab. 2)[9].

zielte Suche nach einer Knochenmarkkarzinose (Knochen -markpunktion!) auslösen. Obligat bei der Erstuntersuchung desPatienten ist eine umfassende Anamnese zur Aufdeckung nu-tritiver (Alkohol), medikamentöser (Antibiotika, Anti rheuma -tika, Thyreostatika, Antikonvulsiva) oder gewerblicher Noxen(Blei, Benzol, Insektizide), die ebenfalls MDS-artige Knochen-markveränderungen nach sich ziehen können. Eckpfeiler derDiagnostik myelodysplastischer Syndrome ist die mikroskopischeUntersuchung von peripherem Blut und Knochenmark. Zusätz-lich wird eine zytogenetische Untersuchung gefordert.

WHO-KlassifikationIm Herbst 2008 wurde die aktuelle WHO-Klassifikationpubliziert [8], die folgende Punkte herausstreicht (Tab. 1):

Unilineäre MDS-Erkrankungen ohne Ringsideroblasten oderBlastenvermehrung im Knochenmark werden in refraktäreAnämien mit unilineärer Dysplasie (RCUD) umbenannt.Die bisherigen Subgruppen RCMD und RCMDRS, die sichprognostisch nicht voneinander unterscheiden, werden zueiner einheitlichen Subgruppe (refraktäre Zytopenie mit mul-tilineärer Dysplasie ohne oder mit Ringsideroblasten) zu-sammengefasst.In die Gruppe der unklassifizierten MDS (MDS-U) werdenFälle von RCUD mit Panzytopenie, RCUD/RCMD mit 1%Blasten im peripheren Blut sowie Fälle mit Zytopenie undMDS-assoziierten Chromosomenanomalien, bei denen dasKnochenmark keine eindeutigen Dysplasiezeichen oder Blas-tenvermehrung zeigt, eingeordnet.

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Tabelle1: MDS-Typen und Typen der myelodysplastischen/myeloproliferativen Neoplasien gemäß den WHO-Vorschlägen (WHO 2008)

Knochenmarkbefunde

< 5% Blasten; unilineäre Dysplasie< 15% Ringsideroblasten

< 5% Blasten; Dyserythropoese liegt vor bei > 15% Ringsideroblasten

< 5% Blasten; Dysplasie in > 10% anderer Zell-Linien>/< 15 Ringsideroblasten; keine Auer-Stäbchen;

keine Mutation del(5q)

RCUD oder RCMD mit 1% Blasten im BlutRCUD mit Panzytopenie

< 10% dysplastische ZellenEine oder mehrere Zell-Linien mit zytogenetisch nachgewiesener Klonalität

< 5% Blasten; keine Auer-Stäbchen; mononukleäre Megakaryozyten; isolierte Mutation del(5q)

Unilineäre oder multilineäre Dysplasie; 5% bis 9% Blasten; keine Auer-Stäbchen

Unilineäre oder multilineäre Dysplasie; 10% bis 19% Blasten; Auer-Stäbchen + oder –

< 10% Blasten; Dysplasie von ein bis zwei Zell-Linien;keine Mutation t(9;22); bcr/abl

< 20% Blasten; Dysplasie von ein bis zwei Zell-Linienkeine Mutation t(9;22); bcr/abl

< 5% Blasten; Dysplasie von ein bis drei Zell-Linien≥ 15% Ringsideroblasten; häufig Jak-2-Mutationen

Blutbefunde

< 1% Blasten

< 1% Blasten

< 1% Blasten< 1.000 Monozyten pro µl Blut

≤ 1% Blasten

≤ 1% Blasten

Zytopenie; < 5% Blasten; keine Auer-Stäbchen;

< 1.000 Monozyten pro µl Blut

Zytopenie; < 19% BlastenAuer-Stäbchen + oder –

< 1.000 Monozyten pro µl Blut

< 5% Blasten; > 1.000 Monozyten pro µl Blut

< 20% Blasten> 1.000 Monozyten pro µl Blut

< 1% Blasten> 600.000 Thrombozyten pro µl Blut

Typ

Refraktäre Zytopenie (RCUD); Refraktäre Thrombopenie (RT);Refraktäre Neutropenie (RN); Refraktäre Anämie (RA)

Refraktäre Anämie mit Ringsideroblasten (RARS)

Refraktäre Zytopenie mit multilineärer Dysplasie (RCDM) mit oder ohne Ringsideroblasten

MDS, unklassifizierbar (MDS-U)

MDS mit 5q-Anomalie

Refraktorische Anämie mit Überschuss von Typ-I-Blasten(RAEB I)

Refraktorische Anämie mit Überschuss von Typ-II-Blasten (RAEB II)

Chronische myelomono-zytische Typ-I-Leukämie (CMML I)

Chronische myelomono-zytische Typ-II-Leukämie (CMML II)

Refraktorische Anämie mit Ringsideroblasten und Thrombozytose (RARS-T)

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Therapie-Optionen für Niedrigrisiko-MDS-PatientenRetrospektive Studien großer MDS-Register zeigen, dass eineEisenüberladung der Patienten ein unabhängiger Prognosepa-rameter sowohl für das Überleben als auch die Leukämie-freieÜberlebenszeit ist. Eine Eisenchelation sollte daher durchgeführtwerden, wenn absehbar ist, dass der Patient langfristig transfu-sionsbedürftig bleiben wird, bereits 25 oder mehr Erythrozy-tenkonzentrate übertragen wurden oder Ferritinwerte von>1000-2000 ng/ml gemessen werden können. Dabei muss daraufgeachtet werden, dass Ferritin ein Akut-Phase-Protein ist, dasim Rahmen von Entzündungen vermehrt produziert wird. DieFerritinbestimmung sollte daher zur Sicherheit im dreimona -tigen Abstand wiederholt und akute Entzündungen oder Auto-immunphänomene sollten ausge schlos sen werden [10].

Zur Eisenchelation bei myelodysplastischen Syndromen stehenaktuell zwei zugelassene Medikamente zur Verfügung: Defero-xamin und Deferasirox. Deferoxamin ist seit Jahrzehnten eta-bliert und hat sich als hinreichend sicher und einigermaßenpraktikabel erwiesen. Die Substanz ist enteral nicht resorbierbarund muss aufgrund ihrer kurzen Halbwertszeit parenteral übereinen langen Zeitraum appliziert werden. Die Mindest appli -kation beträgt 8 Stunden, optimal sind noch längere Injektions-zeiten [10].

Die neuere Substanz Deferasirox ist lipophil und hat eine hoheenterale Bioverfügbarkeit. Die lange Halbwertszeit von 12 Stun -den macht eine einmal tägliche orale Einnahme möglich. DieZieldosis beträgt 20-30 mg/kg Körpergewicht und kann ein-schleichend erreicht werden. Die überwiegende Zahl der Neben -wirkungen ist gastrointestinaler Natur, jedoch sind diese uner-wünschten Effekte häufig durch Dosismodifikationen und sup-portive Therapiemaßnahmen kontrollierbar.

Erythropoetin (Epo) führt in pharmakologischen Dosen (>450U/kg/Woche s.c.) bei einem Teil der MDS-Patienten zu einemHämoglobinanstieg bzw. zur Senkung des Transfusionsbedarfs.Kombinationen von Erythropoetin (>30.000 U/Woche s.c.) undG-CSF (3 x 75-300 µg/Woche s.c.) führen bei RARS-Patienten

im Vergleich zu alleiniger Epo-Behandlung zu einer Verdoppelungder Ansprechraten, die mit einer synergistischen Wirkung beiderWachstumsfaktoren erklärt wird. Die mediane Responsedauerder Wachstumsfaktortherapie ist vom initialen Therapiean -sprechen abhängig und beträgt bei komplettem Ansprechen etwa2,5 Jahre, bei partiellem Ansprechen etwa 1 Jahr [11].

Lenalidomid ist ein peroral einnehmbares Thalidomid-Analo-gon, das bei Patienten mit del(5q) Erkrankung mit großemErfolg angewendet wurde. In Phase-II-Studien betrugen die ery -throiden Ansprechraten 56-76%, häufig verbunden mit einerNormalisierung des pathologischen Karyotyps. Der therapeu-tische Effekt ist in den meisten Fällen bereits nach 4-5 Wochenerkennbar. Die mediane Responsedauer beträgt über 2 Jahre.Neutropenien und Thrombozytopenien vom Stärkegrad III undIV sind die häufigsten (> 50%) und schwerwiegendsten Neben-wirkungen von Lenalidomid [12].

Patienten, die Lenalidomid zur Behandlung myelodysplastischerSyndrome verabreicht bekommen, müssen sich innerhalb derersten acht Wochen wöchentlich zur Blutbildkontrolle vorstellen.Bei Neutrophilenwerten unter 1000/µl empfiehlt sich der Einsatzvon G-CSF, bei Neutropenie <500/µl oder Thrombozytopenien<25.000/µl sollte das Medikament abgesetzt werden. Weiterehäufige, aber nicht schwerwiegende Nebenwirkungen warenHauttrockenheit, Juckreiz, Hautausschlag, Muskelkrämpfe (ins-besondere Waden und Hände), Durchfälle und autoimmuneHypothyreosen [13].

Auch bei Niedrigrisiko-MDS-Patienten, die keine 5qminus-Anomalie aufweisen, ist Lenalidomid wirksam, allerdings sindAnsprechraten, Hämoglobinanstieg und Responsedauer gegen-über del(5q)-Patienten deutlich reduziert (etwa 50%). Die Initial -dosis in o. g. Indikationen beträgt 10 mg peroral pro Tag. ObwohlLenalidomid in den USA seit 2005 als Standardtherapie vonMDS-Patienten mit del(5q)-Anomalie gilt, besteht in Europakeine Zulassung für MDS-Patienten.

Therapie-Optionen für Hochrisiko-MDS-PatientenBei Hochrisiko-MDS-Patienten haben die demethylierendenSubstanzen Azacitidin und Decitabin erhebliche Bedeutunggewonnen. Azacitidin oder 5-Azacytidin ist chemisch stark mitCytarabin und Decitabin verwandt. Eine Studie an über 350 Pa-tienten verglich die Therapie mit Azacitidin randomisiert gegeneine von drei alternativen Therapiemöglichkeiten: Bestmöglichesupportive Therapie, niedrig-dosiertes Cytarabin und intensiveChemotherapie. Bei dieser Studie ergab sich für Azacitidin gegen-über der Gesamtheit der alternativen Therapiemaßnahmen einesignifikante Überlegenheit im Gesamtüberleben (24,4 Monateversus 15 Monate). Die Ansprechraten sind altersunab hängigund auch bei Patienten >75 Jahren ebenso ausgeprägt wie beijüngeren Patienten [14,15]. Nebenwirkungen sind Diarrhoen,Übelkeit und Hautreaktionen an der Einstichstelle. Nach Ap-

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Prognostische KM-Blasten Karyotyp ZytopenienVariable (%)

Score 0 <5 Günstig (normal, 0/1-Y, 5q-, 20q-)

Score 0,5 5 bis 10 Intermediär 2/3(andere Anomalien)

Score 1,0 -- Ungünstig (komplex, Chromosom-7-Anomalien)

Score 1,5 11 bis 20

Score 2,0 21 bis 30

Tabelle 2: International Prognostic Scoring System (IPSS) für MDS

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10. Gattermann N, Finelli C, Porta MD, Fenaux P, Ganser A, Guerci-BreslerA, Schmid M, Taylor K, Vassilieff D, Habr D et al: Deferasirox in iron-overloaded patients with transfusion-dependent myelodysplasticsyndromes: Results from the large 1-year EPIC study. Leuk Res,34(9):1143-1150.

11. Hellstrom-Lindberg E, Negrin R, Stein R, Krantz S, Lindberg G,Vardiman J, Ost A, Greenberg P: Erythroid response to treatment withG-CSF plus erythropoietin for the anaemia of patients with myelo-dysplastic syndromes: proposal for a predictive model. Br J Haematol1997, 99(2):344-351.

12. Fenaux P, Giagounidis A, Selleslag D, Beyne-Rauzy O, Mufti G, Mittel-man M, Muus P, Te Boekhorst P, Sanz G, Del Canizo C et al: A rando-mized phase 3 study of lenalidomide versus placebo in RBC trans -fusion-dependent patients with Low-/Intermediate-1-risk myelo-dysplastic syndromes with del5q. Blood 2011, 118(14):3765-3776.

13. Giagounidis A, Fenaux P, Mufti GJ, Muus P, Platzbecker U, Sanz G,Cripe L, Von Lilienfeld-Toal M, Wells RA: Practical recommendationson the use of lenalidomide in the management of myelodysplasticsyndromes. Ann Hematol 2008, 87(5):345-352.

14. Fenaux P, Mufti GJ, Hellstrom-Lindberg E, Santini V, Finelli C, Gia-gounidis A, Schoch R, Gattermann N, Sanz G, List A et al: Efficacy ofazacitidine compared with that of conventional care regimens in thetreatment of higher-risk myelodysplastic syndromes: a randomised,open-label, phase III study. Lancet Oncol 2009, 10(3):223-232.

15. Seymour JF, Fenaux P, Silverman LR, Mufti GJ, Hellstrom-Lindberg E,Santini V, List AF, Gore SD, Backstrom J, McKenzie D et al: Effects ofazacitidine compared with conventional care regimens in elderly(>/= 75 years) patients with higher-risk myelodysplastic syndromes.Crit Rev Oncol Hematol 2010, 76(3):218-227.

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Im Unterschied zu 5-Azacytidin konnte für Decitabin in denbisherigen Studien kein Überlebensvorteil gesichert werden, ob-wohl nach Decitabin ähnlich hohe Ansprechraten wie nach 5-Azacytidin beschrieben wurden. Von zunehmendem Interessesind Kombinationstherapien von Azapyrimidinen und HDAC-Inhibitoren (Valproinsäure, Vorinostat, Panobinostat u. a.), mitdenen die Effektivität der epigenetischen Therapie möglicher -weise verbessert werden kann.

plikation der 7-tägigen Therapie ist mit relevanten Zytopenienzu rechnen, sodass die Patienten regelmäßig ambulant nach-untersucht werden müssen.

Bei Ansprechen (mindestens Verbesserung der peripheren Blut-zellwerte) sollte die 5-Azacytidintherapie bis zum Progress fort-geführt werden. Die optimale Zykluszahl ist bislang noch nichtdefiniert, da auch sehr späte Remissionen beschrieben wurden.

Literaturverzeichnis

1. Aul C, Bowen DT, Yoshida Y: Pathogenesis, etiology and epidemiology ofmyelodysplastic syndromes. Haematologica 1998, 83(1):71-86.

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3. Haase D, Germing U, Schanz J, Pfeilstocker M, Nosslinger T, HildebrandtB, Kundgen A, Lubbert M, Kunzmann R, Giagounidis AA et al: New insightsinto the prognostic impact of the karyotype in MDS and correlation withsubtypes: evidence from a core dataset of 2124 patients. Blood 2007,110(13):4385-4395.

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Obwohl die Chronische lymphatische Leukämie (CLL) alshäufigste Leukämie im Erwachsenenalter nur in wenigenFällen heilbar ist, gibt es für die Patienten aufgrund zahlreicherEntwicklungen in den letzten Jahren beachtliche Fortschrittein der Behandlung. Chemoimmuntherapien, die zu mehrjäh-rigen Remissionen führen, sind vielversprechende Therapie-optionen insbesondere für fitte CLL-Patienten. Jedoch musseinschränkend gesagt werden, dass diese Art der Behandlungnicht für die Mehrzahl der Patienten mit zum Teil schwerenKomorbiditäten zur Verfügung steht. Für diese Patienten stelltimmer noch eine palliative Chemotherapie mit Reduktion derBehandlungs-assoziierten Nebenwirkungen die Behandlungder Wahl dar. Dennoch besteht auch hier die berechtigte Hoff-nung, dass künftig durch weitere Entwicklungen insbesondereim Bereich der Tyrosinkinase-Inhibitoren, die unter anderemin den Signalweg des B-Zellrezeptors eingreifen, eine effektiveund zugleich nebenwirkungsarme Therapieoption zur Ver-fügung stehen könnte.

Nachdem die Diagnose einer CLL in der Regel auf der Basis einerImmunphänotypisierung des peripheren Blutes gestellt wurde(Tab. 1), ist für den Therapiestart das Vorliegen eines fort -geschrittenen Stadiums (Binet C) entscheidend. Nur selten zwin-gen Begleitsymptome wie eine schwere B-Symptomatik oder einKompressionssyndrom aufgrund einer Organomegalie zu einervorzeitigen Therapie in einem früheren Erkrankungsstadium.

Cumulative Illness Rating Scale Score (CIRS-Score)Es besteht zunehmender internationaler Konsensus, dass dieTherapieentscheidung für Patienten auf der Basis der biologi-schen Fitness und weniger nach kalendarischem Lebensalter zuerfolgen hat, sowohl innerhalb als auch außerhalb von klinischenStudien. Es besteht jedoch Diskussionsbedarf, wie die Fitnessvalide erhoben werden kann. Neben klassischen Parameternwie dem ECOG Performance Status und dem Karnofsky-Indexhat sich zumindest in Studien der Deutschen CLL-Studien -gruppe (DCLLSG) ein Scoring-System, welches die einzelnenOrganfunktionen abfragt, der sogenannte Cumulative IllnessRating Scale Score (CIRS-Score), durchgesetzt [1].

Bewährtes und Neues in der Therapie der CLLProf. Dr. med. Clemens M. Wendtner ist Chefarzt derKlinik für Hämatologie, Onkologie, Immunologie,Palliativmedizin, Infektiologie und Tropenmedizinam Städtischen Klinikum München-Schwabing

Heutzutage darf für fitte Patienten eine Chemoimmuntherapieauf der Basis von Fludarabin, Cyclophosphamid und dem Anti-CD20-Antikörper Rituximab, das sogenannte FCR-Schema, alsStandard bezeichnet werden. Nachdem initial erste vielverspre-chende Ergebnisse mit FCR aus einer Phase-II-Studie vom MDAnderson Cancer Center berichtet wurden, konnte in einer ran-domisierten Studie der DCLLSG gezeigt werden, dass das FCR-Schema einer Zweierkombination bestehend aus Flud arabinund Cyclophosphamid (FC) deutlich überlegen ist [2, 3].

FCR-Schema als Standard mit relevanter ToxizitätIn der sogenannten CLL8-Studie der DCLLSG sprachen 90%der Patienten mit unbehandelter CLL auf die FCR-Kombinationan, wobei 44% der Patienten eine komplette Remission zeigten.Die Remissionen unter FCR waren sehr langanhaltend mit einemmedianen progressionsfreien Überleben von 52 Monaten fürdie Patienten (verglichen mit 33 Monaten für den FC-Behand-lungsarm). Bezüglich des Gesamtüberlebens konnte bereits nachdreijähriger Beobachtungszeit ein signifikanter Vorteil zugunstendes FCR-Arms verzeichnet werden (87% versus 83%; p=0.012).Basierend auf diesen Daten stellt FCR den Erstlinienstandardfür fitte CLL-Patienten dar (Abb. 1).

Trotz dieser überzeugenden Effektivitätsdaten zugunsten vonFCR ist jedoch auch eine relevante Toxizität dieses Behandlungs-schemas zu beachten. So ist auf der Basis der CLL8-Daten damitzu rechnen, dass ein Drittel der Patienten unter FCR eine schwereNeutropenie entwickelt und ein Viertel der Patienten auch schwe-re Infektionen akquiriert. Von daher gibt es zurzeit weltweit in-tensive Bemühungen, potenziell weniger toxische Chemoim-muntherapien, meistens unter Einbindung eines Anti-CD20-Antikörpers, zu entwickeln. Mittlerweile liegen seitens derDCLLSG Phase-II-Daten für eine Erstlinientherapie auf derBasis von Bendamustin und Rituximab (sogenanntes BR-Sche-ma) vor. In dieser Studie wurde ein Gesamtansprechen von 88%in einer bezüglich ihrer Fitness unselektionierten Patienten -gruppe beschrieben [4]. Davon ausgehend wurde dieses The-rapieschema direkt mit einer FCR-Standardtherapie für fittePatienten in einer großen randomisierten Studie verglichen(CLL10-Studie der DCLLSG). Die Studie ist inzwischen bei Er-reichung des Rekrutierungszieles geschlossen und erste verglei-chende Daten werden voraus sichtlich Ende des Jahres 2013 zurVerfügung stehen.

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Chlorambucil als Therapiebaustein für weniger fittePatientenMit einem mittleren Alter von 72 Jahren und mit Nachweis min-destens einer Komorbidität bei der Mehrzahl der Patienten istes erforderlich, auch insgesamt weniger intensive und toxischeTherapieangebote für CLL-Patienten vorzuhalten beziehungs-weise auch weiter zu entwickeln. Als ein gewisser Standard fürweniger fitte Patienten mit CLL darf neben einer Bendamus-tin-Monotherapie der Einsatz der alkylierenden Substanz Chlor -ambucil bezeichnet werden. In einem randomisierten Vergleicheiner Erstlinientherapie mit Fludarabin versus Chlorambucilbei älteren Patienten (>65 Jahre) konnte klar belegt werden, dassChlorambucil mindestens genauso effektiv wie eine Monothe-rapie mit dem Purinanalogon Fludarabin war [5]. Das medianeprogressionsfreie Überleben war mit 18 Monaten für Chloram-bucil-behandelte Patienten nicht signifikant unterschiedlich (19Monate für den Fludarabin-Arm; p=0.7). Das Gesamtüberlebenzeigte ebenfalls keinen statistisch signifikanten Unterschied zwi-schen den beiden Behandlungsarmen (64 Monate für Chloram-bucil versus 46 Monate für Fludarabin; p=0,15).

Auch international wird mittlerweile Chlorambucil als Thera-piebaustein für weniger fitte Patienten weiterentwickelt. Im Kon-text der CLL208-Studie der CLL-Studiengruppe des VereinigtenKönigreiches (UK) wurde in einem Phase-II-Design Chloram-bucil mit Rituximab kombiniert. Dies resultierte in einem An-sprechen bei 80% der Patienten und lag damit in einem histo-rischen Vergleich höher als die Ansprechraten, die für eine Chlor -ambucil-Monotherapie verzeichnet wurden (60% im CLL4 Trialder UK Study Group) [6, 7]. Auch das mittlere progressionsfreie

Überleben war mit rund 24 Monaten besser im Vergleich zueiner Chlorambucil-Monotherapie (18 Monate im CLL4-Trial).

Auch die italienische CLL-Studiengruppe führt derzeit eineStudie auf der Basis der Kombination von Chlorambucil mitRituximab durch, wobei nach der Induktionsphase zwischeneiner zweijährigen Erhaltungstherapie mit Rituximab versusBeobachtung randomisiert wird (ML21445-Trial). Im Vergleichzur britischen Studie werden sehr ähniche Ansprechraten (81%)und CR-Raten (17%) in vorläufigen Analysen beschrieben [8].

In einer laufenden Phase-III-Studie der DCLLSG wird derzeitnochmals randomisiert überprüft, ob die Zweierkombinationaus Chlorambucil plus Rituximab definitiv einer Monotherapiemit Chlorambucil überlegen ist (CLL11-Studie). Darüber hinauswird auch eine Kombinationstherapie aus Chlorambucil mit ei-nem neuartigen Typ-II-CD20-Antikörper (GA101) in derselbenStudie evaluiert. In Abbildung 2 sind derzeitige Therapieemp-fehlungen für die Erstlinientherapie unter Berücksichtigung vonFitness beziehungsweise Komorbidität zusammengefasst.

Hochrisiko-Gruppe: Patienten mit TP53-DefektEine Gruppe von Patienten, die unabhängig von ihrer Fitnessweder von FCR, Chlorambucil- oder Bendamustin-basiertenBehandlungsschemata profitiert, ist durch einen TP53-Defektgekennzeichnet, entweder im Sinne einer 17p-Deletion odereiner p53-Mutation (siehe Tab. 2). Diese Patienten zeigen z. B.auch nur einen kleinen Benefit bezüglich des Gesamtüberlebensnach intensiver FCR-Chemotherapie (3-Jahresüberleben: 36,5%für FC versus 38,1% für FCR) [3].

Abbildung 1: Progressionsfreies Überleben (links) und Gesamtüberleben (rechts) nach einer Therapie mit FCR oder FC: Für fitte Patienten istFCR der Erstlinienstandard [3].

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Tabelle 1: Diagnostik bei Verdacht auf CLL Tabelle 2: Zusätzliche Diagnostik vor Einleitung einer Therapie

Zurzeit wird für diese Hochrisikogruppe eine Therapie auf derBasis des Anti-CD52-Antikörpers Alemtuzumab emp fohlen.Die britische CLL-Studiengruppe konnte in einer Pilotphaseunter Verwendung von hochdosierten Kortiko steroiden (Me-thylprednisolon) in Kombination mit Alemtuzumab sehr hoheAnsprechraten bei Patienten mit p53-Defekt erzielen [9]. Seitensder DCLLSG wurde ein ähnliches Therapieregime unter Ver-wendung von Dexamethason und Alemtuzumab als 12-wöchigeInduktion, gefolgt von einer zwei jährigen Alemtuzumab-Erhal-tung initiiert. In ersten Zwischenanalysen an mehr als 100 Pa-tienten wurde ein Ansprechen in 97% der Patienten (CR 20%)gezeigt [10]. Das mediane progressionsfreie Überleben für Pa-tienten in der Erstlinie mit einem TP53-Defekt war jedoch mit17 Monaten immer noch wenig zufriedenstellend. Auch eineKombination aus Fludarabin und Cyclophosphamid mit niedrigdosiertem Alemtuzumab (FCA-Schema), wie es seitens der skan-dinavisch-niederländischen Studiengruppe HOVON kürzlichpräsentiert wurde, ist mit einem Gesamtansprechen von 71%bei Patienten mit TP53-Defekt als eher suboptimal zu bezeichnen[11]. Unter dieser intensiven Chemoimmuntherapie waren op-portunistische Infektionen und Grippe-ähnliche Symptome we-sentlich häufiger bei Patienten unter FCA-Therapie zu beob-achten gewesen als im Vergleichsarm mit einer Therapie mitFludarabin und Cyclophosphamid (FC).

Neue Therapieansätze: Chemotherapie-freie Kombi-nationsbehandlungenErstmalig werden zurzeit Chemotherapie-freie Kombinations-behandlungen bei der CLL evaluiert. Das CLL Research Con-sortium untersuchte eine Zweierkombination auf der Basis vonLenalidomid und Rituximab als Erstlinientherapie bei der CLL

[12]. Ausgehend von einer initialen Dosis von 2,5 mg Lenali-domid, die stufenweise unter konsequenter Hydrierung undTumorlyse-Prophylaxe gesteigert wurde, war die Behandlunggut verträglich und es traten nur sehr wenige Fälle mit leichtemTumorlyse-Syndrom beziehungsweise Tumorflare-Reaktionauf. Dennoch wurde eine schwere Neutropenie in mehr alsder Hälfte der Patienten beobachtet. Eine Gesamtansprechratevon 88% mit 15% kompletten Remissionen wurde mit dieserZweierkombination beschrieben.

Für ältere Patienten lag zwar die Ansprechrate ein wenig nied -riger (ORR 78%, CR7%), dennoch konnte auch hier ein me-dianes progressionsfreies Überleben von 20 Monaten bei aller-dings noch kurzer Nachbeobachtungszeit (17 Monate) doku-

Anmerkungen

Leistungsschwäche, B-Symptome, Infektneigung etc., frühere Blutbilder / Leukozytenwerte, Familienanamnese

Lymphknotenstatus, Organomegalie, Blutungs- und Anämiezeichen

Differenzialblutbild, Retikulozyten

• Expression von CD19 und CD23• Koexpression von CD5• schwache oder fehlende Expression

von CD20, CD79b, FMC7• Monoklonalität von IgKappa oder IgLambda

LDH, GPT, Kreatinin, Harnstoff, Elektrolyte,Harnsäure, Blutzucker, CRP

In der Regel zur Diagnosestellung nicht erforderlich, kann aber im Krankheitsverlaufzur Beurteilung unklarer Zytopenien bzw. derRemissionsqualität angezeigt sein

Nur bei fehlender leukämischer Ausschwemmung oder Verdacht auf Transformation in ein aggressives Lymphomangezeigt (Richter Syndrom)

Untersuchung

Anamnese

Körperliche Untersuchung

Blutbild

Multiparametrische Immunphänotypisierung

Serum

Knochenmarkpunktion

Lymphknotenbiopsie

Anmerkungen

• del17p13, p53 Mutation• Weitere genetische Untersuchungen bei

atypischem Phänotyp zur Abgrenzung gegenüber anderen indolenten Lymphomen

In Abhängigkeit von Symptomatik und geplanter Therapie, z. B.

• Haptoglobin und Coombs-Test bei Verdachtauf Hämolyse und vor Einleitung einer Fludarabin-haltigen Therapie

• GFR bei geplanter Fludarabin-Therapie• quantitative Bestimmung der Immun-

globuline bei Verdacht auf Immundefizienz• CMV Status vor Einleitung einer

Alemtuzumab-haltigen Therapie

Abdomen: Lymphknoten

Untersuchung

Genetik

Weitere Laboranalysen

Sonographie

Abbildung 2: Derzeitige Therapieempfehlungen zur Erstlinientherapieder CLL

A – Alemtuzumab, allo SZT – allogene Stammzelltransplantation, B - Bendamustin, BSC – Best Supportive Care, C – Cyclophosphamid,Clb – Chlorambucil, CR – komplette Remission, d – dosisadaptiert, D – Dexamethason, F – Fludarabin, P – Prednison, PD – Progress, PR – partielle Remission, R – Rituximab, SD – stabile Erkrankung, w & w – abwartendes Verhalten

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mentiert werden. In weiteren Studien wird derzeit Lenalidomidin Kombination mit Bendamustin und Rituximab (CLL2P Pro-tokoll der DCLLSG), in der Erhaltungstherapie wie auch in ver-schiedenen anderen Varianten im Rezidiv exploriert.

Neue Tyrosinkinase-InhibitorenVon großem Interesse sind die sich stetig weiter entwickelndenDaten für Tyrosinkinase-Inhibitoren, die insbesondere in dasSignaling des B-Zellrezeptors, welcher bei der CLL im Vergleichzu physiologischen B-Zellen stark aktiviert ist, eingreifen. Einsehr vielversprechendes Molekül ist GS-1101, welches spezifischdie Delta-Isoform der Phosphatidylinositol-3-Kinase (PI3K)inhibiert (Abb. 3) [13]. Kürzlich wurden auch erstmalig Datenzur Kombination mit Rituximab und/oder Bendamustin beiPatienten mit rezidivierter/refraktärer CLL präsentiert [14]. Ob-wohl die Zahl der untersuchten Patienten noch sehr klein ist,scheint eine Kombination überlegen zu sein (GS-1101 plus Ri-tuximab: ORR 86%; GS-1101 plus Bendamustin und Rituximab:ORR 100%).

Tyrosinkinase-Inhibitoren, die die sogenannte Bruton’s Tyrosin-kinase (Btk) blockieren, stellen eine andere interessante Sub-stanzgruppe für die CLL dar (Abb. 4) [15]. Unter Gabe des oralenBtk-Inhibitors Ibrutinib (PCI-32765) wurde bei stark vorbehan-delten Patienten mit rezidivierter/refraktärer CLL ein Ansprechenbei 67% der Patienten beschrieben [16]. Das Therapieansprechenwar zwar in der überwiegenden Zahl der behandelten Patientennur partiell, aber entscheidend war die Beobachtung, dass dasAnsprechen zwischen den verschiedenen klinischen und biolo-gischen Risikogruppen nicht unterschiedlich war. So wurde auchein Ansprechen in 12 von 18 Patienten (ORR 67%) mit nachge-wiesener del17p beschrieben. Auch ältere Patienten (ORR 72%),Patienten mit ansonsten refraktärer Erkrankung (ORR 65%)oder mit Nachweis von bulky disease >10cm (ORR 70%) profi-tierten von der Therapie mit Ibrutinib.

FazitDie Therapieempfehlungen für die CLL orientieren sich an derFitness des Patienten: generell gilt, dass sehr fitte Patienten mitFCR in der Erstlinie behandelt werden sollten, während wenigerfitte Patienten eine Monotherapie auf der Basis von Chlorambuciloder Bendamustin erhalten sollten. Gegenwärtig wird im ran-domisierten Vergleich untersucht, ob die Kombination aus Ben-damustin plus Rituximab (BR) für fitte Patienten einen Ersatzfür das FCR-Schema darstellen kann bzw. ob die Kom binationaus Chlorambucil mit verschiedenen Anti-CD20-Antikörpernlangfristig Vorteile für weniger fitte Patienten bietet.

Während eine Behandlung von Patienten mit TP53-Defekt der-zeit noch eine große Herausforderung darstellt, könnten diesePatienten künftig vom Einsatz von Tyrosinkinase-Inhibitorenaus der Gruppe der PI3K- bzw. Btk-Inhibitoren profitieren.Diese neue Substanzgruppe bei der CLL könnte in der Mono-therapie den Weg für eine Chemotherapie-freie Behandlung fürweniger fitte Patienten bahnen beziehungsweise in Kombinationmit einer klassischen Chemoimmuntherapie die Effektivität be-stehender Regimes für fitte Patienten weiter steigern. Dies mussim Rahmen kontrollierter klinischer Studien, wie diese u. a. von

Abbildung 3: GS-1101, ein neuer PI3K-Inhibitor, dockt an der Delta-Submit von PIJK (p110)

Abbildung 4: Ibrutinib (PCI-32765) blockiert Bruton's Tyrosin-Kinase (BTK).

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Abbildung 5: Studien der DCLLSG (Stand 12/2011)

Literaturverzeichnis

der Deutschen CLL Studiengruppe (DCLLSG) angeboten wer-den, evaluiert werden (Abb. 5).

Die Hoffnung besteht daher, dass die Diagnose CLL für dieMehrzahl der Patienten ihren existenziell bedrohlichen Schreckenverliert, dass also aus der unheilbaren Erkrankung eine be-herrschbare chronische Erkrankung wird, deren Therapie gleich-zeitig ein hohes Maß an Lebensqualität ermöglicht.

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Die zielgerichteten Therapien haben die medikamentöse Tu-mortherapie des fortgeschrittenen Nierenzellkarzinoms inden letzten sechs Jahren grundlegend verändert. Die medika-mentöse Therapie sollte beginnen, sobald die therapeutischenMaßnahmen der Metastasenchirurgie ausgeschöpft sind. Esgibt erste Hinweise, dass die neuen Medikamente die Prognosevon Patienten mit metastasiertem Nierenzellkarzinom ver-bessern. Das Nebenwirkungsspektrum der neuen Medika-mente unterscheidet sich deutlich von dem klassischer Zyto-statika und umfasst vor allem Haut- und Magen-Darm-Toxi-zität sowie die Entwicklung einer Hypertonie. Außer beimNierenzellkarzinom sind auch bei anderen urologischen Tu-moren in den letzten Jahren signifikante Fortschritte erzieltworden.

Das Nierenzellkarzinom ist nach Prostatakarzinom und Harn-blasenkarzinom die dritthäufigste urologische Tumorerkran -kung; es macht etwa 2-3% aller malignen Erkrankungen aus.Gegenwärtig werden in Deutschland pro Jahr etwa 13.000 Neu-erkrankungen beschrieben mit zunehmender Inzidenz; ein Teildes Anstieges dürfte durch die vermehrte Frühentdeckung er-klärbar sein. Der Altersgipfel der Neuerkrankungen liegt in dersiebten Lebensdekade. Männer erkranken häufiger als Frauen,wobei das Verhältnis bei annähernd 3:2 liegt. Während die frühenKrankheitsstadien eine sehr günstige Prognose haben und heutehäufig durch nierenerhaltende Tumorresektion behandeltwerden können, sind die fortgeschrittenen Erkrankungen füretwa 5000 Krebstodesfälle pro Jahr in unserem Land verant-wortlich. Etwa 80-90% der Nierenzellkarzinome haben eineklarzellige Histologie, papilläre Karzinome sind mit 10-15% diezweithäufigste Entität; daneben gibt es einige weitere seltenehistologische Entitäten.

Metastasenlokalisation mit prognostischer RelevanzWenn man sich die Verteilung der Metastasen in den fortge-schrittenen Krankheitsstadien ansieht, dann ist festzustellen,dass die Lunge mit Abstand am häufigsten betroffen ist, gefolgt

von Lymphknoten, Leber, dem Skelett, der anderen Niere unddem Zentralnervensystem [1]. Die Lokalisation der Metastasenbesitzt eine prognostische Relevanz: Patienten mit Lungenme-tastasen haben eine günstigere Prognose als Patienten mit Le-ber- oder Knochenmetastasen. Zur Risikostratifikation vor ge-planter medikamentöser Tumortherapie wurde von Motzer derMSKCC (Memorial Sloan Kettering Cancer Center)-Score ein-geführt, der die LDH und das Kalzium im Serum, die Hämo-globinkonzentration, das Intervall von der Tumordiagnose biszum Beginn der medikamentösen Therapie und den KarnofskyPerformance Status einschließt (Tab.1). Patienten ohne Risiko-faktor gehören in die günstige Prognosegruppe, Patienten miteinem oder zwei Risikofaktoren in die intermediäre undPatienten mit drei bis fünf Risiko faktoren in die ungünstige Pro-gnosegruppe [2].

Medikamentöse OptionenDie klassische Chemotherapie hat beim metastasierten Nieren-zellkarzinom eine sehr geringe Wirksamkeit. Während der Zeit -raum 1990 bis 2005 von der Therapie mit Zytokinen, Interfe-ron-alpha (IFN) und Interleukin 2 dominiert wurde, sind seitMitte des vergangenen Jahrzehnts die zielgerichteten Therapieneingeführt worden. Nach dem Angriffspunkt werden VEGF(Vascular epithelial growth factor)-Inhibitoren und mTOR-In-hibitoren unterschieden [3-10]. Zu den VEGF-Inhibitoren zählender monoklonale Antikörper Bevacizumab sowie die Tyrosin-kinase-Inhibitoren (TKI) Sunitinib, Sorafenib, Pazopanib undAxitinib (seit September 2012 zugelassen). Verfügbare mTOR-Inhibitoren sind Temsirolimus und Everolimus .

Für Patienten in der günstigen und intermediären Risikogruppestehen drei zugelassene Optionen für die Erstlinientherapie zurVerfügung: der monoklonale Antikörper Bevacizumab in Kom-bination mit Interferon-alpha sowie die Tyrosinkinase-Inhibi-toren Sunitinib und Pazopanib.

Neue Entwicklungen in der Therapie des Nierenzellkarzinoms und anderer urologischerTumoren

Professor Dr. med. Arthur Gerl ist Begründer der Schwerpunktpraxis für Onkologie in MünchensSendlinger Straße. Er gilt als ausgewiesener Spezialist für urologische Tumoren.

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Erstlinie

MSKCC-Risikogruppe Standard

Niedrig / intermediär Bevacizumab + IFN; Sunitimib; PazopanibHoch Temsirolimus

Zweitlinie

MSKCC-Risikogruppe Standard

Nach TKI EverolimusNach Zytokin Sorafenib

suistiken die Effektivität der zielgerichteten Therapie und dieNotwendigkeit eines individuellen Nebenwirkungsmanage-ments.

Fall 1: Patient mit klarzelligem NierenzellkarzinomDer Patient erkrankte 2001 im Alter von 33 Jahren an einemlinksseitigen klarzelligen Nierenkarzinom im Stadium pT3b,pN0, cM0, G2. Als primäre Therapiemaßnahme wurde einetransperitoneale Tumornephrektomie links durchgeführt. Mehrals drei Jahre später wurde im Rahmen der Nachsorge im CTeine große Weichteilmetastase unterhalb des unteren Pols derrechten Niere nachgewiesen; am 12.1.2005 erfolgte die Exstir-pation dieser Metastase. Zwei Jahre später wurde eine Lymph-knotenmetastase am rechten Lungenhilus thorako skopisch ent-fernt. Ein weiteres Jahr später erfolgte die R1-Resektion einerMetastase an der rechten Niere. Da eine radikale Resektion nichtmöglich war und zusätzlich eine neu aufgetretene Lymphkno-tenmetastase am linken Lungenhilus und multiple beiderseitigeLungenmetastasen vorhanden waren, wurde die Einleitung einermedikamentösen Tumortherapie beschlossen. Der Patient erhieltdie Kombination aus Bevacizumab und Interferon-alpha abApril 2008. Diese Kombination wurde gut toleriert; der Patient,der Familienvater von drei Kindern ist, blieb in vollem Umfangberufstätig. Eine im November 2008 – sieben Monate nach Be-ginn der Therapie – durchgeführte CT-Untersuchung zeigteeine Größenabnahme der hilären Lymphknotenmetastase undder multiplen Lungenmetastasen. Weitere Staging-Untersuchun-gen demonstrierten eine anhaltende Stabilisierung der Erkran-kung.

Ab Februar 2009, zehn Monate nach Einleitung der Therapiemit Bevacizumab und Interferon-alpha, benötigte der Patienteine antihypertensive Therapie mit einer Kombination aus Ra-mipril und Amlodipin. Im November 2010 musste die antihy-pertensive Therapie durch die Zugabe von Bisoprolol erweitertwerden. Im März 2011 entwickelte der Patient weiter ansteigendeBlutdruckwerte, ein nephrotisches Syndrom mit massiven Bein -ödemen und Belastungsdyspnoe; darüber hinaus war ein Anstiegdes Kreatinin im Serum zu beobachten. Die über drei Jahre er-folgreiche Therapie mit Bevacizumab wurde beendet. Nach Ab-setzen von Bevacizumab besserten sich die Beinödeme. Die anti-hypertensive Therapie musste durch Zugabe von Minoxidil zueiner Viererkombination erweitert werden. Mit einer weitge-henden Normalisierung der Blutdruckmesswerte kam es zueinem Abfall des Serumkreatinins.

Nach einem erneuten Staging Anfang Juni 2011, das eine weitereStabilisierung der bekannten Metastasierung offenbarte, wurdeeine Zweitlinientherapie mit dem TKI Pazopanib begonnen. Einerneutes Staging vier Monate nach Beginn der Therapie mit Pa-zopanib offenbarte eine vollständige Rückbildung der links hi-lären Lymphknotenmetastase und eine Größenabnahme dermultiplen Lungenmetastasen.

Für Patienten in der nach dem MSKCC-Score ungünstigen Pro-gnosegruppe ist Temsirolimus als Erstlinientherapie zugelassen.Als Zweitlinientherapie sind der mTOR-Inhibitor Everolimusnach Versagen eines TKI und der TKI Sorafenib nach einer vor-angegangenen Zytokintherapie zugelassen (Tab. 2).

Bevacizumab und Sunitinib führten im Vergleich zu einer al-leinigen Zytokintherapie zu einer annähernden Verdopplungdes progressionsfreien Überlebens. Ein ähnlich langes progres-sionsfreies Überleben wurde für Pazopanib beschrieben, das inder Zulassungsstudie gegen Placebo getestet wurde (Tab. 3). DieZulassungsstudien zeigten darüber hinaus einen Trend zu einemverbesserten Gesamtüberleben, wobei Sunitinib knapp das Sig-nifikanzniveau verfehlte. Dies ist wahrscheinlich dem Umstandzuzuschreiben, dass ein wesentlicher Teil der Patienten Folge-therapien erhielt, die maßgeblichen Einfluss auf das Gesamter-gebnis hatten. Exemplarisch belegen die beiden folgenden Ka-

Tabelle 3: Wirksamkeitsdaten zielgerichteter Therapeutika (ORR – Gesamtansprechrate; PFS – Progressionsfreies Überleben; OS – Gesamtüberleben; IFN – Interferon)

Tabelle 2: Therapieoptionen beim Nierenzellkarzinom

Risikofaktoren

• LDH > 1,5 x oberer Normwert• Calcium > 10 mg/dl• Hämoglobin < untere Normgrenze• Intervall Erstdiagnose bis Beginn der systemischen Therapie < 1 Jahr• Karnofsky-Index < 80%

Risikogruppe Anzahl der Risikofaktoren

Günstig 0Intermediär 1 - 2Ungünstig 3 - 5

n ORR % PFS OSMonate Monate

Bevacizumab vs IFN 649 31 vs 12 10,4 vs 5,5 23,3 vs 21,3Bevacizumab vs IFN 732 25,5 vs 13,1 8,4 vs 4,9 18,3 vs 17,4Sunitinib vs IFN 750 47 vs 12 11 vs 5 26,4 vs 21,8Pazopanib vs Placebo 233 32 vs 4 11,1 vs 2,8 22,9 vs 23,5Temsirolimus vs IFN 625 8,6 vs 4,8 5,5 vs 3,1 10,9 vs 7,3

Tabelle 1: MSKCC (Memorial Sloan Kettering Cancer Center)-Scorezur Risikostratifikation vor geplanter medikamentöser Therapie desNierenzellkarzinoms (nach [2])

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Im März 2012 liegt der Blutdruck des Patienten unter fort ge -setzter antihypertensiver Viererkombination bei 120/80 mm Hg.Es bestehen diskrete belastungsabhängige Beinödeme. Etwasbelastend empfindet der Patient die Diarrhoen unter Pazopanib,die aber tolerabel sind und nur selten sympto matisch behandeltwerden. Bei Entwicklung einer Hypo thyreose erhält der Patientjetzt eine Schilddrüsenhormonsubstitution. Bemerkenswert ist,dass das Kopfhaar und die gesamte Körper be haarung das Pig-ment verloren haben. Der Patient hatte blonde Haare; jetzt fälltam Kopf und gesamten übrigen Körper pigmentloses weißesHaar auf. Der inzwischen 45-jährige Patient fühlt sich weiterhinrecht fit und ist unverändert in vollem Umfang berufstätig.

Fall 2: Patientin mit linksseitigem NierenzellkarzinomAn Vorerkrankungen der Patientin sind ein 1999 diagnos tiziertesSchilddrüsenkarzinom und eine seit 1999 medikamentös be-handelte Hypertonie zu erwähnen. Bei der Krankenschwesterim Ruhestand wurde im September 2002 ein linksseitiges Nie-renzellkarzinom im Stadium pT3b, pN0, cM0 diagnostiziertund durch Tumornephrektomie links behandelt. Im Rahmender Nachsorge wurden im Januar 2004 eine Lebermetastase, einretroperitoneales Lokalrezidiv und eine Bauchwandmetastasefestgestellt und durch Exzision behandelt.

Im weiteren Verlauf sind im Juni 2004 Lungenmetastasen dia-gnostiziert worden. Im Juni 2004 erfolgte eine Entfernung derrechtsseitigen Lungenmetastasen durch atypische Ober- undMittellappenresektion und rechtsseitige mediastinale Lympha-denektomie. Im September 2004 wurden die linksseitigen Lun-genmetastasen durch atypische Ober- und Unterlappenresektionmit mediastinaler Lymphadenektomie exzidiert. Im Januar 2005erfolgte eine Resektion von Metastasen an der dorsalen Bauch-wand sowie aus der autochthonen Rückenmuskulatur.

Da die metastasenchirurgischen Maßnahmen in kurzen Abstän-den notwendig wurden und eine vollständige Resektion der Tu-morläsionen nicht mehr möglich war, wurde im Februar 2005eine Immuntherapie mit Bevacizumab und Interferon im Rah-men der AVOREN-Studie eingeleitet. Da im Tumorstaging imMai 2005 abdominelle und thorakale Lymphknoten- sowie Lun-genmetastasen progredient waren und eine neue Metastase ander 11. Rippe links auftrat, wurde die Therapie mit Bevacizumabund Interferon-alpha nach nur drei Monaten beendet. Da zudiesem Zeitpunkt noch keine Tyrosinkinase-Inhibitoren ver-fügbar waren, wurde eine Therapie mit hochdosiertem subcu-tanem Interleukin 2 eingeleitet, die mit einigen Nebenwirkungen(Schüttelfrost, Fieber, Übelkeit, Erbrechen) verbunden war, aberzu einer Stabilisierung der Tumorerkrankung über einen Zeit -raum von 15 Monaten vom Juni 2005 bis August 2006 führte.

Als im September 2006 Sorafenib eingeführt wurde, wünschtedie Patientin die Beendigung der Therapie mit hochdosiertemInterleukin 2 und eine Weiterbehandlung mit Sorafenib. Sora-

fenib führte zu einem sehr ausgeprägten Hautexanthem, dieTherapie wurde aber nach kurzer Pause konsequent fortgeführt.Bereits die erste Kontrolluntersuchung nach zwei Monaten imNovember 2006 offenbarte eine deutliche Größenabnahme derbekannten Tumorläsionen. An Nebenwirkungen standen eineStomatitis und Diarrhoen im Vordergrund.

Nach 16 Monaten Therapiedauer traten unter Sorafenib neueLungenmetastasen und eine Thoraxwandmetastase auf, die zurUmstellung auf Sunitinib führten. Nach sechs Monaten Therapiemit Sunitinib wurde im Juli 2008 eine komplette Remission do-kumentiert. Unter fortgesetzter Therapie mit Sunitinib standeneine Fatigue-Symptomatik und tolerable gastrointestinaleNebenwirkungen im Vordergrund. Nach knapp 15 MonatenTherapie mit Sunitinib und anhaltendem kompletten An -sprechen kollabierte die Patientin zuhause. Ein Kreis lauf schockmit Multiorganversagen machte eine lange Katecholamin-pflich-tige intensivmedizinische Behandlung notwendig. Es folgte einesehr lange Rekonvaleszenzzeit, in der weiterhin keine medika-mentöse Tumortherapie durchgeführt wurde. Offensichtlich alsFolge des Kreislaufschocks wurde im April 2009 ein insulin-pflichtiger Diabetes mellitus festgesellt.

Im November 2009 erfolgte das erste Tumorstaging seit demsehr schweren Ereignis; die CT-Untersuchungen offenbartenetwa acht Monate nach der Beendigung der Therapie mit Suni-tinib eine anhaltende komplette Remission. Weitere vier Monatespäter wurden aber neue Lungenmetastasen und ein Rezidiv amlinken Musculus ileopsoas diagnostiziert.

Im März 2010 wurde deshalb eine Therapie mit dem mTOR-Inhibitor Everolimus eingeleitet. Leider wurden zwei Monatenach Einleitung der Therapie mit Everolimus eine Größenzu-nahme bekannter Tumorläsionen und neu aufgetretene Lun-genmetastasen dokumentiert. Im Juni 2010 wurde daher einenochmalige Therapie mit Sorafenib begonnen. In CT-Untersu-chungen im Juli und November 2011 wurde jeweils eine Grö-ßenabnahme der bekannten Lungenmetastasen dokumentiert.

Unter fortgesetzter Therapie mit Sorafenib entwickelte die Pa-tientin im Mai 2011 Schmerzen in der Lumbalregion. Ein CT-Staging offenbarte eine starke Größenzunahme der Raumfor-derung am linken Musculus psoas und eine neu aufgetreteneosteolytische Metastase in LWK2 bei fehlender Grö ßen änderungder bekannten Lungenmetastasen. Es wurde daraufhin eine Be-strahlung der Metastase in LWK2 initiiert und eine Bisphos-phonattherapie mit Zoledronsäure begonnen. Die spezifischeTumortherapie wurde auf den zuletzt zugelassenen Tyrosinki-nase-Inhibitor Pazopanib umgestellt. Drei CT-Untersuchungenzwei, sechs und neun Monate nach Beginn der Therapie mit Pa-zopanib zeigten eine Stabilisierung der Tumorerkrankung –keine Größenänderung der bekannten und keine neuen Tumor-läsionen – nach zuvor rascher Progression. Eine im November

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2011 aufgetretene 3-Etagen-Beinvenen throm bose links wird mitniedermolekularem Heparin behandelt.

ResümeeEs gibt erste Hinweise aus Tumorregistern, dass sich die Lebens-erwartung von Patienten mit metastasiertem Nierenzellkarzinomdurch die Einführung der neuen Therapie in den letzten Jahrenum mehrere Monate verbessert hat. Einzelne Patienten könnenwie in den beiden oben beschriebenen Fällen von den neuenTherapieoptionen eindrucksvoll und sehr lange profitieren. Dieeinzelnen Substanzen zeigen Nebenwirkungsprofile, die sichvon denen klassischer Zytostatika deutlich unterscheiden. DieEntwicklung einer unter Umständen schweren Hypertonie,Nebenwirkungen an der Haut und gastrointestinale Funktions-störungen sind häufig.

Es sind aber noch weitere große Forschungsanstrengungen not-wendig. Im September 2012 wurde ein neuer Tyrosinkinase-Inhibitor für die Zweitlinientherapie zugelassen: Für mit ver-

HodentumorZwei kürzlich vorgestellte Studien zeigten eine nach 20 Jahrenum etwa 30% erhöhte Rate an Zweittumoren bei Patientenmit Hodenseminomen, die sich einer Strahlentherapie unter-zogen [11]. Deshalb wird jetzt die adjuvante Strahlentherapiebei Patienten mit Hodenseminom im Stadium I verlassen. Eineder beiden Studien zeigte auch ein erhöhtes Risiko für dieEntwicklung von Harnblasenkarzinomen bei Patienten mitnicht-seminomatösen Hodentumoren, die sich einer Chemo-therapie unterzogen [12]. Diese Daten legen nahe, dass Nutzenund Risiko einer adjuvanten Chemotherapie sorgfältig abge-wogen werden müssen und in den fortgeschrittenen Stadieneine Übertherapie sorgfältig zu vermeiden ist.

HarnblasenkarzinomEtwa die Hälfte der Patienten mit fortgeschrittenem Uro-thelkarzinom sind aufgrund von Alter und vor allem von Ko-morbidität nicht fit genug für eine Cisplatin-basierte Che-motherapie. De Santis et al. untersuchten eine Kom binationaus Carboplatin AUC 4,5 und Gemcitabin für Patienten, fürdie Cisplatin/Gemcitabin nicht in Frage kommt; sie konntenmit der Kombination von Carboplatin und Gemcitabin indiesem ungünstigen Patientenkollektiv ein Gesamtüberlebenvon 9,3 Monaten erreichen [13].

Nach dem Versagen der Erstlinientherapie steht beim fort-geschrittenen Urothelkarzinom jetzt eine gut verträgliche

zugelassene Zweitlinientherapie zur Verfügung: Vinfluninzeigte eine Verlängerung des Gesamtüberlebens gegenüberbest supportive care von 4,6 auf 6,9 Monate [14].

Kastrationsresistentes ProstatakarzinomBislang gab es für Patienten mit kastrationsresistentem Pro-statakarzinom nach Versagen der Erstlinientherapie mit Do-cetaxel und Prednison keine zugelassene Zweitlinien therapie.

Cabazitaxel, ein neues Taxan und Prednison zeigten gegenüberMitoxantron und Prednison eine hochsignifikante Verlängerungdes Gesamtüberlebens auf 15,1 gegenüber 12,7 Monaten[15].

Abirateron hemmt das Enzym CYP17A1, das im Körper dieTestosteronvorläufer DHEA und Androstendion bildet. Eineorale Therapie mit Abirateron in Kombination mit Prednisonführte in mit Docetaxel vorbehandelten Patienten zu einemAnstieg des medianen Gesamtüberlebens von 10,9 auf 14,8Monate im Vergleich zu best supportive care [16].

Cabazitaxel und Abirateron sind im Jahr 2011 in der zweitenTherapielinie nach Docetaxel-Vorbehandlung durch die EMAzugelassen worden. Die Situation zur Behandlung des kastra-tionsresistenten Prostatakarzinoms hat sich durch diese beidenZulassungen deutlich verbessert.

Neue Entwicklungen in der Therapie von Hodentumor, Harnblasenkarzinom und kastrations resistentem Prostatakarzinom

schiedenen Erstlinientherapien vorbehandelte Patienten zeigteAxitinib im Vergleich zu Sorafenib eine hochsignifikante Ver-längerung des progressionsfreien Überlebens auf 6,7 gegenüber4,7 Monaten [8].

1. Chan et al. Curr Opinion Urology 1998; 8:369-3732. Motzer et al. J Clin Oncol 2002;20:289-2963. Escudier et al. J Clin Oncol 2010; 28:2144-21504. Rini et al. J Clin Oncol 2010;28:2137-21435. Motzer et al. J Clin Oncol 2009;27:3584-35906. Escudier et al. J Clin Oncol 2009;27:3312-33187. Sternberg et al. J Clin Oncol 2010;28:1061-10688. Rini et al. J Clin Oncol 2011;29:289S9. Hudes et al. N Engl J Med 2007;356:2271-2281

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Literaturverzeichnis

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Nahezu jeder Krebspatient will mehr gegen seine Erkrankungtun als der schulmedizinisch ausgebildete Onkologe leistenkann. Die sogenannte Integrative Medizin, die schulmedizi-nische wie komplementärmedizinische Methoden auf Grund-lage der bestehenden Evidenz nutzt, ist deutschlandweit aufdem Vormarsch. Ein Plädoyer für eine wirklich ganzheitlicheBetreuung von Krebspatienten.

Von der komplementären zur integrativen MedizinIn den letzten fünfzig Jahren hat sich eine wachsende Flut vonPublikationen zu Komplementär-und Alternativmedizin (KAM),zu pflanzlichen Medikamenten, den Phytotherapeutika, undNahrungsergänzungsmitteln über unser Gesundheitswesen er-gossen. Angesprochen werden in erster Linie Laien, aber auchÄrzte, mit dem Ziel, mit „sanfter Medizin“ ein Gegengewichtzu „Stahl, Strahl und Chemie“ zu propagieren. Wichtig ist, hiergrundsätzlich die komplementäre, eine Behandlung ergänzende,komplementierende, von der alternativen Medizin zu unter-scheiden, die einen anderen Weg zur Genesung vorzugeben be-ansprucht, wie etwa die Homöopathie, die Geistesheilung oderdie Biofeldtherapie der Wünschelrutenheiler.

Hier soll zu den Problemen Stellung genommen werden, diekomplementäre Medikamente bedingen können, und dafür ge-worben werden, diese wissenschaftlich zu prüfen und, soweitsinnvoll, in eine umfassende Betreuung zu integrieren. DieseForderung ist unabdingbar in einer Zeit, in der Demographie,Multimorbidität der Senioren, Personal- und Finanzmangel dieBevölkerung frühzeitig motivieren müssen, durch eine gesundeLebensführung Krankheit abzuwenden und Gesundheitsstö-rungen zu bessern, ohne die Solidargemeinschaft zu belasten.Dazu zwei grundsätzliche Aspekte:

Zum einen: Wie unterscheidet sich eine wissenschaftlich be-gründete, statistisch einwandfreie Forschung zum Wirkungs -profil von Medikamenten von subjektiv erhobenen Daten, nar-rativer Erfahrungsmedizin und auch konfabulierten Fallsamm-lungen, wie setzt sie sich von Werbung und weltanschaulichenLehren ab?

Zum anderen: Wie lässt sich die Aktualität der Daten, insbeson-dere der unerwünschten Arzneimittelwirkungen (uAW), vonInteraktionen und nachteiligen Folgen für den Krankheitsverlaufzeitnah und verständlich vermitteln? Beide Aspekte sind in dermedikamentösen Therapie von Krebskranken von entschei -dender Bedeutung. Phytotherapeutika können nachhaltige Wir-kungen im menschlichen Organismus entwickeln und werden,wie zum Beispiel der Fingerhut oder das Johanniskraut, seit lan-gem zum Nutzen Kranker eingesetzt. Treffen sie aber auf andereWirkstoffe synthetischer oder pflanzlicher Herkunft, entwickelnsich von der Aufnahme in den Körper über Verteilung, Meta-bolismus und Ausscheidung vielfältige Interaktionen, die dengewünschten Effekt auf den Kopf stellen können. Wenn dannbeim kranken Menschen Organfunktionen gestört sind, durcheine Tumortherapie beein trächtigt werden, sich alterstypischeVeränderungen dazugesellen, dann können aus der Verstärkungoder Abschwächung pharmakologischer Wirkungen Gefahrenerwachsen, deren Ausmaß kaum noch abzuschätzen ist.

Natürlich gilt dies für alle Medikamente, und daher hat sich dieErforschung von Stoffwechsel und Arzneimittel-Interaktionenzu einer führenden Disziplin der Pharmakologie und klinischenPharmazie entwickelt. Pharmaindustrie-unabhängige Wissen-schaftler überprüfen Wirkungsspektrum, Nutzen und Kostenneuer wie bereits zugelassener Medikamente und publizierenin Fachzeitschriften, die wiederum einer strengen externen Be-gutachtung, dem sogenannten peer review, unterliegen. Verbrau-cherschutz-Organisationen wie die Stiftung Warentest „über-setzen“ diese Beurteilungen für den Laien.

Die öffentliche, insbesondere die „bunte“ Presse jedoch referiertüberwiegend ihr zugespielte, vermeintliche Erkenntnisse einer„sanften Bio-Medizin", den allgemeinen ökologischen Trendspiegelnd, und fachunkundige Politiker nützen diese Stimmungfür populistische Aufrufe. Allein durch die Prüfung der Litera-turquellen vermag der Onkologe zu erkennen, wie seriös eineAussage ist. Zwischen Pharmawerbung und neutraler akademi-scher Medizin zu unterscheiden und dies dem Patienten zu ver-mitteln, kann recht schwierig sein. So läuft man als Laie einhohes Risiko, zum Beispiel bei Internetsuchen Fehlinformationen

Integrative Medizin in der OnkologieProf. Dr. med. Ulrich R. Kleeberg ist Mitbegründer der HOPA, der Hämatologisch-onkologischen PraxisAltona. Er ist Vorsitzender der Hamburger Krebs-gesellschaft und aktiv in der Arbeits gemeinschaftPrävention und Integrative Onkologie der DeutschenKrebsgesellschaft.

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„Krankheit ist weder ein Segen noch eine Strafe, sondernvielmehr ein in der Regel zufällig eintretendes, objektivesEreignis, dem mit Logik, Wissenschaftlichkeit und Wahrheitbegegnet werden muss." So sah Susan Sontag, die US-amerikanische Essayistin und Schriftstellerin, ihre Krebs-erkrankung, kurz bevor sie verstarb. Diese nüchterne Fest-stellung war und ist ein ehernes Vorbild für die akademischeMedizin.

Seit Jahrhunderten konkurrieren medizinische Heilslehrenund Veröffentlichungen um die Gunst einer geneigtenKlientel. Die „Lehrmeinung", vertreten von Medizinschulen,spiegelt im Altertum wie in der Neuzeit den Zeitgeist, diegesellschaftlichen Vorstellungen vom Menschen und seinerKrankheit. Dieses Menschenbild wird dominiert von „Er-kenntnissen" aus Spiritualität, Religion, Philosophie,schließlich zunehmend auch von wissenschaftlicher Evidenz,aber auch dem Erfahrungswissen zu Pflege und Palliation,dem Anliegen Leid zu lindern, besser, zu vermeiden.

Die alte griechische Medizin, festgeschrieben im Eid desHippokrates, verschüttet, wiederbelebt und über Spanienweiter getragen von arabischen Ärzten in das Heilige Rö-mische Reich Deutscher Nation, war ein erster rationalerZugang zu Krankheit und Seuchen. Bedingungsloses Unter-werfen unter die Dogmen der christlichen Kirche mündeteschließlich wieder in ein finsteres Mittelalter, nur hier undda von rationalem Widerstand, vereinzelt entwickelt inKlöstern und Orden, ad absurdum geführt. Lehrmeinungenwie die von den guten und schlechten Galen'schen Kör-persäften führten zu Aderlass und Purgatorium, zu Wund-verbänden mit „Gottes Erde" usw. und kosteten jahrhun-dertelang unzählige Kranke das Leben. Pocken, Cholera,Mütter- und Kindersterblichkeit wurden als Prüfung Gottesbezeichnet, Sünde und Unglauben strafend. Erst wiederim späten 18. Jahrhundert widersetzte sich die frühe Auf-klärung, in Deutschland erstmals vertreten von JohannFriedrich Struensee (1737–1772) aus Altona, der bigottenStraflehre der Kirchen und brandmarkte Hexenkulte undfatale Traditionen:

„Es scheint mit dem Charakter der Deutschen Nation ver-bunden zu sein, daß ihre Ärzte allzeit etwas Scharlataneriemit ihrer Kunst verbinden. ... Zum Glück ist die DeutscheSprache den Ausländern wenig bekannt, sonst würden sieeinen sonderbaren Begriff von uns bekommen."

Die „Lehrmeinung", vertreten von einer „Schulmedizin",hat historisch gesehen keine gute Tradition. Erst mit derAufklärung tauchte die Erkenntnis der notwendigen„Falsifi ka tion von Hypothesen" als Voraussetzung für einerationale, der Bevölkerung und dem individuellen Krankennützende Wissenschaft auf. Der Durchbruch kam dannim frühen 20. Jahrhundert. Heute findet sie ihren Ausdruckin der Evidenz basierten Medizin (EbM), einem Anglizismusfür die akademische, naturwissenschaftlich begründeteMedizin.

Evidenzbasierte Medizin, die auf der Zusammenschau wis-senschaftlicher Daten, den sogenannten Metaanalysen,fußt, ist nicht nur Leitlinie ärztlicher Tätigkeit, fachlicherQualitätssicherung, sondern auch Grundlage für gesund-heitspolitische Entscheidungen. Andererseits trägt aberjedes Dogma, jede Generalisierung in der ärztlichen Be-handlung immer auch die Gefahr in sich, Erkrankungenvon Individuen rein somatisch erklären zu wollen unddamit die Vielschichtigkeit des mensch lichen Wesensaußer Acht zu lassen. Auf dem ersten Deutschen Patien -tenkongress 1999 warnte daher Thure von Uexküll, Mit-begründer einer rationalen Psychosomatik und onkologi-schen Psychologie: „Es ist geradezu rührend zu glauben,Krankheit und deren Behandlung ließen sich auf die Formeleiner evidenzbasierten Medizin beschränken." ÄrztlicheVerantwortung braucht Freiheit, aber nicht Beliebigkeit,um beste Voraussetzungen für die Gesundung des unver-wechselbaren Individuums zu schaffen.

Historische Vorstellungen vom Menschen und seiner Krankheit

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aufzusitzen. Viele www-Seiten unterstützen unbewiesene The-rapien, einige sind ausgesprochen gefährlich. So mag ein Unter-nehmen wissenschaftlichen Gesellschaften gegenüber die Un-wirksamkeit seines Produktes einräumen, im gleichen Atemzugdann aber in aggressiver und verallgemeinernder Werbung dasGegenteil behaupten.

Eine große Gefahr bei Phytotherapeutika liegt nun darin, derenpharmakologische und pharmakokinetische Wirkung zu über-oder unterschätzen. Dabei spielen atypische, pharmako gene -tische und erworbene, krankhafte Prozesse eine kritische Rolle.Einige Beispiele sind in den Tabellen l und 2 aufgeführt.

Behauptet wird aber, dass „natürliche“ Produkte und „sanfte“Verfahren, anders als „die Chemie“, dem Körper nur Gutes tunund unschädlich sind, die „natürliche Heilkraft“ fördern, „dasImmunsystem anregen, stärken“ und so weiter. Wie gefährlichdies sein kann, zeigen In-vitro-Daten: So kann eine Stimulationverschiedener Komponenten unseres Immunsystems, der Ma-krophagen und T-Lymphozyten und deren Botenstoffen (Inter-leukinen und Wachstumsfaktoren), das Wachstum von Krebs-zellen und entzündliche Prozesse nicht nur hemmen, sondernparadoxerweise auch fördern. Eine „Stärkung des Immunsys-tems", wie es von Repräsentanten der KAM mit deren eng ver-wobener Industrie gepriesen wird, ist ein zweischneidigesSchwert und kann also durchaus das Gegenteil des Er wünsch -ten bewirken.

Entscheidend ist nun, dass solche In-vitro-Daten keine Surro-gatparameter für den klinisch relevanten Effekt eines Medika-

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Phytotherapeutika, Mineralien

Anis, Arnika, Bohnen, Gingko, Ginseng, Ingwer, Karotte, Klee,Kerne, Knoblauch, Rettich, Sellerie, Vitamin E, Weide, Zwiebel

Alfalfa, Brokkoli, Eicosapentaensäure, Linolsäure, Gelbwurz (Kurkuma), Grüner Tee,Johanniskraut

Lakritze mit Corticosteroiden, Alfalfa, Echinacea, Johanniskraut,Vitamin E, Zink

Marshmallow mit Corticosteroiden,Hefe, Malven, Fischöle, Knoblauch, Grapefruitsaft, Johanniskraut mit Cyclosporin

MTX mit Echinacea/Salicylaten(Weide), Cisplatin mit Selen, Etoposid mit Johanniskraut

Tamoxifen und Aromatase-inhibitoren mit Phytotherapeutika,Conazole mit Grapefruit

Effekte

Steigerung

Minderung

Steigerung

Minderung

Steigerung

Minderung

Substanzen

Antikoagulation

Immun-suppression

Zytostatika

Endokrinologika

Tabelle 1: Interaktion von Arzneimitteln unterschiedlicher Klassenmit Phytotherapeutika und Mineralien.

Tabelle 2: Ausgewählte Interaktionen von Phytotherapeutika undin der Onkologie häufig genutzten Arzneimitteln.

Wirkung

CYP 2E1-Hemmung

Hemmung von CYP3A4 + CYP 2C19

Bindung freier Radikale

CYP 3A4-Induktion

Stimulation Tumorwachstum

CYP3A4-Inhibition

Stimulation Tumorwachstum

P Glykopr. Induktion, CYP2-B6/C9/C19/E1 + CYP3A4

Hemmung von CYP2C9

Hemmung von CYP2C19

Leberversagen

CYP3A4-Induktion

CYP3A4-Induktion,Bindung freier Radikale

Cave Kombination (bei)

DTIC + simultaner Chemotherapie

Camptathecin,Cyclophosphamid,EGFR-TK Inhibitoren,Taxane, Epipodo-phyllotoxine,Vinca-Alkaloide

Alkylantien,Antitumor-Antibiotika,Platin Analoga

Camptathecin,Cyclophosphamid,EGFR-TK Inhibitoren,Taxane, Epipodo-phyllotoxine,Vinca-Alkaloide

Tamoxifen, Östrogen-Rezeptor-pos. Mamma-/Endometriumkarzinome

Camptathecin, Cyclo-phosphamid,EGFR-TK Inhibitoren, Taxane, Epipodophyllotoxine,Vinca-Alkaloide

Östrogen-Rezeptor-pos. Mamma-/Endo-metri-umkarzinome

Jede Art simultaner Zytostatikatherapie

Tamoxifen

Cyclophosphamid + Teniposid

Eingeschränkte Leber-funktion, Phytotherapie-induzierte Hepatopathie,Kombination mit hepato-toxischer Chemotherapie

Kombination mit Campto-thecin, Cyclophosphamid,EGFR-TK Inhibitoren, Taxa-ne, Epipodophyllotoxine,Vinca-Alkaloide

Kombination mit Campto-thecin, Cyclophosphamid,EGFR-TK Inhibitoren, Taxane, Epipodophyllotoxine, Vinca-Alkaloide

Substanz

Knoblauch

Gingko

Echinacea

Soja

Ginseng

Johannis-kraut

Valeriana

Kava

Traubenkerne

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rational zu begründende Voraussetzungen für die medizi -nische Intervention und deren Vermittelbarkeit, das Vorhandensein und die Konsistenz nachvollziehbarer Da-ten, auf die sich die Arbeitshypothese stützt, eine Standardisierung der KAM-Interventionen als Voraus-setzung für die Überprüfung der Ergebnisse,das Einhalten von Grundsätzen der Qualitätskontrolle spezielldurch unbeteiligte, externe Gutachter (Monitoring) im Stu-dienverlauf,die Verpflichtung zur Veröffentlichung auch negativer Er-gebnisse, ein von Rechthaberei und Regressansprüchen freies und fairesVerhältnis zu Vertretern anderer medizinischer Auffassungenund Systeme und der Wirksamkeitsnachweis.

Solchermaßen zu verfahren ist nicht selbstverständlich. DerDruck, wegen Regressdrohungen negative Ergebnisse zurück-zuhalten, und die öffentliche Diffamierung, verbunden mit derabschätzigen Bewertung internationaler wissenschaftlicher Ge-sellschaften durch die Protagonisten von Heilslehren, zeigt, wienotwendig solche, von der Bundesärztekammer ange mahn teVerhaltensregeln und Studienbedingungen sind.

Komplementäre OnkologieUm die Effektivität von Phytotherapeutika für die Onkologiezu präsentieren, bedarf es einer umfassenden und kritischenAuseinandersetzung mit einer ausufernden Literatur und eigenerpraktischer Erfahrung. So dient Komplementäre Onkologie derErweiterung des ärztlichen Horizontes. Seltene Erden und Vi-tamine zum Beispiel sind lebenswichtig, um Mangelzuständebei fortgeschrittenen Krebserkrankungen zu beheben. Sie könnenaber in pharmakologischen Dosen die Wirksamkeit einer Strah-len- und/oder Chemotherapie, von Zytostatika und antihormo -nellen Interventionen nachhaltig stören, den Nutzen adjuvanterMaßnahmen aufheben.

Leid, das guten Glaubens mit Naturprodukten gelindert werdensoll, wandelt sich in spätes Desaster. Grundsätzlich muss daherjeder Griff zu zusätzlichen, eine onkologische Behandlung be-gleitenden, pflanzlichen Heil- und Hilfsmitteln mit dem behan-delnden Onkologen abgestimmt werden. Oftmals ist der aberdamit überfordert und benötigt den Rat des Pharmakologen,ersatzweise des klinischen Pharmazeuten und Ökotrophologen.So ist das interdisziplinäre in ein interprofessionelles onkologi-sches Team zu erweitern. Es gilt, den Kranken vor somatischemund psychischem, aber auch wirtschaftlichem Schaden zu be-wahren. Und es darf die Solidargemeinschaft, deren Versiche-rungsprämien unser bis zur Grenze ausgelastetes Gesundheits-system finanziert, nicht durch Medikamente mit umstrittenerWirksamkeit überfordert werden.

ments in vivo sind. Laborexperimente ersetzen nicht die klinischeÜberprüfung am Patienten. Entsprechendes gilt natürlich auchfür sogenannte geisteswissenschaftliche oder weltanschaulicheArgumente. Glaube ersetzt nicht Naturwissenschaft. Leicht wirdein vernünftiges, unsere Umwelt in Zeiten des Klimawandelsschützendes Verhalten – etwa die bewusste Zuwendung zu einergesunden Lebensführung mit biologisch wertvoller obst- undgemüsereicher Kost, sportlichen Akti vitäten und dem Vermeidenvon Genussgiften – umgemünzt auf Phytotherapeutika, diediesen gesundheits poli tischen Paradigmenwandel unterstützensollen: „Gesunde Pillen“ sind bequemer als gesunde Lebensfüh-rung! Renommierte Laien aus Politik, Unterhaltungsindustrieund Presse unterstützen eine solche Medizin unbesehen, unkri-tisch und auch popu listisch. Dass wir uns damit aufs Glatteisund in die Nähe der Quacksalberei begeben, zeigen jüngere wis-senschaftliche Daten zur Überprüfung derartiger Empfehlungenund Heils verspre chen. Indizien hierfür lassen sich in zehn Punk-ten zusammenfassen :

Die Methode/ein Produktwird durch Hinweise auf exotische Herkunft interessant ge-macht, soll Heilung bringen, wenn die „Schulmedizin“ in auswegloserSituation versagt, soll durch umfangreiche Erfahrungen „untermauert“ sein,ohne dass nachvollziehbare Daten aus kontrollierten, klini-schen Studien zugänglich gemacht werden,soll gegen eine Vielzahl verschiedener, insbesondere chroni-scher Erkrankungen, die nichts miteinander zu tun haben,universell wirksam sein, soll regelmäßig zum Erfolg führen, eventuelle Misserfolgewerden der akademischen Medizin angelastet,ist an einzelne Personen/Institutionen gebunden, die die The-rapie entwickelt haben und daran verdienen,soll keine Nebenwirkungen haben oder Nebenwirkungenvon Verfahren der akademischen Medizin reduzieren oderaufheben,ist kompliziert, sodass Misserfolge auf Anwendungsfehler zu-rückgeführt werden,soll schon seit Jahren/Jahrzehnten verwendet werden, ohneoffiziell anerkannt zu sein,ist den Behauptungen zufolge so gut, dass unverständlichbleibt, warum keine Zulassung als Arzneimittel existiert.

Evidenzbasierte Grundlagen für praktische EmpfehlungenDie Bedingungen, unter denen KAM zum Nutzen Krebskrankerempfohlen werden können, sind national und international ein-heitlich definiert. Unabdingbar sind

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diese Selbstverwirklichung auch bei der Wahl seiner Behandlungzu gewähren. Mehr noch, angesichts der großen Verbreitungkomplementär-medizinischen Gedankenguts und des Wunscheseiner Mehrzahl Tumorkranker, selbst etwas für die Gesundungtun zu wollen, muss der Onkologe in seinem Bemühen, sichumfassend, „ganzheitlich“ um seinen Patienten zu kümmern,aktiv auf diesen zugehen und dessen Vorstellungen in die Be-treuung zu integrieren versuchen.

Integrative Medizin in der OnkologieDabei sind allerdings die Ebenen äußerer Evidenz, d. h. einerwissenschaftlichen Medizin, mit denen der inneren Evidenz,also den Bedürfnissen des unverwechselbaren Individuums, auf-einander abzustimmen. Oberste Richtschnur bleibt dabei aberimmer das „nihil nocere", der Kranke und die ihn tragende So-lidargemeinschaft dürfen keinen Schaden nehmen. DreiMaximen müssen bei der Begegnung mit dem Patienten beachtetwerden:

die Frage nach der individuellen Perspektive,Primum nihil nocere (somatisch, psychisch und sozial), die Priorisierung durch die Solidargemeinschaft.

Ganzheitliche Betreuung fordert eine umfassende Berücksich-tigung des Bedarf und der Bedürfnisse.

Seit über dreißig Jahren bemüht sich die Deutsche Krebsgesell-schaft e. V. (DKG) mit assoziierten wissenschaftlichen Instituten,die Bevölkerung vor irrationalen Behauptungen zu schützen.Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) unterhält ausMitteln der Bundesregierung den Krebsinformationsdienst(KID) und steht nahezu rund um die Uhr mit gutem Rat zurVerfügung. Ein weiterer Meilenstein auf diesem Weg ist die 2007erfolgte Gründung eines Arbeitskreises Komplementärmedizin(AKKOM) in der DKG, der wegen seiner großen Bedeutungund erfolgreichen Arbeit 2009 in die Arbeitsgemeinschaft Prä-vention und integrative Medizin in der Onkologie (AgPRIO)hochgestuft wurde.

Aufgabe ist es, die wissenschaftlichen Grundlagen für den Einsatzkomplementärer Verfahren zu schaffen und klinische Studiender wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaften in der Sektion Bder DKG e. V. zu begleiten. Die GKV, laut Gesetz verantwortlichfür die Qualitätssicherung der Therapiewege ihrer Versicherten,verweigert jedoch weiterhin die Übernahme der vergleichsweisegeringen Kosten zur Finanzierung der Versorgungsforschung.

Ganzheitliche Betreuung erfordert eine umfassende Berück-sichtigung der Bedürfnisse des Kranken und seiner ihm eigenen,persönlichen Perspektiven. Diese sind immer subjektiv getönt,mögen spiritueller oder religiöser Art sein und ohne Bezug zurEbM. Dennoch ist dem Kranken, so weit möglich und vertretbar,

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Auf dem Weg zur ambulanten spezial-ärztlichen Versorgung?

Dr. med. Wolfgang Abenhardt, München,ist Mitbegründer der Münchner OnkologischenPraxis im Elisenhof, die heute als MedizinischesVersorgungszentrum firmiert.

Mit Beginn dieses Jahres entstand neuer gesundheits po li -tischer Wirbel dadurch, dass das neue Versorgungsstruktur-gesetz (VStG) in Kraft gesetzt wurde. Im neuen §116b SGB Vtaucht erstmals die sogenannte ASV (Ambulante spezialärzt-liche Versorgung) auf. Durch sie soll eine sogenannte dritteVersorgungsebene geschaffen werden, in der hochspezialisierteund sogenannte stationsersetzende Leistungen abgebildetwerden. Auf die zunächst geplante Integration des ambulantenOperierens wurde später verzichtet.

In der seit 1.1.2012 geltenden neuen Fassung des §116b findetsich folgende Formulierung: „Die ambulante spezial fach ärztlicheVersorgung umfasst die Diagnostik und Behandlung komplexer,schwer therapierbarer Krankheiten, die je nach Krankheit einespezielle Qualifikation, eine interdisziplinäre Zusammenarbeitund besondere Ausstattung erfordern. Hierzu gehören insbe-sondere schwere Verlaufsformen von onkologischen Erkran-kungen mit besonderen Krankheitsverläufen.“

Entscheidungsvorbehalt des Ministeriums entfallenAn der ASV teilnehmen dürfen alle Leistungserbringer, die dievom G-BA (noch) zu definierenden Qualitätsvoraussetzungenerbringen (Slogan: „Wer kann, der darf!“). Der Antrag auf Teil-nahme ist zu richten an den erweiterten Landesausschuss derÄrzte und Krankenkassen nach §90 SGB V, der aus einem un-parteiischen Vorsitzenden, zwei unparteiischen Vorstandsmit-gliedern, acht Ärztevertretern, acht Krankenkassenvertretern(drei AOK, zwei EKK, ein BKK, ein IKK, 1 LKK) sowie achtKran kenhausvertretern zusammengesetzt ist. Die Krankenkas-senvertreter stimmen mit doppelter, die übrigen mit einfacherStimme ab. Beschlüsse erfolgen mit einfacher Mehrheit. ImGegensatz zu früher hat das Bayerische Staatsministerium fürGesundheit kein Entscheidungsrecht mehr, allenfalls Beanstan-dungsmöglichkeit bzw. Bestellung der Unparteiischen, falls keineÜbereinkunft erzielt werden kann.

Neue Aufgaben und Befugnisse für den G-BADem gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) kommen weitrei-chende neue Aufgaben und Befugnisse zu. Er hat per Gesetz biszum 31.12.2012

den Katalog der für die ASV geeigneten Krankheiten gemäßICD10 aufzustellen,den diesbezüglichen Behandlungsumfang im Rahmen derASV zu definieren,allgemeine Kriterien bezüglich stationärer/ambulanter Er-bringung festzulegen,sachliche und personelle Anforderungen sowie Qualitätssi-cherung in der ASV zu definieren,den sogenannten Überweisungsvorbehalt für Krankenhaus-leistungen zu regeln sowiedie für die ASV notwendige transsektorale Kooperation fest-zulegen.

Der bisherige Vorsitzende des G-BA, Dr. R. Hess, ist am 1. Juliaus Altersgründen ausgeschieden und von Herrn J. Hecken, demfrüheren saarländischen Gesundheitsminister und ehemaligenStaatssekretär im Familienministerium, abgelöst worden. Vonihm sind pragmatische Lösungen der umfangreichen Aufgabenim Sinne des Gesetzgebers zu erwarten, die allerdings innerhalbvon sechs Monaten gefunden sein müssen.

Neuer Versorgungsbereich ohne jede BudgetierungDie gesetzlich vorgeschriebene ASV wird also durch den G-BAkonkretisiert und ist als eigenständiger Versorgungsbereich mitneuer Vergütungssystematik ohne jede Budgetierung konzipiert.Jeder Leistungserbringer, der die für niedergelassene und Kran-kenhausärzte identischen Qualifikationsanforderungen erbringt,hat freien Zugang, wobei onkologische Leistungserbringer diesogenannte transsektorale Kooperationsverpflichtung zu erfüllenhaben. Diese soll nach Vorstellung des Gesetzgebers eine faire,verbindliche und nachprüfbare bilaterale Kooperation gewähr-leisten, die über vertragliche Lippenbekenntnisse weit hinaus -geht. Die Leistungen der ASV werden nicht budgetiert, alsoextrabudgetär erbracht, und sind somit in der morbiditätsab-hängigen Gesamtvergütung (MGV) zu bereinigen. Da die haus-und fachärztliche Grundversorgung per Gesetz hierdurch nichttangiert werden darf, erfolgt die Bereinigung folglich aus dembetreffenden Fachgruppenbudget mit der Konsequenz, dass dienicht beteiligten Fachärzte doppelt bestraft werden: Sie nehmeneinerseits an der ASV nicht teil, haben aber die dadurch entste-henden Kosten aus dem Fachgruppenbudget mit zu tragen.

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Aus meiner Sicht bietet die ASV prinzipiell die historisch ein-malige Chance, bei den anspruchsvollen Leistungen der On-kologie eine unbudgetierte, leistungsgerechte Honorierungzu erreichen. In keiner Weise zu begrüßen und potenziell exis-tenzgefährdend ist allerdings das politische Konzept, dieweitere Entwicklung der ASV dem freien Wettbewerb zu über-lassen. Der freie Wettbewerb konterkariert die Forderungendes in §12 SGB V festgelegten Wirtschaftlichkeitsgebots, wo-nach Leis tun gen zu Lasten der GKV nur erbracht werdendürfen, wenn sie ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlichsind, ohne das Maß des Notwendigen zu überschreiten.

Wettbewerb aber erhöht das Leistungsangebot über das not-wendige Maß hinaus, erhöht die Nachfrage durch Förderungvon Selektion und Redundanz, d. h. Wettbewerb erhöht weiter-hin die bestehende Unter-, Fehl- und Überversorgung – unddas ganz besonders in Ballungszentren wie München. Die nö-tigen Konsequenzen müssen darin bestehen, eine realitäts-bezogene, professionelle, regionale Bedarfsplanung um -zusetzen, vorhan dene leistungsfähige Strukturen zu integrieren,die Selbstbedienung im Gesundheitswesen zu limitieren undeinen klaren, ausreichenden Leistungskatalog der GKV zu de-finieren und gegebenenfalls durch Priorisierung umzusetzen.

Die ehrliche transsektorale Kooperation ist gezielt zu fördern.Der Patient darf nicht zum Objekt des Wettbewerbs werden.Die ASV bietet potenziell mehrere Spannungsfelder mit weiterausufernder Bürokratie, Vertragschaos, neu zu konzipierenderPlausibilitäts- und Wirtschaftlichkeitsprüfung, Untergrabungdes KV-Sicherstellungsauftrags, Kostenverschiebung durchdivergierende Arzneimittel versor gung sowie finanzielle Be-reinigung der MGV zulasten Nicht-Beteiligter.

Eine ehrliche Wettbewerbsgleichheit zwischen Krankenhausund Praxis ist in der Realität nicht herzustellen, insbeson derenicht bei dem vorhandenen Gestaltungsfreiraum sowie dennatürlichen Standortvorteilen des Krankenhauses. Bezüglichder Zugangsvoraussetzungen zur ASV ist mit weiteren Quali-fizierungsexzessen zu rechnen, von denen elementar das Fi-nanzierungvolumen der ASV abhängen wird. Daher wird dieASV von allen beteiligten Institutionen (Krankenhäuser, NIO,MDK, GKV) kritisch gesehen, sodass beim diesjährigen DKKin Berlin von einem Experten gremium die Prognose gewagtwurde, die ASV werde als politischer Irrweg schon bald zuGrabe getragen.

Die Vergütung erfolgt direkt durch die Krankenkassen, die KV kann allerdings als Dienstleister eingeschaltet werden. DerSpitzenverband Bund der Gesetzlichen Krankenkassen (SpiBu)erfindet eine neue Kalkulationssystematik nach betriebswirt-schaftlichen Kriterien und erstellt für die Zukunft sogenanntediagnosebezogene Gebührenordnungspositionen (in Anlehnung

an die DRGs). Bis dahin soll der EBM mit einer angemessenenVergütung angepasst werden. Die stationären Leistungserbringerin der ASV müssen wegen der ungleichen Wettbewerbsbedin-gungen einen Investitionskostenabschlag in Höhe von 5 Prozenthinnehmen. Die in der ASV erbrachten Leistungen sind auf spe-ziellen Vordrucken zu kennzeichnen.

Kommentar von Wolfgang Abenhardt, München

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Ein indisch-stämmiger Onkologe aus New York schreibt überden Krebs

„Der König aller Krankheiten. Krebs – eine Biografie“ ist das2010 in den USA erschienene Erstlingswerk des renommierten,im New York Presbyterian Hospital tätigen indisch-stämmigenOnkologen und Krebsforschers Siddhartha Mukherjee. EinJahr nach seiner Veröffentlichung wurde dieses Buch mit demenglischen Originaltitel „The Emperor of All Maladies –A Biography of Cancer“ mit dem von Journalisten begehrtenPulitzer-Preis ausgezeichnet. Seit dem Frühjahr dieses Jahresliegt eine sehr gute und uneingeschränkt empfehlenswertedeutsche Übersetzung vor.

Der Autor beschreibt Erschreckendes: „Jeder zweite Mann undjede dritte Frau in den Industrienationen werden im Laufe ihresLebens an Krebs erkranken. Dabei nimmt sich diese tödlicheKrankheit das Leben zum Vorbild. […] Unsere Zellen müssenwachsen, damit wir weiterleben; und sie wissen genau, wann sieaufhören müssen, sich zu teilen. Krebszellen wissen das nicht.Sie wuchern weiter für immer.“

Mukherjee behandelt, erforscht und beschreibt den Krebs nunin einer Biografie, denn: „Es reicht nicht aus, den Krebs medi-zinisch zu fassen. Man muss versuchen, ihn kulturell zu ver -stehen, seinen Charakter zu entlarven.“ Er will wissen, wie sichdiese Krankheit im Laufe der Geschichte den Menschen darge-stellt hat und wie die Menschen auf sie reagiert haben.

Der Wissenschaftler erzählt: „Eigentlich sollte das Buch ,Ge-schichte des Krebses’ heißen. Dann habe ich mich für ‚Biografie‘entschieden, nicht, weil ich den Krebs als Person sehe, sondernweil er eine eigene Geschichte hat. Das Schreiben gab mir dasGefühl, dass Krebs nicht ,Etwas‘, sondern ,Jemand‘ ist. Des wegenlautet der Untertitel meines Buches: ,Krebs – eine Biografie‘.“Daraus ist ein komplexes kulturhistorisches Epos entstanden.

Über den König allerKrankheiten

Michaela Erdmann, Apothekerin aus München,hat das Buch im März in New York entdeckt und hat ihre Faszination so überzeugend weiter gegeben, dass sie beim hämatologisch-onkologischen Symposion diesen Vortrag dazuhalten konnte.

Geburt des KarzinomsJede Biografie beginnt mit der Geburt. Erstmals beschreibt derägyptische Arzt Imhotep das Krankheitsbild. Er kommt zu demSchluss, dass Krebs unheilbar ist; dass es keine Behandlunggibt.Um 440 v. Chr. berichtet der griechische GeschichtsschreiberHerodot von einem Behandlungsversuch der PerserköniginAtossa, die selbst an Brustkrebs erkrankt war. Sie ertastete einenschmerzenden und blutenden Knoten in ihrer Brust. Diesekranke Brust verhüllte sie mit Tüchern, und Ärzte ließ sie nichtin ihre Nähe kommen. Niemand sollte von ihrer Krankheit er-fahren. Einzig ihr Sklave Demokedes erhielt einen ungewöhn-lichen Auftrag: Er sollte die Geschwulst aus ihr herausschneiden.Um das Jahr 400 v. Chr. fühlt sich der griechische Arzt Hippo-krates von einem harten, panzerartigen Brustgeschwür an einTier erinnert, das sich ins Fleisch eingräbt. Er nennt es „karki-nos“= „Krebs“. Ein Name, der bis heute geblieben ist.

Historische IrrtümerDie professionellen Therapiebemühungen begannen mit einemIrrtum: Der im antiken Rom lebende griechische Arzt ClaudiusGalenus, genant Galen, behauptete 170 n. Chr., Überfluss an so-genannter schwarzer Galle sei die Ursache des Krebses. DerMensch sei mitverantwortlich für seine Krebserkrankung, siesei verursacht durch seinen Hang zur Melancholie. Die dunkleFlüssigkeit stocke und werde so zu einer festen Masse. EinenKnoten herauszuschneiden, ist dieser Logik zufolge sinnlos. Viel-mehr müsse das Gleichgewicht der Säfte wiederhergestelltwerden. Mehr als 1300 Jahre lang folgten Ärzte dieser Lehre undbekämpften die geheimnisvolle Flüssigkeit mit skurrilen Heil-mitteln aus Schildkrötenleber oder Ziegendung, bis im Jahre1533 der Medizinstudent und später weltberühmte Anatom An-dreas Vesalius diese schwarze Flüssigkeit in Leichen suchte undnachwies, dass die schwarze Galle gar nicht existiert.

Im 19. Jahrhundert war die Zivilisation schuld am Ausbruchder Krankheit: Krebs, so die Annahme, werde vom rasendenTempo und vom Chaos des modernen Lebens verursacht. Daslöse ein krankhaftes Wuchern im Körper aus. Und diese Wu-cherungen mussten radikal entfernt werden. Ende des 19. Jahr-hunderts wurden die Operationen immer radikaler, besondersdie Eingriffe des US-amerikanischen Chirurgen William StewardHalsted (1853-1922), der die Frauen durch seine radikalen Mas-tektomien regelrecht verstümmelte. Wenn der Krebs aus denVerankerungen im Körper verschwunden sei, so seine Theorie,könne er doch gar nicht zurückkehren. Mitleid mit den Frauensei fehl am Platz.

Mukherjee beschreibt: „So wurden etwa mit der Brust auch derBrustmuskel, das Schlüsselbein, die Rippen entfernt, ein grau-sames Rennen, um den Krebs einzuholen. Und die Frauen flehtendie Chirurgen förmlich an, sie so zu operieren. Sie schriebenBriefe, wie: Schont mich nicht! Schneidet, was ihr müsst, auchwenn ihr mich verstümmelt. Ich will nur meinen Körper vom

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lung. Die Krebstherapien des 20. Jahrhunderts begannen oft alsNebenprodukt der Kriegsindustrie.“ So wurde die Krebs for -schung selbst zum Schlachtfeld. Ist es giftig für uns, ist es vielleichtauch giftig für den Feind in uns?

Dem Krebs wurde schließlich aktiv der Krieg erklärt. Die ein-flussreiche Lobbyistin Mary Lasker verbündet sich 1948 mitdem Chemiker und Pathologen Sidney Farber, um dem StaatEtats zur Erforschung der Krebsursachen abzutrotzen. Ende der1960er Jahre lautete das Motto: Wir haben in Amerika innerhalbvon 10 Jahren unter Aufbietung größtmöglicher Ressourcen dieMondlandung geschafft, jetzt werden wir mit ähnlichen finan-ziellen Anstrengungen in den nächsten 25 Jahren auch den „Krieggegen den Krebs“ gewinnen. „Mr. Nixon: You can cure cancer“rief eine ganzseitige Werbeanzeige in der New York Times demPräsidenten zu. Mit Erfolg, denn Nixon erklärte 1971 dem Krebsden Krieg. Die 25 Jahre allerdings vergingen – und der Krebswar immer noch da.

Wir beginnen zu verstehenAnders als in den 1970er Jahren beginnen wir heute dank neuermolekularbiologischer Erkenntnisse die Biologie der verschie-denen Krebsarten besser zu verstehen: „Jetzt können wir nachden jeweiligen Achillesfersen suchen, bestimmte Signalwege derZellen gezielt angreifen“, sagt Mukherjee. Ein wichtiger Meilen-stein war 1976 die große Entdeckung der US-Ameri kaner J. Mi-chael und Bishop Harold E. Varmus, für die sie 1989 den Nobel -

Krebs befreien.“ An dieser chirurgischen Lehrmeinung wurdevon Halsted und seiner Schule 75 Jahre lang festgehalten.

Anfänge der Strahlentherapie1896 entdeckte der 21-jährige Medizinstudent Emil Grubbe inChicago die Wirkung von Strahlen auf Tumorgewebe. Der Sohndeutscher Einwanderer bestrahlte die Patientin Rose Lee miteiner improvisierten Röntgenröhre. Der Tumor schrumpf te, einTriumph. Die Patientin starb dennoch; es hatten sich schonMetastasen gebildet. Nachdem die Physiker Marie und PierreCurie um 1900 das Radium entdeckt hatten, konnten die Chir-urgen Tumoren mit noch höheren Energiedosen bestrahlen. Ra-dium kann Zellen so beschädigen, dass sie absterben oder sichzumindest nicht mehr teilen. Der Sieg über den Krebs, so hofftendie Ärzte, stünde nun unmittelbar bevor.

Jahre später war klar: Bestrahlung kann Krebs zerstören, aberauch erzeugen. Arbeiterinnen in einer Uhrenfabrik in New Jerseyhatten radiumgetränkte Pinsel, mit denen sie Zifferblätter be-malten, oft mit der Zunge angespitzt. Viele von ihnen erkranktenan Leukämie, Zungen- oder Kiefernkrebs. Auch Marie Curieerlag 1934 der Leukämie.

Kriegserklärungen gegen den KrebsSiddhartha Mukherjee zeigt, wie nahezu jede Erfindung auchgegen den Krebs eingesetzt wird: „Chemikalien, eigentlich alsGiftgase für den Krieg entwickelt, oder die radioaktive Strah -

Abbildung 1: Entwicklung einer molekularen, zielgerichteten Therapie der chronischen myeloischen Leukämie (CML) in den vergangenen160 Jahren („From Bed to Bedside and back")

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Presseecho

Die Pressestimmen werden nicht müde, dieses Buch mitpositiver Kritik zu überhäufen: So heißt es in TIME: „,DerKönig aller Krankheiten’ ist Siddhartha Mukherjees erstesBuch. Und es ist eines der besten, zugänglichsten und wich-tigsten Wissenschaftsbücher, die je geschrieben wurden.“ VomTIME Magazine wird der US-amerikanische Bestseller zu den100 besten Sachbüchern der letzten 100 Jahre gezählt.

„Was für eine Erzählung – voller unvorstellbarer Charaktere,therapeutischer Triumphe und Rückschläge und nahe zurück-liegender historischer Begebenheiten – mit all der Hybris undall dem Pathos einer griechischen Tragödie.“ The WashingtonPost

In weiteren Kritiken wird es als ein Glanzstück des Medizin-journalismus, als ein detailreich, packend, kurzweilig, kraftvoll,einzigartig und ungewöhnlich scharfsinnig geschriebenes Buchüber die große Geißel der Menschheit gepriesen.

„Über fast fünf Jahrtausende folgt er der Spur des Krebses.[...] Er beschreibt Fortschritte und Fehlschläge auf diesemlangen Weg, er reiht Fakten aneinander, erweckt die For-scherfiguren zum Leben, sie treiben die Handlung voran. Ge-legentlich legt man das Buch weg - um es doch wieder zurHand zu nehmen. Man will wissen, wie es den Betroffenenergeht.“ DIE ZEIT

„So muss Medizingeschichte geschrieben werden: […] WederLaien noch Fachleute werden dieses Buch ohne Gewinn ausder Hand legen.“ FAZ

„,Der König aller Krankheiten‘ ist ein Jahrhundertwerk. […]Beeindruckend ist die Fähigkeit Siddhartha Mukherjees, nochdie verborgensten historischen Parallelen und Analogien her-auszuarbeiten und zugleich ein großes Stück Literatur vor-zulegen.“ FREITAG

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preis erhielten: Sie fanden heraus, dass Krebs durch die Akti-vierung endogener Vorläufer-Gene verursacht wird, die in allennormalen Zellen existieren. Die entscheidende Schlussfolgerungwar, dass der Vorläufer eines Gens, das Krebs verursacht – sienannten es Proto-Onkogen – ein Gen aus einer normalen Zellewar. Krebs wird zum Teil durch Mutationen verursacht, die vonchemischen Substanzen oder radioaktiver Strahlung herbeige-führt werden oder auch spontan entstehen; und zwar nicht, in-dem sie fremde Gene einschleusen, sondern indem sie solcheschlummernden endogenen Proto-Onkogene zu Krebs erzeu-genden Onkogenen aktivieren. So tragen z. B. sowohl Raucherals auch Nichtraucher in ihren Zellen die gleichen Proto-On-kogene, aber Raucher erkranken häufiger an Krebs, weil die Kar-zinogene im Tabak die Mutationsrate der Gene erhöhen.

Moderne Arzneistoffe und Medikamente, z. B. Antikörper wiedas Trastuzumab und das Rituximab oder die Tyrosinkinase-

Inhibitoren wie das Imatinib, greifen an den inneren Schalt -hebeln bzw. Signalwegen der Zelle ein.

Abbildung 1 zeigt an einem herausragenden Beispiel den his-torischen Verlauf der Entdeckungen bei der chronischen mye-loischen Leukämie (CML), die schließlich zu einer zielgerichtetenTherapie mit der „Neuen Substanz“ Imatinib und ihren Folge-präparaten der zweiten bis fünften Generation führte.

Palliativmedizin als ParadigmenwechselMukherjee schildert die Anfänge der Palliativmedizin als Versucheiner „kolossalen Neuorientierung“: Bei dem Versuch, Leben zuretten, das nicht mehr zu retten ist, werde oftmals ein schmerz-freies und friedvolles Sterben in Würde verhindert. Diese ei-gentliche ärztliche Kunst sei viel heikler und komplexer als dieDurchführung einer Operation oder die Entwicklung und Ver-abreichung eines Medikamentes.

Siddartha MukherjeeDer König aller Krankheiten

Krebs – eine Biografiemit einem Vorwort von Fritz Pleitgen,deutsche Übersetzung von Barbara Schaden, 2012, DuMont Buchverlag, Köln, 26 €

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Impressum

TZM-NewsISSN: 1437-8019 © 2012 by Tumorzentrum München und LUKON Verlagsgesellschaft mbH,München

RedaktionProf. Dr. med. Volkmar Nüssler (verantwortlich), Petra Möbius, Hermann Werdeling, Ludger Wahlers, Tina Schreck (CvD), Anschrift wie Verlag

AnzeigenManfred Just (089-820737-0;[email protected]) Anschrift wie Verlag

HerausgeberGeschäftsführender Vorstand des Tumor-zentrums München c/o Geschäftsstelle des Tumorzentrums MünchenPettenkoferstraße 8 a, 80336 MünchenFon: 089-5160-2238, Fax: 089-5160-4787tzmuenchen@med.uni-muenchen.dewww.tumorzentrum-muenchen.de

VorsitzenderProf. Dr. med. J. E. Gschwend, Direktor der Urologischen Klinik und Poliklinik des Klinikums rechts der Isar der TU München

1. stellvertretender VorsitzenderProf. Dr. med. T. Kirchner, Direktor des Pa-thologischen Instituts der LMU München

2. stellvertretender VorsitzenderProf. Dr. med. K.-W. Jauch, Direktor derChirurgischen Klinik, Klinikum der Uni-versität München, Großhadern

Geschäftsführender SekretärProf. Dr. med. Ch. Peschel, Direktor der 3. Medizinischen Klinik des Klinikums rechts der Isar der TU München

SchatzmeisterProf. Dr. med. R. Gradinger, Ärztlicher Direktor des Klinikums rechts der Isar der TU München

Direktor CCCLMU

Prof. Dr. med. V. Heinemann, DirektorKrebszentrum CCCLMU, Klinikum der Universität München, Großhadern

Direktor RHCCCProf. Dr. rer. soc. P. Herschbach, DirektorRoman-Herzog-Krebszentrum, Klinikumrechts der Isar der TU München

Leitung TRMProf. Dr. med. J. Engel, TumorregisterMünchen, Klinikum der Universität München, Großhadern

KoordinatorProf. Dr. med. V. Nüssler (Anschrift wieHerausgeber)

VerlagLUKON Verlagsgesellschaft mbHLandsberger Straße 480 a, 81241 MünchenFon: 089-820 737-0, Fax: 089-820 737-17E-Mail: [email protected]

AbonnementDie TZM-News erscheint viermal jährlichzum Einzelpreis von 4,00 €. Der Preis fürein Jahresabonnement beträgt 15,00 €. Diegenannten Preise verstehen sich zuzüglich Versandkosten: Inland 3,00 €; Ausland:12,00 €. Die Bezugsdauer beträgt ein Jahr.Der Bezug verlängert sich automatisch umein weiteres Jahr, wenn das Abonnementnicht spätestens sechs Wochen vor Ablaufdes Bezugsjahres schriftlich gekündigtwird.

Für Mitglieder des Tumorzentrums Mün-chen ist der Bezug der TZM-News im Mit-gliedsbeitrag bereits enthalten.

Layout und IllustrationCharlotte Schmitz, 42781 Haan

BildnachweisTitelseite links und rechts, S. 9, 10, 11 obenund unten sowie 12: Clemens Wendtner,München; S. 25: Tim Brümmendorf, Aachen; S. 26: DuMont Buchverlag, KölnAlle Grafiken: Charlotte Schmitz, Haan

DruckFlyeralarm, 97080 WürzburgPrinted in Germany

Urheber- und VerlagsrechtDie Zeitschrift und alle in ihr enthalteneneinzelnen Beiträge und Abbildungen sindurheberrechtlich geschützt. Mit Annahmedes Manuskripts gehen das Recht zur Ver-öffentlichung sowie die Rechte zur Über-setzung, zur Vergabe von Nachdruckrech-ten, zur elektronischen Speicherung inDatenbanken, zur Herstellung vonSonderdrucken, Fotokopien und Mikro-kopien an den Verlag über. Jede Verwer-tung außerhalb der durch das Urheber-rechtsgesetz festgelegten Grenzen ist ohneZustimmung des Verlags unzulässig. Inder unaufge forderten Zusendung von Bei-trägen und Informationen an den Verlagliegt das jederzeit widerrufliche Einver-ständnis, die zugesandten Beiträge bezie-hungsweise Informationen in Daten -banken einzustellen, die vom Verlag oderDritten geführt werden.

Auflage 2.500 Exemplare

Mukherjee hebt hervor: „Krebs ist die große Volksangst. Er istallgegenwärtig, unbesiegbar, mächtig. Vor ihm sind alle Patientengleich.“ So schreibt er weiter, dass der Krebs in seiner perfidenPerfektion, in seiner Anpassungsfähigkeit und seiner Wider-standskraft beinahe menschliche Züge annimmt. Seine Ge-schichte ist die Geschichte von Leid, von Forscherdrang, Ideen-reichtum und Beharrlichkeit – aber auch von Hochmut, Arro -ganz und unzähligen Fehleinschätzungen.

Gleichzeitig ist Krebs „eine marodierende Zelle, die im Körperentsteht und die sich seiner bemächtigt wie ein interner Alien.Aufgrund seiner sozialen und emotionalen Kategorie wurde derKrebs in seinen vielfältigen Erscheinungsformen zum ‚Königaller Krankheiten‘. Ziel der Therapie ist die Verlängerung desLebens, nicht die Überwindung des Todes. Tod im Alter ist un-vermeidlich, aber der Tod vor dem Alter nicht. Tatsächlich sindKrebszellen auf eine gewisse Art unsterblich: Sie teilen sich un-aufhörlich.“

Obwohl die Errungenschaften deutscher Forscher und Wissen-schafter wie Robert Koch und Virchow sehr wohl gewürdigtwerden, bleiben neuere bahnbrechende klinische Forschungs-ergebnisse aus Deutschland im Buch unerwähnt: z. B. die erfolg -reichen Strategien zur Behandlung von Hodgkin- und Non-Hodgkin-Lymphomen. Trotzdem ist dieses Buch „eines derbesten … Wissenschaftsbücher, die je geschrieben wurden“ wienicht nur das TIME Magazin feststellte.

AusblickMukherjee unternimmt am Schluss mit der Perserkönigin Atossanoch einmal eine fiktive Zeitreise. Er schreibt:

„Versetzen wir Atossa jetzt in die weite Zukunft: Im Jahre 2050kommt sie vielleicht mit einem daumengroßen USB-Stick indie Praxis des Onkologen, auf dem die gesamte Sequenz ihresKrebsgenoms mitsamt jeder Mutation jedes Gens gespeichertist.“ Moderne Medikamente setzen gezielt an den entscheidendenmolekularen Strukturen an. Das ist die heute angestrebte gezielteund individualisierte Therapie.

Krebs ist eine Krankheit des Erbgutes und entspringt daher tat-sächlich den Grundlagen menschlicher Existenz. Die Fortschrittein der Genetik können den Kampf gegen den Krebs so weiter-bringen, dass die Patienten in Zukunft mit Therapien behandeltwerden, die exakt auf die individuellen genetischen Vorausset-zungen zielen.

Jede Biografie muss sich am Ende mit dem Tod befassen. Mu-kherjee fragt sich: Ist es denkbar, dass es mit dem Krebs irgend-wann in der Zukunft ein Ende hat? Ist es möglich, diese Krank -heit für immer aus unserem Körper und unserer Gesellschaftauszurotten? Die Antwort bleibt der Zukunft vorbehalten.

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Page 28: TZM News - tumorzentrum-muenchen.com · immun erkrankungen), aber auch Anämien bei chronischen Erkrankungen (Tumor-/Infektanämien, rheumatische Erkran - kungen), andere sekundäre

Colloquium Senologie 2012

Colloquium Urologie 2012

Alle Bücher der Colloquium-Reihe können Sie versandkostenfrei telefonisch, per Fax oder per E-Mail direkt im Verlag bestellen: Agileum Verlags GmbH, Landsberger Straße 480 a,81241 München, Fon: 089-820 737 27 – Fax: 089-820 737 28 – [email protected]

Stand der Information: Juli 2012

Herausgegeben von:Michael Untch, Berlin; Christoph Thomssen, Halle; Serban-Dan Costa, Magdeburg

unter anderem mit Beiträgen von:Hans Kreipe, Hannover - Gunter von Minckwitz, Neu-Isenburg - Anton Scharl, Amberg -Nadia Harbeck, München - Oleg Gluz, Mönchengladbach - Joachim Bischoff, Magde-burg - Sherko Kümmel, Essen - Ingo J. Diel, Mannheim - Peter Fasching, Erlangen

320 Seiten · durchgängig vierfarbig mit zahl reichen Tabellen und Abbildungen

ISBN 978-3-939415-13-8Buchhandelspreis: 29,50 € Agileum Verlags GmbH, München

Weitere Infos und Leseproben unter http://www.agileum.de/buecher/colloquium-senologie-2012.html

Stand der Information: September 2012

Herausgegeben von Herbert Rübben, Essen und Thomas Otto, Neuss

unter anderem mit Beiträgen von: Theodor Klotz, Weiden - Markus Hohenfellner, Heidelberg - Alexander Roosen, München - Lothar Weißbach, Berlin - Wolfgang Weid-ner, Gießen - Paolo Fornara, Halle - Jens Bagner, Neuss - Frank vom Dorp, Essen

366 Seiten · durchgängig vierfarbig mit zahl reichen Tabellen und Abbildungen

ISBN 978-3-939415-14-5Buchhandelspreis: 39,50 €Agileum Verlags GmbH, München

Weitere Infos und Leseproben unter http://www.agileum.de/buecher/colloquium-urologie-2012.html

Colloquium

2012

Herausgegeben von

Michael Untch

Christoph Thomssen

Serban-Dan Costa

Relevante

Erkenntnisse zur

Diagnostik und

Therapie von

Patientinnen mit

Mammakarzinom

Mit einem Geleitwort

von Diethelm Wallwiener

Colloquium

2012

Herbert Rübben

Thomas Otto

ColloquiumBuchreihe

Alles was wichtig ist: Jährlich aktualisiertes Wissen für Ärzte in Klinik und Praxis

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