"ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem...

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Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis............................................................................................................................. 1 1. Einleitung.................................................................................... 3 1.1 Forschungsstand.................................................................................................................................6 2. Theoretische Aspekte Schwarzer Lebenswelten in Deutschland.................................................................................. 10 2.1 Geschichte der AfrikanerInnen und Schwarzer Menschen in Deutschland ...................................... 10 2.1.1. Schwarze Deutsche von der Antike bis zum Ersten Weltkrieg..................................................... 10 2.1.2. Die „schwarze Schmach“..............................................................................................................15 2.1.3. „Rheinlandbastarde“ .................................................................................................................... 16 2.1.4. „Schwarze Besatzungskinder“ ..................................................................................................... 19 2.2. Rassismus: Wandlung vom biologischen zum kulturellen Rassismus........................................... 21 2.3. Weißsein.......................................................................................................................................... 24 2.4. Schwarze Menschen in der weißen (deutschen) Vorstellungswelt .................................................. 26 2.5. Rassismuserleben Afrodeutscher ................................................................................................... 32 2.6. Besonderheiten in der Mutter- Kind Beziehung afrodeutscher Kinder ........................................... 35 2.7. Die Bedeutung einer fehlenden Schwarzen Vaterfigur für das afrodeutsche Kind ........................37 3. Hans-Jürgens ÜberLebensstrategien und Selbstbilder in der Kindheit ................................................................................... 42 3.1.1.Hans-Jürgens ÜberLebensstrategien in der Mutter-Kind Beziehung............................................ 42 3.1.2.Hans-Jürgens ÜberLebensstrategien bei fehlender Schwarzer Vaterfigur ..................................... 51 3.3. Hans-Jürgens ÜberLebensstrategien in Konfrontation mit offenem Rassismus und in Begegnungen mit „helfenden Zeugen“................................................................................................... 55 3.3.1. Hans-Jürgens Überlebensstrategien in Konfrontation mit rassistischen Anfeindungen durch Autoritätspersonen.................................................................................................................................. 58 Exkurs: Erziehungsideale im Nationalsozialismus und ihre Folgen für das Subjekt............................. 61 3.3.2. Konfrontation mit Schulleiter Wriede und Begegnung mit einer „helfenden Zeugin“ .............. 64 3.4. Hans-Jürgen im nationalsozialistischen Kollektiv: Zwischen Integration, Ausgrenzung und Ausschluss ............................................................................................................................................. 71 3.4.1. Hans-Jürgens Überlebensstrategien mit weißen Kindern............................................................ 71 Und......................................................................................................................................................72 3.4.2. Hans-Jürgen zwischen Integration und Ausgrenzung................................................................. 74 3.4.3. Hans-Jürgens Ausschluss aus der Hitler-Jugend..........................................................................78 3.5.1.Hans-Jürgens Selbstbilder ............................................................................................................. 83 3.5.1. Hans-Jürgens Selbstbilder während der ersten drei Lebensjahre in der Gemeinschaft der Schwarzen Familie.................................................................................................................................. 83 Und..........................................................................................................................................................85 Exkurs..................................................................................................................................................... 86 3.5.2. Hans-Jürgens Selbstbilder im weißen Umfeld.............................................................................. 87 Exkurs..................................................................................................................................................... 93 3.5.3. Hans Jürgens neue Schwarze Vorbilder ....................................................................................... 94 4. Ikas ÜberLebensstrategien und Selbstbilder in der Kindheit ...................................................................................................... 104 4.1.1.Ikas ÜberLebensstrategien in der Mutter-Kind Beziehung und Familie .................................. 104 4.2. Ikas ÜberLebensstrategien bei fehlender Schwarzer Vaterfigur ................................................... 111 4.3. Ikas ÜberLebensstrategien im Heim .......................................................................................... 114 1

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis............................................................................................................................. 1

1. Einleitung.................................................................................... 31.1 Forschungsstand.................................................................................................................................6

2. Theoretische Aspekte Schwarzer Lebenswelten in Deutschland.................................................................................. 10

2.1 Geschichte der AfrikanerInnen und Schwarzer Menschen in Deutschland......................................102.1.1. Schwarze Deutsche von der Antike bis zum Ersten Weltkrieg.....................................................102.1.2. Die „schwarze Schmach“..............................................................................................................152.1.3. „Rheinlandbastarde“ .................................................................................................................... 162.1.4. „Schwarze Besatzungskinder“ .....................................................................................................192.2. Rassismus: Wandlung vom biologischen zum kulturellen Rassismus...........................................212.3. Weißsein..........................................................................................................................................242.4. Schwarze Menschen in der weißen (deutschen) Vorstellungswelt.................................................. 262.5. Rassismuserleben Afrodeutscher ................................................................................................... 322.6. Besonderheiten in der Mutter- Kind Beziehung afrodeutscher Kinder........................................... 352.7. Die Bedeutung einer fehlenden Schwarzen Vaterfigur für das afrodeutsche Kind ........................37

3. Hans-Jürgens ÜberLebensstrategien und Selbstbilder in der Kindheit...................................................................................42

3.1.1.Hans-Jürgens ÜberLebensstrategien in der Mutter-Kind Beziehung............................................ 423.1.2.Hans-Jürgens ÜberLebensstrategien bei fehlender Schwarzer Vaterfigur.....................................513.3. Hans-Jürgens ÜberLebensstrategien in Konfrontation mit offenem Rassismus und in Begegnungen mit „helfenden Zeugen“...................................................................................................553.3.1. Hans-Jürgens Überlebensstrategien in Konfrontation mit rassistischen Anfeindungen durch Autoritätspersonen.................................................................................................................................. 58Exkurs: Erziehungsideale im Nationalsozialismus und ihre Folgen für das Subjekt.............................613.3.2. Konfrontation mit Schulleiter Wriede und Begegnung mit einer „helfenden Zeugin“ ..............643.4. Hans-Jürgen im nationalsozialistischen Kollektiv: Zwischen Integration, Ausgrenzung und Ausschluss ............................................................................................................................................. 713.4.1. Hans-Jürgens Überlebensstrategien mit weißen Kindern............................................................ 71

Und......................................................................................................................................................72 3.4.2. Hans-Jürgen zwischen Integration und Ausgrenzung.................................................................743.4.3. Hans-Jürgens Ausschluss aus der Hitler-Jugend..........................................................................783.5.1.Hans-Jürgens Selbstbilder .............................................................................................................833.5.1. Hans-Jürgens Selbstbilder während der ersten drei Lebensjahre in der Gemeinschaft der Schwarzen Familie..................................................................................................................................83Und..........................................................................................................................................................85Exkurs..................................................................................................................................................... 863.5.2. Hans-Jürgens Selbstbilder im weißen Umfeld..............................................................................87Exkurs..................................................................................................................................................... 933.5.3. Hans Jürgens neue Schwarze Vorbilder....................................................................................... 94

4. Ikas ÜberLebensstrategien und Selbstbilder in der Kindheit......................................................................................................104

4.1.1.Ikas ÜberLebensstrategien in der Mutter-Kind Beziehung und Familie .................................. 1044.2. Ikas ÜberLebensstrategien bei fehlender Schwarzer Vaterfigur................................................... 1114.3. Ikas ÜberLebensstrategien im Heim ..........................................................................................114

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4.3.1. Heimsituation............................................................................................................................1144.4. Rassismus und Kirche .................................................................................................................1204.5.Rassismus und Sexualität: Gendered Racism................................................................................1234.5.1. Das Frauenbild der 50er Jahre in Deutschland......................................................................... 1244.5.2. Die sexualisierte Schwarze Frau...............................................................................................1284.6. Ikas ÜberLebensstrategien in der Schule.......................................................................................1334.7. Ikas ÜberLebensstrategien in der Interaktion mit anderen Kindern in Heim und Schule............1344.8.1.Ikas Selbstbilder...........................................................................................................................1394.8.1. Ikas Selbstbilder im familären Kontext...................................................................................... 139Exkurs................................................................................................................................................... 1404.8.2. Ikas Selbstbilder im Heim und in der Schule ............................................................................ 1425. Nutzen der Rassifizierung für hegemoniale weiße Personen.......................................................... 149

6. Schlussbetrachtung..............................................................151

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1. Einleitung

Wie schaffen wir es, in einer Welt,

die uns terrorisiert, uns nicht akzeptiert und uns mißbraucht,

zu leben, zu überleben, zu funktionieren?

Wie werden aus uns mitfühlende Menschen, wie AlkoholikerInnen,

wie KünsterInnen, wie Psychotische, wie sorgende Mütter, wie Depressive,

wie sorgende Väter, wie ‚funktionierende‘ BürgerInnen, wie Drogenabhängige,

wie WissenschaftlerInnen, wie Clochards, wie Prominente, wie Prostituierte,

wie lachende, weinende, liebende, teilende l e b e n d i g e Wesen,

im Angesicht des Terrors?

Allein.

Ohne Zeugen.

Wo begraben wir unseren Schmerz,

wo pflanzen wir die Hoffnung,

wo sähen wir die Zukunft,

wo ernten wir Liebe?

Unser ÜberLebenswille ist unsere Kraft, unser Mut die Quelle unserer Zukunft, unsere

Lebensweisheit trägt die Samen für eine friedlichere Welt.

P.

In meiner Magisterarbeit gehe ich der Frage nach, welche Auswirkungen eine

Sozialisation in einem weißen Umfeld auf afrodeutsche Kinder hat, die ohne

Schwarzen Vater und / oder andere Schwarze Bezugspersonen in Deutschland

leben1. Welche ÜberLebensstrategien entwickeln sie in einer Welt, die sie

rassifiziert, terrorisiert und in der ihre Zugehörigkeit permanent in Frage gestellt

wird? Welche Selbstbilder entstehen, wenn Schwarze Kinder in einer

Gesellschaft aufwachsen, in der sie sich nicht in anderen Schwarzen Menschen

gespiegelt sehen, die aber ein rassifiziertes Bild von Schwarzen Menschen

produziert? 1 Mit der Großschreibung von Schwarz und der Kursivsetzung von weiß schließe ich mich der von Autorinnen des Sammelbandes „Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung Deutschland“ (Münster 2005) vorgeschlagenen und praktizierten Schreibweise dieser unterschiedlichen politischen und sozialhistorischen Konstruktionen an.

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Anhand der Biografien des afrodeutschen Journalisten Hans-Jürgen Massaquoi

und der Sozialpädagogin und Pionierin Ika Hügel-Marshall gehe ich diesen

Fragen nach. Dabei liegt mein Interesse und mein Bemühen darin, die

AutorInnen selbst zu Wort kommen zu lassen, um ihre Biografien möglichst

unverfälscht interpretieren zu können. Gleichzeitig ist mir ein wichtiges Anliegen,

mich ihnen möglichst respektvoll anzunähern. Ich setze die Lebensgeschichten

der ProtagonistInnen in einen historischen Kontext, in welchem sich die

gesellschaftlichen und politischen Umstände der jeweiligen Zeit aufzeigen

lassen, und analysiere diese mit Hilfe der Kategorien race, class und gender.

Unter Zuhilfenahme dieser Analysekategorien werde ich die Heterogenität

afrodeutschen Erlebens und ÜberLebens möglichst wertfrei darstellen.

Den für die vorliegende Analysearbeit ausgewählten ProtagonistInnen ist

gemeinsam, dass sie ihre Sozialisation hauptsächlich bzw. ausschließlich im

weißen Umfeld erfuhren, und ihre Kindheit in Abwesenheit des Schwarzen Vaters

erlebten. Sowohl Ika Hügel-Marshall als auch Hans-Jürgen Massaquoi sind

Kinder weißer deutscher Mütter und eines Schwarzen Vaters. Interessant ist der

Kontext, in dem beide AutorInnen aufwuchsen: Massaquoi, als Enkel des

damaligen liberianischen Generalkonsuls und Sohn einer weißen

Krankenschwester, wuchs in Hamburg der 30er Jahre anfangs im engen Kontakt

mit seiner Schwarzen Familie auf, bis diese Deutschland 1929 verließ. Fortan

lebte er mit seiner Mutter in einem rein weißen ArbeiterInnenviertel Hamburgs,

indem die Nationalsozialisten zunehmend an politischer Macht gewannen.

Hügel-Marshall, 1946 geboren, wuchs in der Nachkriegszeit in einer weißen

Familie auf, und verbrachte den überwiegenden Teil ihre Kindheit ohne Kontakt

zu Schwarzen Menschen in einem Kinderheim. Erst mit 46 Jahren lernte sie

ihren Vater in den USA kennen.

Die AutorInnen schreiben aus unterschiedlichen Genderpositionen und

historischen Kontexten heraus und unterscheiden sich stark in ihrer

prozesshaften Anbindung an ihr Schwarzsein und das Erleben bzw. den Einfluss

einer Schwarzen Community. Hügel-Marshall schreibt als Pionierin der

Schwarzen Bewegung in Deutschland; Als eine der ersten Schwarzen Frauen

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setzte sie sich politisch aktiv für die Belange Schwarzer Menschen in

Deutschland ein, und konfrontierte die weiße deutsche Öffentlichkeit und die

weiße feministische Bewegung mit ihrer Kritik am bestehenden Rassismus. In

Ermangelung einer unterstützenden Schwarzen Community kämpfte sie im

Alleingang und konnte, im Gegensatz zu Massaquoi, nicht an vorhandenen

Strukturen des Black empowerment und des Widerstands anknüpfen.

Massaquoi hingegen schreibt aus der gelebten Erfahrung einer Schwarzen

Community heraus, die er sowohl in den ersten drei Jahren seiner Kindheit als

auch als Erwachsener erlebte. Nach dem zweiten Weltkrieg in die USA

immigriert, nahm er dort an der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung teil. Er

arbeitete als Redakteur der renommierten afroamerikanischen Zeitschrift Ebony

und hatte, bedingt durch seine journalistische Tätigkeit, stetigen Kontakt zu

politisch und gesellschaftlich einflussreichen afroamerikanischen Persönlich-

keiten. Diese Lebenserfahrungen prägen die Art und Weise, wie beide ihre

Biografien verfasst haben.

Die vorliegende Magisterarbeit leite ich mit den theoretischen Themen:

Geschichte der Afrodeutschen, Rassismus, Weßsein, Schwarze Menschen in der

weißen (deutschen) Vorstellungswelt, Rassismuserleben Afrodeutscher,

Besonderheiten in der Mitter-Kind-Beziehung und die Bedeutung einer fehlenden

Schwarzen Vaterfigur für das afrodeutsche Kind, ein.

Im Hauptteil folgen die Analysen von Hans-Jürgen Massaquois und Ika Hügel-

Marshalls Biografien. Die Trennung der Biografien nach Personen und nicht nach

Themenbereichen, wie z.B. Mutter-Kind-Beziehung, ist ein notwendiger

Bestandteil dieser Arbeit, da ein Vergleich der beiden AutorInnen der

angestrebten Wahrung der Heterogenität im Wege stehen würde.

Die Analysen sind unterteilt in ÜberLebensstrategien und Selbstbilder, wobei

beide sich stark überlappen und eine Trennung im Grunde kaum möglich ist,

aber aus Gründen der Übersichtlichkeit bzw. zur differenzierteren Analyse

vorgenommen wurde.

Die Reihenfolge der ProtagonistInnen habe ich zur einfacheren Lesart

chronologisch gewählt. Im letzten Teil der Arbeit folgen schließlich die

Schlussbetrachtungen.

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1.1 Forschungsstand

Die wissenschaftliche Forschung zu Schwarzer Präsenz in Deutschland begann

1986 mit dem Erscheinen des Buches „Farbe bekennen. Afodeutsche Frauen auf

den Spuren ihrer Geschichte.“2 Diese Arbeit beruht zum einen auf den

theoretischen Forschungen zu Afrodeutscher Geschichte und Lebenssituation

Schwarzer Menschen in Deutschland, und zum anderen auf biografischen

Erzählungen und Interviews afrodeutscher Frauen. Es ist das erste Buch, dass

von Schwarzen Menschen in Deutschland zur Schwarzen deutschen Präsenz

veröffentlicht wurde, und läutete eine neue Ära der Entwicklung afrodeutschen

Bewußtseins ein. Die gleichberechtigte Einbeziehung autobiografischer

Zeugnisse ist mit der Erscheinung dieses Buches zum integralen Bestandteil

afrodeutschen Geschichtsverständnisses geworden. Inzwischen widmen sich

viele Schwarze AktivistInnen diesem Thema, wobei sich ihre Arbeiten nicht nur

auf wissenschaftliche Forschungen aus den Bereichen der Geschichts-, Sozial-,

Kultur- und Pflegewissenschaft beziehen, sondern auch in verschriftlichten

Biografien, in der Poesie, visuellen Darstellungen und Musik ihren Ausdruck

finden.

Die bisher veröffentlichten wissenschaftlichen Arbeiten Schwarzer Frauen und

Männer zur Geschichte und Lebensbedingungen afrodeutscher Menschen

lassen sich einesteils in empirische, theoretische und biografische

Wissenschaftsbereiche einteilen, andererseits aber auch unter die Fachbereiche

Erziehungswissenschaft, Psychologie, Geschichtswissenschaft und Sozial-, und

Pflegewissenschaft eingliedern. Zur Gliederung des vorgefundenen

Forschungsmaterials wähle ich hier die zweite Variante, da sie mir angesichts der

Thematik meiner Arbeit am Besten geeignet erscheint.

2 Oguntoye 1991

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Im Bereich der Erziehungswissenschaften schrieb die Pädagogin May (Ayim)

Opitz 1986 ihre Diplomarbeit zum Thema „Afro-Deutsche. Ihre Kultur- und

Sozialisationsgeschichte auf dem Hintergrund gesellschaftlicher

Veränderungen.“3. Diese Arbeit bildete die theoretische Grundlage für das im

selben Jahr erschienene Buch „Farbe bekennen. Afodeutsche Frauen auf den

Spuren ihrer Geschichte.“4, dessen Mitherausgeberin sie war. Ayims Artikel

„Weißer Stress und Schwarze Nerven“5 wurde in dem 1995 erschienen Buch

„Streß beiseite“ veröffentlicht. Die Diplom Pädagogin Stefani Hahn analysiert in

ihrer Abschlussarbeit das Rassismuserleben afrodeutscher Kinder und

untersucht es auf Möglichkeiten pädagogischer Intervention.6 Maisha Maureen

Eggers, Schwarze Pädagogin, Erziehungswissenschaftlerin und Aktivistin

verfasste 2000 ihre Diplomarbeit zum Thema „Rassismus, Ethnizität und Macht

und ihre Relevanz für die Sozialisation Schwarzer und Weißer Kinder und

Jugendlicher.“7 In ihrer Arbeit geht sie auf Theorien von deutschen, britischen und

US-amerikanischen WissenschaftlerInnen ein. Ihre Dissertation zum Thema:

„Rassifizierungen und kindliches Machtempfinden“ schrieb sie 2005.8

Im Wissenschaftsbereich der Psychologie verfasste die Schwarze Diplom

Psychologin Bärbel Kampmann 1994 ihren Artikel „Schwarze Deutsche.

Lebensrealität und Probleme einer wenig beachteten Minderheit.“9 Die

Psychotherapeutin legt hier Auszüge aus ihrer therapeutischen Arbeit dar.

Desweiteren veröffentlichte sie u.a. den Artikel „Psychosoziale Aspekte der

Situation von Schwarzen Deutschen und Frauen ethnischer und nationaler

Minderheiten in Deutschland.“.10 Grada Kilomba (Ferreira), Psychologin und

Psychoanalytikerin, schrieb zahlreiche Atikel zur Schwarzen Diaspora, die sie

3 Opitz, May: Afro-Deutsche. Ihre Kultur- und Sozialisationsgeschichte auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen. Diplomarbeit an der Universität Regensburg, Regensburg 19864 Oguntoye 19915 Ayim 1995; Ayim verfasste zudem zahlreiche Gedichte, die im Orlanda Verlag erschienen sind.6 Hahn 20007 Eggers 20008 Eggers, Maisha Maureen: Rassifizierungen und kindliches Machtempfinden. Dissertation an der Christian Albrechts-Universität zu Kiel, Kiel 20059 Kampmann 199410Kampmann, Bärbel: Psychosoziale Aspekte der Situation von Schwarzen Deutschen und Frauen ethnischer und nationaler Minderheiten in Deutschland. In: Kraft, Marion (Hg.): Schwarze Frauen der Welt – Europa und Migration. Orlanda Verlag, Berlin 1994

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u.a. in ihrer 2008 erschienenen Dissertation „Plantation Memories. Episodes of

everyday racism“11 veröffentlichte. Für die hier vorliegende Arbeit ist ihr Artikel

„Die Kolonisierung des Selbst – der Platz des Schwarzen“12 interessant. Hier

verwendet sie Interviewausschnitte und analysiert diese im Sinne der

Psychoanalyse.

Im historischen Wissenschaftsbereich eröffnete Katharina Oguntoye als eine der

Herausgeberinnen des Buches „Farbe bekennen. Afodeutsche Frauen auf den

Spuren ihrer Geschichte.“13 die kritische Erforschung Schwarzer deutscher

Geschichte. In ihrem 1997 erschienen Buch „Eine afro-deutsche Geschichte.“14

zeichnet sie die Lebenssituation von AfrikanerInnen und Afrodeutschen von der

Kaiserzeit bis zur Nachkriegszeit auf. Tina Campt, afroamerikanische

Historikerin, arbeitete sowohl in ihrer empirischen Dissertation „Afro-German“:

The convergence of race, sexuality and gender in the formation of a german

ethnic identity, 1919 – 1960.“15, als auch in ihrem Werk „Other Germans: Black

Germans and the politics of race, gender, and memory in the Third Reich.“16 auf

der Grundlage von Interviews mit ZeitzeugInnen zur Geschichte Schwarzer

Deutscher. Der Historiker und Mediziner Pascal Grosse widmete sich in seinem

2000 erschienenen Werk „Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft

in Deutschland 1850-1918.“17 mit der engen Verflechtung der deutschen

Kolonialpolitik und der Eugenik Ende des 19. Jahrhunderts.

Die 2001 veröffentlichte Dissertation „Schwarze Deutsche“18 der Historikerin

Fatima El-Tayeb untersucht die wissenschaftliche und politische Debatte zur

Ausgrenzung Schwarzer Menschen in Deutschland und den deutschen Kolonien

in den Jahren 1890 bis 1933. Yara-Colette Lemke Muniz de Farias 2002

erschienene Dissertation „Zwischen Fürsorge und Ausgrenzung“19 vermittelt

11 Kilomba,Grada: Plantation Memories. Episodes of everyday racism. Unrast-Verlag, Münster 2008 12 Ferreira 200313 Oguntoye 199114 Oguntoye 199715 Campt 199616 Campt 200717 Grosse, Pascal: Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland 1850-1918. Campus Verlag, Frankfurt/Main 200018 El-Tayeb 200119Lemke Muniz de Faria 2002

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einen umfassenden Einblick in die Situation afrodeutscher Kinder im

westdeutschen Nachkriegsdeutschland. Nicola Lauré al Samarai, Historikerin

und Kulturwissenschaftlerin, erweitert in ihren biografischen Forschungen das

Spektrum Schwarzer deutscher Lebenswelten um kulturwissenschaftliche

Perspektiven und bezieht Biografien Afrodeutscher aus der DDR mit ein.20

20 Lauré al-Samarai 2004

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2. Theoretische Aspekte Schwarzer Lebenswelten in Deutschland

2.1 Geschichte der AfrikanerInnen und Schwarzer Menschen in

Deutschland

2.1.1. Schwarze Deutsche von der Antike bis zum Ersten Weltkrieg

Die Anwesenheit von Afrikanern in Deutschland kann mindestens bis zu den

Zeiten der Römer rückdatiert werden, als männliche Legionäre aus den

Provinzen Mauretania (Marokko, Tunesien), Numidia (Algerien, Lybien, Sudan)

und Aegyptus am Rhein und an der Donau stationiert waren. Einige dieser

Legionäre wurden nach ihrem Tod als Märtyrer verehrt, wie zum Beispiel der

heiligen Georgius, zu dessen Ehren das Mohrenfest am 10. Oktober in Köln

abgehalten wird.21 Unter Friedrich dem II von Hohenstaufen, deutscher König

und römischer Kaiser, kamen ebenfalls viele afrikanische Soldaten und Diener

nach Deutschland, nachdem er 1233 die Schwarzen muslimischen „Mauren“ und

Sarazenen auf Sizilien besiegt hatte. Zwei Diener, Muzca und Marzuch, sind mit

Namen überliefert.22

Im Mittelalter lebten wohl zahlreiche AfrikanerInnen in Deutschland, deren

Lebensgeschichte jedoch nur im geringen Maße überliefert wurde. Doch auch

unabhängig von Dokumenten oder Aufzeichnungen ist bekannt, dass deutsche

Aristokraten im 16. Jahrhundert sehr aktiv am afrikanischen Sklavenhandel

beteiligt waren, auch wenn Deutschland zu dieser Zeit noch kein afrikanisches

Land zu seiner Kolonie ernannt hatte. So „kauften“ sich Deutsche Schwarze

Sklaven von den Holländern, den Spaniern oder Portugiesen, denn sie galten an

deutschen Höfen als exotische Statussymbole, die den Hof oder die Equipage

ihrer „Besitzer“ schmückten.23

21 Vgl. Amoateng, S.1622 Ebenda, S.1723 Ebenda, S.16 f

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Einer dieser sogenannten “Hofmohren“ war Anton Wilhelm Amo. Amo, als

siebenjähriger von einer Sklavengesellschaft an den Wolfenbüttler Herzog Anton

Ulrich „verschenkt“, hatte dass Glück, dass er nicht als Sklave mißbraucht wurde

sondern ein universitäres Studium mit anschließender akademischer Laufbahn

antreten konnte. 1720 studierte er an der damals renommiertesten Universität

Deutschlands in Halle und schrieb seine Abschlussarbeit über das Recht der

Mauren, also der Schwarzen Menschen in Europa. Wesentliches Anliegen dieser

Arbeit war die Kritik an dem Schicksal der nach Deutschland verschleppten und

verkauften AfrikanerInnen und die Einforderung der Wahrung ihrer

Menschenrechte und ihrer Freiheit. 1734 promovierte er und dozierte in

Wittenberg, wo er mehrere Schriften verfasste. 24

Um 1870 erhob Kaiser Wilhelm der I. den afrokubanischen Komponisten und

Violinisten J.B. Brindis de Sala in den Adelsstand und gestand ihm eine Ehe mit

einer weißen deutschen Adeligen zu. De Sala war ein in Berlin als „König der

Oktaven“ gefeierter Musiker, der vom Kaiser die deutsche Staatsangehörigkeit

verliehen bekam. Vermutlich bedingt durch den aufkommenden Rassenwahn floh

er jedoch später aus Deutschland und hinterließ seine Frau und drei Kinder. 25

Ein wichtiger Zeitpunkt in der deutsch-afrikanischen Geschichte ist die 1884

durch Bismarck einberufene internationale „Kongo-Konferenz“ in Berlin.Hier

wurden die Länder des gesamten afrikanischen Kontinents zerstückelt und neue

Staaten mit machtpolitisch strategisch gesetzten Grenzen gewaltsam gebildet,

welche sich die Kolonisatoren untereinander wie eine frisch erlegte Beute teilten.

Auch Deutschland bekam damals ein Stück der Beute ab; es waren dies

Kamerun, Togo, das heutige Tansania und Deutsch Süd-West (Namibia). Bis

heute trennen die damals willkürlich gesetzten Grenzen die einzelnen Länder

und sind eine der Ursachen für die Konflikte auf dem afrikanischen Kontinent.

Um die Jahrhundertwende kamen die meisten in Deutschland lebenden

afrikanischen Männer aus den deutschen Kolonien. Viele wurden ausgebildet

und zur Unterstützung der Missionare in die Kolonien zurückgesandt, oder

kamen als Angestellte von Kaufleuten, Kolonialbeamten, Missionaren oder

24 Vgl. Amoateng, S.18 f25 Ebenda, S.19

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Forschungsreisenden nach Deutschland. Andere kamen aus ökonomisch und

politisch führenden afrikanischen Familien zum Studium. Kinder ethnisch

gemischter Familien aus Deutsch-Südwestafrika wurden in die europäische

Heimat ihrer Väter gesandt, wie auch Frauen, Männer und Kinder zum Zwecke

der Menschen-Austellungen, die zu dieser Zeit im Rahmen der kolonialen

Propaganda stattfanden.26 Des Weiteren blieben ehemalige Soldaten aus den

Kolonien, die im Dienste der Deutschen gestanden haben, und Schwarze

Kriegsgefangene, die im Zuge des ersten Weltkrieges nach Deutschland

einmarschierten. 27 Einige der in Deutschland ansässig gewordenen Afrikaner

wurden politisch aktiv und setzten sich zum Beispiel für die Verbesserung der

Situation der Duala in Kamerun ein, gründeten eine Zeitschrift und arbeiteten mit

linken Intellektuellen zusammen. Andere suchten Verbindung zu

Menschenrechtsorganisationen von Schwarzen in anderen Ländern oder

bildeten einzelne Initiativen zur Verbesserung der Situation in den Kolonien bzw.

in den ehemaligen Kolonien.28 Als Beispiel wird hier die „Deutsche Sektion der

Liga zur Verteidigung der Negerrase“ genannt, deren Vorsitz der Kameruner

Victor Bell hatte. Ihr Ziel war die Verwirklichung der demokratischen Rechte der

afrikanischen Völker. Die Liga arbeitete in den 20er Jahren unter anderem eng

mit der antiimperialistischen Liga der Kommunistischen Partei Deutschlands

zusammen.29

Die politischen Aktivitäten der Schwarzen Deutschen im Kaiserreich und der

Weimarer Republik dienten mehr noch der Durchsetzung der Menschenrechte

für Schwarze in Anlehnung an sozialistische und kommunistischen Ideen, als der

Gerechtigkeit in den Kolonien bzw. ehemaligen Kolonien und der

Gleichbehandlung unter politischen und ökonomischen Gesichtspunkten. 30

Der Kampf um die Rechte in den Kolonien kam aus den afrikanischen Ländern,

wo unter anderem in Kamerun massive Widerstandskämpfe stattgefunden

haben.

Aus der deutschen Kolonie Kamerun kam 1896 ein junger Mann namens Martin

Dibobe nach Berlin. Hier ließ er sich bei Siemens als Schlosser ausbilden und

26 Vgl. Oguntoye 1997, S.33 und 16227 Ebenda, S. 16228 Ebenda, S.7629 Ebenda, S.98 f.30 Ebenda, S.98

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wurde, nachdem er als Schaffner der Berliner U-Bahngesellschaft tätig war, der

erste Schwarze Zugführer. Zu seiner Zeit lebten noch zwei weitere zu dieser Zeit

berühmte Schwarze Berliner; der Kunstmaler Joseph Byll und der Club-Pianist

James Allen. Dibobe war einer der ersten Afrikaner, der sich als Deutscher

begriff. Dies wird u.a. durch seine „Loyalitätsbekundungen“ dem deutschen Staat

gegenüber deutlich, die er anhand eines Schreiben an das Reichskolonialamt

verkündete, welches nach dem Verlust der deutschen Kolonien alle in

Deutschland lebenden AfrikanerInnen aufforderte, sich positiv zu äußern, um den

deutschen „Anspruch“ auf Kolonien zu untermauern. 31

Mandenga Diek war ein weiterer aus Kamerun stammender Schwarzer

Deutscher, der hier mit seiner weißen deutschen Frau und zwei Töchtern um die

Jahrhundertwende lebte, und dessen Lebensgeschichte, wie auch die des Martin

Dibobe, von mehreren Schwarzen WissenschaftlerInnen untersucht,

beziehungsweise erwähnt wurde (wem? Reed-Anderson?). Er war einer von nur

sechs Afrikanern, von denen bekannt ist, dass sie um 1900 die deutsche

Staatsangehörigkeit erworben haben, während die Mehrheit der Schwarzen

Menschen in Deutschland Pässe hatte, die sie als Angehörige der deutschen

Kolonien (so genannten „Schutzgebieten“) auswiesen.32

Nach dem ersten Weltkrieg verschlechterte sich die Lebenssituation für

Schwarze Menschen in Deutschland dramatisch. Mit dem verlorenen Kriegs

1914 und dem Zusammenbruch des Wilhelminischen Kaiserreichs kam der

Verlust der traditionellen Ordnungsstrukturen. Deutschland war in seinen

institutionellen und psychologischen Grundlagen erschüttert und mußte die

Kolonien abgeben, was einem Ausschluss aus der „europäischen Kulturnation“

und somit einer Demütigung gleichkam.33 Schon während der Kolonialzeit fanden

in Deutschland Debatten über sogenannte „Mischlingskinder“, Kinder meist

Afrikanischer Frauen und weißer, deutscher Männer in den deutschen Kolonien,

statt. Von der Überlegenheit der weißen, hier vor allem der deutschen Rasse

ausgehend, sah man in der „Kreuzung“ von Schwarzen und Germanen nach

Sozialanthropologischer Sicht einen gefährlichen Angriff auf die „Reinheit“ des

deutschen Volkes und eine große Gefahr für die Aufrechterhaltung der

31 Vgl. Amoateng, S.2032 Vgl. Oguntoye 1997, S.1633 Ebenda, S.20

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Hierarchie.34 Die Angst vor einer „Infektion“ des „Volkskörpers“ mit „schlechtem“

Blut signalisierte die unbedingte Bindung des Deutschtums an die Elemente

„Rasse“ und „Blut“, und konstruierte die Kombination Schwarz und deutsch als

unvereinbar.35 Dieser rassentheoretische Ansatz wurde im Falle der Schwarzen

Personen rigide angewandt und manifestierte sich im Kaiserreich in sozialer

Diskriminierung wie zumBeispiel dem Mischehenverbot um 1905, nach dem 1.

Weltkrieg in einer rechtlich unsicheren Position Schwarzer Menschen als

Staatenlose und in der Verfolgung und Terrorisierung und Ausgrenzung

Schwarzer Personen im Zusammenhang mit der Propaganda gegen die so

genannte „Schwarze Schmach“.

34 Vgl. El-Tayeb, S. 5035 Vgl. El-Tayeb, S. 119 und S. 121

Page 15: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

2.1.2. Die „schwarze Schmach“

Nach dem 1. Weltkrieg besetzten die Siegermächte Frankreich, Belgien,

Großbritannien und die USA das Rheinland. Mit den Siegermächten kamen auch

afrikanische Soldaten aus den Kolonien nach Deutschland; die meisten dienten

in der französischen Armee. Sie kamen überwiegend aus Algerien und Tunesien,

andere waren Marokkaner oder Madagassen. Ihre Anwesenheit in Deutschland

wurde von den Deutschen als Schmach angesehen. Die Besetzung des

Rheinlands an sich bedeutete schon eine Kränkung für die Deutschen, jedoch

wurde die Präsenz von Schwarzen und deren Stellung als Besatzer als

zusätzliche Erniedrigung wahrgenommen. Deutschland, vor kurzem noch stolze

Kolonialmacht und „Herr“ über Millionen AfrikanerInnen, war jetzt der

Kolonialherrschaft „beraubt“ und sah sich statt dessen vor die Tatsache gestellt,

dass Schwarze „nun die Rolle des Herrschers ausübten“36. Bald nach der

Niederlage forderten die meisten Parteien Deutschlands den Rückzug der

Schwarzen Soldaten, denn die Gefahr der „Rassenschande“ war zu groß.37 Sie

riefen eine gezielt rassistische Kampagne ins Leben, in welcher Schwarze

Soldaten als „Vergewaltiger“, „Sittlichkeitsverbrecher“ und „wilde Tiere“

konstruiert wurden.38 Schwarze Menschen waren permanent rassistischen

Anfeindungen ausgesetzt, bei denen Attribute wie Triebhaftigkeit, Aggressivität

etc. auf sie projiziert wurden. Die Geburten afrodeutscher Kinder in den

besetzten Gebieten wurden weder öffentlich noch im Reichstag diskutiert, da

man aufgrund der Aussagen der Mütter die Umstände, unter denen die Kinder

gezeugt wurden, nur schwer mit dem Bild vom „Schwarzen Vergewaltiger“, wie

es die Kampagne gegen die „Schwarze Schmach“ popularisierte, in Einklang

bringen konnte.39

36 Amoateng, S.2437 Vgl. Oguntoye 1991, S 4538 Vgl. Amoateng, S.2439 Vgl. Oguntoye 1991, S.50, vgl. auch El Tayeb S.169

Page 16: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

2.1.3. „Rheinlandbastarde“

Kinder von AfrikanerInnen und weißen Deutschen hatten ein nicht minder

schweres Los, denn als der lebende Beweis der „Rassenschande“ wurden sie

aufgrund der vorherrschenden rassistischen „Ordnung“ als „nicht reinrassig“ und

von daher als besonders minderwertig stigmatisiert und nicht selten von ihren

Müttern abgelehnt und in Heimen untergebracht.40 Auch ihnen drohte Strafe bei

Verstoß gegen das Gebot zur „Reinhaltung des deutschen Blutes“. In

sozialdarwinistischer Logik wurde ihnen eine „syphilitische Verseuchung“

attestiert, sie wurden zum „inneren Feind“ stilisiert und galten als

minderintelligent, psychotisch und unerziehbar. Derart diffamiert und rassifiziert

sah man Afrodeutsche als Bedrohung für den deutschen „Volkskörper.41

Was bisher der weißen deutschen Allgemeinbevölkerung kaum bekannt ist und

von offizieller Seite ignoriert wird, ist die Tatsache, dass neben Juden, Sinti und

Roma, behinderten Menschen, Kriegsgefangenen und politischen Gegnern auch

Schwarze Menschen Opfer des Holocaust waren.

Kinder, die aus Verbindungen von Schwarzen Soldaten und weißen deutschen

Frauen hervorgingen, wurden ab 1937 zwangssterilisiert. Nachweislich waren es

285 illegale und unter Zwang durchgeführteSterilisationen, die auf

anthropologischen Erhebungen basierten, die im Jahre 1924 im Zuge der

rassistischen Kampagne gegen die „Schwarze Schmach“ entstanden.42

Schon im Jahre 1905 wurde bereits die „Gesellschaft für Rassenhygiene“

gegründete, die zur Verhütung und Beseitigung von „Rassenkrankheiten“ ab

1919 Sterilisationen an Menschen durchführte. Jedoch erwog das

Reichsministerium in den 20er Jahren, die sogenannten „Mischlingskinder“ an

Missionsgesellschaften abzugeben, damit sie Deutschland verlassen.43 Dieses

Vorhaben scheiterte am Widerstand der weißen Mütter, die ihre meist unehelich

geborenen, und somit rein rechtlich deutschen Kinder, nicht abgeben wollten.44

40 Vgl. Oguntoye 1991, S. 5241 Vgl. Oguntoye 1997, S. 135 und El-Tayeb, S.167f.42 Vgl. Amoateng, S. 2543 Vgl. Oguntoye 1991, S.5244 Im Gegensatz zur Nachkriegszeit um 1945 blieben die afrodeutschen Kinder in der Ära der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus bei ihren Müttern.

Page 17: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

So haben also erst die Nazis den schon vorbereiteten Gewaltakt der Sterilisation

in der von ihnen bekannten Gründlichkeit durchgeführt.

In der Nationalsozialistischen Ära war die Situation für Schwarze Menschen sehr

paradox. Sie alle litten unter rassistischer Verfolgung und all denjenigen, die

deutsche Staatsbürger waren, wurden die Pässe abgenommen und gegen

Staatenlosenpässe ausgetauscht.Auch bekamen alle Schwarzen Deutschen

sehr wenig Nahrungsrationen zugeteilt und sie verloren ihre Arbeitsplätze.45

Doch während viele Schwarze Personen in KZ-Lager und Gefängnisse

verschleppt und zur Sterilisation und Zwangsarbeit gezwungen wurden, fanden

andere ihre Existenzsicherung in den „Afrikaschauen“ und der Filmindustrie mit

Unterstützung der „Deutschen Gesellschaft für Eingeborenenkunde“, welche vom

Reichsministerium für Finanzen ihre Gelder.46 Ihnen wurden auch Ausweise

ausgestellt, die die Schutzgebietszugehörigkeit und Förderungswürdigkeit

bestätigten. Sie wurden weder verfolgt, noch sterilisiert, zur Zwangsarbeit

gezwungen oder ermordet.

Dieser widersprüchlichen Behandlung Schwarzer Personen lag zum Einen die

Idee zugrunde, Schwarze Menschen zu kontrollieren, um die weißen Deutschen

vor Rassenschande zu bewahren. Die Deutschen waren bestrebt, die Vorstellung

von Schwarzen Menschen, wie sie nach der rassistischen Ideologie zu sein

haben, durch verzerrende und demütigende Darbietungen auf Völkerschauen

oder in Filmen zu erhärten und massenhaft zu verbreiten. Andererseits wurde

versucht, sich die Unterstützung einiger AfrikanerInnen für das geplante

Mittelafrikanische Kolonialreich zu erschleichen. Das Kolonialreich war als

wirtschaftlicher Ergänzungsraum für ein Europa unter deutscher Herrschaft

geplant und hatte die Struktur eines Apartheidsystems, mit Gesetzen für die

Sklavenarbeit der AfrikanerInnen bis hin zu Passentwürfen.47

Die historische Forschung der in KZs inhaftierten und ermordeten Schwarzen

Personen und der Schwarzen Kriegsopfer ist noch nicht hinreichend untersucht

worden. Es ist bekannt, dass KolonialmigranntInnen und ihre Kinder,

afrodeutsche Einzelpersonen und Schwarze aus Amerika, Europa und Afrika in

45 Vgl. Oguntoye 1997, S.11346 Ebenda, S. 122 und 12447Oguntoye: http://www.bpb.de/themen/YD336B,3,0,Afrikanische_Zuwanderung_nach_Deutschland_zwischen_1884_und_1945, vom 26.09.08

Page 18: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

KZs verschleppt wurden. Die geschätzte Zahl der in Konzentrationslagern

ermordeten Schwarzen Menschen beläuft sich auf ca. 2000, jedoch ohne die in

Kriegsgefangenenlagern inhaftierten Afrikanischen Soldaten zu

berücksichtigen.48

Nach dem 2. Weltkrieg änderten sich die thematischen Inhalte der Filme und

auch der Zweck der rassifizierten Darstellungen von Schwarzen im Film. Jetzt

bedienten Schwarze DarstellerInnen, zu denen auch Kinder gehörten, nicht mehr

die Rechtfertigungsmaschinerie zur Vertuschung wirtschaftlicher Ausbeutung,

sondern wurden zur Stillung der Sehnsüchte der von den Kriegsjahren und der

Nachkriegszeit erschöpften weißen Deutschen nach etwas Neuem und

Exotischem mißbraucht. 49

48Lauréal-Samarai: http://www.bpb.de/themen/BSHO5D,3,0,Schwarze_Menschen_im_Nationalsozialismus.html, vom 26.09.0849 Vgl. Oguntoye 1997, S.145

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2.1.4. „Schwarze Besatzungskinder“

Unter den Alliierten, die nach dem 2. Weltkrieg Deutschland besetzten, befanden

sich Schwarze Soldaten, vor allem Afroamerikaner, die in Hessen, Baden-

Württemberg und Bayern stationiert waren. Auch sie gingen Beziehungen mit

weißen deutschen Frauen ein und zeugten Kinder, die in der Nachkriegszeit als

„schwarze Besatzungskinder“, ein Synonym zum negativ besetzten

„Rheinlandbastard“, bekannt wurden. Sie passten wieder einmal nicht in das Bild

eines neuen Deutschlands als einer Republik, die sich den technischen und

wirtschaftlichen Fortschritt und den „Blick nach vorn“ als kollektives Ziel gesetzt

hatte und hat, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Sehr viele

afrodeutsche Kinder wurden in Heime eingewiesen oder vor Kirchen,

Kinderheimen oder am Marktplatz ausgesetzt, so dass selbst das Magazin „Der

Spiegel“ von diesen Vorfällen berichtete.50

Die deutsche Regierung schloss ein Abkommen mit den USA, nach welchem

Kinder aus Beziehungen zwischen weißen deutschen Frauen und

afroamerikanischen GIs durch ein Adoptionsverfahren in die USA gelangen

konnten. Unter den zur Adoption freigegebenen Kindern waren Heimkinder und

auch Kinder, die bei ihren Müttern lebten. Den Müttern wurde beteuert, dass es

ihren Kindern in den USA besser ergehen würde, denn die Integration in die

deutsche Gesellschaft erweise sich als schwierig, da sich die deutsche

Bevölkerung ihnen gegenüber feindlich verhalte.51

Anfang der 50er Jahre bot die DDR den unabhängig gewordenen westlich

orientierten afrikanischen Staaten an, ihre Elite in der DDR auszubilden. Kurz

darauf folgte die BRD diesem Beispiel. Viele afrikanische StudentInnen lebten

und gründeten zum Teil Familien in Städten wie Berlin, Hamburg, Köln, Leipzig

und Chemnitz.52 In den darauffolgenden Jahren kamen sogenannte

VertragsarbeiterInnen, vor allem aus sozialistisch orientierten Ländern Afrikas wie

Mozambique, in die DDR, wo sie zwar kein Studium aber eine Ausbildung

erhielten. In der BRD lebten neben den StudentInnen zunehmend auch

asylsuchende Flüchtlinge vom afrikanischen Kontinent.

50 Vgl. Amoateng, S.2951 Vgl. Lemke Muniz de Faria 2002, S. 8252 Vgl. Amoateng, S. 30

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Bis in die 80er Jahre lebten afrodeutsche Kinder und ihre Schwarzen Elternteile,

falls in Deutschland lebend, sehr vereinzelt und nur in Ausnahmefällen in Kontakt

mit anderen afrodeutschen oder afrikanischen Kindern und Erwachsenen. Erst im

Jahr 1985 gründete sich die Gruppe „Initiative Schwarze Deutsche“, die sich bis

zum heutigen Tag erhalten hat. Sicherlich gab es in den einzelnen Städten

weitere kleine Gruppierungen und Interessengemeinschaften.

Die „Initiative Schwarze Deutsche“ (ISD) gründete sich in Frankfurt am Main.

Ziel dieser Gruppe war es, aus der Vereinzelung herauszutreten und sich

auszutauschen.53 In Berlin schrieben zeitgleich einige Schwarze Frauen an dem

Buch „Farbe bekennen - Afrodeutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“,

das 1986 im Orlandafrauenverlag erschienen ist. Dieses Buch ist das erste Werk,

das von und über Schwarze Menschen geschrieben wurde und läutete parallel

zur ISD eine neue Ära in der Entwicklung eines afrodeutschen Bewusstseins ein.

Das Buch erreichte viele Menschen und kann bis heute vielen vereinzelt

lebenden Schwarzen Deutschen aus einer auch inneren Isolation heraus helfen.

Eine der Autorinnen von „Farbe bekennen“ nahm Kontakt zu der Frankfurter ISD-

Gruppe auf und schon ein Jahr später fand das erste Bundesdeutsche ISD

Treffen in Frankfurt statt. Nach der Publikation des Buches trafen sich in den

Folgejahren immer mehr Schwarze Deutsche aus verschiedenen Städten.

Bis heute gibt es einmal im Jahr ein Bundestreffen mit Schwarzen Besuchern

aus ganz Deutschland. Mittlerweile hat sich die ISD in die „Initiative Schwarze

Menschen in Deutschland“ umbenannt, um auch Schwarze Menschen

nichtdeutscher Herkunft mit einzubeziehen. Die ISD hat seit den Jahren ihres

Bestehens Arbeitsgruppen gebildet, die unter anderem Zeitschriften wie die „afro

look“ oder „Blite“ herausgebracht haben und auch im Netz über die Seite

„Cybernomads“ vertreten sind. Neben der genannten Initiative entstand 1986 die

Frauengruppe Adefra, Schwarze Frauen in Deutschland, die bis heute aktiv ist

und sich für kulturelle, soziale und politische Interessen von Schwarzen Frauen

einsetzt.

53 Vgl. Amoateng, S.36

Page 21: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

2.2. Rassismus: Wandlung vom biologischen zum kulturellen

Rassismus

Die Einteilung der Menschen in verschiedene Rassen auf Grund biologischer

Merkmale und die daraus resultierende Ableitung einer hierarchischen Ordnung

ist ein Konstrukt, das europäische Rassentheoretiker im 19.Jahrhundert

„ausschließlich im kontinentalen Europa entwickelt und verbreitet [haben]“.54

Während der Kolonialzeit diente das Konstrukt als Rechtfertigung der

wirtschaftlichen und humanitären Ausbeutung und Versklavung, indem sich die

weiße „Rasse“ als allen anderen „Rassen“ überlegen darstellte und sich somit

das Recht und die Pflicht zur vorgetäuschten „Zivilisierung“ und „Missionierung“

der konstruierten „Primitiven“ erlog, während es innerhalb von Europa dem

privilegierten Adel unter Anderem dazu diente, sich die Hegemonie vor dem

aufsteigendem Amtsadel zu sichern. Helan Enoch Page definiert Rassismus wie

folgt:

„Racism is an ideological, structural and historic process by which the population of

European descent, through its individual and institutional distress pattern, intentionally

has been able to sustain, to its own best advantage [...] to the general disadvantage of

the population designated as non-White [on a global scale].“ 55

War der biologische Rassismus in Deutschland den Nationalsozialisten noch

sehr nützlich, erwies er sich nach dem 2. Weltkrieg in Anbetracht der Wandlung

Deutschlands zu einem angeblich demokratischen und respektablen Staat ohne

Größenwahn, als nicht mehr haltbar.

Da die internalisierten Rassismen nicht automatisch mit der Gründung einer

neuen Staatsform verschwanden und sie weiterhin der Aufrechterhaltung von

Machtstrukturen und Privilegien dienten, sind sie heute unter neuem Deckmantel

des sogenannten Neorassismus zu finden.56

Am Beispiel der Debatte um die Einwanderungs- und Asylpolitik wurden

verschiedene Analysen herausgearbeitet, denen nach Çinar allen drei

54 Oguntoye 1991, S. 2455 Page zitiert nach Ferreira 200456 Vgl. Çinar, S. 59

Page 22: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

wesentliche Merkmale gemeinsam sind: Erstens wird heute von dem Begriff der

Rasse Abstand genommen und auf die Behauptung von rassisch begründeten

Unterschieden verzichtet. Stattdessen wird das Wort Rasse gegen das Wort

Kultur ausgetauscht und die kulturelle Herkunft eines Menschen wird als

endgültig und unveränderbar gesehen. Dies konstruiert eine Naturalisierung der

herkunftsmäßigen Zugehörigkeit und stellt somit keinen Unterschied zum

herkömmlichen Begriff der Rasse dar. Deshalb wird in diesem Zusammenhang

nur von einem Austausch der Wörter gesprochen.57

Das zweite Merkmal des neuen Rassismus ist die Verwendung des Wortes

„Differenz“ statt „Ungleichheiten“. Wie der Begriff der Rassen wird auch der

Begriff der Ungleichheiten aufgrund seines Bezugs zum Nationalsozialismus und

der biologistischen These der genetischen Unterschiede fallen gelassen. Der

neue Rassismus, der Differenzen denkt, kommt nun scheinbar ohne Hierarchien

aus, denn die behauptete Gleichwertigkeit von Völkern, Nationen und Ethnien

steht im Mittelpunkt, und es findet eine Verherrlichung der Differenzen statt.58

Differenzen werden im weißen Diskurs immer auch mit Hierarchien gedacht. Ein

„Anderes“ wird im Gegensatz zum „Selbst“ konstituiert. Die Anderen, die

Multikulturellen, Schwarzen Deutschen oder die Gastarbeiter sind dann kulturell

verschieden und dadurch auch fremd; so können sie leicht problematisiert bzw.

pathologisiert werden.

Das dritte Merkmal des Neorassismus und das eigentliche Neue an ihm, ist die

Naturalisierung von Rassismus. Ausgehend von der Annahme, dass alle

Menschen eine xenophobe Natur hätten, wird rassistisches Verhalten folglich als

eine natürliche Reaktion auf allzu große kulturell bedingte Differenz gesehen

Rassismus bekommt damit den Charkater einer antrophologischen Konstante

statt eines spezifischen, interessengeleiteten, machthierarchischen, weißen

Verhaltens.59 Hier ist zwar weder der Begriff der ‚Rassen’, der Kulturen noch die

Idee der Überlegenheit explizit sichtbar, dennoch legitimiert diese These das

diskriminierende Verhalten der Bundesdeutschen Ausgrenzungspraktiken mittels

57Vgl. Çinar S.6058 Ebenda, S. 6059 Ebenda, S.59 f.

Page 23: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

wissenschaftlicher Argumente und verdeckt die rassistischen Strukturen und

ungleichen Machtverteilungen.60

Die weiße Mehrheitsgesellschaft in Deutschland ist eine Dominanzkultur61, die

Menschen nichtweißer Hautfarbe, unabhängig davon, ob sie dem Gesetz nach

Deutsche sind oder eine andere Herkunft haben, von den „meisten sozialen und/

oder politischen Bereichen ausschließt, da dominante politische Praxen die

politischen Interessen der weißen Gesellschaft repräsentieren, und weiße

Subjekte privilegieren“.62 Dieser sogenannte strukturelle Rassismus diskriminiert

im besonderen Maße Schwarze Personen und verhindert, dass sie ihre Rechte

durchsetzen können.

Verbunden mit dem strukturellen ist der institutionelle Rassismus. Der Begriff

„institutionell“ wird benutzt um zu verdeutlichen, dass Rassismus nicht nur eine

Ideologie ist, sondern sich durch Muster ungleicher Behandlung bestimmter

Personen manifestiert. Dieses Muster der Benachteiligung basiert auf einem

Zusammenhalt innerhalb der dominanten Gruppe und verankert sich im

gesellschaftlichen Alltag z.B. im Erziehungssystem, auf dem Arbeitsmarkt, in der

Strafjustiz, in Rechten, Dienstleistungen und Zugängen zu bestimmten Märkten

(Wohnungsmarkt, Universitäten, Stipendien etc.). Er funktioniert in der Weise,

dass er weißen Menschen ermöglicht, sich in eine klare Vorteilsposition zu

einzunehmen und dort zu verweilen.

Diese oben genannten Strukturen sind Mechanismen der Machtgewinnung und

Machtaufrechterhaltung. Rassismus ist nicht national eingeschränkt oder zeitlich

begrenzt. Er lebt in einem Kontinuum, das der Macht- und Privilegienerhaltung

der weißen Gesellschaften dient, die, weltweit gesehen, eine Minderheit darstellt.

Er wird von weißen Personen weltweit seit Jahrhunderten praktiziert und bildet

die Vorraussetzung für wirtschaftliche Ausbeutung in Form von Kolonialismus,

Rassismus, Globalisierung und der Konstruktion der so genannten „Ersten

Welt“.

60 Vgl., Çinar,S.6861 Vgl. Rommelspacher 199862 Kilomba, unveröffentlichtes Skript 2007, freie Übersetzung

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2.3. Weißsein

Weiße Menschen sind es nicht gewohnt, sich selbst als weiß zu bezeichnen. Ihre

Hautfarbe scheint keine Rolle zu spielen, denn sie sind die unsichtbare Norm, die

nicht markiert ist. Weiß zu sein bedeutet, Menschen anderer Hautfarbe

markieren zu dürfen, als Schwarz, Rot, Gelb, als „Anders“, von der Norm

abweichend, ohne sich der eigenen Hautfarbe bewußt sein zu müssen, bzw.

ohne sich als nur ein Teil von vielen linear existierenden Variationen zu sehen.

Die Hegemonie und die damit einhergehende Hierarchisierung, die weiße

Menschen weltweit leben, verschafft ihnen Privilegien, die wiederum durch die

Verstärkung der Vormachtstellung aufrechterhalten werden müssen.

Dieser Mechanismus der Machtaufrechterhaltung, dessen Dreh- und Angelpunkt

die Konstruktion der Rassen und die kontinuierliche Ausübung von Rassismus

ist, ist im weltpolitischen und globalen wirtschaftlichen Geschehen sichtbar.

Um die Macht aufrecht erhalten zu können, muss das Wissen um die brutale

europäische Vergangenheit und das Bewußtsein um die heutige nicht minder

brutale Gegenwart verdrängt und geleugnet werden.

“Within European history descriptions of Whiteness are absent due to denial of

imperialism, and this leaves a blank in the place of knowledge of the destructive effects of

wielding power.”63

Die Leugnung und Verdrängung der gewaltvollen rassistische Strukturen und

Praktiken, die von weißen Individuen ausgeübt werden, zählt die Schwarze

Psychoanalytikerin Grada Kilomba zu den Ego-Verteidigungs-Mechanismen der

weißen Menschen. Sie schreibt, dass das Wissen um rassistische Strukturen

jedem Individuum, das an ihnen beteiligt ist, bewußt ist, aber von Seiten der

Ausübenden einerseits in das Unterbewußtsein verdrängt werden muss, um das

Selbst aufrecht erhalten zu können, und andererseits geleugnet wird, um Angst,

Schuldgefühle und Scham nicht aufkommen zu lassen. 64

Leugnung bedeutet also einen wesentlichen Teil von sich selbst, dass das

Subjekt aus Angst nicht anerkennen will, abzuspalten und diesen auf andere zu

63 Pajaczkowska &Young, S. 20264 Kilomba 2006, unveröffentlichtes Skript, freie Übersetzung

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projizieren. So wird z.B. bis heute Schwarzen Menschen eine übermäßige

sexuelle Aktivität unterstellt, die ihre Ursprünge aber in der Kolonialzeit hat, als

die weißen Besetzter ihre kulturbedingte Prüderie lebten und die eigenen

verdrängten sexuellen Gelüste auf die Bewohner des afrikanischen Kontinents

projizierten. Ein weiteres Beispiel ist, dass Schwarze Subjekte von weißen per se

als „wild“ und „aggressiv“ wahrgenommen werden, und damit zu dem werden,

was das weiße Subjekt nicht sein möchte, denn die eigenen brutalen Praktiken

sollen nicht gesehen werden und passen auch nicht zu „dem“ zivilisierten und

modernen weißen Menschen.

Zwischen der Selbstdarstellung weißer Menschen als „gut“, „aufgeklärt“ und

„demokratisch“, und der Angst und der Schuldgefühle wegen der gewaltvollen

rassistischen Praktiken ist eine große Kluft, und hier finden sich Widersprüche,

die nach Lola Young auf emotionaler Ebene aufgelöst werden müssen:

“[...] (White) anxiety and guilt is apparently resolved through projection and denial and

disavowal of the reality of a traumatizing realisation. The emotional flow is from anxiety to

denial to projection: then to distortion upon which enactment is based and from there, there is

further denial. This cycle is important politically because the enactment phase involves the

mechanics of individual institutional and state racisms.”65

Wie oben schon erwähnt, führt Angst zur Verleugnung und Projektion, bei der die

Wirklichkeit verzerrt konstruiert wird. Da die verzerrte Wirklichkeit aber wiederum

einen Schutz vor der Entlarvung der verdrängten Anteile des Selbst bietet, wird

sie durch die Mechanismen des individuellen, institutionellen und strukturellen

Rassismus untermauert, um die Scheinwelt aufrechterhalten zu können.

Dies wiederum erschwert dem weißen Subjekt den bewussten Umgang mit den

eigenen Rassismen, und lässt ihn in der illusionären Vorstellung eines

normbildenden modernen “Gutmenschen” zurück, während der Rest der

Weltbevölkerung diese Maskerade durchschaut.

65 Pajaczkowska & Young, S.213

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2.4. Schwarze Menschen in der weißen (deutschen)

Vorstellungswelt

Im Sinne der abendländischen Vorstellung einer existierenden Dualität von gut

und böse, eines Oben und Unten, weiß und Schwarz wird die Schwarze Person

als das Gegenteil der weißen Person konstruiert. Das weiße Subjekt konstruiert

sich selbst als „normal“, als „gut“, „zivilisiert“ und „intelligent“. Gleichzeitig wird

das Schwarze Subjekt vom weißen als „anders“ und fremd, da von der (weißen)

„Norm“ abweichend, erschaffen.

Wie oben schon erwähnt, diente dieses Konstrukt zunächst der Legitimation der

wirtschaftlichen Ausbeutung der afrikanischen Länder und der Sklaverei. Später,

vor allem in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg, dienten die vielen

entmenschlichenden und rassistisch motivierten Darstellungen Schwarzer

Menschen in bebilderten Zeitschriften, Fotografien und Filmen der

Kriegspropaganda bzw. dem Wahn zur „Reinhaltung der deutschen Rasse“, da

die Bilder eine rassifiziert verzerrte Darstellung von Schwarzen Körpern vermittelt

haben und sich so die Vorstellung von einer „niederen Rasse“ der Schwarzen

Menschen nachhaltig in den Köpfen der weißen Deutschen eingravieren konnte.

Heute findet sich das Bild des mittellosen, unterentwickelten Schwarzen

Menschen auf überdimensionalen Plakaten vor unserer Haustür oder in unseren

Wohnzimmern in Form von Dokumentationen oder Schreckensnachrichten in der

Tagesschau, in alter Tradition eben dieser rassifizierten Darstellungen mit

denselben Absichten. Dabei wird zumeist vermieden, die Deutschen über die

Tatsache aufzuklären, dass sich zum Einen die westliche Welt qua

Globalisierung und Welthandel an der wachsenden Armut des Afrikanischen

Kontinents stark beteiligt bzw. diese mit verursacht, und zum anderen es nicht

nur verarmte Menschen auf diesem Kontinent gibt und die einzelnen Länder

sehr wohl über Jahrtausende alte Kulturen verfügen.

Die Konstruktion eines Fremden, Anderen Gegenüber entsteht Musfeld zufolge

im „Zusammenspiel mit der Erhaltung der Idee des bürgerlichen Subjektes als

das „Eigene“, als der Konstitution eines geschlossenen Ich, auf die Frage der

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Abspaltung unliebsamer Empfindungen und Eigenschaften und deren Projektion

nach Außen [...].“66

Das weiße bürgerliche Subjekt, entstanden zur Zeit der Aufklärung , also zu

Beginn der europäischen Moderne, unterwirft sich hier dem eigens konstruierten

Ordnungsprinzip, indem es, einmal an die Spitze der Menschheit gestellt, diese

Eigenkonstruktion durch Verleugnung und Projektion auf einen imaginierten

Fremden aufrecht erhalten muß:

„Die Konstruktion des Fremden [...] ist eine flexibel einsetzbare Struktur, die für den

Einzelnen und für die Gesellschaft dazu dient, mit Hilfe von Abspaltung und

Stigmatisierung die Ordnung aufrecht zu erhalten.

Dies dient der eigenen Entlastung, erfolgt jedoch nicht willkürlich:

Fremdheitskonstruktionen orientieren sich an geltenden Normen und Stigmata, sie folgen

den Verführungen der Macht. Es ist der Versuch, sich auf diesem Weg von Aggressionen

zu entledigen, Aggressionen die eigentlich durch die eigene Unterdrückung von Außen

entstanden sind.“ 67

Somit ist die Tradition der diffamierenden, stereotypisierenden und

verunglimpflichenden Darstellungen Schwarzer Menschen der weißen westlichen

Gesellschaft immanent. Das bedeutet gleichzeitig: Sollte der Rassismus

wegfallen, würde die bürgerliche Ordnung der westlichen Welt

zusammenbrechen. Die globalisierte Wirtschaft könnte nicht mehr in der Art und

Weise weiter funktionieren, wie sie es jetzt tut, und die westlichen politischen

Aktivitäten wären durch die Minimierung der auf Hierarchien aufgebauten

Machtstelllungen nicht mehr möglich. Zudem würde die weiße gesellschaftliche

Psyche und die Psyche der weißen Individuen auf sich selbst zurückgeworfen

sein, was noch ungeahnte Folgen nach sich ziehen würde.

Deshalb finden wir rassifizierte Darstellungen von Schwarzen Menschen in der

deutschen Sprache, in Kinderliedern, Witzen und Comics wie auch in Medien

und politischen Debatten.

Das Kinderlied „10 Kleine <N... >“ wird seit Generationen in Deutschland

gesungen und gelesen. Es ist in Anlehnung an das Lied „ Ten little Injuns“

(Injuns=Native Americans) entstanden, und wurde 1869 in England das erste mal 66 Musfeld, S.1467 Musfeld, S.15

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unter dem Titel „Ten little <N...>“ schriftlich verzeichnet.68 Obwohl das Lied

offenkundig rassistisch ist und es zudem noch Gewalt verherrlichende Szenerien

beschreibt, wird es immer wieder neu aufgelegt und findet sich noch heute in

vielen deutschen Kinderzimmern.

Es dient der Tradierung der Stereotype vom Schwarzen Menschen als dumm,

hässlich, kindlich, unzivilisiert und nicht überlebensfähig. Zudem wird noch in

lustiger Reimform, praktisch im Spiel, vermittelt, dass es nicht weiter tragisch ist,

wenn Schwarze Individuen sterben oder getötet werden, denn die Botschaft des

Liedes besagt, dass sie nicht würdig sind, zu überleben.

Schwarze werden hier ihrer menschlichen Rechte und ihrer Würde enthoben.

Das macht Sinn, wenn man bedenkt, dass sowohl die erste Version dieses

Liedes, die von den Native Americans handelt, wie auch die hier erwähnte

während des Kolonialismus und der Sklaverei entstand, um die mörderischen

Machenschaften der weißen Personen zu legitimieren und an die nächsten

Generationen weiter zu geben. Indem das Schwarze Subjekt der Würde

enthoben, und somit entmenschlicht und zu einem Objekt degradiert wird,

unterstehen sämtliche an ihm verübte Gewaltakte nicht mehr den moralischen

Gesetzen, denen sich das aufgeklärte, moderne weiße Subjekt verpflichtet fühlt.

Das „N... Wort“ wird in der deutschen Sprache permanent tradiert, ungeachtet

der massiven Widerstände aus Schwarzen Reihen. Gemeinsam mit den

Begriffen „Mulatte/Mulattin“ und „Mischling“ als Bezeichnung für aAfrodeutsche

Menschen, steht es in der Tradition des Kolonialismus und der

Rassenkonstruktion, da es Schwarze Menschen diffamiert und zum Tier

degradiert.69

In der deutschen Nachkriegszeit wurden die sogenannten “Besatzungskinder“,

Kinder aus Verbindungen von weißen deutschen Frauen und afroamerikanischen

GIs, als gesellschaftlicher Problemfall gesehen und behandelt. An afrodeutschen

Kindern durchgeführte Studien attestierten ihnen einen durch die

„Rassenmischung“ genetisch festgeschriebenen Charakter sowie eine

68 Vgl. Riepe, S. 6369 Der Begriff Mulatte/in kommt aus dem Portugiesischen und bezeichnet ein Tier das halb Esel und halb Pferd ist

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festgeschriebene körperliche und psychische Entwicklung.70 Mit den gängigen

Stereotypen von Schwarzen Menschen als „andersartig“ wurden Afrodeutsche

pathologisiert, sexualisiert und kriminalisiert. Ihnen wurde unterstellt, sie wären

„reizbar“ und „streitsüchtig“, und würden an einem „Seelenkonflikt“ leiden,

bedingt durch den herrschenden Rassismus in Deutschland.71 Um zu vermeiden,

dass sie zur Zielscheibe von Spott und Rassismus werden könnten und dadurch

psychischen Schaden nehmen, bemühten sich Regierung und Verbände die

Präsenz der afrodeutschen Kinder durch ihre mediale Vermarktung in das

Bewußtsein der deutschen Bevölkerung zu bringen, denn der Kontakt zwischen

weißen Deutschen und Afrodeutschen war unumgänglich, nachdem die ersten

afrodeutschen Kinder Anfang der 50er Jahre eingeschult wurden.72 In zahlreichen

Illustrierten wurden Reportagen veröffentlicht, Afrodeutsche traten in Schlagern

auf, wurden als Komikfiguren dargestellt oder spielten in Filmen, wie dem

bekannten Film Toxi, die Hauptrolle.73 Am Schluß des Films wird das

afrodeutsche Kind Toxi von ihrem leiblichen Vater abgeholt und in die „wahre“

Heimat überführt, wo es sich unter Afroamerikaner angeblich besser assimilieren

kann. 74 Obwohl der Film die Vorurteile der weißen Deutschen minimieren sollte,

trug er dazu bei, dass Afrodeutsche selbst als das Problem gesehen wurden,

anstatt die Bevölkerung zur Auseinandersetzung mit den eigenen Rassismen zu

bewegen. 75

Die Probleme wurden also in der oben erwähnten Dynamik der Verleugnung auf

die afrodeutschen Kinder als „die Anderen“ projiziert, um das gesellschaftliche

und individuelle weiße deutsche „Selbst“ zu entlasten.

„Komplexe Vorgänge der Verleugnung und Verdrängung fanden hier in einem

unter „Menschlichkeit“ firmierenden Anliegen ihren verdeckten und versteckten

Platz“76.

70 Vegl. Lemke Muniz de Faria, S.5971 Vegl. Ebenda, S.6872 Vegl. Ebenda, S.15773 Lemke Muniz de Faria, S. 17374 Ebenda, S. 17675 Ebenda, S. 17676 Lemke Muniz de Faria zitiert nach Anette Bauerhoch, S.177

Page 30: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

Die BRD führt diese Politik der Verleugnung der eigenen

gesellschaftsimmanenten Rassismen bis heute fort. Schon nach dem Krieg

wurde versucht, den „Mantel des Vergessens“ über den Holocoust und die

Kriegsverbrechen zu hüllen. Adenauers Verständnis von einem neuen

demokratischen Deutschland konzentrierte sich sehr viel mehr auf die Zukunft als

auf die Gerechtigkeit der in der Vergangenheit begangenen Taten, denn er hielt

die Auseinandersetzung der Deutschen mit sich selbst als nicht förderlich für eine

Demokratie.

„Andenauer [argumentierte] implizit, für die Schaffung einer funktionierenden Demokratie

seien weniger Erinerungen und Gerechtigkeit hinsichtlich der Verbrechen der NS-Zeit

sowie mehr Integration der auf Abwege Geratenen erforderlich.“77

Und

„Ein Jahr zuvor hatte Adenauer im Gegensatz zu seinen ersten Nachkriegsreden gesagt,

das deutsche Volk sei <in seiner überwiegenden Mehrheit ein Gegner des

Nationalsozialismus> gewesen, und militärische Katastrophe und Nachkriegsleid hätten

dazu beigetragen, ihm <die Augen zu öffnen>. Dennoch zeugt die Vorsichtigkeit seiner

öffentlichen Äußerungen vom Grad seiner Sorge über den latenten Nationalsozialismus

in Teilen der Massengesellschaft der Nachkriegszeit. Seinem Verhalten nach zu urteilen,

bestand das Mittel, mit dem das Wiederaufleben des Nationalsozialismus – oder einer

ähnlichen Bewegung – verhindert werden konnte, darin, so wenig wie möglich über ihn zu

sprechen.“78

Heute wird Rassismus als Fremdenfeindlichkeit getarnt, die, wie weiter oben

beschrieben, durch die angeblich xenophobe Natur aller Menschen, als eine

natürliche Reaktion auf allzu große kulturell bedingte Differenz gesehen wird.

Interessant ist auch die Tatsache, dass rassifizierte Bilder von Schwarzen

Menschen auch in der ehemaligen DDR unter anderem in Comics und

77 Herf, S.31778 Herf, S.355 f.

Page 31: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

Bildergeschichten für kleine Kinder vorkamen79, und sich fremdenfeindliche und

rassistische Einstellungen in breiten Teilen der ostdeutschen Gesellschaft

finden80, obwohl sich die DDR als ein Land sah, dass in Abgrenzung an den

imperialistischen und kapitalistischen Westen das nationalsozialistische Erbe des

Rassismus hinter sich gelassen hat. Sie konstruierte sich gegenteilig als

weltoffen und humanistisch, und erklärte dem Rassismus und der Rassen-

diskriminierung den Kampf.

Diffamierende Bilder vom Schwarzen Subjekt durchziehen in der abend-

ländischen Welt sämtliche gesellschaftliche Schichten und erschaffen und

legitimieren hierarchische Strukturen und Machtsysteme.

79 Vgl. Piesche, internetlink vom 24.09.0880 Vgl. Poutrus, S.184

Page 32: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

2.5. Rassismuserleben Afrodeutscher

Rassismus und Diskriminierung ist für Schwarze Menschen eine alltägliche

Erfahrung. Es ist Terror körperliche und seelische Gewalt und ein permanenter

Angriff auf die Würde des Menschen.

Für den Geist und Körper bedeutet Rassismuserfahrung eine ständige

Anspannung zu ertragen, die sehr viel Energie kostet. Es bedeutet, das Umfeld

auszutaxieren um gegen mögliche Angriffe gewappnet zu sein - Angriffe die

oftmals sehr subtil sind, in Form von Blicken, Gesten, Worten oder gutgemeinten

Ratschlägen, und keiner weiteren Untermauerung bedürfen, da sie dem

herrschenden rassistischen System immanent sind und in ihm funktionieren.

Grada Ferreira beschreibt eine Dreieckskonstellation des Rassismus:

„Ich nenne das die Triangulation von Rassismus, wegen seiner drei Rollen und deren

drei verschiedenen Funktionen, die Rassismus möglich machen: die rassistische

Phantasie über den Anderen, den Körper, auf den diese Phantasien projiziert werden und

den dominanten Konsens in der Öffentlichkeit, der der Ausübung von Rassismus still

beiwohnt.“81

Schwarze Menschen stehen in Deutschland unter permanenter Beobachtung,

sind rassifizierenden Blicken ausgesetzt. Über Blicke wird das hierarchische

Machtverhältnis tradiert.

Die selbstverständlich ausgeübte Diskriminierung über Blicke deutet auf das tief

verwurzelte Überlegenheitsgefühl der Weißen (Deutschen) hin, während sie gleichzeitig

dazu dient, sich eben durch ihre Wiederholung der Vormachtstellung zu vergewissern,

diese also permanent zu reproduzieren, aus Angst vor einer Desillusionierung, die einen

Kollaps der weißen Persönlichkeitsstruktur zu Folge hätte.82

Die Schwarze Dipl. Pädagogin und Logopädin May Ayim schreibt, dass

Rassismus und Diskriminierung Stressfaktoren sind. Es bedeutet Stress

permanent aufzufallen, „[...] sich immer und überall erklären zu sollen, ständig

vor verbalen und auch tätlichen Angriffen auf der Hut sein zu müssen und sich

81 Vgl. Ferreira, S.15582 Vgl. Kap.2.3.

Page 33: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

nie unbefangen äußern und bewegen zu können [...]“ 83 und „[...] sich gegenüber

weißen Menschen ständig als progressiv und intelligent beweisen zu müssen.“84

Einem permanenten Streß ausgesetzt zu sein macht Menschen krank.

Rassismus macht krank. Rassismus erleben bedeutet sehr viel Energie

aufwenden zu müssen, um die größtmögliche Abwehr vor Anfeindungen und

Übergriffen zu erreichen und um ÜberLebensstrategien zum Schutz der eigenen

Person zu entwickeln. Afrodeutsche erleben Rassifizierung auch in Form einer

zugeschriebenen Heimatlosigkeit.

„Sind Afro-deutsche in der Öffentlichkeit vielen Blicken ausgesetzt, obwohl sie sich

allgemein unauffällig verhalten, können diese nicht nur als Anstrengung, sondern auch

als Ausgrenzung erlebt werden, was also in dem Erleben zugeschriebener

Heimatlosigkeit gipfelt.“85

In Deutschland wird die Existenz Schwarzer Deutscher nicht thematisiert bzw.

geleugnet, indem die Geschichte der Länder Afrikas und die grausame deutsche

koloniale Vergangenheit nicht zum Curriculum der Schulen gehört, und indem

Schwarze Menschen de facto weniger Rechte haben als Weiße.

Afrodeutsche werden nicht als Angehörige des deutschen Volkes von Seiten der

weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft akzeptiert und auch nicht in die

Gruppe der Deutschen integriert, sondern ihnen wird der Platz am Rande der

Gesellschaft zugewiesen, dort wo „Andere Deutsche“86 plaziert sind.

Auch wird Menschen mit dunkler Hautfarbe der Zugang zu höheren

Bildungsstufen und gut bezahlten Berufen in Deutschland erschwert bzw.

verwehrt. Wie Ayim konstatiert, wurde afrodeutschen Männern und Frauen schon

in ihrer Kindheit weis gemacht, dass sie im Ausland bessere Lebens- und

Berufschancen hätten. Auf dem deutschen Arbeitsmarkt könnten sie sich

lediglich mit Stellen zufrieden geben, die den gesellschaftlichen Erwartungen

Genüge tun.87

83 Ayim, S 10884 Ebenda, S. 10285 Hahn, S. 4886 Vgl. Mecheril87 Vgl. Ayim, S.110

Page 34: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

„Schwarze Menschen, das sind MusikerInnen, SportlerInnen und Angestellte im

Dienstleistungs-bereich. Gern wird ihr Tun als „Naturtalent“ bewundert, weniger gern als

eine individuelle Leistung [...].“88

Die Ausweisung aus der eigenen Heimat und die Ablehnung durch Angehörige

der Mehrheitsgesellschaft ist ein gewaltvoller und traumatisierender Akt.

Die Suche Afrodeutscher nach einem Platz in der weißen deutschen Gesellschaft

ist von der Dynamik bestimmt, sich der Ablehnung der eigenen Person durch die

Dominanzkultur89 entgegen zu stellen und sich bewußt und mit enormem

Energieaufwand über die schmerzlichen Verletzungen hinauswachsend einen

Raum zu schaffen, wo das ÜberLeben90 gesichert sein und ein Heimatgefühl

entstehen kann, dass möglichst gering Gefahr läuft, vernichtet zu werden.

Dabei erschwert die isolierte Lebenssituation der Afrodeutschen die Suche, da in

der Vereinzelung noch mehr Kraft aufgewendet werden muss, um das Ziel zu

erreichen, und der Vorteil einer Verarbeitung der Traumata in Gesprächen mit

anderen Afrodeutschen kaum gegeben ist.

Die hier beschriebenen Umstände können erklärend für die unterschiedlichen

Situationen, in denen sich die AutorInnen beim Verfassen ihrer Biografien

befanden, herangezogen werden. Sowohl Massaquois gelebte Erfahrung der

Schwarzen Community beeinflusste die Art und Weise, wie er seine Biografie

verfasste, wie auch Hügel-Marshalls Erfahrung einer jahrzehntelangen Isolation

in der weißen deutschen Gesellschaft und ihr Kampf im Alleingang für die Rechte

Schwarzer Menschen in Deutschland. 91

Die alltägliche Erfahrung der Isolation Schwarzer Kinder verstärkt ihr Gefühl, eine

Außenseiterinnen-Position zu haben. Dies ist weder ein freiwilliger,

selbstbestimmter oder selbst gewählter Zustand, sondern das Ergebnis einer

massiven Gewaltanwendung durch Rassifizierung und Ausgrenzung. In solch

einer Position kann das Schwarze Kind zum Einzelkämpferdasein gezwungen

sein, bei dem das „Dazugehören die Brisanz einer Existenzfrage [annimmt], weil das

Nichtdazugehören als persönliche Abnormalität bzw. Pathologie, als persönliches Versagen erlebt

88 Ebenda, S.11089 Vgl. Rommelspacher90 Diese Schreibweise verweist auf die Erweiterung der Lebensbedingungen Schwarzer Menschen in weißen (deutschen) Räumen um kumulativ erlebte Rassifizierungen und strukturelle Ausgrenzungen. 91 Vgl. Kapitel 1

Page 35: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

werden kann. Gleichzeitig sind diese Erfahrungen auch eine Quelle von Erkenntnissen, Wissen

und Kompetenzen.“92

2.6. Besonderheiten in der Mutter- Kind Beziehung

afrodeutscher Kinder

Die meisten afrodeutschen Kinder wachsen als Kinder einer weißen Mutter und

eines Schwarzen Vaters auf. Die Mutter-Kind Beziehung ist hierbei mit

besonderen Herausforderungen verknüpft, die zum großen Teil aus den

unterschiedlichen Lebenserfahrungen und dem gesellschaftlichen Kontext der

Individuen hervorgehen.

Weiße deutsche Mütter gehören aufgrund ihres Erscheinungsbildes und ihrer

weißen Eltern der deutschen Mehrheitsgesellschaft an. Gleichzeitig gehören sie

der weißen Dominanzkultur an, die es gewohnt ist, sich selbst als die universelle

Norm zu betrachten, und sich dazu befugt, andere zu ihrem eigenen Vorteil zu

markieren. 93

Weiße Mütter werden in einer Umgebung sozialisiert, zu der sie ein

Zugehörigkeitsgefühl aufbauen können. Sie erfahren sich als Bestandteil ihrer

Umwelt und können daraus eine gesunde Basis für ein Selbstbildnis entwickeln.

Ihre Selbstwahrnehmung harmoniert mit der Wahrnehmung durch andere

Personen in ihrem Umfeld, so dass sie keine verzerrten Bilder von sich selbst

erschaffen. Zudem wachsen sie in einer Gesellschaft auf, die ihnen nicht mit

rassistischer Ablehnung und Verleugnung begegnet, sondern in die sie integriert

sind und in der sie Anerkennung erfahren.

Mütter afrodeutscher Kinder haben im günstigsten Fall ein empathisches

Verständnis für die Situation ihrer Kinder. Das heißt, sie versuchen sich so gut

es ihnen möglich ist, in die Lage des Kindes zu versetzen, um ihm mit Rat und

besonders auch Tat zur Seite zu stehen. Im schlechtesten Fall ignorieren sie die

Situation ihres Kindes und verdrängen oder verleugnen das Schwarzsein und die

damit verbundenen Erfahrungen. Oder sie reproduzieren rassistische Vorurteile

und projizieren diese auf ihr Kind und/oder den Vater des Kindes.

92 Lwanga, S.19893 Vgl. Kapitel 2.3

Page 36: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

Für Schwarze Kinder repräsentieren die weißen Mütter einen Teil der

Dominanzkultur, zu der Afrodeutsche keinen Zugang haben. Bei aller Liebe und

vertrauter Verbundenheit gibt es eine Trennwand zwischen einer weißen Mutter

und ihrem Schwarzen Kind, die aufgrund des herrschenden Rassismus und den

sich daraus ergebenden traumatischen Erfahrungen besteht. Diese Trennung zu

sehen und sogar zu akzeptieren, kann sehr schmerzlich für die Mutter wie auch

für das afrodeutsche Kind sein, und wird nicht selten ignoriert, um ein

harmonisches Bild in einer nicht harmonischen Lebenswelt zu erzeugen. Weiße

Mütter schauen aufgrund ihrer Sozialisation per se aus einem weißen,

rassifizierten Blickwinkel auf die Welt und auf ihre Schwarzen PartnerInnen und

Kinder. Zu versuchen, den eigenen Blick um das Wissen um den

Erlebnishorizont von Schwarzen Menschen zu erweitern, setzt eine bewußte und

selbstkritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Weißsein und den damit

verbundenen rassistischen Praktiken und bestehenden Privilegien voraus. Dies

setzt einen Prozess in Gang, der viel Kraft und Mut erfordert, da gegen den

starken Strom der weißen Hegemonie geschwommen werden muss und dies

auch immer mit Sanktionen verbunden ist. Allein die Tatsache, dass eine weiße

Frau einen Schwarzen Mann zu ihrem Partner wählt und zudem noch ein Kind

mit ihm zeugt ist ein Affront, der die weiße Überlegenheitsphantasie untergräbt

bzw. irritiert. Die weiße Frau wird oft öffentlich als „N...schlampe“ oder „N...hure“

beschimpft und gilt als Verräterin ihrer eigenen „Rasse“, da sie „Rassenschande“

begeht. Und/Oder ihr Verwandschaftsverhältnis zum Kind wird in Frage gestellt

mit der Begründung, es sei ja bestimmt nicht ihr leibliches Kind, sondern

adoptiert. Diese Erfahrungen traumatisieren beide, Mutter und Kind, und können

negative Auswirkungen auf ihre Beziehung haben, wenn die Mutter bzw. die

Eltern sich nicht bewußt mit dem Thema auseinandersetzen.

Lwanga, weiße Soziologin, betont, dass für das soziale ÜberLeben weißer Mütter

und ihrer afrodeutschen Kinder ein sehr viel größeres Maß an individueller

Schöpfungskraft aufzubringen ist, als es für Weiße oder Schwarze zutrifft, die in

einer Community leben. Denn diese können an ein kollektives Wissen und an

Solidaritätsbezüge anknüpfen.94 Deutlich wird dies in den unterschiedlichen

Lebensbedingungen und Situationen, aus denen heraus die AutorInnen Hügel-

94 Vgl. Lwanga, S.198

Page 37: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

Marshall und Massaquoi schreiben. Während in Hügel-Marshalls Kindheit Mutter

und Kind keinen Kontakt zu Schwarzen Personen oder zur Schwarzen

Community hatten, erlebte Massaquoi in seinen ersten drei Jahren und während

seines Aufenthalts in Liberia eine starke Verbundenheit zu seiner liberianischen

Familie. 95

Die Schwarze Psychologin Bärbel Kampmann konstatiert, dass weiße Mütter, die

der Rolle als Mutter eines Schwarzen Kindes nicht gewachsen sind, ihren

Kindern oft nicht die nötige Wärme und Geborgenheit geben können, die diese

brauchen.96 Jedoch ist besonders für das afrodeutsche Kind die Beachtung und

der größtmögliche Schutz durch die Mutter wichtig, denn, wie schon weiter oben

beschrieben, erfährt es nicht die Selbstverständlichkeit eines Zugehörigkeits-

gefühls zu einer dominanten Gruppe bzw. zu der es umgebenden Umwelt. Es

wird aus der deutschen Gesellschaft ausgegrenzt und kann hier höchstens als

Marionette für Schaulustige und die sich nach Exotischem sehnenden Weißen

dienen. Aber keinesfalls wird es als selbstverständliches, normbildendes, aktives

und potentes Mitglied der Gesellschaft gesehen und anerkannt. Doch gerade ein

Heimatgefühl unterstützt das Kind im Aufbau eines stabilen und selbstbewußten

Ich.

2.7. Die Bedeutung einer fehlenden Schwarzen Vaterfigur für das

afrodeutsche Kind

Häufig werden afrodeutsche Kinder als „bikulturell“97 bezeichnet. Dies geschieht

fälschlicher Weise auch dann, wenn klar ist, dass sie nie Kontakt zu ihrem Vater

oder der Heimat des Schwarzen Elternteils hatten. Erklären lässt sich dieses

Phänomen mit den klischeehaften Vorstellungen weißer Menschen von einer

determinierenden Rolle der Gene und der permanenten Verortung Schwarzer als

„die Anderen“ ins Abseits ihrer (der weißen) selbstgezogenen Grenzen. Dabei gilt

95 Vgl. Kapitel 2.596 Kampmann 1994, S. 13397 Die Schwierigkeit des Begriffs liegt in der Idee eines fixierten und statischen Kulturbegriffs. Deshalb setzte ich ihn in Anführungsstriche.

Page 38: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

vor allem in Deutschland die Hautfarbe als ein Indiz für die „kulturelle“

Zugehörigkeit.98

Schwarze Väter afrodeutscher Kinder besetzen nicht nur die Rolle des Vaters als

eines männlichen Vorbildes und als männlicher Bezugsperson, sondern im

Besonderen die des Schwarzen Parts des Kindes. Gerade bei Einzelkindern

können sie den einzigen Bezugsort zur Schwarzen Familie bilden.99 Der

Schwarze Vater wird als Identifikationsfigur erfahrbar, die sich, je nach dem, wo

der Vater selbst in seiner Identitätsentwicklung steht, stärkend aber auch

schwächend auf das Selbstbild des afrodeutschen Kindes auswirken kann.

Fehlt der Vater, und leben die Kinder praktisch „isoliert“ in einem weißen Umfeld,

erfahren sie im doppelten Sinne einen Verlust: Sie haben weder einen leiblichen

Vater als Bezugsperson noch ein Schwarzes Vor und Leitbild. Den Vaterverlust

und die Vaterentbehrung bezeichnet der Psychoanalytiker Horst Petri als eine für

das Kind traumatisierende Erfahrung.100 Der Stellenwert des abwesenden

Schwarzen Vaters ist für ein afrodeutsches Kind in einer weißen Gesellschaft

zudem ein besonderer, denn es ist der Vater, der auch bei Abwesenheit durch die

Merkmale des Körpers ständig präsent ist. Es sind körperliche Merkmale,

aufgrund derer Schwarze Menschen als anders, nicht dazugehörig gesehen

werden, und aufgrund derer sie individuelle, kulturelle und strukturelle Gewalt in

Form von Rassismus, Sexismus und Exotismus erfahren. Die Verbindung zu

dem Schwarzen Elternteil ist also aufgrund der rassifizierten Bilder von

Schwarzen Menschen dominant und vor allem auch negativ besetzt. Ein Kind,

das sich nichts sehnlicher wünscht als geliebt zu werden, sich angenommen zu

fühlen und ein wertvoller Teil der es umgebenden Gemeinschaft zu sein, mag die

Wut über den Schmerz, den die traumatischen Erfahrungen von Rassismus

hinterlassen, anstatt auf den Aggressor, auf Schwarze Menschen im Allgemeinen

oder auf den Vater im Besonderen projizieren, wobei sich die Wut auch immer

gegen das Kind selbst wendet.

Die Mütter können hier durch Empathie, Selbstaufklärung und offene Gespräche

ihre Kinder unterstützen, jedoch können sie kein direktes bzw. authentisches

98 Vgl. Kapitel 2.299 Hier wird der Begriff “Schwarze Familie“ gewählt, da nicht alle Väter ihren Geburtsort auf dem afrikanischen Kontinent haben.100 Petri, S. 160

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Vorbild sein, in dem sich das Kind spiegeln kann, und von dem es

Bewältigungsstrategien erlernt, wie es in einer rassistischen Welt zwischen

Assimilation und Widerständigkeit überleben kann. Die weißen Mütter sind aber

dennoch die Hauptbezugspersonen und für die Entwicklung des eigenen Ichs

und der Geschlechtlichkeit wesentlich, da der Vater für diesen Prozess nicht zur

Verfügung steht.

Im Folgenden möchte ich in Bezugnahme auf die Theorien der Soziologin

Hagemann-White diese Entwicklungsprozesse mit der Betonung der

Unterschiedlichkeit für Jungen und Mädchen beschreiben und die Besonderheit

für afrodeutsche Kinder hervorheben.

Nach Hagemann-White beginnt die Heraustrennung eines eigenen Ich aus der

Einheit mit der Mutter im Alter von drei bis fünf Jahren. Bei Mädchen findet der

Prozeß allmählich und ohne Betonung ihrer Geschlechtlichkeit statt. Im

Gegensatz zum Jungen kann sich das Mädchen länger und unbefangener in das

Einssein mit der Mutter begeben und daraus Kraft schöpfen, braucht allerdings

auch länger um sich zu vergewissern, dass sie eine getrennte, eigenständige

Person ist. Die Autorin schreibt, dass zwiespältige und heftige Gefühle gegen die

Mutter nicht auf dem Wege direkter Äußerungen ausgetragen werden, sondern

sich Wut und Aggression eher gegen das Mädchen selbst richten. Sie begründet

dies mit dem Argument, dass es Mädchen schwer falle, sich aggressiv zu

verhalten, da ihnen Vorstellungen für die Bildung von Aggressionsphantasien

durch mangelnde weibliche Vorbilder mit aggressivem Verhalten fehlen. Meiner

Meinung nach ist der Grund dafür auch in der Sozialisation der Mädchen zu

finden ist, die betont lieblich, einfühlsam und sanft zu sein haben, und lernen,

die eigenen Gefühle der Wut eher zu verleugnen, um das Gegenüber zu

schützen. Diese Vorbilder sind es, die Frauen prägen und die seit Generationen

und kulturübergreifend gelehrt und vorgelebt werden.

Die Ich - Bildung des Jungen vollzieht sich nach Hagemann-White vehementer,

da ein Rückfall in die diffuse Einheit mit der Mutter, die bis zum Alter von ca.3

Jahren noch gewollt ist, die Geschlechtsidentität des Jungen zu gefährden droht.

Hier genügt es nicht, einen Penis als Zeichen der Abtrennung vom Weiblichen

zu haben, sondern „ man muß als Mann wirken, dem der Phallus zusteht“.101 101 Hagemann-White, S. 91; Hagemann-White geht hier von einem kulturellen System aus, dass männlich geprägt ist und dessen Norm die der Zweigeschlechtlichkeit ist. In der

Page 40: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

Sie schreibt, dass das Ich des kleinen Jungen labiler und unsicherer erscheint als

das des Mädchens und sein Verhalten der Mutter gegenüber von mehr

ausbruchartiger Aggressivität geprägt ist, und dass sich seine Wut direkt gegen

die Person der Mutter wendet.

Interessant ist, wie sich die Geschlechtlichkeit von Jungen und Mädchen, vor

allem bei abwesenden Vätern, ausbilden.

Beim Mädchen erfolgt nach Hagemann-White die Abtrennung von der Mutter, die

hier die erste Bindungsperson darstellt, im Dialog mit dieser, da beide dem

weiblichen Geschlecht angehören. Die Mutter spiegelt dem Kind das eigene

Geschlecht und die Geschlechterrolle in der Gesellschaft wieder. 102

Für den Jungen konstatiert die Autorin eine Vermittlung der Männlichkeit durch

eine doppelte Negation: Da Weiblichkeit kulturell über das Fehlen eines Penis

definiert wird bezeichnet Hagemann-White die Frau als „Nicht-Mann“. Dem

Jungen wird seine Männlichkeit zunächst durch die Abgrenzung zu seiner

nächsten Bindungsperson, der Mutter, vermittelt; sie ist, was er nicht sein darf,

um ein Mann zu werden. Somit geht der Weg in die Männlichkeit mit einer

doppelten Negation einher: Das männliche Geschlecht wird als „Nicht Nicht

Mann“ bestimmt. Der Junge selbst nimmt seine Geschlechtlichkeit über die

doppelte Verneinung dessen wahr, was Frauen zugesprochen wird. 103 Positive

Aneignung von Männlichkeit würde nach Aussagen der Autorin bedeuten, dass

sich der Junge am Vorbild einer männlichen Bindungsperson orientiert, die im

gleichen Maße wie die Mutter für das Kind zuständig ist.104

Ich gehe davon aus, dass Hagemann-White ihre Thesen auf die Sozialisation

von weißen Kindern in einer weißen Gesellschaft bezieht. Verwende ich ihre

Thesen für afrodeutsche Kinder weißer Mütter, komme ich zu dem Schluß, dass

es sowohl für Mädchen wie auch für Jungen eine zusätzliche Verneinung gibt:

Beide sind als Schwarze nicht so wie ihre Mütter. Hagemann-White konstatiert,

Zweigeschlechtlichkeit verortet sich jeder Mensch, denn die Selbstzuordnung als Mädchen oder Junge bildet die Voraussetzung von Identität. So sind also sowohl die weibliche wie auch die männliche Identität gesellschaftlich determinierte Rollen.102 Grundlage dieser Idee ist die Annahme einer polaren Geschlechtlichkeit: entweder weiblich oder männlich. Diese dichotome Sichtweise erfasst nicht die Existenz von Geschlechtern, die keiner der Beiden Kategorie zugeordnet werden können, wie z.B. sogen. Zwitter.103 Die Autorin nennt als Beispiel das Stereotyp, dass Frauen ängstlich sind. Ängstlichkeit ist hier also ein Beweis, dass jemand kein Mann ist. Um nun sich und der Umwelt zu beweisen, wie männlich er ist, vollzieht der Junge Handlungen, die ihn als „nicht ängstlich“ zeigen, z.B. indem er riskante Mutproben besteht. 104 Vgl. Hagemann-White, S. 90 ff.

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dass die Selbstzuordnung als Junge oder Mädchen aufgrund der geltenden

symbolischen Ordnung von Zweigeschlechtlichkeit Vorraussetzung ist für die

Identität. Ich füge dem hinzu, dass unter anderem auch die Hautfarbe,

Physiognomie und Haarstruktur eines Menschen zur Bildung der Identität führt,

und zwar durch Selbstzuordnung und durch Fremdbestimmung aufgrund des

herrschenden Rassismus.

Meines Erachtens könnte das Konzept hinsichtlich einer Erweiterung für

afrodeutsche Kinder folgendermaßen aussehen: Der afrodeutsche Junge erhält

die Vermittlung von Männlichkeit durch eine dreifache Negation: er ist nicht Nicht-

Mann und er ist nicht weiß oder nicht weißer Nicht-Mann.

Das afrodeutsche Mädchen kann die eigene Geschlechtlichkeit ebenfalls nicht

uneingeschränkt in einer dialogischen Abtrennung von der Mutter ausbilden,

denn sie verbindet mit der Mutter zwar das gleiche Geschlecht, aber nicht die

rassifizierten körperlichen Merkmale und damit nicht die gleiche

Lebenserfahrung. Für mich sind die Genderkategorien Mann/Frau nicht zu

trennen von der jeweiligen Zugehörigkeit, die über z.B. Hautfarbe bestimmt wird.

Und dies nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Von daher sehe ich es als

wesentlich, die Theorien von Hagemann-White zu erweitern hinsichtlich der

Entwicklung eines afrodeutschen Kindes.

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3. Hans-Jürgens ÜberLebensstrategien und Selbstbilder in der Kindheit

3.1.1.Hans-Jürgens ÜberLebensstrategien in der Mutter-Kind

Beziehung

Der 1926 geborene Hans-Jürgen Massaquoi wuchs die ersten drei Lebensjahre

mit seiner weißen deutschen Mutter in der Hamburger Villa des liberianischen

Großvaters, der als Generalkonsul seit 1922 in Deutschland tätig war, auf. Aus

beruflichen Gründen kehrte dieser im Dezember 1929 mit seiner Familie nach

Liberia zurück. Die alleinerziehende Mutter beschloss, trotz der Bitte des

Großvaters, ihm und seiner Familie zu folgen, in Deutschland zu bleiben. Nach

Massaquois Erinnerung nahm sie Abschied von ihrem lang gehegten Traum von

einer Zukunft in Liberia, nachdem ein Arzt Hans-Jürgen einen stark

angeschlagenen Gesundheitszustand attestierte, und ihr deshalb von einer

Reise in ein Land abriet, in dem „Malaria und eine Menge andere

Tropenkrankheiten herrschten und die medizinische Versorgung unzureichend“105

sei.

Beide lebten im Hamburg der beginnenden 30er Jahre, das einerseits von einer

weltoffenen Atmosphäre geprägt war und in der sich andererseits der

Nationalsozialismus rasch zu etablieren begann. Schwarze Menschen, und mit

ihnen afrodeutsche Kinder, waren zunehmend offenen rassistischen

Zuschreibungen und Beschimpfungen ausgesetzt. So wurden bereits Anfang der

20er Jahre afrodeutsche Kinder von der Presse und privaten Verbänden als

„innerer Feind“ verleumdet. Diese Kampagne steht im Zusammenhang mit dem

„Verlust“ der deutschen Kolonien, der Niederlage des 1. Weltkrieges und der

Besetzung des Rheinlandes durch französische Truppen, in denen auch

Schwarze Soldaten zu den Besatzern zählten.106 Im Zuge dieser Kampagne

waren Schwarze Menschen, in besonderer Weise Schwarze Männer,

105 Massaquoi, S.30106 Vgl. Kapitel 2.1.2 und 2.1.3

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generalisierend diesen rassistischen Zuschreibungen und Stereotypisierungen

ausgesetzt.

Zugleich hatten Berichte über eine „moralische Minderwertigkeit“ weißer Mütter

afrodeutscher Kinder in der Öffentlichkeit Einzug gehalten. Diese wurden

entweder als Opfer einer Vergewaltigung durch schwarze Soldaten konstruiert,

oder als leichtsinnige, schamlose und die weiße „Rasse“ gefährdende Frauen

diffamiert.107

Trotz der Zuspitzung der politischen Lage gelang es Hans-Jürgens Mutter Bertha

Baetz 1929 eine Anstellung als Krankenschwester zu finden, und über Bekannte

eine bezahlbare Wohnung im ArbeiterInnenviertel Barmbek. Hier wuchs ihr

dreijähriger afrodeutscher Sohn während ihrer Arbeitszeit unter der Obhut einer

älteren Witwe namens Elisabeth Möller auf. Der Autor beschreibt sie als eine

strenge, aber gütige und warmherzige Frau, die ihn zu einem „echten“

Hamburger erzog.

„Eines lernte ich im Nu, und zwar Tante Möllers glasklaren Vorstellungen von Disziplin

Folge zu leisten. Zu meinem eigenen Nutzen trieb sie mir den letzten Rest des Glaubens

aus, ich sei der Mittelpunkt des Universums. Dennoch war sie trotz ihrer schroffen Art

eine gütige und warmherzige Frau, die mir niemals Schläge gab oder mich sonst

irgendwie körperlich bestrafte, wenn ich mal über die Strenge schlug.“108

Und:

„Dank Tante Möller dachte und fühlte ich schließlich wie ein Hamburger, und wenn ich

eines von ihr lernte, dann daß Menschen, die in Hamburg geboren sind und dort leben,

die schönste, aufregendste und reizvollste Heimatstadt auf Gottes Erdenrund ihr eigen

nennen.“109

Die junge, alleinerziehende Mutter verbrachte sehr viel Zeit mit ihrem Sohn, um

mit ihm paddeln zu gehen, Fußball zu spielen, besondere Veranstaltungen wie

Flugschauen zu besuchen oder ihn einfach mit Eisessen zu verwöhnen.

108 Massaquoi, S. 37, der Erziehungsstil dieser Zeit war geprägt von Gehorsam, Disziplin und körperlicher Sanktionen wie Schlägen und der totalen Unterwerfung des Kindes unter den Willen des Erwachsenen (vgl. Kapitel 3.3.1); Vgl. zu Hans-Jürgens Selbstbild als „Mittelpunkt des Universums“ Kapitel 3.5109 Massaquoi, S. 36

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„Der Sonntag war für mich der Höhepunkt der Woche, weil meine Mutter frei hatte und

den ganzen Tag mit mir verbringen konnte. Sie steckte mich in einen Sonntagsanzug,

und dann ging es hinaus ins Grüne [...].“110

Die Beziehung zwischen Hans-Jürgen und seiner weißen deutschen Mutter war

durch eine enge und tiefe Verbundenheit gekennzeichnet.

Diese äußerte sich etwa in einem liebevollen, fürsorglichen Umgang der Mutter

mit ihrem Sohn, dem zugleich, der damaligen Zeit entsprechend, eine strenge

Erziehung zur Disziplin, Gehorsam, Ordnung und Respekt vor der Person und

dem Besitz Anderer zugrunde lag.

„Zu sagen, dass meine Mutter mich über alles liebte, wäre glatt untertrieben. Sie erfüllte

mir jeden angemessenen Wunsch, wenn es in ihrer Macht stand, häufig unter großen

persönlichen Opfern. Doch ihre Großzügigkeit war nicht bedingungslos und meist mit

einem Opfer meinerseits verbunden. Sie verlangte dafür absoluten Gehorsam – den sie

auch meistens bekam -, jede Menge <Bitteschöns> und <Dankeschöns> und keinerlei

Klagen von Lehrern oder Nachbarn.“111

Ebenso kommt die Verbundenheit zwischen Mutter und Sohn bei rassistischen

Anfeindungen und Übergriffen dem afrodeutschen Kind gegenüber zum

Ausdruck. Die vielfach gemeinsam verbrachten Stunden brachten

traumatisierende Erfahrungen und Begegnungen mit sich.

„Die Blicke, die uns ständig verfolgten, wenn wir unterwegs waren, störten mich nicht im

geringsten. Schließlich war ich überzeugt, daß meine Mutter die hübscheste Frau

überhaupt war und daß auch ich in meinem säuberlich gebügelten Anzug und den

polierten Schuhen einfach todschick aussah. Nur wenn ich spürte, daß die Blicke der

Gaffer nicht schmeichelhaft gemeint waren, sondern gehässig und aufdringlich, zum

Beispiel wenn jemand auf mich zeigte und lachte oder das verhasste Wort Neger

benutze, war ich gekränkt und wütend. In solchen Fällen streckte ich der betreffenden

Person die Zunge raus oder zeigte ihr den Vogel. Meine Mutter, die genau wußte, wie mir

zumute war, schalt mich nie dafür, daß ich meiner Wut auf diese Weise Luft machte,

obwohl sie mir häufig sagte, ich sollte solche Ignoranten einfach übergehen, was mir

allerdings ungemein schwerfiel.“ 112

110 Massaquoi, S.37111 Massaquoi, S. 91112 Massaquoi, S. 39

Page 45: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

Obschon die Mutter ihrem Sohn erwachsenen Personen gegenüber ein

respektvolles und defensives Verhalten abverlangte, gestand sie ihm in den

Fällen, in denen er Rassismus erfuhr, eine offensive und widerständige Haltung

zu.

Diese Haltung gab sie selbst auch zu erkennen, als sie sich nicht davor scheute,

LehrerInnen oder andere Autoritätspersonen, die Hans-Jürgen zu demütigen und

aus der Gemeinschaft auszuschließen versuchten, zu konfrontieren und für ihren

Sohn Partei zu ergreifen. Der Autor beschreibt sie folgendermaßen:

„Sie war eine Seele von Mensch und half ihren Freunden in Not, wo sie nur konnte. [...]

Sie konnte einfach niemandem eine Bitte abschlagen. Andererseits war sie eine tapfere,

dickköpfige und kampfbereite Frau, die keine Scheu hatte, sich mit irgendwem anzulegen

- auch nicht mit hohen Tieren -, wenn sie meinte, daß sie oder ich ungerecht behandelt

wurden.“

Als Beispiel für ihre konfrontatives und beschützendes Vorgehen dient hier eine

Schulsituation, in der der Schulleiter ihrem Sohn verbot, ein Khakifarbenes

Hemd zu tragen, da es ihn an die Uniform der Hitlerjugend erinnerte. Ohne auf

die Argumentationen und die aggressiv hervorgebrachte Empörung des

Schulleiters einzugehen, reagierte sie mit Entschlossenheit:

„Da platze meiner Mutter der Kragen. <Ich habe zu ihm gesagt>, erzählte sie mir später,

<solange es Unbefugten nicht ausdrücklich per Gesetz verboten ist, khakifarbene

Hemden zu tragen, würdest du das Hemd anziehen, sooft du willst, ob ihm das nun passt

oder nicht.>“113

Ihre Versuche, dem permanenten Ausschluss ihres Sohnes und den täglichen

Diskriminierungen entgegen zu wirken, zeugen von einer Feinfühligkeit für die

Situation ihres afrodeutschen Kindes, und lassen Gefühle der Wut und Trauer

über die Traumata, denen er und anteilig auch sie als Mutter ausgesetzt war,

erkennen.114 Unter anderen angeführten Szenen wird dies deutlich, als die Mutter

versucht, Hans-Jürgen auf sein unerbittliches Drängen hin in der Hitlerjugend

unterzubringen. Die Leitung verwehrt ihm die Mitgliedschaft und weist beide mit

113 Massaquoi, S. 81114 Vgl. Kapitel 2.6

Page 46: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

den Worten zur Tür, für jemanden wie ihn gäbe es keinen Platz in dem neuen

Deutschland.

„Einen Moment lang glaubte ich, meine Mutter würde ihn ohrfeigen. Sie zitterte und sah

ihn mit einer Wut an, wie ich sie noch nie bei ihr erlebt hatte. Aber sie gewann ihre

Fassung zurück, nahm meine Hand und sagte ruhig: <Komm, wir gehen.> Auf dem

Nachhauseweg sprachen wir kein Wort, und erst als wir in unserer Wohnung waren,

drückte sie mich an sich und weinte. < Es tut mir so leid, es tut mir so leid>, war alles,

was sie hervorbrachte. Meine Mutter so zu sehen war mehr, als ich ertragen konnte.

<Bitte Mutti, hör auf zu weinen>, flehte ich. Es war ein seltener Augenblick, denn

normalerweise bemühte sich jeder von uns, seinen Schmerz mit sich selbst

auszumachen. Schließlich waren wir ja Deutsche.“115

Massaquoi thematisiert zwei Arten des Schweigens. Zum Einen weist er in dem

oberen Zitat auf das Schweigen über schmerzliche Empfindungen hin, was ein

Indiz für das Erziehungskonzept der damaligen Zeit ist, in welchem der Ausdruck

von Emotionen wie Angst, Schmerz, Trauer aber auch Mitgefühl und Einfühlung

in sich und andere als Schwäche abgetan und letztlich verdrängt wurde.116 In

Folge dieser Verdrängung verachtet und verfolgt das Individuum das schwache

Kind in sich selbst und in anderen, und versucht, es so schnell wie möglich

loszuwerden.117 Im Kapitel 3.3.1 thematisiere ich die Folgen dieses

Erziehungsstils noch genauer. Zum Anderen schweigt er zum Schutz der Mutter,

um ihr Ärger und Wut zu ersparen und um seiner Selbst willen. Denn seinen

Erfahrungen nach kann die Mutter nicht immer zu einer Änderung seiner

Situation beitragen, und durch sein Schweigen ihr gegenüber geht er weiteren

Demütigungen aus dem Weg.

„Ich fühlte mich wie geprügelt- obwohl mir eine Tracht Prügel weniger weh getan hätte,

als zu Unrecht als Feigling gebrandmarkt zu werden. [...] Ich erzählte meiner Mutter

nichts von dem Vorfall, weil ich fürchtete, daß sie Wriede in ihrer Wut zur Rede stellen

und alles nur noch schlimmer machen würde.“118

Und

115 Massaquoi, S. 111116 Vgl. Miller 1981, S.100117 Vgl. Miller 1981, S. 76f.118 Massaquoi, S 78f.

Page 47: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

„< Eins kann ich dir sagen, junger Mann. Dir wird das Lachen noch vergehen. Wenn wir

mit den Juden fertig sind, bist du und deinesgleichen nämlich als nächstes dran. Heil

Hitler.> Eine Weile erwog ich, meiner Mutter zu erzählen, was Dutke gesagt hatte,

entschied mich dann aber dagegen. Was hätte es auch genützt? Meine Mutter hätte sich

nur auf eine Auseinandersetzung eingelassen, die sie unmöglich gewinnen konnte.“119

Somit prägt also auch ein Schweigen über erlittene Traumata sein Verhältnis zur

Mutter und macht deutlich, daß Hans-Jürgen in diesen Situationen von der

Mutter isoliert ist, und gezwungen, einen eigenen Weg zu finden, mit

rassistischen Situationen umzugehen.120

Obgleich Mutter und Sohn entsprechend selten über ihren Schmerz sprachen,

finden sich in der Autobiographie Szenen, in denen die Mutter seine Gefühle der

Scham, Beklommenheit und des Schmerzes wahr nahm und ihm mit Trost,

Ratschlägen und Erklärungen zu Seite stand. Als Beispiel dient hier die

Situation, in der Mutter und Sohn eine Völkerschau im Tierpark besuchen.

Hintergrund dieser Szene ist die Völkerschau in Hagenbecks Tierpark, in dem

seit den 70er Jahren des neunzehnten Jahrhunderts als „exotisch“ erachtete

Menschen aus verschiedensten Ländern, unter anderem auch vom afrikanischen

Kontinent, in Nachbarschaft zu Tieren ausgestellt wurden. Ziel dieser

Ausstellungen war die Befriedigung weißer kolonialer Phantasien und Wünsche.

Zu diesem Zweck wurden die zur Schau gestellten Menschen dem rassistischen

und kolonialen Bild weißer Menschen angepaßt. Sie bedienten das weiße

Verlangen, sich durch Mechanismen der Abwertung der konstruierten “Anderen“

als höherwertig zu positionieren, und die in dem Zivilisierungsprozeß verdrängten

Anteile des Selbst, die im Zuge der Kolonisierung und Rassifizierung auf die

„Anderen“ projiziert wurden, vorgelebt zu bekommen. Denn die entfremdete

Darstellung der Zurschaugestellten bestätigte die Weißen in ihrer Vorstellung von

sich als besser, zivilisierter und fortschrittlicher. Dass weiße Deutsche ein großes

Verlangen und Bedürfnis nach eigener Aufwertung hatten, zeigt der lange

Zeitraum und die hohe Anzahl der Ausstellungen, die in Deutschland zwischen

1870 und 1940 stattfanden und an die 400 Völkerschauen zählten, und wird

119 Massaquoi, S. 115120 Vgl. Kapitel 2.6

Page 48: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

durch der hohen Zahl der Besucher (bis zu 60.000 Besucher pro Tag)

verdeutlicht.121

Die Mutter nimmt in der folgenden Szene Hans-Jürgens Gefühle der Scham wahr

und geht erklärend auf den vier oder fünfjährigen Hans-Jürgen ein, nachdem

dieser im Tierpark von AfrikanerInnen als Afrodeutscher erkannt wurde und

plötzlich im Mittelpunkt als „Attraktion“ auch der weißen Tierparkbesucher steht.

„Am liebsten wäre ich vor Verlegenheit im Erdboden versunken, weil man mich mit einem

von <denen> verwechselte. Schließlich nahm meine Mutter mich und Ingeborg an der

Hand und führte uns trotz Ingeborgs Protest von dort weg. Am selben Abend, als wir

wieder allein zu Hause waren, sagte meine Mutter zu mir, daß ich keinen Grund hätte,

mich zu schämen. Die Afrikaner, die wir gesehen hatten, seien einfache, aber gute

Menschen, die unser Mitleid und nicht unseren Spott verdienten. Sie vermutete, daß

jemand sie mit falschen Versprechungen aus ihrer Heimat gelockt hatte, damit sie in der

Schau auftraten. Und sie machte mir klar, daß es, selbst wenn die Afrikaner nicht mit

Gewalt nach Deutschland gebracht worden waren, ein entsetzliches Unrecht war,

Menschen in einem Zoo hinter Zäunen Seite an Seite mit Tieren zur Schau zu stellen." 122

In einer weiteren Situation spricht sie ihm Trost zu, nachdem er einen Tag vor der

Premiere eines Theaterstücks seine Hauptrolle vom Schulleiter Wriede

abgesprochen bekam. An seiner statt wurde die Rolle mit der blonden

Zweitbesetzung vorgeführt.

„Als ich meiner Mutter erzählte, was geschehen war, wurde sie fuchsteufelswild, aber sie

redete mir trotzdem gut zu, ich sollte mir Wriedes Quälereien nicht zu Herzen nehmen

und meine Abneigung gegen ihn nicht auf die ganze Schule übertragen. <Die Schule ist

eine wunderbare Einrichtung, und die meisten Lehrerinnen und Lehrer sind anständige

Menschen, wie Fräulein Beyle>, versicherte sie mir. <Glaub mir, früher oder später wird

Wriede seine gerechte Strafe bekommen.>. “123

Das Zitat macht ihren Versuch deutlich, ihm ein differenziertes Menschenbild zu

vermitteln. Mit dem wachsenden Einfluss der Nationalsozialisten ist die Mutter

sowohl im privaten wie auch im beruflichen Kontext zunehmend Druck und

Ausgrenzung ausgesetzt. Ihr wird der Arbeitsplatz im Krankenhaus gekündigt

121 Vgl.Dreesbach122 Massaquoi, S. 41123 Massaquoi, S. 80

Page 49: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

und sämtliche Versuche ihrerseits, die Kündigung rückgängig zu machen,

scheitern.

Aus Loyalität zu ihrem Sohn entschließt sie sich, ihre Beziehung zu einem

weißen deutschen Mann zu beenden, nachdem dieser dem wachsenden

gesellschaftlichen Druck der Nationalsozialisten erliegt und seine sehr enge

Freundschaft zu Hans-Jürgen verleugnet. In ihrem Versuch, Hans-Jürgen nicht

wissen zu lassen, dass sie gesellschaftlichen Repressalien ausgesetzt ist, liegt

meines Erachtens ein weiterer Aspekt ihrer Bemühung, ihn so gut wie möglich zu

schützen. Zudem sucht sie ihrem kleinen Sohn die drastischen Veränderungen

seiner Umwelt verständlich zu machen.

„<Die Nazis mögen auch keine Afrikaner, und bei den Juden irren sie sich genauso wie

bei den Afrikanern. Sie halten sich für besser als alle anderen und meinen, daß andere

Völker – Juden, Afrikaner, Chinesen – wertlos sind. Leider sind sie zur Zeit an der Macht,

und wir können nichts dagegen tun.> < Glaubt der Führer das auch?> wollte ich wissen.

<Ganz bestimmt>, erwiderte meine Mutter, der die Richtung, die das Gespräch nahm,

offensichtlich nicht behagte.“124

Massaquoi lässt unerwähnt, ob sich seine Mutter bezüglich seiner

nationalsozialistischen Vorbilder und Freunde in einem Gewissenszwiespalt

befand. Es wird aber in der oben zitierten Aussage deutlich, dass sie sich der

nationalsozialistischen Ideologie und ihrer Folgen für ihr afrodeutsches Kind

bewusst war und höchstwahrscheinlich unter seinen Verehrungen für die Person

Hitler und die Nationalsozialisten litt, es aber vermied, ihm seine Illusion der

Verbundenheit mit den Mächtigen und sein Zugehörigkeitsgefühl zur deutschen

Jugend zu nehmen. Für diese These spricht ihre offensichtliche Trauer nach

Hans-Jürgens Ausschluss aus der Hitler Jugend und der im Kapitel 3.4.2

besprochene Umstand, dass sie der Freundschaft zwischen Hans-Jürgen und

Karl nicht im Wege stehen wollte.

Der Autor schildert mehr die Aktionen und Reaktionen seiner Mutter auf ihn und

das gesellschaftliche Umfeld, als dass er sich selbst in der Interaktion mit seiner

Mutter beschreibt. Aus diesem Grund wurden seine ÜberLebensstrategien und -

Situationen auf dieser gegebenen Basis ausgearbeitet.

124 Massaquoi, S.68

Page 50: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

Demzufolge lassen sich die ÜberLebensstrategien des Hans-Jürgen in der

Mutter Kind Beziehung folgendermaßen zusammenfassen:

Zwischen ihm und seiner weißen deutschen Mutter bestand ein liebevolles und

vertrauensvolles Verhältnis, in dem er sich geborgen und als Kind angenommen

und respektiert fühlte. Dieses Verhältnis trug sicherlich zur Stärkung seines

Selbstbewußtseins und Selbstwertgefühls bei, auch wenn ihm beides von der

Gesellschaft abgesprochen wurde.

Wesentlich für die Mutter-Kind-Beziehung ist, dass die Mutter als „helfende

Zeugin“ agierte. „Helfende Zeugen“ sind nach Miller Personen aus der

Umgebung eines misshandelten Kindes, die diesem Sympathie oder Liebe

entgegenbringen, ihm vertrauen und das Gefühl vermitteln, dass seine

Wahrnehmungen über die Misshandlungen zutreffen und dass es Freundlichkeit

verdient. Dank dieser Zeugen erfährt das Kind, dass es Liebe gibt und seine

Gefühle „richtig“ sind. Diese Erkenntnis trifft ebenfalls bei rassifizierten Kindern

zu, auch wenn Miller diese nicht ausdrücklich einbezieht. 125

Seine Mutter diente ihm gleichfalls als Vorbild, indem sie offen ihre Wut zeigte

und gegen den Rassismus handelte. Auf diese Weise markierte sie den

Aggressor, und positionierte sich selbst in einer Allianz mit ihrem Sohn. Hier wird

eine Möglichkeit erkennbar, die Entstehung von Schuldgefühlen seitens des

Kindes zumindest teilweise zu vermindern, da Hans-Jürgen anhand ihres

Verhaltens erfährt, dass nicht er selbst für die Aggressionen und Rassismen

seiner Umwelt verantwortlich ist. Jedoch wird anhand mehrerer rassistischer

Anfeindungessituationen, die im Kapitel 3.4.2 und 3.5 näher betrachtet werden,

deutlich, dass der Schutz und die Geborgenheit der Mutter die aufkommenden

Schamgefühle und Ängste ihres Kindes nur geringfügig abschwächen können.

Andererseits war die Zurückhaltung schmerzhafter Emotionen eine

Erziehungserfahrung, und diente unter den politischen Gegebenheiten als

Selbstschutz. Denn Hans-Jürgen versuchte seine Mutter vor emotionalem Stress

zu schützen, und war bemüht, eine Konfrontation der Mutter mit Autoritäts-

personen zu vermeiden, um Repressalien vorzubeugen.

125 Miller 2001, S.7 und Miller 2007, S. 59f.

Page 51: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

3.1.2.Hans-Jürgens ÜberLebensstrategien bei fehlender

Schwarzer Vaterfigur

Für Hans-Jürgen Massaquoi war sein Vater, Al-Haj Massaquoi, ein Fremder, zu

dem er erst mit knapp zwanzig Jahren einen persönlichen Kontakt aufbauen

konnte.126 Der Autor beschreibt ihn als einen verwöhnten, egoistischen jungen

Beau, der es gewohnt war, seinen Willen zu bekommen.127 In Hans-Jürgens

Kinderjahren studierte er in Dublin, und besuchte seinen Sohn ab und an. In

Massaquois Erinnerung baute er während seiner späteren Tätigkeit in Hamburg

kaum Kontakt zu ihm auf. Der 4-jährige Sohn vermisste ihn, als er 1929

Deutschland aufgrund politischer Entscheidungen verließ, um dem Großvater

nach Liberia zu folgen.

„Auf meine häufige Frage: <Wann kommt Vati wieder?> reagierte meine Mutter stets mit

einem hilflosen Schulterzucken und der Standardantwort: <Ich weiß es nicht.> Sie sagte

die Wahrheit.“128

Sein Leben lang, so der Autor, habe er sehr viel über ihn gehört, und seine

Ähnlichkeit zum Vater wurde durch die Mutter stets bekräftigt.

Doch „in all den Jahren, die er inzwischen fort war, hatte ich ihn nicht gerade ins

Herz geschlossen. Wenn ich überhaupt etwas für ihn empfand, dann kühle

Neugier.“, konstatiert der neunzehnjährige Massaquoi.129

Auf Einladung des Vaters ging er mit neunzehn Jahren nach Liberia, wo die

Beziehung der Beiden verhältnismäßig distanziert blieb und nur kurz dauerte, da

der Vater neun Monate später tödlich verunglückte.

Für seine Entwicklung schien der Vater nur eine marginale Rolle zu spielen. Viel

mehr sind seine frühkindlichen Erfahrungen geprägt von dem Verhältnis zu

seinem Großvater väterlicherseits. Momolu Massaquoi, ehemaliger König der Vai

126 Vgl. Massaquoi, S. 310127 Vgl. Ebenda, S. 24128 Massaquoi, S.42129 Massaquoi, S. 310f

Page 52: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

und liberianischer Innenminister, begann seine konsularische Laufbahn 1922 als

liberianischer Generalkonsul in Deutschland. Trotz der schwierigen

wirtschaftlichen, politischen und offen rassistischen Situation in Deutschland kurz

nach dem 1. Weltkrieg, gelang es Massaquoi und seiner Familie, den Angaben

des Autors zufolge ein „behütetes Leben“ zu führen.130 Im vornehmen Hamburg-

Rotherbaum führten der Großvater, seine liberianische Ehefrau und vier

gemeinsame Kinder ein offenes Haus, dass durch afrikanische Nationalisten,

Bürgerrechtler, Intellektuelle, Sport- und Musikstars und renommierte und

prominente Weiße aus Hamburg frequentiert wurde.

Hans-Jürgen Massaquoi lebte mit seiner Mutter bis zur Beendigung der

Dienstzeit des Großvaters 1929 in dessen Villa. Hier wuchs er mit seinem

gleichaltrigen Onkel Fritz, jüngster Sohn Momolus, auf. Die gemeinsam

verbrachten ersten drei Lebensjahre mit der liberianischen Familie prägten Hans-

Jürgen in seinem sozialen Selbstbewusstsein; er wuchs in einem überwiegend

Schwarzen Umfeld mit bikultureller und zweisprachiger Prägung und hohem

sozialen Status auf. Die Klassenzugehörigkeit war wesentlich für die damalige

Zeit; insoweit sicherte sie der Familie nach Aussagen des Autors einen gewissen

Respekt seitens der weißen Bevölkerung.

„In der wohlhabenden, kosmopolitischen Umgebung, die mir bis dahin vertraut gewesen

war, hatte man schwarze Menschen vom gesellschaftlichen Rang meines Großvaters mit

größtmöglichem Respekt behandelt.“131

Und über die gemeinsamen Spaziergänge mit seinem Großvater und dessen

Kindern an der Alster schreibt er:

„Diese Spaziergänge fanden ihren krönenden Abschluss stets in einem kleinen,

vornehmen Café, wo es köstlich nach Kakao, frischen Kaffee und Gebäck duftete. Unter

den diskret neugierigen Blicken der anderen Gäste wurde „Sein Exzellenz“ mit der

kindlichen Entourage beflissen an einen der besten Tische geführt, wo mein Großvater

mir zu meiner großen Freude die Aufgabe übertrug, die verschiedenen Köstlichkeiten [...]

zu bestellen.132

130 Ebenda, S. 33131 Ebenda, S. 31132 Ebenda, S 27f

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Mit seinem Großvater verband der dreijährige Hans-Jürgen gute Erinnerungen

an eine Zeit voller Liebe, Wärme und Aufmerksamkeit für seine Person.

In gemeinsam verbrachten Stunden erzählte er ihm Geschichten von alten

afrikanischen Königreichen. Besonders stolz war der Großvater auf Hans-

Jürgens akzentfreies Deutsch, das er ihn immer wieder, ob bei Besuchen in

Geschäften oder bei Empfängen vor geladenen Gästen, vorführen ließ.

„Manchmal ließ mich Momolu spät abend aus dem Bett holen, damit ich seinen

afrikanischen und deutschen Dinnergästen meine sprachlichen Fähigkeiten vorführen

konnte. [...] Der Lohn war die verwunderte Begeisterung der Erwachsenen, die über mein

akzentfreies Deutsch mit dem unverkennbaren Hamburger Einschlag ganz aus dem

Häuschen gerieten.“133

Momolu war für ihn „einfach der <Opa>, ein sanfter und nachsichtiger Mann,

dessen Hauptlebenszweck in meinen Augen darin bestand, dafür zu sorgen,

dass mir jeder Wunsch erfüllt wurde.“134 Aufgrund der engen Beziehung zwischen

Beiden und vermutlich infolge der Vaterentbehrung, spielte der Großvater eine

große Vorbildrolle und genoss Hans-Jürgen uneingeschränkte Bewunderung.

„Da mein Großvater - ein sehr dunkler Mann – die alles beherrschende Figur in meinem

Universum war und die meisten Weißen untergeordnete Rollen spielten, betrachtete ich

dunkle Haut und krauses Haar als Kennzeichen von Überlegenheit. Demzufolge nahm

ich die mir zufallende Bewunderung als selbstverständlich entgegen.“135

In der Verbindung zum Großvater wurde für den Dreijährigen eine familiale,

statushohe und kosmopolitische Situation hergestellt. Hans-Jürgen erfuhr durch

die Bewunderung und Hervorhebung seiner Sprachkenntnisse eine Aufwertung

seiner Person. Dies im Besonderen durch den Umstand, dass er im Gegensatz

zu dem statushohen Großvater und seiner Familie ein perfektes Deutsch sprach.

Gleichzeitig unterstrich Momolu damit Hans-Jürgens Verbindung zum

Deutschsein. Weiter brachte ihn der Großvater dem Erwachsenenstatus näher,

indem er ihm die Verantwortung für die Bestellung der Köstlichkeiten im Café

übertrug.

133 Massaquoi, S. 28134 Ebenda, S. 28135 Ebenda, S. 26

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Letztlich unterstrich der kosmopolitische Rahmen seinen Ausnahmestatus, da er

sogar unter den internationalen Gästen durch seine Sprachkenntnisse den

Status einer besonderen Person einnahm. Nach Momolus Abreise blieb als

einziges Familienmitglied seine Tante Fatima in Europa zurück. In Bern ging sie

ihren Studien nach, und ab und an besuchte sie Hans-Jürgen und seine Mutter

in Hamburg.

Zusammenfassend lässt sich für Hans-Jürgens ÜberLebensstrategien bei

fehlendem Schwarzen Vater feststellen, dass ihm das Leben in seiner

Schwarzen Familie eine wichtige Basis für seine Identität als Afrodeutscher und

für sein Selbstwertgefühl ermöglichte. Zudem war die Beziehung zu seinem

Großvater durch Verbundenheit, eine gemeinsame Nähe und große

Bewunderung für diesen geprägt. In dieser Verbundenheit zum Großvater erlebte

Hans-Jürgen eine Ermächtigung seiner Person durch die erfolgreiche

Anknüpfung an den Großvater als mächtiges und statushohes Schwarzes

Vorbild.

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3.3. Hans-Jürgens ÜberLebensstrategien in Konfrontation mit

offenem Rassismus und in Begegnungen mit „helfenden

Zeugen“

Zur Zeit seiner Einschulung 1932 kamen die Nationalsozialisten an die Macht,

und mit dem „Gesetz über den Neuaufbau des Reiches“136 im Jahre 1934 fand

das nationalsozialistische Gedankengut einerseits in Form von Gewalt und

Terrormaßnahmen eines Zwangssystems und andererseits durch Erlasse und

Vorschriften für den Unterricht, ihren Einzug in das Bildungs- und

Erziehungswesen.137 Gedanken über „Rassentrennung“ und „Rassenhygiene“,

die seit der Etablierung des Sozialdarwinismus in Deutschland zu Beginn des

zwanzigsten Jahrhunderts existierten138, konnten nun zur Verwirklichung

gelangen.

„Die gesamte Bildungs- und Erziehungsarbeit des völkischen Staates muß ihre Krönung

darin finden, dass sie den Rassesinn und das Rassegefühl instinkt- und verstandesmäßig

in Herz und Gehirn der ihr anvertrauten Jugend hinein brennt. Es soll kein Knabe und

kein deutsches Mädchen die Schule verlassen, ohne zur letzten Erkenntnis über die

Notwendigkeit und das Wesen der Blutreinheit geführt worden zu sein. Damit wird die

Voraussetzung geschaffen für die Erhaltung der rassenmäßigen Grundlagen unseres

Volkstums und durch sie wiederum die Sicherung der Vorbedingungen für die spätere

kulturelle Weiterentwicklung.“139

Die Nationalsozialistische Schule wurde neben der SS, SA, HJ und dem BDM

zur Mediatorin dieses „Rassendünkels“ erkoren. Ihre Ziele waren:

„[Die] Herausstellung des nordischen Zielbildes auf körperlichem und vor allem auf

seelischem und geistigen Gebiet und möglichste Pflege der Menschen, die dieses

Rassenbild in ihrem Wesen und Handeln verkörpern -, auf der anderen Seite:

136 Alonzo, S. 510( in Peter Martin 04)137 Keim, S. 73138 El-Tayeb, S.14139 Hitler, zitiert in Alonzo, S. 509

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Ausscheidung der fremdartigen orientalischen (Juden!), afrikanischen und

innerasiatischen Rassenangehörigen.“140

Die Herausstellung des nordischen, „arischen“ Bildes gelang durch die

Einführung der „Vererbungs- und Rassenkunde“ als „Kernstoff“ und „Leitlinie“

aller Fächer,141 vor allem aber in der Biologie. Hier studierten die Kinder die

„rassischen Merkmale und Abweichungen von der arischen Norm“ anhand von

Fotos ihrer eigenen Person und ihrer KlassenkameradInnen. Die ideologische

Ausrichtung der Kinder und Jugendlichen sollte durch eine gezielte Indoktrination

mit NS Gedankengut in Schule, Familie und später in Organisationen wie der

Hitlerjugend oder dem Bund Deutscher Mädel erlangt werden. Seit 1935 dienten

aber auch Gesinnungsprüfungen für LehrerInnen der Verfestigung der

Nationalsozialistischen Ideologie im Schulwesen.142 Schon 1933 waren die

meisten bis dahin unabhängigen Lehrerverbände bereit, in den

Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) einzutreten, und 1937 waren bereits

97% aller Lehrer im NSLB vertreten.143

Die Zeit nach 1933 war für „Nicht-Arier“ und Oppositionelle von Demütigungen

und Kränkungen geprägt. Entlassungen von LehrerInnen wie Abmeldungen von

jüdischen SchülerInnen wurden zur alltäglichen Realität.144

Das Schicksal afrodeutscher Kinder war zudem bestimmt von der geschürten

Angst vor einer Vermischung der „Rassen“. „Mischehen mit Fremdrassigen

müssen als das gekennzeichnet werden, was sie sind, nämlich der Grund für

geistige und seelische Entartung wie für die Entfremdung dem eigenen Volk

gegenüber.“145

Pommerin bemerkt, dass Hitler bereits 1925 in seinem Buch „Mein Kampf“ jede

„Rassenvermischung“ mit einer Senkung des Niveaus der „höheren Rasse“ und

einem körperlichen und geistigem Niedergang assoziierte.146 Afrodeutsche

wurden in Presse und von Verbänden als „innerer Feind“ diffamiert und ihnen

140 Benze, Rudolf, zitiert in Alonzo, S.510141 Vgl. Zymek in Keim, S.16142 Alonzo, S. 510143 Vgl. Mann, S.55 und Keim, S. 112144 Vgl. Keim, S. 104145 Zitiert aus „Schriftenreihe des Reichsausschusses für Volksgesundheitsdienst, Berlin 1933, in El-Tayeb, S. 168146 Pommerin ( in Peter Martin) , S. 533

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wurde eine „syphilitische Verseuchung“ attestiert, ein Stimulus und

Rechtfertigungsgrund zur Bekämpfung einer Gefahr, die den deutschen

„Volkskörper“ schädigen und vergiften würde.147 Afrodeutsche Kinder wurden

somit zum Sinnbild einer „Rassenschande“ und einer Bedrohung für die weiße

„Rasse“. „ Es geht letzten Endes um das Weiterbestehen oder den Untergang

der weißen Rasse!“148

Bereits 1923, im Zusammenhang mit der Verfolgung der sog.

„Rheinlandbastarde“, begann die Regierung der Weimarer Republik,

afrodeutsche Kinder, auch von Vätern, die nicht der Besatzungsmacht

angehörten, statistisch zu erfassen, um eine grundsätzliche Lösung der

„Mischlingsfrage“ anzustreben. Das Ziel war weitestgehend die Ausgrenzung des

„Fremdkörpers“ aus dem deutschen „Volkskörper“.

„Es ist Tatsache, dass über 60 v.H. der Kinder, die durch die farbige Besatzung das Licht

der Welt erblicken, schon mit Syphilis behaftet sind. Es ist weiter eine bekannte Tatsache,

dass Mischlingskinder fast immer die schlechten Eigenschaften und Laster der Eltern mit

zur Welt bringen. [...] Die Gefahren, die unserem Volk dadurch entstehen, sind in ihren

Folgen noch gar nicht absehbar.“149

Derart rassifiziert und pathologisiert wurden sie systematisch verfolgt. 1934

verlangte das Reichsinnenministerium, dem bereits statistische Erhebungen von

1923 vorlagen, Angaben über die in Baden, Bayern, Hessen, Oldenburg und

Preußen lebenden afrodeutschen Kinder. Unter Mithilfe von LehrerInnen und

SchülerInnen sollten geeignete Fotografien als Bildnachweis erstellt werden. Da

aber nicht alle LehrerInnen und Gemeinden kooperierten, sollten die Fotografien

möglichst unauffällig durchgeführt werden:

„< [...] es werden mehrere Schüler aus der betreffenden Klasse mit dem Mischling

zusammen fotografiert, wodurch ein besonderes Herausstellen des Bastards vermieden

wird.> Das Klassenfoto, traditionell beliebtes Erinnerungsstück an glückliche Zeiten der

Jugend, wird von der staatlich geförderten <Rassenforschung> missbraucht und für die

Kinder zur Falle.“150

147 Vgl. El Tayeb, S.167148 Lang 1921 zitiert in El-Tayeb, S. 167 149 „Leipziger Neueste Nachrichten“ vom 26.2.21, zitiert in El Tayeb, S. 168150 Alonzo, S. 515

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Die nationalsozialistische Hetzjagd gegen afrodeutsche Besatzungskinder

gipfelte1937 in der systematisch betriebenen Sterilisation.151

3.3.1. Hans-Jürgens Überlebensstrategien in Konfrontation mit

rassistischen Anfeindungen durch Autoritätspersonen

Hans-Jürgens Alltag war im Zuge der Nazifizierung ab 1933 zunehmend durch

offen rassistische Anfeindungen geprägt. Für die Analyse seiner

ÜberLebensstrategien im nationalsozialistischen Alltag gehe ich im Folgenden

auf Konfrontationen mit LehrerInnen und anderen Autoritätspersonen ein und

werde ebenso Begegnungen mit „helfenden Zeugen“ aufzeigen.

Eine der ersten Begegnungen mit dem systematisch betriebenen Rassismus

gegen „Nichtarier“ machte der 8-jährige Hans-Jürgen auf einem ihm bekannten

Spielplatz in der Nähe des Hauses, das er und seine Mutter bewohnten. Als er

geduldig auf das Freiwerden einer Wippe wartete, stellte sich ihm eine Mutter mit

ihrem kleinen Sohn in den Weg und fuhr ihn an, was er denn hier wolle.

„<Ich bin dran>, protestierte ich kläglich. <Was soll das heißen, ´ich bin dran`?> zeterte

sie. <Ihr seid schon lange genug ´dran` gewesen! Jetzt sind wir dran. Du hast auf diesem

Spielplatz überhaupt nichts zu suchen. Kannst du nicht lesen?> Und dabei zeigte sie auf

ein Schild am Eingang, das mir noch nie aufgefallen war. [...] Völlig durcheinander ging

ich mit hängendem Kopf weg. Mit tränennassen Augen las ich das Schild:

NICHT - ARIERN IST DAS BETRETEN DIESES SPIELPLATZES STRENGSTENS

VERBOTEN.“152

Der Autor äußert, dass andere Mütter, die der Szene beigewohnt haben, zwar

Mitleid zu haben schienen, aber keine für ihn Partei ergriff. Er selbst sei sehr

verwirrt gewesen, denn er habe den Ausdruck „Nicht-Arier“ zwar schon gehört,

aber konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendetwas mit ihm zu tun hätte.

Diese Szene verdeutlicht die diffizile Lage, in der sich Hans-Jürgen befand.

Wenngleich er als Afrodeutscher zum „innerer Feind“ wurde, war er wie alle

Schulkinder dieser Zeit der Propaganda und Indoktrination durch die Nazis

151 Vgl. Kapitel 2.1.3152 Massaquoi, S. 61

Page 59: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

ausgeliefert. Denn zur Machtsicherung des neuen Systems war den

Nationalsozialisten die emotionale Formierung von SchülerInnen und

LehrerInnen wichtig.

Bald nachdem Hitler 1934 zur neuen „nationalen Vaterfigur“ erkoren wurde,

fanden im gesamten Reich Verankerungen von NS Symbolen, Ritualen und

Sprachregelungen statt. Hakenkreuz, Fahnen, Hitler-Porträits, der Hitler-Gruß

und die Durchführung von NS-Feiern und - Gedenkstunden wurden Pflicht.153

„Es entwickelte sich schnell ein <kanonischer Feierkalender> mit einem festen Gerüst

regelmäßig wiederkehrender nationalsozialistischer Feiertage, der die jungen Menschen

wie die gesamte Bevölkerung <im Rhythmus des Jahreslaufs ständig an die Präsenz der

nationalsozialistischen Ideologie> erinnern <und ihrem Herrschaftsanspruch>

unterwerfen sollte“.154

Dabei stand das innere Erleben der NS-Ideologie als Werkzeug zur NS-

Gesinnungsbildung im Mittelpunkt. Die jungen Menschen sollten für den neuen

Staat begeistert werden, an ihn glauben und ihm bedingungslos bis in den Tod

dienen.155

Neben den Feier- und Gedenkveranstaltungen lag eine wichtige Funktion der

Nazifizierung des Schulwesens und der gesamten Gesellschaft in der Rundfunk

und Filmübertragung. Ihr Vorteil war, dass die darin enthaltenen Botschaften und

Stimmungen die Menschen unmittelbar erreichten, was eine inhaltliche

Verzerrung durch Zwischeninstanzen wie z.B. Lehrerinnen reduzierte.156

Auch Hans-Jürgen und seine Mitschüler lauschten Hitlers Reden, und waren,

„trotz der Länge der Reden, und obwohl wir vieles nicht verstanden, [...] nie

gelangweilt, sondern stets vom Klang seiner Stimme fasziniert und

aufgewühlt.“157

Der Autor erklärt:

„Sobald Hitler ganz Deutschland fest in der Hand hatte, gab es praktisch jede Woche

irgendwelche politischen Veranstaltungen, die unsere Kinderherzen höher schlagen

153 Keim, S. 88154 Vondung zitiert nach W. Müller in Keim, S. 88 155 Vgl. Keim, S. 89156 Vgl. Keim S.90157 Massaquoi, S. 58

Page 60: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

ließen: endlose Paraden von SS, SA und Hitlerjugend, die durch die Stadt marschierten,

aufsehenerregende Fackelzüge, Feuerwerke über der Alster und Massenkundgebungen

im Stadtpark und auf der Moorweide. Bei keinem dieser Ereignisse hatte ich das Gefühl,

irgendwie persönlich bedroht zu sein [...] “.158

Und

„Wir Kinder hatten zwar keine Ahnung, wofür die politischen Parteien eigentlich standen,

aber aufgrund dessen, was wir zu Hause, auf der Straße oder in der Schule mitbekamen,

hatten wir schon bald unsere Lieblingsparteien, so, wie man für eine bestimmte

Fußballmannschaft schwärmt. [...] Mit meinen knapp sieben Jahren wurde ausgerechnet

ich zum eifrigen Anhänger der Nazis, und das nur, weil sie ungeheuer was hermachten,

wenn sie mit ihren tollen Uniformen und Marschkapellen zackig im Gleichschritt

aufmarschierten.“159

Auf diesem Hintergrund wird seine Verwirrung über die Markierung als „Nicht-

Arier“ in der oben beschriebenen Spielplatzsituation verständlich, denn er sah

sich als Teil des nationalsozialistischen Kollektivs.

Verwirrung, und die paradoxe Situation, sich einesteils dazugehörig zu fühlen

und integriert zu sein, und anderen Teils rassifiziert und ausgeschlossen zu

werden, prägten Hans-Jürgens folgende Schuljahre. Dabei wechselten sich offen

rassistische Erfahrungen mit Erfahrungen der Zuneigung seiner Person

gegenüber und Unterstützung durch „helfende Zeugen“ ab.

Am Ende des zweiten Schuljahres begegnete er seinem neuen Schulleiter

Hinrich Wriede, einem fanatischen Anhänger Hitlers, der seine Nähe zum Führer

durch ein Hitlerbärtchen zu unterstreichen wusste. Mit seiner braunen NS

Uniform und der dazugehörigen Attitüde ließ er zu seinem Amtsantritt

LehrerInnen und SchülerInnen in der Aula antreten, wo ihm Hans-Jürgen das

erste Mal begegnete.

„Während er vor uns auf und ab marschierte, entdeckte er mich inmitten der Jungen und fixierte

mich mit einem haßerfüllten Blick, wie eine Schlange, die ihre Beute hypnotisierte. <Ich werde

dafür sorgen, daß meine Schüler stolz darauf sind, deutsche Jungen in einem

nationalsozialistischen Deutschland zu sein>, verkündete er, ohne mich aus den Augen zu

158 Ebenda, S. 58159 Ebenda, S. 57

Page 61: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

lassen. [...] Zurück in der Klasse, wurde ich das neue und daher beängstigende Gefühl nicht los,

soeben einem persönlichen Feind begegnet zu sein.“160

Exkurs: Erziehungsideale im Nationalsozialismus und ihre Folgen für das

Subjekt

Als bekennender Nazi wurde Wriede 1934 als Schulleiter der

Käthnerkampschule eingesetzt. Es ist davon auszugehen, dass er NSDAP-

Mitglied war, da zu dieser Zeit SchulleiterInnen und LehrerInnen im Rahmen der

Nazifizierung entlassen bzw. durch politisch konforme Personen ausgewechselt

wurden.

Peukert zufolge verkörperte der Direktor und das gleichgeschaltete

Lehrerkollegium das „Führerprinzip“.161

Massaquois Erinnerung zufolge gab es keine nennenswerte widerständige

Haltung gegen die Nazifizierung von Seiten des LehrerInnenkollegiums seiner

Schule. Keim konstatiert, dass die überwiegende Mehrheit der KollegInnen im

deutschen Schulwesen die Machteroberung der Nazis stillschweigend

hingenommen zu haben scheint.162

Als möglichen Grund für die positive Resonanz der LehrerInnen und die partiell

vorherrschende emotionale Begeisterung für die Nazis liegt Keim zufolge in einer

antidemokratischen, antiliberalen, militaristischen, imperialistischen und

rassistischen Haltung in breiten Teilen der deutschen Gesellschaft. Diese Haltung

hat ihre strukturellen Wurzeln im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. 163

„ [...] Nach dem 30. Januar 1933 paßte sich die überwiegende Mehrheit von ihnen [den

LehrerInnen, Anm. d. Verf.] schweigend an oder arbeitete bereitwillig mit. Sie begrüßten

einmütig den Regierungswechsel, der eine Rückkehr zu vertrauten Verhältnissen

versprach und der eigenen vordemokratischen Vorstellungswelt <wesensmäßig>

entgegenkam.“ 164

160 Massaquoi, S. 77161 Peukert, S. 5162 Vgl. Keim S. 109163 Vgl. Keim S. 21164 Meier 1993 zitiert nach Keim, S. 106

Page 62: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

Ein weiteres Motiv für das hohe Maß der Freiwilligkeit und Bereitschaft zur

Eingliederung in den neuen Staat sieht Keim in der Untertanen und

„Beamtenseele“ der Deutschen.165

Miller zufolge liegt diese in der Nationalsozialistischen Ära zu beobachtende

untertänige, autoritätshörige Haltung in der Kontinuität einer

Erziehungsideologie, die die letzten 200 Jahre der sogenannten europäischen

„Zivilisation“ prägte und als „Schwarze Pädagogik“ in die Literatur einging.

Albrecht-Heide konstatiert:

„Insofern ist der Terminus Schwarze Pädagogik (Katharina Rutschky) für diese

Zurichtungsdisziplin nicht nur ein einfacher rassistischer Rückgriff auf die Farbsymbolik weiß =

gut, Schwarz = böse. Wahrscheinlich ist ein wesentlich tiefer greifender Mechanismus, mit dem

es >uns< als SprecherInnen darum geht, das eigene Unerträgliche möglichst weit weg zu

delegieren, und das geht am effektivsten in einer Täter-Opfer-Umkehr; denn: die so genannte

Schwarze Pädagogik ist nachweislich >unsere< eigene weiße Pädagogik.“166

In der Kaiserzeit zur Jahrhundertwende und im Nationalsozialismus fand diese

Erziehungsideologie ihren Höhepunkt. Führend war hier die Erziehung zur

inneren Härte, zum Gehorsam, Zwang und zur Gefühlslosigkeit.167 Miller

bezeichnet diese „Zurichtungsdisziplin“168 als „die Vergewaltigung der Regungen

der kindlichen Seele“.169 Denn die Verachtung und Verfolgung des schwachen,

da hilflosen und abhängigen Kindes, und die Unterdrückung des lebendigen,

kreativen und emotionalen im Kind und im eigenen Selbst der erwachsenen

Person war prägend für die „Schwarze Pädagogik“.170 Kinder haben vom

Säuglingsalter an gelernt, keine eigenen Gefühlsregungen zu spüren, sondern

die Wünsche der Eltern als die eigenen zu erleben.171 Diese totale Unterwerfung

des Kindes unter den Willen des Erwachsenen führt schließlich zur inneren

Bereitschaft einer erneuten Unterwerfung unter andere, mächtigere Personen.172

Der Erwachsene, der nichts Eigenes aufgebaut hat, erlebt sich Autoritäten

165 Keim, S. 105166 Albrecht-Heide 2005, S. 450 167 Miller 1981, S. 76f168 Albrecht-Heide 2005, S. 450169 Miller 1981, S. 89170 Ebenda, S.76171 Ebenda, S. 101172 Ebenda, S.89

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gegenüber wie ein Säugling gegenüber den Eltern. „Ein „Nein“ den Mächtigeren

gegenüber erscheint ihm für immer lebensgefährlich“.173 Und wenn „das Gefühl

einmal ausgeschaltet [ist], so funktioniert der hörige Mensch tadellos und

zuverlässig auch da, wo er keine Kontrolle von außen befürchten müßte[.]“174

Eine weitere Auswirkung der Erziehung zur inneren Härte und Gefühlslosigkeit ist

die Abspaltung und Projektion der in der Kindheit verachteten Selbstteile

(Emotionalität, Mitleid, Tränen, Gefühle von Ohnmacht, Angst und Verzweiflung)

auf Trägerobjekte.175

„Die Erziehung zur sinnlosen Härte macht es notwendig, daß alles Schwache [...]

<gnadenlos> im Selbst niedergekämpft werden muß. Um diesen Kampf gegen das

Menschliche im eigenen Inneren zu erleichtern, wurde den Bürgern im Dritten Reich ein

Objekt als Träger aller verabscheuten (weil in der Kindheit verbotenen und gefährlichen)

Eigenschaften angeboten – das jüdische Volk. Ein sogenannter <Arier> konnte sich rein,

stark, hart, klar, gut, eindeutig und moralisch in Ordnung fühlen, von den <bösen>, weil

schwachen und unkontrollierten Gefühlsregungen befreit, wenn alles, was er seit seiner

Kindheit in seinem Inneren befürchtete, den Juden zugeschrieben und bei ihnen

unerbittlich und immer aufs Neue kollektiv bekämpft werden mußte und durfte.“176

Doch nicht nur die Juden wurden als Trägerobjekte mißbraucht sondern u.a.

auch Schwarze Menschen. Die schon seit Jahrhunderten praktizierte Projektion

von Wünschen, Ängsten und sexuellen Phantasien auf Schwarze gipfelte zur

Zeit der Weimarer Republik in der rassistischen und sexistischen Propaganda

gegen Schwarze Besatzungsangehörige, und im Nationalsozialismus äußerte sie

sich in der Verfolgung, Sterilisation und Ermordung Schwarzer Menschen. Diese

Projektion war und ist wesentlich für die Aufrechterhaltung der bürgerlichen

Ordnung und, Miller zufolge, der inneren Ordnung des zur Disziplin erzogenen

Erwachsenen.

173 Ebenda, S. 104174 Ebenda, S. 103175 Vgl. Miller 1981, S.100176 Miller 1981, S. 100

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3.3.2. Konfrontation mit Schulleiter Wriede und Begegnung mit einer

„helfenden Zeugin“

In der Begegnung mit dem bekennenden Nationalsozialisten und Schulleiter

Hinrich Wriede werden Hans-Jürgens ÜberLebensstrategien in Konfrontation mit

offenem Rassismus sichtbar. Wriede suchte Hans-Jürgen während seiner

Schulzeit wiederholt zu schikanieren. Massaquoi schildert eine Szene, in der er

von ihm während des Sportunterrichts, den Wriede zu einer Mutprobe nutzen

wollte, vor der gesamten Klasse brüskiert wird.

„Ich ging davon aus, dass ich den Hindernislauf ohne Probleme schaffen würde, und

wartete zuversichtlich, bis ich an die Reihe kam. [...] Die ersten Hindernisse nahm ich

mühelos, doch als ich zu der großen Lücke kam, stand dort Wriede und hielt die lange

Stange nun selbst in der Hand. Statt das Seil hin und her zu schwingen hielt er es so,

daß ich es unmöglich erreichen konnte. Ich wartete, daß er es wieder zu mir schwingen

ließ, um danach zu springen, doch er rief nur: < Feigling! Du hast keinen Mut.> Ich

konnte mir einfach nicht vorstellen, daß er so unfair war, und wartete noch einen

Augenblick ab, doch er wurde noch wütender und rief nur: < Aus dem Weg. Mach Platz

für jemanden, der Mut hat. Los, rüber zu den anderen Feiglingen.> [...] Ich fühlte mich wie

geprügelt – obwohl mir eine Tracht Prügel weniger weh getan hätte, als zu Unrecht als

Feigling gebrandmarkt zu werden.“177

Die Bloßstellung, die Hans-Jürgen hier widerfährt, wird aufgrund Wriedes

Autorität und der gesamtgesellschaftlichen, rassistischen Haltung gegenüber

Schwarzen Menschen nicht als absurde Häme entlarvt. Im Gegenteil bietet

Hans-Jürgen als Afrodeutscher und damit als „ innerer Feind“ des deutschen

Volkskörpers und markiert als ein propagierter Träger der Syphilis dem weißen,

nationalsozialistischen Kollektiv eine Projektionsfläche, auf der die aufgestauten

Ängste und Haßgefühle entladen werden können.

Der Focus verbleibt also bei dem afrodeutschen Kind, dessen Ausschluss aus

der Gemeinschaft der „Arier“ zusätzlich zu dem Aspekt der Rassifizierung durch

die Stigmatisierung als Feigling untermauert wird. Dabei dient die Diffamierung

als Feigling einerseits der Entlastung der verdrängten, da schon früh

verachteten, Selbstanteile des Schulleiters. Gruen konstatiert, dass auch der

177 Massaquoi, S. 78

Page 65: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

erduldete und verdrängte Schmerz aus der Kindheit externalisiert werden muß.

„Das führt dazu, daß wir den Schmerz im anderen nicht nur suchen. Er wird auch

provoziert, um seiner auf diese Weise habhaft zu werden.“178

Andererseits allegorisiert der Feigling die Antithese des im Nationalsozialismus

propagierten Typus des „soldatischen Mannes“.179

Daher droht die Bloßstellung durch Wriede Hans-Jürgens Position im

Klassengefüge zu gefährden, hatte der Afrodeutsche doch schon öfter seinen

Mut bewiesen und war selbst davon überzeugt, mindestens genauso viel Mut zu

besitzen wie jeder andere in seiner Klasse. Seine Reaktion auf Wriedes

Diffamierung schildert Massaquoi wie folgt:

„Bis zu diesem Augenblick hatte ich mich nach Wriedes Anerkennung verzehrt, obwohl er

aus seiner Ablehnung mir gegenüber nie einen Hehl gemacht hatte. Zuweilen war ich

sogar eifersüchtig gewesen, wenn ich sah, wie unglaublich nett und aufmerksam er

andere Schüler behandelte, vor allem solche, die mit ihren blonden Haaren und blauen

Augen dem Ideal der Nazis entsprachen. Doch nun wurde mein Bedürfnis, von diesem

Mann gemocht zu werden, der mich ganz offensichtlich verachtete, von purem,

ohnmächtigen Haß verdrängt. Ich erzählte meiner Mutter nichts von dem Vorfall, weil ich

fürchtete, daß sie Wriede in ihrer Wut zur Rede stellen und alles nur noch schlimmer

machen würde. Stattdessen beschloß ich, mich nicht mehr darum zu scheren, was

Wriede sagte oder tat.“180

Deutlich geht aus seiner Schilderung hervor, daß er sich anfangs noch in einer

Abhängigkeitsbeziehung zu Wriede befand. Da dieser eine Autorität war, die dem

damaligen Zeitgeist entsprach, hätte seine positive Zuwendung Hans-Jürgen

gegenüber einer Untermauerung bzw. Legitimierung seiner Zugehörigkeit zur von

ihm preferierten Gruppe der Nazis entsprechen können. Dies vor allem auf dem

Hintergrund der Selektion der Menschen in „würdige“ und „unwürdige“ Bürger,

die einen stetig steigenden Druck auf die Bevölkerung und somit auch auf Hans-

Jürgen verursachte.

Der Wandel vom Bedürfnis nach Anerkennung in das Gefühl eines ohnmächtigen

Hasses symbolisiert Hans-Jürgens Weg aus einer ohnmächtigen Position hin zu

Gefühlen des Zorns und der Wut, die das Subjekt zur Handlung ermächtigen.

178 Gruen, S. 31179 Peukert, S. 5180 Massaquoi, S. 78

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Preuschoff bezeichnet Wut als eine Kraft, die es dem Subjekt ermöglicht, für sich

selber einzustehen, und als einen Antrieb zur Freiheit und Selbsterhaltung.181

Miller beschreibt einen berechtigten, oder adäquaten Hass auf eine Person, die

uns quält, oder in deren Macht wir uns befinden. Sie konstatiert, dass solange wir

von dieser Person abhängig sind oder meinen, es zu sein, wir sie hassen

müssen. 182

„Der Haß ist ein sehr starkes, vitales Gefühl, ein Zeichen unserer Lebendigkeit. Daher

zahlen wir einen Preis, wenn wir ihn zu unterdrücken versuchen. Denn der Haß will uns

etwas mitteilen, vor allem über unsere Verletzungen, aber auch etwas über uns, über

unsere Werte, unsere Art der Sensibilität, und wir müssen lernen, darauf zu hören und

den Sinn der Botschaft zu verstehen. Wenn uns dies gelingt, brauchen wir den Haß nicht

zu fürchten. Wenn wir zum Beispiel Scheinheiligkeit, Heuchelei und Lügen hassen, geben

wir uns das Recht, dagegen zu kämpfen, wo es uns möglich ist, oder uns Menschen zu

entziehen, die nur der Lüge vertrauen. Wenn wir aber so tun, als würde uns das nichts

ausmachen, verraten wir uns selbst.“183

Hierzu beschreibt Gruen das zuverlässige, auf einer inneren Kohärenz

basierende Ich: „ Es speist sich aus der Fähigkeit, empathisch wahrzunehmen

und eine Würde zu bewahren, die nicht auf der Verleugnung, sondern auf der

bewußten Perzeption von Leid und eigenem Schmerz aufbaut.“184

Hans-Jürgen erhält sich hier also eine Verbindung zu seinem Selbst, indem er

seine wahren Gefühle, den Schmerz und Haß infolge der Verletzungen

wahrnimmt. Wesentlich für seine Fähigkeit, sich seiner wahren Gefühle bewußt

zu sein ist m.E. die Präsenz von „helfenden Zeugen“.

In Hans-Jürgens Fall waren sie vor allem in der Person seiner Mutter und seines

Großvaters vorhanden. Von Klein an hat er ihre Liebe und Fürsorge erfahren,

und dieses Erlebnis mag stabilisierend und Sicherheit spendend gewirkt haben.

Denn auch wenn seinen Aussagen zufolge sein Alltag mit der Mutter vom

Schweigen über Gefühle geprägt war, so erfuhr er doch in sehr vielen Fällen ihre

Hilfe und Zuwendung. Die Zeugen, zu denen auch LehrerInnen zählten,

181 Vgl. Preuschoff, G. S.14182 Miller 2007, S.63183 Miller 2007, S. 64184 Gruen 2003, S.29

Page 67: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

vermittelten ihm zudem das Gefühl, trotz der erlebten Rassifizierung und

Ausschlusserfahrungen nicht allein zu sein.

Neben den erwähnten Bezugspersonen wirkte seine Klassenlehrerin Frau Beyle

als „helfende Zeugin“. Ihre Unterstützung wird in einer Szene deutlich, in der

Wriede Hans-Jürgen erneut zu schikanieren versucht, indem er ihm die

Hauptrolle in einem Theaterstück entzieht. An seiner statt soll ein „arisch“

aussehender Junge die Erstbesetzung übernehmen. Frau Beyle überbringt ihm

die Nachricht.

„<Ich weiß gar nicht, wie ich es dir sagen soll>, brachte sie schließlich schweren Herzens

hervor, <aber Herr Wriede möchte, daß ich Gerd (meine blonde, blauäugige

Zweitbesetzung) die Hauptrolle gebe. Er meint, Gerd wäre besser geeignet.>

<Woher will er denn wissen, daß Gerd besser geeignet ist? Er hat ihn doch gar nicht

spielen gesehen>, gab ich zu bedenken.

<Ich bin auch nicht seiner Meinung, sonst hätte ich dir die Rolle nicht gegeben>,

erwiderte Fräulein Beyle, <aber ich kann nichts machen. Herr Wriede ist der Schulleiter,

und ich muß seine Anweisungen befolgen.>“185

Frau Beyle tritt ihm hier mit Mitgefühl und einem Unverständnis Wriedes

Entscheidung gegenüber entgegen. Zudem erfährt er Zuspruch und Trost seitens

seiner Mutter, Tante Möller und deren Freundinnen.

„Als ich meiner Mutter erzählte, was geschehen war, wurde sie fuchsteufelswild, aber sie

redete mir trotzdem gut zu, ich sollte mir Wriedes Quälereien nicht zu Herzen nehmen

und meine Abneigung gegen ihn nicht auf die ganze Schule übertragen.

<Die Schule ist eine wunderbare Einrichtung, und die meisten Lehrerinnen und Lehrer

sind anständige Menschen, wie Fräulein Beyle>, versicherte sie mir. <Glaub mir, früher

oder später wird Wriede seine gerechte Strafe bekommen.> [...] Tante Möller nahm kein

Blatt vor den Mund und meinte, wenn ihr kleiner Hans-Jürgen nicht in dem Stück

mitspielen dürfe, sollten die doch die dreißig Pfennig behalten und <sie sich in ihren

Nazihintern stecken>. “ 186

Unter Umständen ermöglichte ihm eben die unterstützende Erfahrung der

„helfenden Zeugen“ und die Tatsache, dass seinen Aussagen zu Folge die

meisten LehrerInnen ihn die achtjährige Schulzeit über wie jeden anderen

185 Massaquoi, S.80186 Massaquoi, S. 80

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Schüler behandelten, die im folgenden Auszug beschriebene widerständige

Reaktion auf Wriedes anhaltende Erniedrigungen.

„Bald darauf nahm mich Wriede erneut aufs Korn. Er hielt mich im Flur an und zeigte vor

den Augen einiger meiner Klassenkameraden auf mein Hemd. <Ich verbiete dir, das

Hemd in der Schule zu tragen>, schnauzte er mich ohne jede weitere Erklärung an. Das

Khakifarbene Hemd [...] hatte Ähnlichkeit mit den Hemden der Hitlerjugend, und der

Schulleiter wähnte wohl, daß ich ein Kleidungsstück einer NS-Uniform trug.

Als meine Mutter Wriede am nächsten Tag in seinem Büro aufsuchte, um ihn auf diesen

Vorfall anzusprechen, ging er sogleich zum Angriff über. [...] <Ich habe zu ihm gesagt>,

erzählte sie mir später, <solange es Unbefugten nicht ausdrücklich per Gesetz verboten

ist, khakifarbene Hemden zu tragen, würdest Du das Hemd anziehen, sooft du willst, ob

ihm das nun paßt oder nicht.> Sie überließ mir die Entscheidung, ob ich das Hemd noch

einmal zur Schule anziehe wollte. Da ich wußte, daß es Wriede auf die Palme brachte,

wenn er mich in dem Hemd sah, trug ich es oft – so oft, daß es binnen einiger Monate

vom vielen Waschen verblaßt und so verschlissen war, daß meine Mutter es schließlich

wegtat.

So sehr Wriede versuchte, mich zu zermürben, er erreichte nur das Gegenteil. Je mehr er

mich piesackte, desto härter wurde ich im Nehmen, bis er mir schließlich mit seinen

Schikanen gar nichts mehr anhaben konnte.“187

Die rassistischen Konfrontationen mit nationalsozialistischen LehrerInnen lösen

sich seinen Beschreibungen zu Folge nicht immer mit Gefühlen der Wut oder

einem widerständigen Verhalten seinerseits auf. Auch sind nicht immer „helfende

Zeugen“ zugegen.

In zwei weiteren Begegnungen mit nationalsozialistischen Lehrern wird dies

offensichtlich. Neben den Schikanen durch Schulleiters Wriede hatte er auch

unter den rassistischen Erniedrigungen durch den bekennenden

Nationalsozialisten und Volkskundelehrer Dutke zu leiden. Dieser nutze den

Aussagen des Autors zufolge seinen Unterricht, um seine Feindseligkeit

gegenüber „Nicht-Ariern“ mit Aussagen wie „Laß dieses [n...]hafte Grinsen [...]“188

und „[N...] haben im nationalsozialistischen Deutschland keinen Grund zu grinsen

[...] " 189 Ausdruck zu verleihen.

187 Ebenda, S. 81188 Ebenda, S. 114189 Ebenda, S.114

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Im Sinne und zum Zwecke der nationalsozialistischen Ideologie lehrte er die

vermeintliche Minderwertigkeit „nichtarischen“ Blutes hinsichtlich intellektueller

Fähigkeiten und körperlicher Merkmale. 190

„<Es gibt viele Arten der rassischen Minderwertigkeit>, argumentierte er. <Ich

würde mich nicht wundern, wenn euer Klassenkamerad eines Tages zum

asozialen Subjekt wird, beispielsweise ein Krimineller oder Alkoholiker.>.“ 191

Letztlich mündeten Dutkes Hasstiraden in einer Drohung gegen Hans-Jürgen.

„<Eins kann ich dir sagen, junger Mann. Dir wird das Lachen noch vergehen.

Wenn wir mit den Juden fertig sind, bist Du und deines gleichen nämlich als

nächstes dran. Heil Hitler.>.“ 192

Hans-Jürgen erwog seiner Mutter nichts von dem Vorfall zu erzählen. „Was hätte

es auch genützt? Meine Mutter hätte sich nur auf eine Auseinandersetzung

eingelassen, die sie unmöglich gewinnen konnte.“193

Auch hier kommt das in Kapitel 3.1 erwähnte Schweigen zum Schutz der Mutter

und seiner eigenen Person zum Vorschein. Denn Hans-Jürgen erkennt, dass er

Dutkes Anfeindungen hilflos ausgeliefert ist. Situationen, in denen er eine

Handlungsmacht erlangt, wechseln sich mit Momenten der Handlungsunfähigkeit

ab. Diese Dynamik bestimmt Hans-Jürgens Alltag im nationalsozialistischen

Kollektiv während seiner Schulzeit.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass seine ÜberLebensstrategie

geprägt war von einem Wandel von der Suche nach Anerkennung durch

rassifizierende Aggressoren wie Schulleiter Wriede hin zu Gefühlen der Wut als

Ausdruck von Widerstand und Handlungsmacht. Die Präsenz von „helfenden

Zeugen“ wirkte dabei unterstützend. Gleichzeitig war seine Reaktion auf erlittene

rassistische Anfeindungen geprägt von Schweigen und einer

Handlungsunfähigkeit angesichts der oft ohnmächtigen Position als

afrodeutsches Kind.

190 Vgl. Massaquoi, S. 115191 Massaquoi, S.115; Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde behauptet, dass die „Vermischung der Rassen“ zu schwankenden Charakteren und zur Charakterlosigkeit führe.

(Vgl.El-Tayeb S. 52)192 Massaquoi, S. 115193 Massaquoi, S.115

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3.4. Hans-Jürgen im nationalsozialistischen Kollektiv: Zwischen

Integration, Ausgrenzung und Ausschluss

Anhand beispielhafter Auszüge aus Massaquois Biografie lassen sich im

Folgenden seine ÜberLebensstrategien im nationalsozialistischen Kollektiv und

in der Interaktion mit weißen Kindern auf dem Hintergrund der fortschreitenden

Nazifizierung der Gesellschaft analysieren.

3.4.1. Hans-Jürgens Überlebensstrategien mit weißen Kindern

Hans-Jürgens Kontakt und seine Beziehung zu weißen Kindern waren nach der

Abreise der liberianischen Familie und dem Umzug in das ArbeiterInnenviertel

Barmbeck von für ihn traumatischen Erfahrungen geprägt.

„Plötzlich war ich gezwungen, sie [die ‚rassischen‘ Merkmale, Anm. der Verfasserin] als

nachteilig anzusehen, denn mir fiel die gänzlich andere Umgangsweise der Menschen

mit mir auf. Statt der freundlichen Blicke und schmeichelhaften Komplimente, die ich

gewohnt war, erntete ich nun neugierige, mitunter sogar feindselige Blicke und

Beleidigungen. Die Kinder auf der Straße waren meine schlimmsten Widersacher. Kaum

hatten sie mich erblickt, sangen sie auch schon: <Neger, Neger, Schornsteinfeger!> und

das mit sadistischer Ausdauer so lange, bis ich außer Sichtweite war.“194

Mit der Zeit gewöhnten sich die Kinder an ihn und schienen, der Aussage des

Autors zufolge, den optischen Unterschied zu vergessen. Es bildeten sich

intensive Freundschaften zu einigen seiner ehemals größten Peiniger.

Zu Beginn der Schulzeit ergriff ihn erneut das Gefühl der Angst vor neuen

Begegnungen.

„Die Aussicht, nicht mehr nur ein <Kind > zu sein, sondern ein <Schulkind >, machte

mich so stolz, als hätte ich etwas Großartiges vollbracht. Andererseits machte es mir

194 Massaquoi, S.32

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angst, meine vertraute Umgebung zu verlassen und eine neue und – meinem Empfinden

nach – vielfach feindliche Welt zu betreten.“195

Und

„Meine größere Sorge, die ich wohlweislich für mich behielt, war, daß ich Hunderten von

fremden Kindern begegnen und mit Sicherheit wegen meiner Hautfarbe verspottet und

ausgelacht würde.“196

Durch seinen Stolz, ein Schulkind zu sein zeigt er seine Verbundenheit zu den

Geschehnissen um ihn herum und sieht sich als Handelnder. Gleichzeitig drückt

er aus, dass er sich der „feindlichen Welt“ ausgeliefert fühlt, und bezeugt sein

Wissen um Rassismus mit der Aussage, dass er mit Sicherheit verspottet wird.

Hier wird seine ambivalente Situation ersichtlich, in der er sich einesteils als

handlungsmächtig erlebt, und anderenteils sich ohnmächtig den Geschehnissen

ausgeliefert sieht. Seine Strategie, mit der Ohnmacht und seiner Angst vor

Diskriminierung umzugehen, äußert er folgendermaßen:

„Ganz offensichtlich hegte wenigstens einer meiner neuen Schulkameraden ähnliche

Gedanken. Er schrie aus vollem Halse, daß er auf keinen Fall in diese Schule gehe, egal,

was seine Mutter oder sonst wer sagen würde. Obwohl ich genau wußte, wie ihm zumute

war, war ich fest entschlossen, nicht so eine Szene zu machen und unnötige

Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.“197

Die Blicke und die Aufmerksamkeit nicht auf sich zu lenken, und sich möglichst

anzupassen, wurde zu seiner Überlebensstrategie, die ihn in eine

handlungsmächtigere Position erhob. Dabei stand er als sichtbar „Anderer“ unter

einem enormen Anpassungsdruck.

Seine Klassenlehrerin Frau Beyle, die oft als „helfende Zeugin“ fungierte,

verschaffte ihm zwar einen Raum, in dem er während ihrer Anwesenheit ihre

Unterstützung fand, konnte ihm jedoch anfangs nicht bei rassistischen

Erfahrungen auf dem Schulhof beistehen.

„Doch kaum hatte ich den Schulhof betreten, als ein Junge mit rotblondem Haar und

einem groben, häßlichen Gesicht, der fast einen Kopf größer war als ich, nur einen Blick

195 Massaquoi, S.196 Ebenda, S.48197 Ebenda, S. 49

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auf mich warf und sofort laut brüllte: <Neger, Neger, Schornsteinfeger! > Gleich darauf

stimmten andere Kinder mit ein, und Sekunden später war die Aufmerksamkeit der

gesamten Schule auf mich gerichtet. Mit einem Mal wurde dieser abscheuliche

Sprechchor zum Schlachtruf von Hunderten von Jungen. Der ganze Schulhof um mich

herum schallte ohrenbetäubend davon wider.“198

Um sich vor seinen Peinigern zu schützen suchte er vergeblich nach einem

Fluchtweg.

„Als ich die Ausweglosigkeit meiner Lage erkannte, wäre ich fast in Tränen

ausgebrochen. Doch meine Verzweiflung und Scham schlugen in blinde Wut um, als der

große, häßliche Junge, der den Aufruhr initiiert hatte, vortrat und mir spöttisch übers Haar

strich. <Wieso wächst Negern eigentlich Schafwolle auf dem Kopf? > fragte er mich zum

Vergnügen aller Umstehenden. Ehe ich mir über meine Reaktion überhaupt im Klaren

war, hatte ich mit dem rechten Bein weit ausgeholt und meinem Peiniger mit voller Wucht

gegen das nackte Schienbein getreten. [...] Wie vom Blitz getroffen, brach er schreiend

zusammen. [...] ... dieselben Jungen, die mich eben noch verspottet hatten, richteten ihr

höhnisches Gejohle nun auf meinen besiegten Herausforderer, der sich noch immer vor

Schmerzen auf der Erde wand.“

Erneut wird anhand Massaquois Schilderung ersichtlich, dass er sich als Kind

aus einer für ihn ausweglosen Situation mit Hilfe seiner Wut in eine

handlungsmächtige Position rettete. Wut als Kraft, für sich selbst einzustehen, ist

eine Ressource, die sich m.E. wesentlich aus der Verbundenheit zwischen seiner

Mutter und ihm entwickelte, und gleichfalls durch das frühkindliche Erleben des

Schwarzen Kollektivs in der liberianischen Familie, und hier speziell durch die

enge Beziehung zum Großvater, gespeist wurde.

Die im obigen Zitat beschriebene Reaktion auf den Aggressor wandte den Focus

weg von Hans-Jürgen und hin zu seinem Angreifer, wobei die Kinder den

Ausführungen des Autors zufolge offensichtlich keine übermäßige Sympathie mit

dem weißen Jungen verband. Denn an anderer Stelle erwähnt Massaquoi, dass

schon wenige Tage später alle außer ihm und seinem Angreifer den Vorfall zu

vergessen haben schienen.199 Dies mag einerseits an der Tatsache liegen, dass

Frau Beyle auf den Vorfall hin einen älteren weißen Jungen zu seinem

Beschützer während der Pausen erkoren hat. 198 Massaquoi, S. 51199 Vgl. Massaquoi, S.53

Page 74: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

Ebenso ist denkbar, dass seine Reaktion den Erwartungen seiner peer group

entsprach, so dass ihm seine mutige und prompte Verteidigung Respekt und

Anerkennung verschafft hat. Denn in peer groups der Jungen, die sich zur

inhaltlichen Ausgestaltung von Männlichkeit schon im Alter von drei Jahren

bilden, wird vielfach um Status und Dominanz in der Gruppe gekämpft.200

Dabei schreibt Kaufmann der ArbeiterInnenklasse die Aneignung von

Männlichkeit in Form eines „ Arbeiterklasse - Machismo“ zu.

„Für ihn [Arbeiterjungen, Anmerkung der Verfasserin] ist männliche Macht oft in der Form

des Arbeiterklasse - Machismo definiert. Die Macht zu herrschen wird in direkter

körperlicher Form ausgedrückt. Beherrschung der Produktionsfaktoren oder einer

anderen Person wird durch Muskelkraft und schieres Draufgängertum erreicht.“201

In der Präsenz von „helfenden Zeugen“ wie Frau Beyle, dem Umstand, dass ein

weißer Junge als Hans-Jürgens Beschützer fungierte und der Tatsache, dass

seiner peer group die Orientierung an Männlichkeitsidealen wichtiger war als der

Faktor race, lässt sich erkennen, dass der rassistische Raum, in dem Hans-

Jürgen aufwächst, nicht hermetisch verriegelt ist sondern sich in ihm

Möglichkeiten von Widerstand und Bündnissen ergeben haben.

Unterstützt wird diese These durch Massaquois Zusammenfassung seiner

folgenden Schuljahre.

„Im Gegensatz zu meinen anfänglichen Befürchtungen mochte ich die Schule schließlich,

nein, ich liebte sie geradezu, und die Schule schien mich zu mögen. Ich verstand mich

gut mit meinen Mitschülern, von denen einige meine besten Freunde wurden.

Gleichzeitig stellte ich fest, daß mir mein neu erworbenes Wissen Respekt und Ansehen

verschaffte, was ich sehr zu schätzen wußte.“202

3.4.2. Hans-Jürgen zwischen Integration und Ausgrenzung

Zwei Auszüge aus Hans-Jürgen Lebenssituation, die Begegnung mit dem

Nationalsozialisten Morell und Hans-Jürgens Ausschluss aus der Hitlerjugend

200 Vgl. Bilden, S.287201 Kaufmann, S. 152202 Massaquoi, S. 53

Page 75: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

(HJ), veranschaulichen beispielhaft die paradoxe Situation seiner erfahrenen

Integration und seiner Ausgrenzung aus dem nationalsozialistischen Kollektiv.

Wilhelm Morell, ein Mann aus Hans-Jürgens Nachbarschaft und Vater eines

seiner besten Freunde, stieg mit seinem Beitritt zur NSDAP vom einfachen

Schlosser zur angesehenen Respektperson seines Viertels auf. Pflichtgetreu

übernahm er wichtige Aufgaben im Viertel und „[...] betrachtete sich als die

Augen und Ohren seiner Partei [...].“203

Massaquoi selbst attestiert ihm eine „eigenartige Schizophrenie“204, denn trotz

seiner Parteitreue war er Hans-Jürgen gegenüber absolut „farbenblind“.

„Als Karls engster Freund wurde ich fast wie ein Mitglied der Familie behandelt. Zum

Kummer meiner Mutter war ich bei dem größten Nazi unseres Viertels – sozusagen in der

Höhle des Löwen – praktisch wie zu Hause. Aber da sie Karl mochte und unserer

Freundschaft nicht im Wege stehen wollte, sagte sie nichts und hoffte das Beste.“205

Der Autor beschreibt hier die paradoxe Situation seines Einschlusses in eine

parteitreue nationalsozialistische Familie, die ihre unvoreingenommene Haltung

dem afrodeutschen Kind gegenüber in der Öffentlichkeit vertritt, wie aus dem

weiter unten folgenden Auszug seiner Biografie ersichtlich wird. Gleichzeitig

beschreibt Massaquoi seine Mutter als eine den Nationalsozialisten kritisch

gegenüberstehende Person, die dennoch aus Liebe zu ihrem Kind den Sohn

eines Nationalsozialisten in ihrem Kreis einschließt. Hier werden somit folgende

Bewegungen deutlich: Hans-Jürgens Integration in eine nationalsozialistische

Gemeinschaft trotz seines Ausschlusses auf gesellschaftlicher Ebene, und die

Integration seines nationalsozialistischen Freundes in Hans-Jürgens Familie,

obwohl die Mutter die Nationalsozialisten aus ihrem privaten Kreis ausgrenzt. Es

ist wahrscheinlich dass sie seinen engen Kontakten und seinem

Verbundenheitsgefühl zu den Nazis mit ambivalenten Gefühlen gegenüberstand,

da sie um die Rassifizierung ihres Sohnes und um die Bedrohung seiner Person

durch die nationalsozialistische politische Praxis wußte.206

203 Massaquoi, S. 113204 Massaquoi, S. 113205 Massaquoi, S. 114206 Vgl. Kapitel 3.1

Page 76: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

Bedeutung erlangt daher Morells Einladung zu einer gemeinsamen Reise zu den

von den Nazis stark propagierten Olympischen Spielen 1936 in Berlin. Neben

seinem Sohn Karl und Hans-Jürgen wurde er von acht weiteren Jungen aus der

Nachbarschaft begleitet.

„Herr Morell erinnerte uns daran, daß wir die gleiche Berliner Luft atmeten wie unser

geliebter Führer, und schon allein bei dem Gedanken bekam ich eine Gänsehaut, die ich

noch bis zum Einschlafen spürte.“207

Signifikant ist hier neben dem Umstand, dass das afrodeutsche Kind in die

Gruppe der weißen „Arier“ integriert wurde, dass der zehnjährige Hans-Jürgen

sich von Hitler verzaubert fühlte. Schon als siebenjährige waren er und seine

Klassenkameraden „stolz auf eine neue allmächtige, mutige Vaterfigur, die sich

nicht von Deutschlands Gegnern einschüchtern ließ.“208 Wie im Kapitel 3.3.1

erwähnt übten die Nazis bereits 1933 eine große Faszination auf ihn aus, da sie

mit ihrer preußisch anmutenden Erscheinung in Uniform und mit Marschkapelle

seine „erwachende Männlichkeit“ ansprachen.209

Man kann hier vermuten, daß die Anknüpfung an die mächtigen Nazis und die

Identifikation mit ihnen ihm die Möglichkeit bietet, eine Ermächtigung seiner

eigenen, marginalen Position zu imaginieren. Denn je ungeschützter ein

Individuum ist, umso mehr kann es sich von der Macht angezogen fühlen, um

Schutz zu finden. Je näher und verbundener sich Hans-Jürgen den Mächtigen

fühlte, desto größer konnte sein Gefühl des Schutzes sein. Diese Erfahrung der

Ermächtigung seiner Person machte Hans-Jürgen bereits mit der erfolgreichen

Anknüpfung an den mächtigen, statushohen Großvater in seiner frühen Kindheit.

Somit knüpft er hier an bekannte und bewährte Muster an.

Gleichzeitig muss er aber einen Akt der Verleugnung vollbringen, um das Gefühl

der Ermächtigung aufrechterhalten zu können. Die Tatsache, dass er als

Afrodeutscher strukturellem und Alltagsrassismus durch eben diese idealisierten

und mächtigen Nazis ausgesetzt ist, muss verleugnet, und der strukturell

vorhandene Rassismus auf Einzelpersonen wie z.B. Schulleiter Wriede oder

Lehrer Dutke reduziert werden.

207 Massaquoi, S. 121208 Massaquoi, S. 58209 Vgl. Massaquoi, S. 57

Page 77: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

Hans-Jürgen vollbringt hier als eine wesentliche Überlebensstrategie eine

Anpassungsleistung, indem er Hitler als Idol verinnerlicht und zur gleichen Zeit

die rassistische Nazi-Ideologie verleugnet. Durch die unvoreingenommene

Haltung vieler LehrerInnen, seiner peer group und Personen seines Umfeldes

wie dem Nationalsozialisten Morell wird ihm diese ÜberLebensstrategie

erleichtert. Gleichzeitig begibt er sich in eine Abhängigkeit vom imaginierten

Schutz und der Integration durch die Nazis, was ihn noch zusätzlich an der

Wahrnehmung seiner reellen Situation hindert.

„Erst als ich in Teenageralter kam, erkannte ich allmählich die Wahrheit über Hitler und

seine Handlanger. Bis dahin gab ich mir die Schuld an den Problemen, mit denen ich zu

kämpfen hatte.“210

Mit dem Gefühl der Schuld ist das Gefühl der Verantwortung für seine Situation

verbunden. Die Verantwortung für eine Situation zu haben bedeutet für ihn,

Handlungsmacht bzw. die Illusion einer Kontrolle über das Geschehene zu

besitzen. Hier deutet der afrodeutsche Junge die rassistischen Erfahrungen um;

er ist kein Opfer rassistischer Handlungen. Diese Umdeutung ist als eine

wesentliche Überlebensstrategie des Hans-Jürgen mit einer Realitäts-

verleugnung211 verbunden. Diese bezieht sich bei ihm auf die Illusion einer

gelebten Verbundenheit mit den Nazis, in welcher er sich als Teil des

nationalsozialistischen Kollektivs erleben kann, ohne sich der rassistischen

Ideologie seiner Vorbilder bewußt sein zu müssen. Dieser Zustand wurde

sicherlich durch die folgenden Umstände gestützt: Zum einen erfuhr Hans-

Jürgen, wie weiter oben beschrieben, partielle Integration im Nazi Kollektiv. Zum

anderen behandelten ihn seinen Aussagen zufolge die meisten LehrerInnen wie

jeden anderen Schüler. Weiter wurde er von seinen Freunden und

Klassenkameraden integriert und erfuhr Anerkennung. Schließlich erlebte er

sowohl in der Schule als auch im familiären Umkreis „helfende Zeugen“, hier vor

allem in der Person der Mutter und des Großvaters, der ihn in seinem

210 Massaquoi, S. 99211Gemeint ist hier der Teil der gesellschaftlichen Realität, der Afrodeutsche und Schwarze Menschen ausschließt und rassistisch diskriminiert und verfolgt.

Page 78: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

Deutschsein durch die Bewunderung und Hervorhebung seiner Sprachfähigkeit

aufwertete und bestätigte.

Für die „helfenden Zeugen“ ergibt sich hinsichtlich Hans-Jürgens

ÜberLebensstrategie innerhalb der Dynamik zwischen Integration und

Ausgrenzung eine ambivalente Funktion. „Helfende Zeugen“ dienen ihm

einerseits unterstützend, helfen ihm aber andererseits in der Verleugnung zu

bleiben, indem durch ihre Intervention rassistische und traumatisierende

Situationen minimiert bzw. umgedeutet werden.

Die Verbundenheit zu den Mächtigen ist zudem als Kompensation für den

Mangel eines erfahrungsbezogenen Referenzraumes erklärbar.212 Al-Samarai

konstatiert, dass solch ein Raum dem afrodeutschen Kind eine Möglichkeit bieten

würde, seine Gefühle der Wut, Angst und Ohnmacht in dem Bewußtsein zu

äußern, dass seine Wahrnehmung nicht relativiert oder entwertet wird, indem auf

die Dummheit oder Ignoranz vermeintlich bornierter Menschen verwiesen und

damit die strukturelle Komponente des Rassismus unterwandert wird.

In Hans-Jürgens Biografie ist solch ein Referenzraum in seinem ausschließlich

weißen Umfeld nicht erkennbar, da niemand die gleichen Erfahrungen der

Rassifizierung mit ihm teilt. Hier erlangt die fehlende Schwarze Vaterfigur in

seinem Leben erneut an Bedeutung.213

3.4.3. Hans-Jürgens Ausschluss aus der Hitler-Jugend

Auf dem Hintergrund der oben beschriebenen ÜberLebensstrategie einer

Anpassung durch die Verbundenheit mit den Nazis auf Kosten einer

Realitätsverleugnung kommt seinem Ausschluss aus der HJ eine fundamentale

Bedeutung zu.

Wie alle Schulen in Deutschland wurde auch die Käthnerkampschule nach der

Machtergreifung Hitlers 1933 angewiesen, ihre SchülerInnen für die Hitlerjugend

zu begeistern. Als außerschulische Erziehungseinrichtung war die HJ neben dem

Landjahr und dem Reichsarbeitsdienst das wichtigste Instrumentarium

212 Vgl. Lauré al-Samarai 2004, S. 200213 Vgl. Kapitel 2.7

Page 79: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

nationalsozialistischer Erziehungspolitik.214 So zählten Ende 1933 bereits 47%

der deutschen Jungen zum „Jungvolk“, einer HJ- Abteilung für 10 bis 14-jährige

Jungen, und 15% zum „Jungmädel-Bund“. 215 Der Autor konstatiert, dass sich

seine Schule energisch an der Indoktrinierung ihrer SchülerInnen und der

Rekrutierung von Nachwuchs für das Jungvolk einsetzte. 216 1936, im selben

Jahr, in dem Hans-Jürgen Klassenkameraden rekrutiert wurden, verabschiedete

die Regierung das „Gesetz über die Hitlerjugend“ mit der Aufgabe, die gesamte

deutsche Jugend in der HJ zusammen zu fassen.217 Dementsprechend groß war

die Propaganda, die zum Eintritt in die Organisation drängte.

„Es verging kaum ein Tag, an dem wir nicht daran erinnert wurden, daß das Leben

außerhalb der <Bewegung > für einen deutschen Jungen im Grunde nicht lebenswert

sei. Wriede verfolgte sein Ziel wie üblich mit gnadenlosem Fanatismus und ließ sich

immer wieder neue Strategien einfallen. Eines Tages gab er bekannt, daß die Klasse, die

als erste geschlossen dem Jungvolk beitrete, mit einem schulfreien Tag belohnt würde.

Unser neuer Klassenlehrer, Herr Schürmann, entwickelte den Ehrgeiz, diese Lorbeeren

für unsere Klasse und natürlich auch für sich zu ernten.“218

Massaquoi bemerkt, dass ihn die täglich stattfindenden Rekrutierungs-

bemühungen seines Lehrers anfangs nicht interessierten, da er nicht vorhatte,

ins Jungvolk einzutreten und zudem einige seiner Klassenkameraden und

Freunde „klipp und klar geäußert hatten, daß sie die HJ langweilig fanden und ihr

niemals beitreten würden, ganz gleich, wie sehr Wriede oder Schürmann sich ins

Zeug legten.“219 Nachdem sich jedoch letztlich die meisten Schüler seiner Klasse

überzeugen ließen, und Herr Schürmann eines Tages die Zusage der letzten

Zögerer erzwang, erfuhr Hans-Jürgen, dass er vom Jungvolk ausgeschlossen

war.

„Ich war wie vom Donner gerührt. Ausgeschlossen? Wieso? Ich hatte ihm sagen wollen,

daß ich mich noch nicht endgültig entschieden hatte. Und jetzt erfuhr ich, daß ich, selbst

214 Keim, S. 123215 Peukert, S. 5216 Massaquoi, S. 107217 Keim, S. 134218 Massaquoi, S. 107f.219 Massaquoi, S. 108; Die HJ bot vielen Jugendlichen positive Alltagserfahrungen von Gruppen-kameradschaft und Freizeitleben, stand aber auch für Intoleranz, Drill und Verhetzung. Dies mag für Hans-Jürgen und seine Freunde ein Grund gewesen sein, der HJ nicht beitreten zu wollen.

Page 80: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

wenn ich wollte, nicht beitreten durfte. [...] Bis zum Pausenklingeln war ich in einer Art

Schockzustand und außerstande, dem Unterricht zu folgen. Ich fühlte mich von meinen

Freunden im Stich gelassen, und die Vorstellung irgendwann der einzige in der Klasse zu

sein, der nicht im Jungvolk war, jagte mir Angst ein. Mit meinen zehn Jahren konnte ich

es nicht ertragen, nicht dazuzugehören und wie ein Ausgestoßener behandelt zu werden.

“220

Der Ausschluss aus der HJ ist gleichbedeutend mit seiner Ausgrenzung aus der

Gemeinschaft der deutschen Jugendlichen, zu denen er sich zugehörig fühlte.

Denn das Leben und Wirken in der Hitlerjugend wurde stark propagiert und

vermittelte den Anschein, dass „das Leben außerhalb der <Bewegung> für einen

deutschen Jungen im Grunde nicht lebenswert sei.“221 In dem obigen Zitat wird

anhand der Beschreibung seines Schockzustands sichtbar, wie traumatisch der

Ausschluss für ihn war.

Auf Herrn Schürmanns Erklärung, er sei aufgrund seines Status als „Nicht-Arier“

aus der HJ ausgeschlossen, beteuert Hans-Jürgen:

„<Aber ich bin doch Deutscher>, schluchzte ich unter Tränen. <Meine Mutter sagt, daß

ich Deutscher bin, so wie alle anderen.>

<Du bist ein deutscher Junge>, räumte Herr Schürmann mitfühlend ein, <aber leider nicht

wie alle anderen. Es tut mir leid, mein Junge, ich wünschte, ich könnte dir helfen, aber

das geht leider nicht. Die Gesetze sind nun mal so.> “222

Das afrodeutsche Kind bleibt irritiert zurück. Ungeachtet dessen er auf sein

„Anderssein“, auf seine Position als „Nicht-Arier“ verwiesen wird, fasst er den

Entschluß, mit seiner Mutter zum nächsten HJ-Heim zu gehen, um in die

Organisation einzutreten. Die Ausgrenzung erschien ihm so unbegreiflich, sodass

er die Annahme hegte, die Organisation würde für ihn eine Ausnahme machen

und ihn integrieren.223 Dieser Umstand lässt sich auf der Grundlage der oben

beschriebenen Integrationserfahrungen und aufgrund seiner Realitäts-

220 Massaquoi, S. 108f.221 Ebenda, S.107222 Ebenda, S. 109223 Vgl. Massaquoi, S. 109; dass es zumindest 1933 Afrodeutsche in der HJ gab, beschreibt Tina Campt in ihrer Dissertation: “Afro-German“: The convergence of race, sexuality and gender in the formation of a german ethnic identity

Page 81: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

verleugnung erklären. Zudem kommt hier die Bedeutung des „Nicht-

dazugehörens“ dazu, die Lwanga zufolge als persönliche Abnormalität und als

persönliches Versagen wahrgenommen werden kann, und somit die Brisanz

einer Existenzfrage annimmt.224

Die Bemühungen der Mutte, die seinem verzweifelten Flehen und Bitten, ihn zum

HJ-Heim zu bringen, nur widerstrebend nachkam, schlugen jedoch fehl. Beide

wurden vom HJ-Führer der Tür verwiesen.

„<Falls sie es noch nicht gemerkt haben, weise ich sie jetzt darauf hin, daß es für ihren

Sohn hier keinen Platz gibt, weder in unserer Organisation noch in dem Deutschland, das

wir gerade aufbauen. Heil Hitler!>“225

Mit dieser Aussage erfuhr er eine erneute Bestätigung seines Ausschlusses und

wurde zudem aus „dem neuen Deutschland“ ausgegrenzt. Damit befand sich der

Afrodeutsche erneut in einer paradoxen Situation, in welcher die Willkür bzw.

persönliche Sympathien oder Antipathien einzelner Personen sein Schicksal

beeinflussten. Denn der HJ-Führer markierte ihn als „Nichtdeutscher“,

wohingegen ihm sein Lehrer seinen Status als „deutscher Junge“ bestätigte. Es

zeigt sich wiederholt, dass weiße Deutsche während der NS-Zeit eine Deutungs-

und Handlungsmacht besaßen, die sie, abhängig von ihrer eigenen Gesinnung

und persönlichen Beziehungen, einsetzen konnten. Dem afrodeutschen Jungen

ließ diese Handlungswillkür aber keine Möglichkeit zur Kontrolle bzw. zur

Orientierung, um seine eigenen Handlungen adäquat anpassen zu können.

„Zwei Tage später war der Moment gekommen, vor dem es mir die ganze Zeit gegraut

hatte. Mit an Verzückung grenzender Freude trug Herr Schürmann die letzten zwei

Namen in die Graphik ein. Dann wischte er mit einem feuchten Schwamm das letzte

leere Quadrat, jenes Quadrat, das mich symbolisierte, von der Tafel und machte so

meinen Status als Unperson überdeutlich. <Herzlichen Glückwunsch, Kinder!>

verkündete Herr Schürmann. <Von heute an sind alle Jungen unserer Klasse Mitglieder

in der HJ. Ich bin stolz auf euch, und ich finde, wir sollten dem Schulleiter die frohe

Kunde bringen. > “ 226

224 Vgl. Lwanga, S.198; vgl. auch Kapitel 2.5225 Massaquoi, S. 110226 Massaquoi, S. 111

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Durch seinen Ausschluss wurde die Existenz einer Verbundenheit mit den Nazis

negiert. Ihm wurde seine Zugehörigkeit zum nationalsozialistischen und zum

Klassenkollektiv abgesprochen. Ungeachtet dessen blieben ihm seine

Freundschaften und sein Status in der peer group erhalten, wiederum ein

weiteres Indiz für den Umstand, dass es im nationalsozialistischen Deutschland

keinen hermetisch abgeriegelten rassistischen Raum gegeben hat, sondern die

Möglichkeit zur Wahl des Umgangs mit rassifizierten Subjekten bestand.

„Obwohl jetzt alle meine Klassenkameraden in der HJ waren, gingen wir weiterhin ganz

normal miteinander um. Wir spielten zusammen und besuchten uns gegenseitig zu

Hause, als wäre nichts geschehen. Nur wenige von ihnen waren wirklich überzeugte

Nazis. Manche waren lediglich in die Hitlerjugend gegangen, um endlich von Schürmann

und Wriede in Ruhe gelassen zu werden. Andere waren von ihren Vätern unter Druck

gesetzt worden, die berufliche Nachteile befürchteten, wenn ihre Söhne nicht in der HJ

waren. Die übrigen waren bloß auf den fahrenden Zug aufgesprungen, um

dazuzugehören, ein Wunsch, den ich nur allzu gut nachfühlen konnte.“227

Trotz der relativ gleich gebliebenen Lebensumstände konnte Hans-Jürgen die bis

hierhin stabilisierend wirkende Realitätsverleugnung nun nicht mehr

aufrechterhalten. Sein bereits vor dem HJ-Ausschluss „an einem beängstigenden

Tiefpunkt“228 angelangtes Selbstwertgefühl dürfte jetzt einen erneuten Schlag

erlebt haben. Denn er blieb in einer für ihn paradoxen und höchst

traumatisierenden Situation zurück, in der er letztendlich handlungsohnmächtig

war.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Hans-Jürgens

Überlebensstrategien im nationalsozialistischen Kollektiv geprägt waren von

einer ambivalenten Situation zwischen Erfahrungen der Integration und des

Ausschlusses. In seinen Bemühungen um Integration knüpfte er an die

mächtigen Nazis an und fühlte sich mit ihnen verbunden, wobei er ihre

rassistische Ideologie verleugnete. Diese Anpassung an seine Lebensumstände

ermöglichte ihm Erfahrungen des Einschlusses in die weiße deutsche

Gemeinschaft und der Ermächtigung seiner Person. Dabei wird sichtbar, dass es

227 Massaquoi, S. 112228 Massaquoi, S. 99

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im nationalsozialistischen Deutschland Räume gab, die nicht hermetisch

verriegelt waren und in denen widerständiges Handeln möglich war. Andererseits

war sein ÜberLeben geprägt von Rassifizierungen, Ausgrenzungserfahrungen

und Momenten der Handlungsohnmacht, wobei besonders der Ausschluss aus

der Hitler-Jugend für ihn irritierend war, da er aus der imaginierten Verbundenheit

zu den Nazis herausgerissen und ihm seine Identität als deutscher Junge

abgesprochen wurde.

3.5.1.Hans-Jürgens Selbstbilder

3.5.1. Hans-Jürgens Selbstbilder während der ersten drei Lebensjahre in

der Gemeinschaft der Schwarzen Familie

Bereits in seiner frühesten Kindheit sah sich Hans-Jürgen als „Mittelpunkt des

Universums“ und hegte die Vermutung, jemand „ganz Besonderes“ zu sein.229

Dieses Selbstbild entwickelte sich nach Aussagen Massaquois infolge seiner

Kontakte zur Außenwelt. Er war damals exotisierenden Zuschreibungen wie

„<Ist der nicht süß?> oder <Wie niedlich>“230 durch fremde Personen ausgesetzt.

Als Grund für die Markierung nannte die Mutter die Bewunderung der Menschen

für seine „[...]<schöne braune Haut und das schwarze Kraushaar>“231. Ab diesem

Zeitpunkt, erinnert sich der Autor, begann der Zwei- oder Dreijährige die

Unterschiede zwischen Schwarzen und Weißen wahrzunehmen.232 Dabei schrieb

er der Schwarzen Hautfarbe und afrikanischem Haar einen höheren Stellenwert

zu, sah sie sogar als Kennzeichen von Überlegenheit, da sein Großvater „[...] – ein

sehr dunkler Mann – die alles beherrschende Figur in meinem Universum war und die meisten

Weißen untergeordnete Rollen spielten, betrachtete ich dunkle Haut und krauses Haar als

229 Vgl. Kapitel 3.2230 Massaquoi, S. 26231 Massaquoi, S. 26232 In ihrer Diplomarbeit zu Rassismus, Ethnizität und Macht beschreibt die Schwarze Pädagogin und Theoretikerin Eggers Studien, in denen festgestellt wurde, dass Schwarze Kinder bereits im Alter von drei Jahren kognitiv in der Lage waren, rassische Unterschiede zu erkennen, zu benennen und richtig einzuordnen.

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Kennzeichen von Überlegenheit. Demzufolge nahm ich die mir zufallende Bewunderung als

selbstverständlich entgegen.“ 233

In diesem Zitat ist neben der Vorbildrolle des Großvaters die Aussage, dass die

meisten Weißen eine untergeordnete Rolle spielten, von großer Bedeutung für

die Entstehung seines Selbstbildes. Denn das Kleinkind orientiert sich hier an der

für ihn dominanten und mächtigsten Gruppe seines persönlichen Umfeldes.

Diese Gruppe bestand zur damaligen Zeit aus der liberianischen Großfamilie, die

neben der hohen Anzahl ihrer Mitglieder zusätzlich über eine machtvolle

gesellschaftliche Position verfügte.234 Zudem war Hans-Jürgens Großvater ein

ehemaliger König. Die Gewissheit, zu solch einer bedeutenden Familie zu

gehören, erfüllte Hans-Jürgen mit Stolz und einem Selbstverständnis für die

Bewunderung seiner Person, wie im obigen Zitat beschrieben, und untermauerte

sein positives Selbstbild als mächtige Schwarze Person.235

„Jeden Sonntagnachmittag ging Momolu mit Arthur, Fritz und mir an der Alster spazieren.

Wir boten ein eindrucksvolles Bild: mein Großvater mit Homburg auf dem Kopf,

pelzbesetztem Ulstermantel und modischen Gamaschen, wir Jungs in Matrosenanzügen

und –mützen, die damals groß in Mode waren. Diese Spaziergänge fanden ihren

krönenden Abschluss stets in einem kleinen, vornehmen Café, wo es köstlich nach

Kakao, frischen Kaffee und Gebäck duftete. Unter den diskret neugierigen Blicken der

anderen Gäste wurde <Sein Exzellenz> mit der kindlichen Entourage beflissen an einen

der besten Tische geführt, wo mein Großvater mir zu meiner großen Freude die Aufgabe

übertrug, die verschiedenen Köstlichkeiten [...] zu bestellen.“236

In diesem Zitat wird außerdem sichtbar, dass der Großvater den Dreijährigen in

der Entwicklung seiner Handlungsmacht und seines Selbstwertgefühls förderte,

indem er ihm die Fähigkeit zusprach, die gewünschten Köstlichkeiten zu

bestellen. Hans-Jürgen knüpfte somit an die Erwachsenenrolle an und nahm

Anteil an der mächtigen Position des Großvaters.

233 Massaquoi, S. 26234 Vgl.Kapitel 3.2235 In ihrer Diplomarbeit verweist Eggers auf Forschungen der Schwarzen britischen Psychologin und Psychotherapeutin Emama-Maximé, die in ihrer Beschreibung der Forschung zum Themenfeld Identität, Selbstbild und Selbstkonzept Ergebnisse zitiert, in denen festgestellt wurde, dass Schwarze Kinder trotz Identitätskonflikten und Krisen häufig ein positives Selbstbild haben.236 Massaquoi, S. 27

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In Hans-Jürgens familialem Erleben verknüpft sich also Schwarzsein mit Macht,

und erwirbt als Zeichen von Überlegenheit eine statushohe Position. Diese

besondere Situation im rassistischen Kontext der 20er Jahre in Deutschland

prägt Hans-Jürgens Selbstbild stark, und beeinflusst seine Verhaltensmuster im

nationalsozialistischen Umfeld.237 Interessant für die Entwicklung seiner

Selbstbilder ist ebenso die Bewunderung seiner guten Deutschkenntnisse,

sowohl durch den Großvater als auch durch andere Schwarze und weiße

Personen.

„Unter den diskret neugierigen Blicken der anderen Gäste wurde <Seine Exzellenz> mit

der kindlichen Entourage beflissen an einen der besten Tische geführt, wo mein

Großvater mir zu meiner großen Freude die Aufgabe übertrug, die verschiedenen

Köstlichkeiten [...] zu bestellen. Die Ehre wurde mir deshalb zuteil, weil weder Arthur noch

Fritz, die zu Hause überwiegend Englisch sprachen, sich mit meinem Deutsch messen

konnten, und nichts schien meinen Großvater mehr zu erfreuen als die verblüfften

Mienen der anderen Gäste, wenn ich meine Aufgabe mit begeistertem Narzissmus

bravourös meisterte.“238

Und

„Manchmal ließ mich Momolu spät abends aus dem Bett holen, damit ich seinen

afrikanischen und deutschen Dinnergästen meine sprachlichen Fähigkeiten vorführen

konnte. [...] Der Lohn war die verwunderte Begeisterung der Erwachsenen, die über mein

akzentfreies Deutsch mit dem unverkennbaren Hamburger Einschlag ganz aus dem

Häuschen gerieten.“239

Deutlich ist hier Hans-Jürgens Stolz auf sein Können erkennbar, und er zeigt,

dass sein Selbstwertgefühl mit der Begeisterung für seine Deutschkenntnisse

wuchs. Seine Position als „Anderer“, die sich sowohl auf die weiße, deutsche

Gesellschaft wie auch auf die liberianische Familie bezieht, da er hier als einziger

afrodeutsch ist und die deutsche Sprache perfekt beherrscht, wird positiv

gelabelt. Denn seine Verbindung zu Deutschland wird anhand seiner

Sprachfähigkeit hervorgehoben und aufgewertet.240 Auch wird ihm die Rolle eines

Vermittlers zwischen der Schwarzen Familie und den Deutschen zugesprochen.

Gleichzeitig ergibt sich für das afrodeutsche Kind, das sich den oben zitierten

237 Vgl. Kapitel 3.3 und 3.4238 Massaquoi, S. 28239 Massaquoi, S. 28240 Vgl. Kapitel 3.2

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Aussagen zufolge nicht als zu der Gruppe der Weißen zugehörig fühlt und für

das die Frage der Nationalität noch keine Rolle spielt, eine Möglichkeit der

Verbindung von Schwarz und deutsch in seiner Person. Hier scheint sich also

eine Verbindung zwischen den Kategorien ‚race‘ und nationale Zugehörigkeit zu

vollziehen, die der Ausweisung Afrodeutscher aus der Gemeinschaft der

Deutschen von Seiten der Hegemonialen entgegenwirkt.241 Bestärkung findet

diese Vermutung in dem Umstand, dass für den Dreijährigen kein Widerspruch

erkennbar wird in der Konnotation Schwarz und Deutsch, und er durch die

Bewunderung seiner Umwelt in seinem Selbstbild und seinem

Zugehörigkeitsgefühl nicht irritiert ist. Dieser Umstand beeinflusst sein Verhalten

und sein Denken im Umgang mit seinem Umfeld.242

Exkurs

Hans-Jürgen wird seine Männlichkeit als Schwarzer Junge im national-

sozialistischen Deutschland m.E. nach nicht durch eine doppelte Negation

vermittelt, wie die Soziologin Hagemann-White annimmt, sondern unter

Miteinbeziehung der Kategorie ‚race‘ durch eine dreifache. Er ist nicht weißer

Nicht-Mann.243 Der afrodeutsche Junge trennt sich von der Mutter und von der

Vorstellung, weiß zu sein. Unterstützt wird er hier durch die positive und gelebte

Identifikationsfigur seines Schwarzen Großvaters.

Somit erlebte Hans-Jürgen zumindest in den ersten drei Jahren nach Aussagen

von Hagemann-White eine positive Aneignung von Männlichkeit, da er sich am

Vorbild einer männlichen Bindungsperson orientiert, die im gleichen Maße wie

die Mutter für ihn zuständig war.244

3.5.2. Hans-Jürgens Selbstbilder im weißen Umfeld

241 Vgl. Kapitel 2.5242 Vgl. Kapitel 3.3 und 3.4243 Vgl.. Kapitel 2.7244 Vgl. Hagemann-White, S. 90 ff.

Page 87: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

Mit dem Umzug in die Stückenstrasse des ArbeiterInnenviertels Barmbeck

änderten sich Hans-Jürgens Lebensumstände. Sein ihn stützender,

stabilisierender und statushoher Lebensraum entfällt. Nun als einziges

Schwarzes Kind im weißen Umfeld, begegnen ihm anfangs Misstrauen und

offener Rassismus. Dementsprechend ändern sich Hans-Jürgens Selbstbilder.

Sein afrikanisches Erbe, auf das er sehr stolz war und das für ihn ein Zeichen

von Überlegenheit symbolisierte, wird hier ausnahmslos zum rassifizierten

Stigma.

„In der wohlhabenden, kosmopolitischen Umgebung, die mir bis dahin vertraut gewesen

war, hatte man schwarze Menschen vom gesellschaftlichen Rang meines Großvaters mit

größtmöglichem Respekt behandelt. Für mich waren daher meine rassischen Merkmale

beneidenswerte Vorzüge gewesen. Plötzlich war ich gezwungen, sie als nachteilig

anzusehen, denn mir fiel die gänzlich andere Umgangsweise der Menschen mit mir auf.

Statt der freundlichen Blicke und schmeichelhaften Komplimente, die ich gewohnt war,

erntete ich neugierige, mitunter sogar feindliche Blicke und Beleidigungen.“245

Und:

„Kaum hatten sie [die Kinder, Anm. der Verfass. ] mich erblickt, sangen sie auch schon <

Neger, Neger, Schornsteinfeger!> und das mit sadistischer Ausdauer so lange, bis ich

außer Sichtweite war. Zum Glück wurden die Blicke und Spöttereien weniger, je mehr

sich die Menschen an meinen exotische Erscheinung gewöhnten.“246

Als Kompensation seines irritierten Selbstbildes mochte ihm seine Identifikation

als Hamburger gedient haben.

„Dank Tante Möller dachte und fühlte ich schließlich wie ein Hamburger, und wenn ich

eines von ihr lernte, dann dass Menschen, die in Hamburg geboren sind und dort leben,

die schönste, aufregendste und reizvollste Heimatstadt auf Gottes Erdenrund ihr eigen

nennen.“247

Der Autor bemerkt, dass sie ihm jedoch mit ihrer sehr strengen Erziehung zur

Disziplin „zu meinem eigenen Nutzen [...] den letzten Rest des Glaubens

[austrieb], ich sei der Mittelpunkt des Universums.“248

245 Massaquoi, S. 31246 Massaquoi, S. 31f.247 Massaquoi, S. 36248 Ebenda, S. 37

Page 88: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

Interessant ist hier sein Gedanke, dass es zu seinem eigenen Nutzen wäre, sich

nicht mehr als Mittelpunkt des Universums zu sehen. Unter den gegebenen, für

Schwarze Menschen traumatisierenden Umständen im Deutschland der 20er

Jahre und ohne dem Schutz der liberianischen Familie ist dies sicherlich

nachvollziehbar, denn seine reale Situation hat sich derart verändert, dass dieses

Selbstbild nicht aufrechterhalten werden konnte, ohne permanenten

traumatischen Erschütterungen ausgesetzt zu sein.

Dass aber in den ersten zwei Vorschuljahren in Barmbeck die rassistischen

Erfahrungen allein für die Entwicklung seiner Selbstbilder nicht ausschlaggebend

waren, zeigt das folgende Beispiel. Denn hier beschreibt der Autor ein positives

Selbstbild des afrodeutschen Jungen in der Gegenwart seiner Mutter bei

Spaziergängen in öffentlichen Parkanlagen Hamburgs.

„Die Blicke, die uns ständig verfolgten, störten mich nicht im geringsten. Schließlich war

ich überzeugt, daß meine Mutter die hübscheste Frau überhaupt war und daß auch ich in

meinem säuberlich gebügelten Anzug und den polierten Schuhen einfach todschick

aussah. Nur wenn ich spürte, daß die Blicke der Gaffer nicht schmeichelhaft gemeint

waren, sondern gehässig und aufdringlich, zum Beispiel wenn jemand auf mich zeigte

und lachte oder das verhaßte Wort Neger benutze, war ich gekränkt und wütend. “249

Die Blicke der Weißen deutete Hans-Jürgen überwiegend positiv, da er bereits

ein entsprechend positives Bild von sich und seiner Mutter entwickelt hatte, und

in seinem Selbstwertgefühl gestärkt war.

Dabei schienen äußere Attribute wie seine „todschicke“ Kleidung und die

Attraktivität der Mutter für seine positive Selbstwahrnehmung eine wesentliche

Rolle zu spielen.

Dies lässt sich ebenfalls bei den beschriebenen Ausflügen mit seinem Großvater

erkennen und auf dem Hintergrund seiner frühesten Prägung als Angehöriger der

Oberschicht erklären. Die hier geäußerte Vermutung wird durch die folgende

Szene in Hagenbecks Tierpark bekräftigt.

Im Tierpark angekommen, besuchten Mutter, Sohn und eine weiße Freundin des

afrodeutschen Kindes das im Kontext der „Völkerschauen“ inszenierte

249 Ebenda, S. 39

Page 89: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

„Afrikanische Dorf “. Die hier zu Schau gestellten Menschen beschreibt der Autor

folgendermaßen:

„Abgesehen von der Hautfarbe und den Haaren hatten die <Afrikaner> keinerlei

Ähnlichkeit mit meinen Verwandten oder mit irgendwelchen andern Afrikanern, die ich im

Hause meines Großvaters kennengelernt hatte. Alle <Dorfbewohner> waren barfuß und

trugen zerrissene Lumpen. Zwei in schäbige Tücher gehüllte Frauen rammten im

gleichmäßigen Rhythmus einen schweren Holzpflock in einen Mörser. [...] Die Männer

saßen in Grüppchen herum und betrachteten aufmerksam die Zuschauer, plauderten in

einer unverständlichen Sprache und pafften an kurzen, primitiv aussehenden Pfeifen.“250

Seinen Beschreibungen zu Folge, von denen ich annehme, dass sie aus der

Sicht des afrodeutschen Kindes geschildert wurden, distanziert er sich von

den anwesenden AfrikanerInnen, indem er äußere Merkmale bzw.

Statussymbole, wie z.B. die Qualität der Kleidung, als

Unterscheidungskriterium wählt. Dabei wird die beschriebene Gruppe der

AfrikanerInnen zu den „Anderen“, denen, die keinerlei Ähnlichkeiten mit

den ihm vertrauten und bekannten Schwarzen Personen haben. Hier ist

vermutlich der gesellschaftliche Status als Kriterium einer erlebten

Zugehörigkeit zu sehen, denn die Verbundenheit zu den AfrikanerInnen

erlebt er auf dieser Ebene, und nicht auf der Ebene der gemeinsamen

Hautfarbe oder Identität als Schwarzer.

Unter dieser Voraussetzung ist es nicht verwunderlich, dass er sich schämte, von

einer afrikanischen Person in der weißen Zuschauermenge entdeckt und

von einem weißen Besucher mit dem Ausruf „<Guck mal!> [...] <Da ist ein

Kind von denen>“251 markiert zu werden.

„Plötzlich geschah genau das, was ich vom ersten Moment an befürchtet hatte. [...] Am

liebsten wäre ich vor Verlegenheit im Erdboden versunken, weil man mich mit einem von

< denen > verwechselte.“252

250 Massaquoi, S. 40251 Massaquoi, S. 41252 Massaquoi, S. 41

Page 90: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

Je nach dem, ob der Kontext, in dem er dem weißen Blick ausgesetzt ist, sein

Selbstbild untermauert oder irritiert, deutet der junge Afrodeutsche diesen positiv

oder negativ.

Während Hans-Jürgens Schulzeit prägte und förderte sein Selbstverständnis und

Selbstbild als Deutscher und als gleichwertiges Mitglied der deutschen Jugend

seine Anteilnahme an gemeinschaftlich gelebter Verehrung Hitlers bzw. der

Nazis, und ermöglichte ihm so das ÜberLeben in seiner peer group und der

deutschen Gesellschaft.253

„Wir Kinder hatten zwar keine Ahnung, wofür die politischen Parteien eigentlich standen,

aber aufgrund dessen, was wir zu Hause, auf der Straße oder in der Schule mitbekamen,

hatten wir schon bald unsere Lieblingsparteien, so, wie man für eine bestimmte

Fußballmannschaft schwärmt. [...] Mit meinen knapp sieben Jahren wurde ausgerechnet

ich zum eifrigen Anhänger der Nazis, und das nur, weil sie ungeheuer was hermachten,

wenn sie mit ihren tollen Uniformen und Marschkapellen zackig im Gleichschritt

aufmarschierten.“254

Dabei schien die Aufmachung der Nazis ein wesentlicher Anziehungspunkt für

ihn zu sein. Diese knüpft an die in der frühen Kindheit erfahrene Bestätigung

seiner positiven Selbstwahrnehmung anhand äußerer, statushoher Attribute an.

Weiter wird sein Selbstbild als deutscher beispielhaft in der Annahme erkennbar,

er könne wahlweise in die Hitlerjugend eintreten:

„Schürmann forderte mich auf, neben seinem Pult Platz zu nehmen. < Ich dachte, du

wüßtest, daß du nicht ins Jungvolk darfst, weil du Nicht-Arier bist>, fing er an. [...] <Aber

ich bin doch Deutscher>, schluchzte ich unter Tränen. <Meine Mutter sagt, daß ich

Deutscher bin, so wie alle anderen>.“ 255

Seine Selbstbilder wurden zusätzlich durch seine Realitätsverleugnung, die ihm

hinsichtlich seiner Rassifizierung durch die Nazis als ÜberLebensstrategie diente,

dahingehend beeinflusst, dass er sich einesteils der deutschen Gesellschaft

253 Vgl. Kapitel 3.3.1 und 3.4254 Massaquoi, S. 57255 Massaquoi, S. 109

Page 91: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

zugehörig fühlen konnte, und sich anderenteils für die erlittenen rassistischen

Anfeindungen und Diskriminierungen verantwortlich fühlte. 256

„Erst als ich ins Teenageralter kam, erkannte ich allmählich die Wahrheit über Hitler und

seine Handlanger. Bis dahin gab ich mir die Schuld an den Problemen, mit denen ich zu

kämpfen hatte. Vor allem haderte ich mit meinem Aussehen, besonders mit meinem

afrikanisch krausen Haar, das ich mittlerweile regelrecht haßte. [...] Meine Selbstachtung

war an einem beängstigenden Tiefpunkt angelangt.“257

Möglicherweise spielt hier die sehr früh erfahrene und erfolgreiche Anknüpfung

an die mächtige Position des Großvaters eine wichtige Rolle, da diese prägend

war für seine Verhaltensmuster, umso mehr, da sie in seiner frühesten Kindheit

erlebt wurden. Dies könnte auch erklären, warum er bis zum Teenageralter an

der Bewunderung des mächtigen Hitlers und der Nazis festhielt.

Galten ihm die afrikanischen Merkmale in der frühen Kindheit als Zeichen von

Überlegenheit und Macht, bringen ihn dieselben jetzt in Gefahr. Um seine

Integrität und sein Selbstbild aufrecht erhalten zu können, vermeidet er

weitestgehend die Konfrontation mit der Realität, indem er sich möglichst selten

im Spiegel betrachtet.

„Nachdem ein Mädchen beim Spielen zu mir gesagt hatte, ich sähe mit Mütze besser

aus, eilte ich nach Hause und tat etwas, das ich geraume Zeit tunlichst vermieden hatte:

Ich warf einen langen prüfenden Blick in den Spiegel. Das, was ich da sah, gefiel mir,

gelinde gesagt, überhaupt nicht. Der Junge, der mich aus dem Spiegel ansah, so befand

ich mit brutaler Objektivität, war ausgesprochen häßlich. Seine Nase war viel kürzer und

breiter als bei <normalen> Jungs, und seine Haut sah zwar glatter aus, war aber viel zu

dunkel, um noch als sonnengebräunt durchzugehen.“ 258

Seine Selbstlabelung als „häßlich“, der er zudem die Kraft einer Objektivität

zuspricht, deutet auf verinnerlichte, rassistische Fremdzuschreibungen hin.

Anders ausgedrückt: Hans-Jürgen nahm das herrschende Weltbild in sein

Selbstbild auf.

256 Vgl. Kapitel 3.4257 Massaquoi, S. 99258 Massaquoi, S. 99

Page 92: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

Der rassifizierende, koloniale Blick lässt Schwarze Subjekte in einer fixierten

Rolle der „Anderen“, da gegenteilig zu den normgebenden, hegemonialen und

als „schön“ imaginierten weißen Menschen, verharren. Dabei erlebt das

Schwarze Subjekt eine Entfremdung (alianation) seiner Person von sich selbst

und der weißen Gesellschaft, in der es lebt. 259 In dieser rassifizierten und

kolonialen Fremdzuschreibung will oder kann der afrodeutsche Junge nicht

verharren. Er wählt zu seiner Handlungsermächtigung eine Realitätsverleugnung,

die sich auf seine eigene Person bezieht, da er mit dem herrschenden weißen

Blick konfrontiert wird und diesen verinnerlicht. Dabei kann er sich der Erfahrung

einer Entfremdung nicht entziehen, da er die Rassifizierung seiner Person

internalisiert hat. Die Verleugnung hilft ihm bei seinen Bemühungen um

Anpassung, da sie ihm für eine gewisse Zeit die illusionäre Vorstellung einer

Verbindung mit den statushohen Weißen verschafft.

Als Zeichen seiner Bereitschaft zur Handlungsermächtigung und Anpassung an

die hegemoniale Gesellschaft dient hier seine Strategie der sichtbaren

Veränderung der rassifizierten körperlichen Merkmale.

„Am allerschlimmsten fand ich mein Haar, das einfach nicht zu bändigen war. Nach

einigem Herumexperimentieren mit der Mütze kam ich zu dem Schluß, daß das Mädchen

recht hatte: Wenn meine Haare bedeckt waren, wirkte ich längst nicht mehr so

afrikanisch, was, wie ich meinte, mein Aussehen erheblich verbesserte.

Da ich überzeugt war, daß ich mit glattem Haar nur noch halb so viel Problem hätte, war

ich ganz aus dem Häuschen, als ich in einem meiner Abenteuerbücher las, daß die

Angehörigen eines afrikanischen Stammes ihr Haar glätteten, indem sie es in einen Sud

tauchten, der aus einer zuckerähnlichen, in heißem Wasser aufgelösten Substanz

bestand.“260

Sein Entschluss, sich die Haare zu glätten beruht zudem auf der festen

Überzeugung, für seine Probleme, d.h. die rassistischen Anfeindungen, selbst

verantwortlich zu sein,261 wobei die Haare als eine der vielfältigen Quellen

verstanden werden. In der kindlichen Logik bewältigt er diese Probleme, indem

er zumindest eine der Ursachen zu tilgen versucht, um sich zu entlasten.

259 Vgl. Ferreira 2003260 Massaquoi, S. 100261 Vgl. Kapitel 3.4.2 und 3.5

Page 93: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

Es ist bemerkenswert, welche Strategien sich das afrodeutsche Kind kreiert, und

wie viel Energie es aufwendet, um mit dieser höchst traumatischen und sehr

gewaltvollen Situation fertig zu werden. Dabei ist deutlich hervorzuheben, dass

Hans-Jürgen allein und isoliert ist in dieser Situation. Er hat weder Vor- noch

Leitbilder, noch kennt er Personen mit einem ähnlichen erfahrungsbezogenen

Referenzraum.262

Exkurs

Der Umstand, dass besonders die Kritik eines Mädchens ihn zu der Veränderung

seiner Haare bewegt hat (denn sicherlich gab es genügend andere Gründe

hierfür), veranlasst mich zu der Überlegung, inwieweit sich die Erfahrung der

Rassifizierung auf seine Beziehung zu Mädchen ausgewirkt hat. In der Annahme

eines heterosexuellen backgrounds lässt sich aufgrund Massaquois

autobiografischen Aussagen festhalten, dass er im Alter von ca. zwölf Jahren

durch die wiederkehrenden Rassifizierungs- und Ausgrenzungserfahrungen

deutlich in seinem Selbstwert und Selbstbild als ein für weiße Mädchen

attraktiver und potentieller Partner gelitten hat; und diese Erfahrungen ebenfalls

seinen Umgang mit Gefühlen beeinflusst haben.

„Da solche Leute wie Wriede und Dutke mir unmissverständlich klargemacht hatten, daß

<jemand wie ich> sich niemals mit einem deutschen Mädchen einlassen dürfte, begnügte

ich mich damit, meine amourösen Bedürfnisse dadurch zu stillen, daß ich bei

verschiedenen Pärchen als Vermittler und Vertrauter fungierte. Wie Cyrano de Bergerac

gab ich einem Freund Ratschläge, wie er die Zuneigung eines Mädchens gewinnen

konnte, ohne mir anmerken zu lassen, daß ich in die Betreffende genauso verknallt war

wie er, wenn nicht noch mehr. Immerhin bot mir das einen Vorwand, meiner Angebetenen

nahe zu sein, ohne das Risiko einzugehen, von ihr zurückgewiesen zu werden oder mir

von Erwachsenen – vielleicht den Eltern des Mädchens – anhören zu müssen, daß ich

nicht genehm war.“263

262 Vgl. Kapitel 2.5263 Massaquoi, S. 130 f.

Page 94: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

Im Kontext der nur kurze Zeit früher stattgefundenen Hetzte gegen die

Schwarzen Besatzer des 1. Weltkrieges und in der Rassifizierung der

sogenannten „Rheinlandbastarde“ wird ersichtlich, dass die Vorstellung von

Schwarzen Menschen eine stark pathologisierte , rassifizierte und sexualisierte

war.264 El-Tayeb konstatiert, dass bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts „[...] die

Sexualität ein dominierendes Element des Diskurses um die <schwarze Rasse> [war]. Die

Projektion von Phantasien, Wünschen und Ängsten auf <Exoten> war bereits seit Jahrhunderten

teil der europäischen Tradition, und diese Projektion enthielt von Anfang an sexuelle Aspekte.“265

Während der Weimarer Republik wurden Schwarze Besatzer als Vergewaltiger

diffamiert, ihnen wurde eine „aggressive Sexualität“ unterstellt. „Tatsache ist, dass

schwarze Soldaten deutsche Knaben schänden und syphilitisch anstecken. Tatsache ist, dass

überfallene Mädchen, auf Bänke gebunden oder von schwarzen Soldaten gehalten, so lange

vergewaltigt wurden, bis sie ihren Geist aushauchten.“266

In dieser Tradition wurden Afrodeutsche während der NS-Zeit zu einer Gefahr für

die weißen Deutschen stilisiert.267 Vor allem ihr Blut stellte eine Gefahr für die

Weißen dar, wurde doch angenommen, dass auch Afrodeutsche Träger von

Geschlechtskrankheiten seien und die „reine, arische Rasse“ mit ihrem Blut

vernichten würden. „Die eigentlich <lebensuntüchtigen> <Mischlinge> versuchten

ihre weitere Existenz zu sichern, indem sie alle überlegenen <Rassereinen>

ausrotteten, d.h. ebenfalls in <Mischlinge> verwandelten.“268

Auf diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass Hans-Jürgens Erfahrungen

mit freundschaftlichen Beziehungen zu Mädchen durch eben diese

pathologisierende und sexualisierende Zuschreibungen behindert und verhindert

wurden.

3.5.3. Hans Jürgens neue Schwarze Vorbilder

Eine wesentliche Änderung seiner Situation erfährt Hans-Jürgen mit der

Entdeckung seiner persönlichen Schwarzen Vor- und Leitbilder im Jahre 1936.

264 Vgl. Kapitel 2.1.2, 2.1.3 und 2.4265 El-Tayeb, S. 149266 El-Tayeb, S.161267 Vgl. Kapitel 2.1.3 und 3.3268 El-Tayeb, S.179

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„Im Jahre 1936 erlebte mein so oft malträtiertes Selbstwertgefühl einen enormen

Aufschwung. Der Grund dafür waren zwei junge schwarze amerikanische Sportler, der

Profiboxer Joe Louis und der Amateurleichtathlet Jesse Owens. Die beiden übten einen

großen und nachhaltigen Einfluß auf mein Leben aus, weil sie mich in dieser widrigen

Zeit mit echtem Stolz auf mein afrikanisches Erbe erfüllten.“ 269

In seiner peer group erlangte Hans-Jürgen mit dem zunehmenden

Bekanntheitsgrad des Joe Louis eine token-Position. Er stand stellvertretend für

alle Schwarzen, und insbesondere für den Schwarzen Boxer Louis.

„Getreu dem Motto <Alle Schwarzen sehen gleich aus> beteuerten viele von meinen Freunden:

<Du siehst genauso aus wie Joe Louis.> Ungeachtet der mindestens siebzig Kilo Unterschied

zwischen dem Boxer und mir waren sich alle einig, daß ich dem <braunen Bomber> wie aus dem

Gesicht geschnitten sei.“ 270

Im Unterschied zu früheren Schuljahren, in denen sein afrikanisches Erbe als

negativ gedeutet wurde und für ihn nachteilig war, verhalf es ihm jetzt zum neuen

Ansehen.

„Je mehr die deutsche Presse die phänomenale Schlagkraft des <braunen Bombers>

herausstellte, desto höher stieg mein Ansehen unter meinen Freunden.“271

Und

„Die Jungen, auch die älteren, betrachteten mich als Autorität in Sachen Joe Louis, und

ich malte ihnen lebhaft aus, wie Joe kurzen Prozess mit Maxens Ambitionen auf den Titel

machen würde. Ich hatte alles über Joe Louis, dessen ich habhaft werden konnte,

auswendig gelernt und konnte alle interessanten Fakten über meinen Helden nur so

runterrasseln. Während mein Publikum ehrfürchtig lauschte, sonnte ich mich in meinem

neuen Status als Respektsperson. Ich genoß das Gefühl, daß diese Menschen, die sich

normalerweise Schwarzen überlegen fühlten, einem Schwarzen soviel Achtung

entgegenbrachten und daß ein Teil dieser Achtung auf mich abfärbte.“272

Hier verknüpft sich Schwarzsein mit Ansehen und Wissensmacht und mit einer

Ermächtigung seiner Person. Es findet zwar unter anderen Bedingungen statt,

als es der dreijährige Hans-Jürgen in der Gemeinschaft seiner liberianischen

269 Massaquoi, S. 116270 Massaquoi, S. 116271 Massaquoi, S. 116272 Massaquoi, S. 117

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Familie erfuhr, dennoch verhilft es ihm zu einem positiveren Selbstbild und einem

Anstieg seines Selbstwertgefühls, vor allem im Hinblick auf die wiederkehrenden

rassistischen Anfeindungen der letzten Jahre. 273 Die Anhaftung an die mächtige

Figur Louis ist für sein ÜberLeben und sein Selbstbild von solch großer

Bedeutung, dass er seine patriotische Begeisterung für den weißen deutschen

Boxer Max Schmeling und seine eigene Identität als Hamburger Junge hinten

anstellt, um an der Macht partizipieren zu können, bzw. seinen neu erworbenen

Status aufrechterhalten zu können.

„Ich erzählte niemandem, daß ich wie jeder echte Hamburger Junge eigentlich ein

begeisterter Schmeling - Fan war, und da ich von meinen Schulkameraden als

Doppelgänger des <braunen Bombers> gefeiert wurde, mußte ich meinen Patriotismus

hintanstellen und meinen Schwarzen Bruder aus Amerika unterstützen. Leicht fiel mir das

nicht, denn meine Treue zu Schmeling war so unerschütterlich, wie das bei einem

Zehnjährigen überhaupt möglich ist.“274

In Hans-Jürgens Brust scheinen zwei Herzen zu schlagen: Einerseits ist er ein

deutscher Junge, der wie der größte Teil der Mehrheitsbevölkerung mit den Nazis

an vorderster Stelle, ihr nationales Idol Max Schmeling verehren. Auch gilt ihm

Hitler während dieser Zeit als mächtiges Vorbild.

Andererseits gibt er aber nach außen die Anhaftung an dieses mächtige Idol und

seine imaginierte Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft auf, um nun an das

mächtige Schwarze Vorbild Louis, dessen Kampfkünste auch weiße Deutsche

beeindruckten, anzuknüpfen. Ob dieser Prozess der Anknüpfung ganz freiwillig

geschieht, ist nicht klar ersichtlich, da sich Hans-Jürgen durch seine Verhaftung

in der Position des token unter massivem Erwartungsdruck seiner peer group

befindet.

Die Tokenposition verhilft dem afrodeutschen Jungen einerseits zu einer

Anknüpfung an statushohe Schwarze Personen, entspricht aber andererseits

auch einer Entfremdung und Fixierung seiner Person in der Rolle des

rassifizierten und exotisierten „Anderen“. Dieser Prozess ist ein gewaltvoller,

denn das Schwarze Subjekt wird von den Weißen benutzt, um eigene

273 Vgl. Kapitel 3.2274 Massaquoi, S.116

Page 97: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

Phantasien über Schwarze Menschen und Projektionen des eigenen

Verdrängten zu befriedigen.275 Damit diese Instrumentalisierung für Weiße

funktionieren kann, muss der afrodeutsche Junge in der für ihn mitunter

ohnmächtigen token-Position verharren. Sie ist zudem eine ambivalente, denn

Hans-Jürgens Status steht und fällt mit dem Sieg oder der Niederlage des

Schwarzen Boxers.

Zur Veranschaulichung dient hier Dutkes Kommentar zum Sieg eines Schwarzen

Olympioniken:

„Lehrer Dutke kam jedem möglichen Sieg eines schwarzen Olympioniken zuvor, indem er

uns erzählte, daß es sich bei Schwarzen nicht um Sportler <im wahren Sinne des

Wortes> handele, da sie <geborene Läufer und Springer> seinen - <wie Pferde und

andere Tiere>. <Wenn ein deutscher Läufer gegen einen von diesen Halbzivilisierten aus

Amerika verliert>, so versicherte Dutke der Klasse, <ist das ebensowenig eine Schande,

wie wenn er gegen ein Pferd verliert. Jeder weiß, daß ein Pferd dem Menschen

körperlich überlegen und geistig unterlegen ist. Dasselbe gilt für die Hottentotten aus

Amerika>.“276

Neben den ausgeprägten rassistischen Urteilen über Schwarze gab es im

nationalsozialistischen Deutschland auch Bewunderer und Anhänger v.a. der

siegreichen afroamerikanischen SportlerInnen wie Joe Louis oder Jesse

Owens.277

„Obwohl die Niederlage von Joe Louis eine bittere Enttäuschung für mich war, tröstete es

mich, daß viele Leute ihn noch immer als den zähesten Boxer respektierten, der je im

Ring gestanden hatte.“278

Und

„[...] keiner wurde mit so vielen Lobeshymnen überschüttet wie mein neuer Held: Jesse

Owens. [...] Seine Leistungen übertrafen dann jedoch die kühnsten Träume seiner

frischgebackenen deutschen Fans.“279

275 Vgl. Kapitel 2.3 und 2.4276 Massaquoi, S. 120; In Dutkes Bildern zeigt sich, dass der von den Nazis propagierte Körperkult nach dem Vorbild der Griechen hier nicht mit der Körperlichkeit Schwarzer Menschen verglichen werden kann, da er den weißen, „arischen“ Körper meint, und diesem in seiner „athletischen Vollendung“ den Status einer Gottheit zu verleihen gewillt ist.277 Vgl. Martin 2004278 Massaquoi, S. 120279 Massaquoi, S. 121

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Für Hans-Jürgen ergeben sich hier abermalige Angriffe auf seine Würde;

Momente, in denen er und seine Schwarzen Vorbilder diffamiert und rassifiziert

werden. Zu beachten ist, dass er auch hierbei isoliert und allein bleibt, denn er

profitiert nicht von einem persönlichen Kontakt zu seinen Vorbildern, und kann

daher nicht an einem erfahrungsbezogenen Referenzraum partizipieren.

Dennoch scheint ihn hier etwas, dass er beim Anknüpfen an die weiße Macht

nicht hatte, zu erfüllen. Möglich erscheint, dass sich seine Selbstwahrnehmung

nach seiner Ausgrenzung aus der Hitler-Jugend dahingehend verändert hat,

dass er die Realitätsverleugnung hinsichtlich seiner Rassifizierung durch die

Nazis und seiner Position in der Gesellschaft nun nicht mehr vollständig aufrecht

erhält. Dies würde auch für eine freiwillige, von der Funktion des token

unabhängige Anknüpfung an die Schwarzen Sportler sprechen, da sich für ihn

mit ihnen neue, authentischere und reale Möglichkeiten der Identifikation bilden.

Damit stünde er nicht mehr in einer ohnmächtigen Position, sondern hätte sich zu

seinen eigenen Gunsten selbst ermächtigt. Unterstützt wird diese These durch

seine Entscheidung, dem Schwarzen Boxer Joe Louis die alleinige Treue zu

halten, nachdem ihm bewusst wird, dass sein bisheriges Idol Schmeling ein

Rassist ist.

„Dann geschah etwas, das mir die Entscheidung einfach machte. In einem

Zeitungsinterview, das Schmeling vor dem Kampf gab, las ich ein angebliches Zitat

meines Helden: Er versprach, <den [N....boxer] von einem ‚braunen Bomber‘ in einen

grünen und blauen Bomber zu verwandeln>. Diese rassistische Bemerkung traf mich bis

ins Mark. Ich fühlte mich von dem Mann verraten, der mein Idol gewesen war, und

beschloß, daß ich von nun an Joe Louis die Treue halten würde.“280

Wie ambivalent Hans-Jürgens token-Position aber dennoch bleibt, und wie

abhängig er von ihr ist, wird erkennbar, nachdem sein Idol und Garant für seinen

neuen Status, Joe Louis, den Kampf gegen Schmeling verliert.

„<Joe ist angeschlagen!> schrie ich. <Er verliert!> Meine Mutter verstand nicht, wie

ungeheuer bedeutsam diese Mitteilung war, und versuchte, mich zu beruhigen. <Das ist

doch nur ein Boxkampf. Nimm so was doch nicht so ernst.> Ich konnte ihr unmöglich

begreiflich machen, daß der Schwarze, der da rund achteinhalbtausend Kilometer weit

280 Massaquoi, S. 117

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entfernt kämpfte, nicht nur für sich kämpfte, sondern auch für mich, daß sein Sieg mein

Sieg sein würde und seine Niederlage – Gott bewahre – eine persönliche Katastrophe für

mich.“281

Das gefährliche an Hans-Jürgens Situation ist der Umstand, dass seine peer

group in Louis´ Niederlage ihre rassistischen Urteile über Schwarze Menschen

bestätigt sahen, und ihn mit diffamierenden Äußerungen attackierten.

„<Du hast doch gesagt, Louis könnte kämpfen>, höhnte wieder ein anderer. < Wieso hat

er sich dann von unserem Maxe zum Sandsack machen lassen? Ich kann dir sagen

wieso. Weil er ein [N...] ist und ein Feigling!>“282

Trotz seiner Niederlage wurde Joe Louis weiterhin von vielen als zähester Boxer

respektiert, so dass „ [w]enn mich dann jemand Joe Louis nannte, was immer

noch recht häufig geschah, fühlte ich mich wie ein Champion.“283

Hans-Jürgens Erfahrung der Ambivalenz dieser Tokenposition, und seiner

Abhängigkeit darin, scheint den Zehnjährigen dahingehend zu prägen, dass er

bei den kurze Zeit später stattfindenden Olympischen Spielen in Berlin, bei

denen er mit dem Nationalsozialisten Morell und neun weiteren Jungen zugegen

ist, von Anfang an zu den Schwarzen Sportlern, hier vor allem seinem neuen

Helden Jesse Owens, hält.

„Anders als bei Joe Louis und Max Schmeling war es für mich nun keine Frage mehr, ob

ich zu den schwarzen Olympiakämpfern oder zu den Athleten meines Heimatlandes hielt.

Von Anfang an war mir klar, daß die Siege der schwarzen Sportler meine Siege und ihre

Niederlagen auch meine Niederlagen waren.“284

Hier nimmt er abermals eine token-Position ein, die ihm diesmal durch die

vielfältigen Siege des Jesse Owens und dessen zahlreiche weiße deutsche

Anhänger und Bewundere, zu einem positiven Selbstbild verhilft.285

281 Ebenda, S. 118282 Ebenda, S. 118283 Ebendai, S. 120284 Massaquoi, S. 121285 Vgl. Massaquoi, S. 121

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„Jesse Owens war so bekannt geworden, daß einige meiner Spielkameraden anfingen,

mich Jesse zu nennen, so, wie sie mich vor nicht allzu langer zeit Joe genannt hatten.

Und wieder faßte ich das als Kompliment auf, was es auch sein sollte.“ 286

Wichtig finde ich hierbei zu erwähnen, dass Hitler während der Olympischen

Spiele immer noch zu seinen Vorbildern zählte, und Hans-Jürgen in dieser Zeit

durch den Nationalsozialisten Morell in die Gruppe der „Arier“ integriert wurde.287

Dieser scheinbare Widerspruch löst sich für mich dahingehend auf, dass Hans-

Jürgen nach eigenen Angaben erst im Teenageralter die Wahrheit über Hitler und

seine Handlanger erkannte. Bis dahin schien seine ÜberLebensstrategie der

Verbindung zu den Nazis sich nicht zwingend parallel zu seinen Selbstbildern zu

entwickeln, wie in der oben dargestellten Analyse seiner Selbstbilder ersichtlich

wird. Zudem scheinen ihn die Schuldgefühle, die er aufgrund der erfahrenen

Rassifizierungen hegte, zusätzlich in der Tokenposition und damit in der

Abhängigkeit von der weißen peer group, verharren zu lassen.

Schließlich erlangte der Afrodeutsche als Zwölfjähriger mit dem Eintritt in einen

Boxverein die Qualifikation zum Boxer; Eine erlebte und reale Verbindung seiner

Person mit seinem Schwarzen Vorbild Joe Louis.

„Der Gedanke, daß ich vielleicht eines Tages in die Fußstapfen meines großen Helden

Joe Louis treten könnte, der gerade seinen Bezwinger von vor zwei Jahren, Max

Schmeling, besiegt hatte und neuer Weltmeister im Schwergewicht geworden war,

spornte mich ungemein an.“288

Sein Ansehen bei den Altersgenossen und älteren Jungen stieg den Aussagen

des Autors zufolge mit seinen Fähigkeiten als Boxer, zumal auch die Nazis den

Boxsport zunehmend propagierten, da sie ihn als einen den Charakter

festigenden und das Selbstvertrauen stärkenden Sport ansahen.289

„[...] mein Ansehen unter meinen Altersgenossen wuchs beträchtlich. Sogar die älteren

und größeren Jungen nahmen mich nun ernst und behandelten mich mit Respekt. Als

sich in der Schule und in meinem Viertel allmählich herumsprach, daß ich ein veritabler

286 Massaquoi, S.122287 vgl. Kapitel 3.4.2288 Massaquoi, S. 133289 Vgl. Massaquoi, S.134, und Martin 2004

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Faustkämpfer war, verbreitete sich die Überzeugung, daß es klüger war, sich nicht mit mir

anzulegen.“290

In seiner Schule erlangte er durch sein Können ebenfalls den Status eines

„<Boxstar[s]>“291. Für die Aufrechterhaltung dieser ihn ermächtigenden Position

zahlte er einen hohen Preis in Form von körperlichen Blessuren und Schmerzen,

die ihn oftmals zu der Überlegung veranlassten, mit dem Boxsport aufzuhören.

Doch wie der Autor selbst beteuert, verfügte er nicht über eine freie Wahl, denn

er wollte weder von seinen Freunden als „Drückeberger“ diffamiert werden und

ihren Respekt verlieren, noch seinen Boxlehrer Rudi, der große Hoffnungen in

ihn setzte, enttäuschen. Wesentlich für seine Entscheidung ist auch der

Umstand, dass der Boxverein „seltsamerweise frei war von der Nazi-Ideologie,

die alles andere zu durchdringen schien – eine apolitische Insel in einem Meer

von Hitlerfanatismus.“292

Mit dem Verein fand er einen Ort, an dem er sein Selbstvertrauen und positives

Selbstbild stärken konnte. Denn hier kam Massaquois Aussagen zufolge sein

Äußeres nur selten zur Sprache.

„Die meisten aus meiner Mannschaft waren wie Rudi der Überzeugung, daß die

afrikanischen Gene meines Vaters einen ausgesprochenen Vorteil im Ring bedeuteten.

Obwohl ihre Ansicht natürlich einem Klischee entsprach, war ich nicht gekränkt, da ich

das gleiche dachte. Ich wußte zwar nicht, ob mein Vater sportlich war, aber ich war

überzeugt, daß ich mein Boxtalent ihm zu verdanken hatte.“293

In Rudis Bemühungen um Hans-Jürgens Teilnahme an den

Landesmeisterschaften 1940, für die sich dieser trotz einer erstmaligen Absage

durch den Reichssportverband fortwährend mit Eifer einsetzte, wird abermals

deutlich, dass es in Hans-Jürgens rassistischem weißen Umfeld Räume gab, die

nicht hermetisch verriegelt waren, sondern in denen sich Möglichkeiten von

Widerstand und Bündnissen ergeben haben.294

290 Massaquoi, S. 134291 Ebenda, S. 134292 Ebenda, S. 135293 Massaquoi, S.135f.294 Vgl. Kapitel 3.3

Page 102: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

Jedoch blieben Rudis Versuche erfolglos, und ein weißer Stellvertreter wurde zu

den Meisterschaften geschickt. Als dieser den Meistertitel gewann, wurde er zu

Hans-Jürgens Ärger und Enttäuschung wie ein Held gefeiert.

„Mir war zwar klar, daß es nicht seine Schuld war, daß ich vom Turnier ausgeschlossen

worden war, aber ich hegte trotzdem einen tiefen Groll gegen ihn, weil er in meinen

Augen etwas hatte, das rechtmäßig mir gehörte.“295

Als Hans-Jürgen den neuen Titelgewinner im Ring mit harten Schlägen taktiert,

um zu beweisen, dass er der Bessere und rechtmäßige Gewinner ist, wird er von

seinem Boxlehrer entrüstet aufgehalten:

„Schließlich musste Rudi in den Ring steigen und mich von meinem arg lädierten Gegner

wegzerren. < Ich bedaure, was ich über deine Fairneß geschrieben habe > schrie Rudi

mit unverhohlener Empörung.< Hör mir bloß auf mit Fairneß! > schrie ich zurück, zog

meine Handschuhe aus und verließ die Trainingshalle mit dem festen Entschluß, nie

wieder zu kommen.“296

Trotz widerständiger Räume bleibt Hans-Jürgen unverstanden und in dem

vehementen Trauma tagtäglich erlebter Ausgrenzungserfahrungen ungesehen.

Ein wirkliches Verständnis und Empathie für seine Situation könnte ihm dagegen

ein erfahrungsbezogener Referenzraum bieten, den er in seiner isolierten

Situation aber nicht vorfindet. Somit erlebt er zwar in seiner token-Position und in

der Verbundenheit zu seinen Schwarzen Vorbildern eine Erhöhung und

Aufwertung seiner Person, kann sein Selbstbild positiv aufwerten und sein

Selbstwertgefühl steigern, bleibt aber letztlich allein und von seinen weißen

Bezugspersonen unverstanden zurück. Dies ändert sich erst, als er nach den

Kriegsjahren Kontakt zu Schwarzen Afroamerikanern knüpft, in den Folgejahren

nach Liberia fährt und letztlich mit seiner Emigration in die USA in das

afroamerikanische Kollektiv eintritt.

295 Massaquoi, S. 137296 Massaquoi, S. 137

Page 103: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Hans-Jürgen während seiner

frühen Kindheit im Umfeld seines Großvaters und der liberianischen Familie ein

positives Selbstbild von sich als mächtige Schwarze Person hatte. Er verband

Schwarzsein mit Macht und einer statushohen Position. Seine besondere

Situation als Afrodeutscher wurde im Umfeld seiner liberianischer Familie und

deren internationalen Gästen positiv gelabelt, so dass diese Erfahrung ihm zu

einem Selbstbild verhalf, in dem Schwarzsein mit der Identität als Deutscher

vereinbar war.

Im weißen Umfeld des Hamburger ArbeiterInnenviertels Barmbeck wurde sein

afrikanisches Erbe zum rassifizierten Stigma, so dass sein Selbstbild als

statushohe Schwarze Person brüchig wurde, er aber aufgrund seines starken

Selbstwertgefühls anfangs dennoch an einem positiven Selbstbild festhielt.

Während seiner Schulzeit sah sich Hans-Jürgen als deutscher und als ein

gleichwertiges Mitglied seines Umfeldes, dessen Verehrung der mächtigen Figur

des Hitlers galt. Gleichzeitig litt er an den Rassifizierungen seiner Person und

fühlte sich für die ihm entgegengebrachte Anfeindungen verantwortlich. Er

begann die rassifizierten Fremdzuschreibungen zu verinnerlichen. Mit der

Anknüpfung an die statusmächtigen Vorbilder Joe Louis und Jesse Owens

konnte er erneut ein positives Selbstbild als afrodeutscher Junge entwickeln. Die

damit verbundene token-Position ließ ihn in einer ambivalenten Position zurück,

in der er einerseits Bewunderung und Anerkennung durch seine peer group

erfuhr, andererseits dem hohen Erwartungsdruck dieser peer group gerecht

werden musste, und in der sein Status eng mit dem Sieg und der Niederlage

seiner Schwarzen Vorbilder verknüpft war. Mit seinen Fähigkeiten als Boxer stieg

sein Ansehen in seiner peer group, und damit sein Selbstvertrauen und positives

Selbstbild.

Hans-Jürgens Selbstbilder veränderten sich in Abhängigkeit seines Kontextes. In

seinem weißen Umfeld verliefen sie nicht linear, sondern standen als z.T.

gegensätzliche Selbstbilder nebeneinander.

Page 104: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

4. Ikas ÜberLebensstrategien und Selbstbilder in der Kindheit

4.1.1.Ikas ÜberLebensstrategien in der Mutter-Kind Beziehung

und Familie

Ika Hügel-Marshall wurde 1947 in Bayern geboren. Bis zu ihrem 1. Lebensjahr

lebte sie mit ihrer Mutter und Großmutter in einem Haushalt. Als Ika ein Jahr alt

war heiratete die weiße Mutter einen weißen Deutschen. Sie beschreibt ihre

Kindheit zu Hause als unbeschwert und normal:

„Die ersten fünf Jahre wuchsen wir relativ unbeschwert auf, so wie die meisten anderen

Kinder. [...] Wir fühlten uns als Familie, auch wenn ich längst wußte, dass mein Vater

nicht mein wirklicher Vater war.“297

Ika ist fünf Jahre alt als 1952 über die Zukunft der afrodeutschen Kinder

debattiert wird. Ikas Mutter wird vom Vertreter des Jugendamtes aufgesucht und

bedrängt, ihr Kind ins Heim abzugeben. Als Grund nannte er die gefährdete

persönliche und berufliche Entwicklung, bedingt durch die sehr feindliche

Umgebung für ein afrodeutsches Kind. Die Heimunterbringung hingegen diene

als Schutz und zum Wohle des Kindes:

„Frau Popp, es ist das Beste für Ihr Kind. [...] Wenn es älter wird, wird es vielleicht

seelisch labil, auf jeden Fall wird es für Männer Freiwild sein, uneheliche Kinder

bekommen, alkoholsüchtig werden und was weiß ich sonst noch. Wollen Sie das denn?

[...] Wenn Sie Erika [Ika Anm. d. V.] nicht weggeben, dann gefährden Sie zugleich die

Entwicklung ihrer anderen Tochter. Schließlich und endlich haben Sie es sich selbst

zuzuschreiben, ein Negermischlingskind in eine so feindliche Welt gesetzt zu haben.

Wenn Sie sich nicht entscheiden können, Frau Popp, werden wir es für sie tun

müssen“298.

297 Mit „wir“ meint die Autorin ihre ein Jahr jüngere Schwester und sich , Hügel-Marshall, S. 17298 Vgl. Hügel-Marshall, S. 21

Page 105: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

In diesem Auszug finden sich mehrere Anhaltspunkte, um die Situation von Ika

und ihrer Mutter im Kontext des postnazistischen Deutschland zu beleuchten.

Zum einen wird hier der leiblichen Mutter abgesprochen, ihr Kind schützen zu

können und ihm Stabilität zu geben, und das, obwohl die Mutter verheiratet ist

und ihrem Kind eine familiäre Umgebung bietet. Mit diesen Voraussetzungen

hätte sie im Grunde die Norm des Jugendamtes erfüllen müssen. Warum reicht

es im Falle von Ika und ihrer Mutter nicht aus? Dieser scheinbare Widerspruch

löst sich auf, wenn man bedenkt, dass unmittelbar nach dem Krieg die

rassifizierten Vorstellungen von Schwarzen Menschen ungebrochen tradiert

wurden299, und zudem eine Fraternisierung mit der Besatzungsmacht

gesellschaftlich tabuisiert wurde. Weiße Frauen mit Schwarzen Kindern hatten

für alle sichtbar ein doppeltes Tabu begangen. Einerseits gingen sie eine

Beziehung mit einem Angehörigen der Siegermächte ein, und andererseits

hatten sie eine Liebesbeziehung mit einem Schwarzen Mann. Ihnen wurde mit

Spott und Verachtung und zum Teil tätlichen Übergriffen begegnet.300 So

verwundert es auch nicht, dass der Jugendamtsmitarbeiter Ikas Mutter diffamiert,

indem er sie verantwortlich macht für die Situation, in der sie und ihre Tochter

sich befinden. Er konfrontiert sie als Vertreter einer staatlichen Institution und

setzt sie strukturell und moralisch unter Druck, als sie sich gegen die

Heimunterbringung wehrt. Gleichzeitig unterstellt er Ikas Mutter, sie könne nicht

selbstverantwortlich agieren, denn sonst hätte sie sich vor ihrem Verhältnis mit

Ikas Vater über die Konsequenzen ihres Handelns im Klaren sein müssen. Als

weiße deutsche Frau und Mutter eines Schwarzen Kindes wurde sie ihres

gesellschaftlichen Status enthoben.

Wie verunsichert, verzweifelt, ratlos aber auch fürsorglich Ikas Mutter war, zeigt

folgender Auszug aus ihrem Gespräch mit dem Jugendamtsmitarbeiter:

299 An Afrodeutschen durchgeführte Anthropologischer Studien der 50er Jahre attestierten den Kindern eine verminderte intellektuelle Entwicklung: „ Aus anderen Untersuchungen wisse man, < dass die seelische, vor allen Dingen die intellektuelle Entwicklung bei [N...] mit Eintritt der Pubertät abgeschlossen ist und dann im allgemeinen keine weiteren Fortschritte mehr erwartet werden können >.“ (Kirchner zitiert nach Lemke Muniz de Faria, S. 58), und „Problematisch sei, [...] daß Gesundheit, Charakter und körperliche wie psychische Entwicklung der Afrodeutschen Kinder durch die Rassenmischung genetisch festgeschrieben und daher nicht veränderbar seien.“ ( Lemke Muniz de Faria, S. 59) 300 Lemke Muniz de Faria, S.21

Page 106: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

„Herr Siebert, so sagen Sie mir doch, wie ich meinem Kind verständlich machen soll, daß

es von mir, von zu Hause weg soll? Wie soll ich erklären, daß es nicht selbst, sondern die

anderen das Problem sind? Ja, natürlich will ich das Beste für meine Erika, aber die

Menschen kann ich nun mal nicht ändern. Ja, sicher habe ich Angst, und manchmal weiß

ich selbst nicht, wie mein Kind das alles verkraften soll. Wenn das Heim tatsächlich das

allerbeste für mein Kind ist, und wenn man sich dort aufrichtig um es kümmert, wie Sie

sagen, dann will ich meiner Erika zuliebe diesen schweren Schritt tun. Doch wie soll ich

ihr, einem sechsjährigen Kind, erklären, daß es besser ist, ohne Mutter

aufzuwachsen?“301

Ein weiterer Aspekt ist, dass durch die Gesellschaft bzw. die staatlichen

Institutionen und dem Jugendamt, sugeriert wurde, dass die Heimerziehung für

afrodeutsche Kinder ein optimaler Weg in eine halbwegs gesunde und normale

Zukunft bedeutet. Dies verdeutlicht meines Erachtens zwei Perspektiven, die

unter anderen in den 1950er Jahren debattiert wurden. Zum einen wurde die

Pathologisierung und Kriminalisierung Afrodeutscher weiter tradiert. Denn, wie

schon weiter oben beschrieben, wurden sie als „andersartig“ und mit den

gängigen Stereotypen vom Schwarzen Menschen stigmatisiert und es wurde

unterstellt, dass bei unterlassener Hilfeleistung „Deutschlands Fürsorgeheime

und Zuchthäuser von diesen Kindern bevölkert sein [...] “302 würden. Zudem

wurde angenommen, afrodeutsche Kinder würden an einem „Seelenkonflikt“

leiden, der sich aus der Lebenssituation im rassistischen Deutschland einstellen

würde. Bereits 1953 wurden Frühsymptome für solch einen Konflikt beschrieben.

Afrodeutsche Kinder seien leicht „reizbar“ und „streitsüchtig“, und sie litten unter

einem „N.... Komplex“.303 Somit galt die „Fürsorge“ sowohl ihrer individuellen

Entwicklung und Zukunft, als auch dem Schutz der Mehrheitsbevölkerung vor

der vermeintlichen Gefahr.

Gleichzeitig standen afrodeutsche Kinder in Institutionen, wie den Heimen, unter

Kontrolle von ErzieherInnen, die im Sinne des Staates und/oder der Kirche

arbeiteten. Die christliche Kirche spielte bei der Debatte um den Umgang mit

afrodeutschen Kindern eine große Rolle. Lemke Muniz de Faria schreibt dazu:

301Vgl. Hügel-Marshall, S.21302 Ebenda, S. 69303Ebenda, S.68, Wobei die Kinder höchst wahrscheinlich aufgrund der Heimunterbringung, den dortigen Verhältnissen und dem mangelnden Kontakt zur Familie reizbar und streitsüchtig sind.

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„In diesem christlich-moralischen Pathos stehen die afrodeutschen Kinder für das

Fremde, Unheimliche und Heidnische, eine Beschreibung, die dem vorherrschenden

rassistischen Bild vieler Deutscher von afrikanischen Menschen entsprach. Helfen,

Retten und Erziehen waren seit Jahrhunderten fester Bestandteil eines

Missionsgedankens.“304

Ein drittes Argument führt nun nicht mehr nur „Rasse“ und Pathologisierung als

Grund für eine besondere Fürsorge afrodeutschen Kindern gegenüber an,

sondern zudem das Geschlecht. Besonders afrodeutsche Mädchen bedürften

eines besonderen Schutzes vor sexuellen Kontakten, der vor allem in einem

christlich orientierten Heim gegeben sei. Auf diesen Punkt gehe ich ausführlich

im Kapitel 4.5. ein.

Als vierter Aspekt zur Notwendigkeit einer Heimunterbringung Ikas wird die

rechtliche Situation der Mutter benannt. Da Ika als uneheliches Kind geboren

wurde, und keine Angaben der Autorin darauf verweisen, dass sich ihr Status

durch die spätere Heirat der Mutter änderte, unterstand sie nach deutschem

Recht der Amtsvormundschaft des Staates. Der Mutter, bzw. Familie des

unehelichen Kindes wurde lediglich die Erziehung des Kindes zugesprochen.305

Nicht nur die Gesellschaft und das Jugendamt setzten Ikas Mutter unter Druck,

sondern auch der weiße deutsche Ehemann. Denn der Stiefvater, der in der

deutschen Wehrmacht gekämpft hat, will für Ika keine Vaterrolle übernehmen.

Für ihn hat sie keinen Namen, und „ [bei] Familieneinkäufen [...] muß ich allein

zu Hause bleiben. Mein Stiefvater will sich nicht in der Öffentlichkeit mit mir

zeigen, sich nicht dem Gerede der Leute aussetzten.“306 Die Bemühungen der

Mutter, Ika eine Familie zu geben, scheiterten bereits vor ihrer Heimeinweisung,

denn „[z]u oft schon hatte ich spüren müssen, daß die Versuche, meiner Mutter,

mich einzubeziehen, mir eine Familie, einen Vater zu geben, scheiterten.“307

Dennoch, so schreibt die Autorin, fühlte sie sich in der Familie wohl, und war in

ihrem nachbarschaftlichen Umfeld integriert. „In meiner Familie fühlte ich mich wohl, hier

war mein Zuhause. [...] Zu Hause bei meiner Mutter hatten mich alle gekannt, Einsamkeit war

304 Lemke Muniz de Faria, S.69 f305 Vgl. Ebenda, S. 27 ( § 1707 BGB)306 Hügel-Marshall, S. 41307Ebenda, S. 42

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noch keine tagtägliche Erfahrung. Die Nachbarn sprachen mit mir, sie nahmen und Kinder oft mit

zu sich nach Hause, zu einem Stück Kuchen oder einem Glas Saft. Alle kannten einander.“308

Ika spürt den Konflikt und den Druck, dem die Mutter ausgesetzt ist. Sie selbst

wird nicht gefragt und kann sich nicht äußern, ob sie gehen will oder nicht,

sondern wird mit dem Versprechen, sie nach sechs Wochen wieder abzuholen,

von der Mutter ins Heim verabschiedet.

Ikas Vertrauen zur Mutter ist erschüttert, denn „ [j]edesmal wenn ich mich nach den

Ferien von meiner Mutter verabschiede, sagt sie: <Bald kommst Du für immer nach Hause>, ein

Versprechen, dass sie nie eingelöst hat. Mein Vertrauen ist erschüttert, aber ich kann mir ihr

gegenüber keine Wut oder Aggressionen erlauben. Schließlich ist sie der einzige Mensch, der

mich liebt und den ich liebe.“ 309

Sie kann die Mutter nicht anprangern und an einem Vertrauensbruch festhalten,

denn diese gegenseitige Liebe ist der einzige Halt, der ihr bleibt.310

Trotz des erschütterten Vertrauens weiß sie um die Loyalität und die Liebe der

Mutter. Wie stark ihre emotionale Bindung zur Mutter ist beschreibt folgendes

Zitat:

„Ich liebe sie. Meine Mutter hat mich nicht - wie so viele Mütter von afro-deutschen

Kindern - gleich nach der Geburt in ein Heim gegeben, sondern alles Erdenkliche getan,

um unser beider Lebensunterhalt zu sichern. Was mich sehr früh und eng mit ihr

verbunden hat, war das quasi unbewußte Wissen, dass sie meinetwegen verspottet,

verachtet und aus der Gesellschaft ausgestossen worden ist. Solange ich bei ihr war, hat

sie mich diesen Druck und ihre enorme psychische Belastung niemals spüren lassen. Sie

hat mir die schönsten Kinderlieder beigebracht, sie hat mich versorgt und beschützt. Das

war sicherlich nicht sehr viel, doch genug, um mein Leben darauf aufzubauen.“311

Aus Angst, die Mutter und deren Liebe zu verlieren kann sie sowohl ihre

Schmerzen, die Trauer und die Wut ihr gegenüber nicht kommunizieren.

Stattdessen beginnt Ika der Mutter gegenüber zu schweigen.

308 Hügel-Marshall, S.40309 Ebenda, S. 29310 Vgl. Kapitel 2.6311 Hügel-Marshall, S.32

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„In den Sommerferien, wenn ich nach hause darf, spreche ich nie über meine Zeit im

Heim. Ich sage nicht, wie es mir wirklich geht und auch nicht, wie sehr ich mir wünsche,

endlich wieder ganz nach Hause zu dürfen.“312

Auch die Mutter schweigt. Weder erklärt sie ihrer Tochter, warum sie sich für die

Heimeinweisung entscheiden musste, noch welche Gefühle sie in dieser

Situation verspürt hat. Da die Autorin es in ihrem Buch nicht zum Ausdruck bringt

stellt sich die Frage, inwiefern die Mutter sich nach ihrem Wohlbefinden im Heim

erkundigt hat. Es besteht die Möglichkeit, dass Ika auf Nachfrage sich nicht

mitteilen konnte oder dass sie nicht nachgefragt hat. Beide Situationen deuten

auf eine fehlende Kommunikation zwischen Ika und ihrer Mutter hin. Erst Jahre

später, so schreibt sie, habe sie ihrer Mutter von den Kränkungen und

Mißhandlungen im Heim erzählt, „für die sie nie Verantwortung übernehmen

musste“.313

Das Schweigen über ihre Erfahrungen und Gefühle prägen Ikas weiteres

Verhältnis zur Familie und machen sie einsam. In der Autobiografie finden sich

keine Aufzeichnungen von gemeinsam verbrachten Ferien oder schönen

Stunden mit Mutter und Schwester in der Ferienzeit, die sie zu Hause

verbrachte. Auch mit dem Stiefvater spricht sie nur das Nötigste. Auf der

Rückreise ins Heim, nach den gemeinsam verbrachten Ferien zu Hause,

beherrscht auch hier Schweigen die Beziehung:

„Ich fühle mich ihm nicht nah, nicht sicher genug, um ihm zu verstehen zu geben, wie

sehr ich mir wünsche, für immer zu Hause bleiben zu können. Ab und zu schluchze ich

auf und wische mir aus Verlegenheit mit dem Taschentuch über das ganze Gesicht. „Hast

du dir in den letzten Tagen etwa noch einen Schnupfen geholt?“ ist alles, was er dazu

sagt. Kein Wort kann ich herausbringen, Unsicherheit und Tränen schnüren mir den Hals

zu.“314

Das Schweigen bzw. die mangelhafte Kommunikation zwischen Ika und dem

Stiefvater als patriarchalem Familienoberhaupt symbolisiert hier meines

312 Ebenda, S. 29313 Hügel-Marshall, S.30 ; Vermutlich erst dann, als sie Stabilität aus sich selbst heraus gebildet hat, und nicht mehr in dem Maße auf die Liebe der Mutter angewiesen war, bzw. diese Liebe und das Verhalten der Mutter differenzierter betrachten konnte.314 Ebenda, S.42

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Erachtens den Ausschluss aus dem familiären und auch gesellschaftlichen

Kontext und untermauert ihn gleichzeitig.

Ikas Beziehung zu ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester ist, soweit sie diese in

Ihrer Autobiografie beschreibt, bis ins Erwachsenenalter ebenfalls von

Schweigen über Ikas Lebenssituation geprägt.

Durch das Schweigen der Eltern über die traumatischen Vorgänge in der Familie

wird meines Erachtens die gesellschaftliche Tabuisierung, der Ika und die Mutter

unterlagen, weiter tradiert. Darüber hinaus übernimmt Ika mit dem Schweigen

auch die Verantwortung der Erwachsenen für die ihr zugefügten Schmerzen und

Mißhandlungen im Heim.

Zusammenfassend lassen sich Ikas ÜberLebensstrategien wie folgt darstellen:

Ika hält während der gesamten Kindheit an ihrer Liebe zur Mutter und der

Erinnerung der erfahrenen Zuwendung und Liebe fest.

Gleichzeitig schweigt sie über ihre schmerzlichen Gefühle und zeigt die Wut

gegenüber der Mutter bzw. den Eltern nicht. Zum eine schütz sie sich so meines

Erachtens vor möglichen Sanktionen hinsichtlich eines Tabu- und

Gehorsamkeitsbruchs. Zum anderen bleibt ihr so die Liebe der Mutter erhalten,

und sie wird nicht mit der Angst bzw. der Ohnmacht und dem Schmerz derselben

konfrontiert. Das Schweigen über ihr Schicksal schütz sie einerseits vor

möglichen Verletzungen und dem Gefühl des Verlassenwerdens, macht sie aber

auch gleichzeitig einsam.

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4.2. Ikas ÜberLebensstrategien bei fehlender Schwarzer

Vaterfigur

Ika trifft ihren afroamerikanischen Vater erst mit 46 Jahren. Als Angehöriger der

amerikanischen Besatzungsmacht wurde er nach einer Krankheit von der Armee

im November 1946 in die USA zurückgesandt.315

Als Kind wünschte sie sich in immer wiederkehrenden Momenten, dass ihr Vater

sie abholt und mit sich nimmt, „mit zu sich, wo auch immer das wäre“316. Und

obwohl sie mit jeder Phantasie von ihrem Vater auch unzufriedener wurde, da sie

genau wußte, dass er nicht kommen wird, gab sie die Hoffnung nicht auf.

„Die Vorstellung, meinen Vater eines Tages wirklich zu finden und auf ihn zuzugehen, gab

ich dennoch nicht auf, und das änderte sich auch nicht, als meine Freundinnen mir mit

Sätzen wie etwa diesen kamen: < Diese N[...]soldaten sind doch alle gleich [...] .>.“317

Aufgrund der nicht vorhandenen innerfamiliären Kommunikation über ihr

Schicksal als Schwarzes Kind und den alltäglich erlebten Rassismus mag sich

Ika möglicherweise eine Rettung aus ihrer einsamen und traumatischen Situation

durch den Vater erhofft haben. Denn dieser hätte ihr als Verbündeter und

„helfender Zeuge“ zur Seite stehen können, und ihr darüber hinaus einen

erfahrungsbezogenen Referenzraum bieten können.

Ihre Hoffnung wurde zudem möglicherweise durch Debatten um

Auslandsadoptionen afrodeutscher Kinder und der Frage nach der Möglichkeit

ihrer Eingliederung in die deutsche Gesellschaft geschürt bzw. aufrechterhalten.

Neben tatsächlich durchgeführten Adoptionen in die USA wurden Afrodeutsche in

Schlagern, Comics, Illustriertenromanen und Filmen vermarktet, wobei immer die

Übersendung der Kinder in eine „wahre“ Heimat mit Schwarzen Menschen

propagiert wurde. 318

315 Vgl.Hügel-Marshall, S. 16316 Ebenda, S. 114317 Hügel-Marshall, S. 114318 Vgl. Lemke Muniz de Faria, S. 173f.; Vgl.Kapitel 2.4

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Diese Kampagne war von der Absicht begleitet, Verständnis und Sympathie für

die Kinder zu wecken, bzw. die deutsche Gesellschaft auf sie vorzubereiten, mit

der Hoffnung, dass ihnen mit mehr Wohlwollen und weniger Rassismus

begegnet wird. Doch, so betont Lemke Muniz de Faria, wurde vor allem die

„Andersartigkeit“ der afrodeutschen Kinder und das daraus resultierende

„Problem“ ihrer Integration angesichts der ersten Einschulungen, in der

Öffentlichkeit ausgiebig thematisiert. Wie schon weiter oben erwähnt wurde auch

für die in Deutschland eingeschulten Kinder eine Zukunft im Ausland

vorgesehen. Hier wurde also ungebrochen das Ziel verfolgt, Schwarze als die

„Anderen“ in die Ferne zu verorten, bzw. Deutschland von „fremden Blut“ zu

säubern.

Ika leidet unter der Entbehrung ihres Vaters:

„Oft bildete ich mir ein, ihn zu sehen, aber in Wirklichkeit sah ich in die Gesichter fremder

Männer, weißer Männer, die mich keines Blickes würdigten. Meine Arme hingen dann

schlaff herunter, und ich kämpfte gegen die Versuchung, irgendeinen Vater zu

umarmen.“319

Im Kontext der postfaschistischen Nachkriegszeit ist Ikas Hautfarbe und ihre

Situation als vaterloses Kind Ausdruck eines doppelten Tabubruchs.320 Folglich

erfährt Ika nicht nur ein Trauma durch die Vaterentbehrung, sondern wird stets

als Kind eines Schwarzen Soldaten der Siegermächte entlarvt. Sie bleibt

rassifiziert und „nicht mal eines Blickes würdig“ zurück. Dieses setting

verdeutlicht beispielhaft, welcher gewaltvollen Ausgrenzung sie ausgesetzt ist.

Die ersehnte Erfahrung, einen bzw. ihren Vater zu umarmen, bleibt für Ika

unerreichbar. Wie groß aber ihre Sehnsucht danach ist, und wie sehr sie ihr

Schwarzsein zu verdrängen versucht, zeigt sich anhand der Tatsache, dass sie

sogar in den Gesichtern weißer und ihr fremder Männer ihren Vater erkennen

will.

319 Ebenda, S.114320 Vgl. Kapitel 4.1

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Während Ikas Gefühle dem fehlenden Vater gegenüber in der Kindheit von

Sehnsucht und Hoffnung geprägt waren, wurden sie im Laufe ihrer Adoleszenz

immer widersprüchlicher.

Hügel-Marshall schreibt:

„Ich verbiete mir dieses Verlangen und will es nicht spüren. Die Angst und die Abwendung

von mir selbst hat sich tief in mein Inneres gebrannt, dass ich mir nicht vorstellen kann,

meinem Vater zu begegnen. Mich in ihm zu entdecken ist mir unvorstellbar. Schwarze

Menschen sind mir fremd, ich habe Angst vor ihnen [...]“.321

Je älter Ika wird, und je länger sie dem Rassismus ihrer Umgebung ausgesetzt

bleibt, desto weiter entfernt sie sich von ihrem Vater und ihrer Identität als

Afrodeutsche. Sie ist in widersprüchlichen Gefühlen gefangen, denn einerseits

sucht sie die Nähe ihres Vaters, andererseits wirkt die andauernde Rassifizierung

ihrer Person dieser Sehnsucht entgegen, denn der Vater als Repräsentant ihres

Schwarzseins verkörpert eben das, was von Weißen dämonisiert und

sanktioniert wird, und was Ika an ihrer Integration in die weiße, einzig

existierende Welt hindert.322 Deutlich wird dies neben dem obigen Zitat in dem

Umstand, dass sie in den Aufzeichnungen über die Schul- und Heimzeit ihren

Vater nicht weiter erwähnt.

Möglicherweise ist hier die Mutter als weiße Person einfacher zu assimilieren in

Ikas gewaltvoll verzerrten Selbstbild bzw. in ihrem verinnerlichtem Fremdbild.

Erst als sie als Erwachsene in Kontakt mit anderen Schwarzen Menschen tritt

und sich mit Schwarzer Geschichte, Rassismus und Weißsein auseinandersetzt,

beschließt sie, ihren Vater zu suchen und findet ihn in den Vereinigten Staaten.

Die Begegnungen zwischen ihnen und seiner neuen Familie sind von großer

Herzlichkeit und starker Liebe geprägt. „Hier begegnen mir Menschlichkeit und

Liebe, wie ich sie nie zuvor in meinem Leben kennengelernt habe.“323 Ihr Vater

stirbt ein Jahr nach ihrer ersten Begegnung an einer Krankheit.

321 Ebenda, S. 86; Hier finden sich internalisierte Rassismen, die Ika im weiteren Verlauf ihres Lebens zu heilen weiß.322 Vgl. 2.7323 ebd, S. 128

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Ikas ÜberLebensstrategie bei abwesendem Schwarzen Vater kann folgender-

maßen zusammengefasst werden: Ihre frühe Kindheit ist geprägt von der

Sehnsucht nach ihrem Vater und der Hoffnung, er würde sie aus ihrer

traumatischen Situation retten. Mit zunehmend andauernder Rassifizierung ihrer

Person und der Internalisierung der Rassismen verdrängt Ika ihr Schwarzsein

und auch die Sehnsucht nach ihrem Vater. Dies mag angesichts der

traumatisierenden Erlebnisse und ihrer Isolation eine notwendige

ÜberLebensstrategie gewesen sein.

4.3. Ikas ÜberLebensstrategien im Heim

4.3.1. Heimsituation

Ika kommt mit sieben Jahren in ein christliches Kinderheim in Bayern. Ihre

Unterbringung im Heim beginnt mit einer für sie traumatischen Erfahrung. Denn

einen Tag nach ihrer Ankunft an der Seite ihrer Mutter muß sie feststellen, dass

diese sie, ohne Abschied von ihr zu nehmen, im Heim zurückgelassen hat.

„Am Abendbrottisch, als meine Mutter immer noch nicht zurück ist, überfällt mich

plötzlich ein entsetzliches Gefühl von Panik. Ich springe von der Bank auf, [...], und will

gerade die Stufen zum ersten Stock hoch laufen, dorthin, wo meine Mutter und ich die

letze Nacht geschlafen haben. Ein energischer Griff hält mich zurück: <Hiergeblieben!

Was fällt Dir ein, einfach aufzustehen und hier herumzulaufen, setz dich sofort wieder auf

deinen Platz.> [...] Immer wieder versuche ich von meinem Stuhl aufzustehen,

wegzulaufen, und werde bei der kleinsten Bewegung unbarmherzig an die Stuhllehne

gepresst. [...] Als ich nicht aufhöre zu schreien und zu weinen, greift Schwester Hildegard

plötzlich nach einem schwarzen Turnläppchen, zieht mir vor allen Kindern die Hose

herunter und schlägt mit dem Schuh auf mich ein: < Willst du wohl sofort mit dem

Geschrei aufhören, du elendiger Bastard, deine Mutter kann dich nicht hören [...] .>

Schreiend werde ich auf mein Zimmer gebracht. Ich kriege keine Luft mehr. Jedes noch

so leise Wimmern von mir wird mit erneuten Schlägen bestraft, und so spüre ich

irgendwann nur noch das Brennen der Tränen, die mir über das Gesicht laufen.“ 324

324 Hügel-Marshall, S. 24

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Diese Szene verhilft zu einem Einblick in die Heimsituation der 50er Jahre und

in den Umgang mit dem afrodeutschen Kind Ika.

Der offizielle Grund für die Heimeinweisung weißer deutscher Kinder stand unter

dem Zeichen der Bewahrung bzw. Verhinderung einer drohenden Verwahrlosung

Jugendlicher und Kinder. Tatsächlich aber waren schon nichtige, und aus

heutiger Sicht schwer nachvollziehbare Gründe wie „unpassende“ Kleidung eines

Kindes einer alleinerziehenden Mutter, ein zu spätes Nachhausekommen,

Leistungsschwäche oder Kinderfehler, unter denen Bettnässen, Stottern,

Naschsucht und Nägelkauen subsumiert wurde, ausreichende Gründe zur

Einweisung.325 Für afrodeutsche Kinder galt die Heimunterbringung, wie weiter

oben schon beschrieben, als eine Alternative zur Auslandsverschickung. Im

Gegensatz zu weißen deutschen Kindern wurde der Aufenthalt für Afrodeutsche

häufig bis zur Volljährigkeit angestrebt, so dass sie neben der Heimerziehung

zusätzlich eine Berufsausbildung erhielten, die sie befähigen sollte, im kolonialen

Ausland im Dienste der deutschen Mission zu arbeiten und zwischen den

Völkern zu vermitteln.326 Gleichzeitig wurde die Präsenz der afrodeutschen

Heimkinder instrumentalisiert, um der Weltöffentlichkeit die Bereitschaft der

Deutschen zur Eingliederung der Kinder in die Gesellschaft aufzuzeigen, und um

die deutsche Bevölkerung zur Toleranz zu erziehen.327

In den staatlichen und konfessionellen Fürsorgeheimen der Nachkriegszeit war

der pädagogische Alltag traditionell autoritär. Er funktionierte in der Kontinuität

einer „um die Jahrhundertwende ausgeklügelte[n] und vom NS-Regime

menschenverachtend fortentwickelte[n] Straf- und Besserungspädagogik“.328

Geprägt von der Erziehung zur Härte hatten die Kinder keine Rechte sondern nur

Pflichten, an die sie sich ohne Gegenwehr und kritiklos halten mussten. Es fand

eine Erziehung zur Ordnung und Disziplin statt, die letztlich das so erzogene

Kind zur Unmündigkeit heranzog.329 Schläge, verbale und körperliche

Erniedrigungen wurden zur Durchführung dieser Ziele benutzt.

325 Vgl. Ebenda, S.43f326 Vgl. Lemke Muniz de Faria, S. 120 f.327 Vgl. Lemke Muniz de Faria, S.70328 Wensierski, S.42, vgl.. auch ders. S. 55 f und Roth, S.9329 Vgl. Roth,S. 54

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In der oben zitierten Szene wird deutlich, dass die Heimsituation für Ika andere

Gefahren und Verletzungen birgt, als es die Situation in ihrer Familie schon tat.

Hier erfährt sie keinerlei Schutz seitens einer erwachsenen, ihr positiv

zugewandten Bezugsperson, sondern eine im höchsten Maße lieblose,

gewaltvolle, willkürliche und erniedrigende Behandlung durch die Erzieherinnen,

denen sie ausgeliefert ist. Vom ersten Tag an wird die siebenjährige Ika

stigmatisiert als das Schwarze, uneheliche Kind, und sie wird als „Bastard“330

rassifiziert. Sie erfährt eine Entwertung ihrer Person, indem sie zum tierähnlichen

Wesen degradiert wird. Es wird ihr hierbei die volle Menschlichkeit und die

Zugehörigkeit zu der weißen Gruppe abgesprochen.

Die hier beschriebenen Ausschlussmechanismen und Rassifizierungen setzten

sich in der autobiografischen Erzählung der Autorin über die Heimsituation fort.

Im Folgenden gehe ich auf Ikas Überlebensstrategien im Heim ein um

darzustellen, dass die Versicherung des Jugendamtsleiters, Ika ausschließlich in

einer Heimeinrichtung ein unbeschwertes und vor der Gehässigkeit anderer

Leute geschütztes Leben ermöglichen zu können, nicht zutrifft. Denn Ika wächst

unter traumatischen Bedingungen auf, die ihr jegliche Existenzberechtigung

absprechen und ihr Wertlosigkeit suggerieren.

„Ich bin die einzige, die nie gelobt oder belohnt wird. Mein Notendurchschnitt liegt zwar

stets zwischen ‚gut‘ und ‚befriedigend‘, doch Schwester Hildegard sagt nach jedem

Zeugnis: < Du warst nicht fleißig genug, schau dir die Noten der anderen an. Das nenne

ich fleißig, sie sind nicht vorlaut, so wie du, und haben in Betragen eine Eins, schämen

solltest Du dich. Aber wir haben ja alle gar nichts anderes von dir erwartet. Wisch dir die

Tränen ab, heulen hättest du früher sollen, jetzt nützt es dir nichts mehr >. [...] < Wenn

Du auf die Hilfsschule willst, mußt du es nur sagen, ich wundere mich sowieso, daß du

noch nicht dort gelandet bist, da sind doch fast alle, die so sind wie du.> Völlig verwirrt

laufe ich in den Waschraum, schaue verzweifelt in den Spiegel und wünsche mir so sehr,

nicht so zu sein, wie ich bin. Wenigstens für einen einzigen Tag will ich weiß sein, ganz

besonders dann, wenn es Zeugnisse gibt.“331

330 ursprünglich abwertender Begriff für uneheliche Kinder, seit der Kolonialzeit Bezeichnung für Kinder aus Beziehungen von Schwarzen und Weißen, die „wider der Norm“ oder „illegitim“ und „unfruchtbar“ seien. Hier wurde die Erkenntnis, dass Hybride in der Tier-und Pflanzenwelt meist unfruchtbar sind, auf Menschen übertragen und somit eine rassifizierende Verbindung von Schwarzen Menschen zum Tierreich hergestellt. (Vgl. Arndt 2004, S.91)331 Hügel-Marshall, S. 29

Page 117: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

Die Autorin betont, dass sich im Heim niemand für ihren Fleiß und Ehrgeiz

interessiert, im Gegensatz zu dem der weißen Kinder. Dieser Entzug des

Interesses für sie kommt einem Aufmerksamkeits- und Liebesentzug gleich. Ihr

begegnen emotionale Kälte und Gefühlslosigkeit und sie erfährt eine wiederholte

Ablehnung und Abwertung ihrer Person. Es wird ihr vermittelt, dass unabhängig

von ihrem Willen, sie nie den weißen Kindern ebenbürtig werden kann, womit der

ihr zugewiesene Status als rassisch minderwertig untermauert wird.

Eine der Folgen dieser Ausschlusspraktiken für Ika ist, dass sie, allein auf sich

gestellt, sich die meisten alltagstauglichen Fertigkeiten, wie Briefe schreiben und

abschicken, telefonieren, einkaufen und kochen, selbst beibringen muß. Das

Heim bietet also auch im Hinblick auf die Erziehung zur Selbständigkeit, und

damit auch zu einer gewissen Unabhängigkeit, keinen familiären Ersatz. Damit

bleibt der Appell des Jugendamtsleiters an Ikas Mutter, ihre Tochter wegzugeben,

damit „aus ihr etwas werden kann“, wertlos. Im Gegenteil werden hier meines

Erachtens Ikas Stärken und ihre Vorteile den weißen Kindern gegenüber

untergraben bzw. geleugnet, und die Realität verkehrt herum dargestellt, um die

weißen Kinder stellvertretend für alle Weißen aufzuwerten. In derselben Absicht

liegt m.E. auch ihr Ausschluss aus der Gemeinschaft. Denn für die weiße,

bürgerliche Ordnung stellt die Afrodeutsche Ika eine Bedrohung dar. Und

paradoxer Weise ist sie für die Aufrechterhaltung dieser Ordnung wesentlich,

denn sie dient als Projektionsfläche für all die menschlichen Wesenszüge, die

vom weißen Subjekt im Prozess der Zivilisation abgespalten werden mussten.332

Roth argumentiert dass, wenn alle Ordnungsverstöße als direkter Angriff gegen

die Person des Erziehers betrachtet werden, das Kind gezwungen ist, möglichst

untertänig und brav zu sein. Es darf nicht auffallen333. Als Afrodeutsche fällt Ika

permanent auf.

„Spätestens, wenn ich ungezogen bin oder mich falsch verhalte, werde ich von allen

unmißverständlich darüber aufgeklärt, wie es sich mit meinem Anderssein verhält.

Plötzlich werde ich das kleine Teufelchen, das unberechenbare Geschöpf, bar jeglicher

Intelligenz, mein Handeln vom Instinkt geleitet: < das ist der Neger, der in dir steckt.>.“334

Und

332 Vgl. Kapitel 2.3333 Roth, S.63334 Hügel-Marshall, S. 39

Page 118: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

„Doch wie sehr ich mich auch anstrenge, nicht aufzufallen, wie sehr ich mein

Schwarzsein auch verdränge, dem Verletztwerden kann ich mich nicht entziehen. Ich bin

immer sichtbar.“335

Um Schlägen, verbalen und körperlichen Erniedrigungen möglichst wenig

ausgesetzt zu sein, versucht sie auf Beleidigungen oder Angriffe nicht zu

reagieren, ihrem Umfeld keinen „Zündstoff“, keinen Anlass für Aggressionen zu

liefern und keine Herausforderung anzunehmen.

„Still sein und stillhalten, wohl wissend, sie lauern begierig auf ein unbedachtes Wort, mit

dem ich ihnen eine Rechtfertigung dafür liefere, auf mich einzuschlagen, wenn sie mit

ihrer Hilflosigkeit nicht anders umzugehen wissen.“336

Die Autorin schreibt dass sie meistens nicht über die Gründe ihres

Fehlverhaltens aufgeklärt wurde. Sie kann weder überprüfen, was sie falsch

gemacht hat, um sich dann zukünftig adäquat zu verhalten und Strafen zu

entgehen, noch ob die Anschuldigungen, die gegen sie vorgebracht werden,

richtig sind. Die Kommunikation zwischen ihr und dem weißen Umfeld ist

gestört. Ika ist völlig isoliert, ohne einer ihr beratend, tröstend und Wärme

spendend zur Seite stehenden Vertrauensperson. Sie lebt handlungsohnmächtig

in einem Stadium des Ungewissen, der Verwirrung und der emotionalen Kälte.

Hier sind Elemente der Scham und einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung

enthalten, die Ika in der ihr vom weißen Umfeld zugeschriebenen rassifizierten

Situation verharren lassen.

„Ich habe kein Handwerkzeug, um zu lernen, wie ich meinen Stolz entwickeln könnte, vor

allem warum und wofür. Ich habe etwas anderes gelernt: „ Du bist dumm, Schwarze

Menschen sind nichts wert, unabhängig davon, was sie leisten und was sie können.“

Weißen Menschen kann man nicht trauen. Sie wissen genau, wie sie mit mir umzugehen

haben, sie kennen ihre Mittel.“337

In ihrer Aussage, Weißen nicht trauen zu können, wird aber auch ein Wissen um

die „Anderen“ erkennbar, das Ika aus der Handlungsohnmacht in eine

335 Ebenda, S. 46336 Ebenda, S. 47337 Hügel-Marshall, S. 30

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widerständige Haltung führt. Denn aus dieser Erkenntnis heraus folgert sie, dass

sie ihre Gefühle und Empfindungen zum Schutz vor weiteren Verletzungen und

Erniedrigungen nicht zeigt, und sich somit einen Raum schafft, der ihr zum

ÜberLeben verhilft: „Ich halte meine Tränen zurück, bis ich allein im Bett liege.

Ich bin verletzt, aber schon klug genug, nicht zu weinen.“338

Gleichzeitig drückt Ika hier einen Zustand der inneren Isolation aus, da sie ihre

Empfindungen versteckt halten muss. Das einzige Medium, durch das sie ihren

Gefühlen und Gedanken Ausdruck zu verleihen vermag, sind Gedichte und

Zeichnungen. „Nur auf Papier gelingt es mir, Dinge auszudrücken, die ich nicht

auszusprechen wage.“339

Sie genießt die wenigen Minuten oder Stunden, die sie allein ist, um so ohne

Aufsicht und ohne rassifizierende weiße Blicke ihrer Realität entfliehen zu

können.

„ Völlig vertieft baue und spiele ich stundenlang, spiele, um zu vergessen, spiele mit

Dingen, die wie ich wertlos sind. So erschaffe ich mir eine Phantasiewelt, die nur für mich

Bedeutung hat, und die mir niemand wegnehmen kann.“340

In dieser höchst traumatischen Lebenssituation versucht sie dem sinnlosen einen

Sinn zu geben, um überleben zu können: „Ich gehe schmerzhaft und unerbittlich dem

Sinn des Leidens nach, ich gebe nicht auf. So halte ich mir die Ehrfurcht und Achtung gegenüber

den verborgenen Gefühlen wach.“341

Meines Erachtens ist es beachtenswert, dass sich Ika trotz des Gefühls der

Wertlosigkeit bemüht, dem Leiden einen Sinn zu geben. Hier sehe ich auch ihre

Stärke und ihren Überlebenswillen, denn ihr Weg erscheint mir wie eine

Kampfansage an den Wahnsinn, der ihr widerfährt. Die Autorin schreibt dass „ in

einer rassistischen Gesellschaft [zu] überleben heißt kämpfen, tagtäglich.“342

Für Schwarze Menschen ist ein ÜberLeben in einer rassistischen Gesellschaft

ein permanenter Kampf, der sehr viel Kraft und Energie kostet. Ayim schreibt,

338 Vgl.. Hügel-Marshall, S.43, Ideal der Gefühlslosigkeit, Miller A.A.w.Erz. S.102339 Hügel-Marshall, S.35340 Ebenda, S.26341 Vgl. Hügel-Marshall, S.43

342 Hügel-Marshall, S.43

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dass Rassismus und Diskriminierung Stressfaktoren sind. 343 Es bedeutet Stress,

permanent aufzufallen, „[...] sich immer und überall erklären zu sollen, ständig

vor verbalen und auch tätlichen Angriffen auf der Hut sein zu müssen und sich

nie unbefangen äußern und bewegen zu können“.344 Es bedeutet Stress „ sich

gegenüber weißen Menschen ständig als progressiv und intelligent beweisen zu

müssen“.345

Indem Ika sich die Achtung und Ehrfurcht gegenüber ihren verborgenen

Gefühlen wachhält, bleibt sie im Kontakt mit ihrem Wesen, und kann so

überleben. Gleichzeitig schützt sie sich so vor dem Aggressor. Sie bezahlt dies

zwar mit Einsamkeit, was aber angesichts des traumatisierenden Umfeldes eine

gute Investition ist, denn faktisch kann sie niemandem trauen.346

Bis hierher findet die Bedeutung des konfessionellen Rahmens, in dem

zumindest die Heimerziehung stattfindet, noch keine Beachtung. Im Folgenden

gehe ich auch auf diese ein und beleuchte sie im Hinblick auf rassifizierende

Muster.

4.4. Rassismus und Kirche

Zu der entmenschlichenden und rassistischen Erziehungspraxis der

Fürsorgerinnen kommt deren kirchlicher Aufklärungs- und Missionsgedanke

hinzu. Roth schreibt, dass aufgrund der klerikalen Monopolstellung der Kirche

innerhalb der institutionellen Erziehung das moralische Über-Ich des (weißen)

Heimkindes religiös vergewaltigt wird.347 Zudem konstatiert der Autor, dass

konfessionelle Heime weitaus häufiger die Prügelstrafe anwandten als die

staatlichen.348 Besonders in konfessionellen Häusern war oder ist die Diskrepanz

zwischen dem gepredigten Wort und der tatsächlichen Handlungen sehr groß.

Durch den gelehrten Glauben an die Erbsünde werden den Kindern, die als

343 Vgl. Kapitel 2.5344 Ayim, S .108345 Ayim, S.102

346 Selbst das Vertrauen zur wichtigsten Bindungsperson, der Mutter, ist gestört. 347 Vgl. Roth, S. 8348 Ebenda, S. 55

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verlorene Seelen und wertlose Geschöpfe mißachtet werden, Schuldgefühle und

die Notwendigkeit der ewigen Dankbarkeit gegenüber dem Klerus eingeimpft.349

Wensierski schreibt, dass sich die konfessionellen ErzieherInnen nicht nur mit

der Erbsünde konfrontiert sahen, sondern dass sich zu dieser Zeit außerdem „die

starren Ordnungen einer bigotten Gesellschaft aufzulösen begannen. <Schamlosigkeit> und

<Gemütsrohheit> der Jugend seien eine furchtbare Folge solcher Tendenzen <für unser

deutsches Volksleben>, heißt es im Protokoll des Verwaltungsrats der Diakonie der

Evangelischen Kirche im Rheinland. [...] <Wir Erzieher spüren täglich mehr Unvermögen, diesen

entfesselten satanischen Kräften zu begegnen.> .“ 350

Unter diesen Umständen wird Ika zu dem Wesen phantasiert, dass in der

dichotomen Auffassung von Gut und Böse am weitesten von dem kirchlichen

Ideal des „Guten“ lokalisiert ist. Sie symbolisiert das, was das weiße Subjekt

nicht sein will, und wovor es sich fürchtet. „Plötzlich werde ich das kleine Teufelchen, das

unberechenbare Geschöpf, bar jeglicher Intelligenz, mein Handeln vom Instinkt geleitet: < Das ist

der [N...], der in dir steckt >.“ 351

Während dem weißen Kind Schuldgefühle auferlegt werden, erfährt Ika eine

zusätzliche Demütigung und unterliegt dem Prozess der Entmenschlichung: Sie

wird zum personifizierten Bösen, dem kleinen Teufel. Wie dieser als halb Mensch

und halb Tier dargestellt wird, verkörpert auch sie gleichzeitig das tierische im

Menschen: Sie ist ein „N...“ und ein „Bastard“ und damit dem Tierreich näher als

der weiße Mensch.

„Weil Rassismus kein biologisches, sondern ein diskursives Regime darstellt, werden

diese Gleichsetzungen: Schwarze Haut – vertiert – sexualisiert, schließlich akzeptiert.

Menschlichkeit zu zeigen, wird gleichgesetzt mit Weiß-Sein.“352

Grada Ferreira schreibt, dass das „N...“-Wort Schwarze Subjekte in ein

koloniales setting versetzt, in welchem sie als minderwertige Rasse klassifiziert

und als mißbrauchtes, versklavtes und ausgeschlossenes Subjekt positioniert

werden.353 Damit beschwört es die traumatische Schwarze Erfahrung des

349 Wensierski, S.47350 Wensierski, S. 49351 Ebenda, S. 39, Im Verlauf ihrer Heimunterbringung wird sie zur „Teufelsaustreibung“ gezwungen, die sie stark traumatisiert übersteht. (Vgl. Hügel-Marshall, S. 35)352 Ferreira, S. 161353 Ferreira: „Don´t You Call Me Neger“

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kolonialen Traumas herauf. Das afrodeutsche Kind wird zum Symbolträger eines

„gefallenen“ Menschen.

In einem der weißen Kirche immanenten Rettungs- und Heilungsanspruch an die

Menschheit erfährt Ika im April 1957, mit zehn Jahren, eine Teufelsaustreibung.

„< Morgen wirst Du mit mir und Tante Gertrud nach Hamburg fahren. Du willst doch ein

artiges Kind werden, oder? Wir wissen, dass du eine Rabenmutter hast, die sich mit

einem Neger eingelassen hat – das ist eine schwere Sünde. Dein Blut ist nicht rein, und

du hast viele Teufel in dir. Damit Du ein artiges und reines Kind werden kannst, werden

wir morgen in Hamburg mit dir beten. Nun schreibe gehorsam alle deine Sünden auf ein

Blatt Papier.> Ich gehorche und schreibe: Ich bin ungezogen, ich bin unordentlich, ich

gebe Widerworte, ich kämme mein lockiges Haar nicht ordentlich, nicht glatt genug, ich

bin in der Schule nicht fleißig, ich will nicht mit anderen Mädchen spielen, ich schlafe

abends nicht sofort ein, ich bin laut, ich will andere Kinder nicht an die Hand nehmen,

wenn wir spazieren gehen, ich bin faul, ich lüge, und wenn ich bete, bitte ich Gott um die

falschen Dinge.“354

So wie die weiße Wissenschaft die gewaltvollen Praxen der Erziehung

(Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung) durch die

Unterstellung rechtfertigt, aus Kindern erst Menschen machen zu müssen355,

rechtfertigt das weiße, hier konfessionelle, Subjekt die psychischen und

physischen Mißhandlungen der Teufelsaustreibung durch die Unterstellung einer

„rassischen“ Sünde. Dies ist hervorhebenswert, denn die hier stattfindende

Vermengung von christlichem Gebräuchen der „symbolischen“ Reinwaschung

der Menschheit von der Sünde durch z.B. Taufe, Kommunion oder Buße, und

dem faschistoiden und rassistischen Glauben an eine „Reinheit“ des Blutes steht

einerseits in der Kontinuität eines sich durch Gewaltausübung kennzeichnenden

Missionierungs-, Kolonisierungs-, Weltbeherrschungs- und Eroberungswillen.

Andererseits findet in ihr ein Widerspruch statt, denn während die Kirche die

Erlösung der Sünde allen Menschen offen hält, kann der Schwarze Mensch, der

Konstruktion des biologischen Rassismus folgend, nicht von der symbolischen

Unreinheit, die das Schwarze Subjekt zu dem „Anderen“ konstruiert, gereinigt

werden.356

354 Hügel-Marshall, S. 35355 Albrecht-Heide 2005, S.449

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Eine mögliche Lösung dieses Widerspruchs kann in der mangelnden Möglichkeit

der Sterilisation der afrodeutschen Kinder liegen. Während noch bis zum

Kriegsende Schwarze Menschen zum Zwecke der Erhaltung des „gesunden

Erbguts“ sterilisiert wurden, war diese Möglichkeit nach Kriegsende nicht mehr

gegeben. Die Mißhandlung durch Teufelsaustreibung könnte somit als „Not-“

oder „Ersatzlösung“ fungiert haben, in der man eine imaginäre „Reinigung“ des

Kindes zum Zwecke der besseren erzieherischen Verfügbarkeit ( „Damit Du ein

artiges und reines Kind werden kannst“) durchführte, während für die

„Reinhaltung“ des Blutes, also der Verhinderung einer Reproduktion Schwarzer

Menschen, das Stigma als sexualisierte und rassifizierte Schwarze Frau

möglicherweise als genügend erachtet wurde.357

Ikas Körper dient hier als Projektionsfläche für koloniale Phantasien, für die

Entladung der eigenen verdrängten Aggressionen und verdrängter Sexualität.358

Durch die Teufelsaustreibung „im Namen Gottes“ erfährt das weiße christliche

Gewissen eine Erlösung, denn das afrodeutsche Kind büßt stellvertretend für alle

Sünder, und in erster Linie für die Sünden der eigenen Mutter.

Die psychischen Folgen dieser Mißhandlung sind für Ika verheerend:

„Jahrelang habe ich Alpträume und fürchte mich vor mir selbst und vor der Dunkelheit.

Überall vermute ich kleine Teufel [...]. Ich habe Angst, dass die Teufel versuchen, mich

heimlich zu fangen, um mich dann zu quälen und anschließend in eine tiefe Grube zu

werfen. Ich bin zehn Jahre alt und fühle mich schrecklich schuldig. Ich beginne meine

Hautfarbe zu hassen. Fortan gibt es für mich keinen sehnlicheren Wunsch, als weiß zu

sein.“359

4.5. Rassismus und Sexualität: Gendered Racism

356 Breits im frühen 19. Jahrh. wurde die Schwarzen Frau als Trägerin pathogener Krankheiten konstruiert, um so auf wissenschaftlicher Basis ihre antithetische Position zur weißen Frau zu legitimieren. Vgl. Gilman1992, S. 124357 Vgl.Kapitel 4.5358 Vgl. Ferreira 2003359 Hügel-Marsghall, S. 38 f.

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Anhand Ikas Biografie werde ich im Folgenden auf die Verbindung von

verdrängter weißer Sexualität und der Rassifizierung Schwarzer Frauen

eingehen.

Hügel-Marshall beschreibt eine Szene, in der sie mit ca. 16 Jahren als “

sexualisierte Wilde“ konstruiert wird. Nach der Abschlußfeier der Hauptschule

geht sie mit einigen MitschülerInnen in die nahegelegene Eisdiele, ein Treffpunkt

für alle Jugendlichen in Ikas Alter. Hier wird sie von der Heimleiterin angetroffen

und beschimpft.

„< Was hast Du hier zu suchen? Was denkst Du Dir eigentlich dabei? Ich beobachte dich

schon eine Weile, ausspucken möchte ich am liebsten vor dir. > [...] < Setz Dich! > schreit

Schwester Hildegard mich an. < Wenn ich dich noch ein einziges Mal mit diesen oder

anderen Jungen erwische oder davon erfahre, kannst du was erleben. Du solltest Dich

schämen, pfui Teufel. Auf die schiefe Bahn kommst Du noch früh genug, und da das

anscheinend schneller geht, als ich dachte, habe ich beschlossen, dich so bald als

möglich in einem Internat unterzubringen, wo Du zur Kinderpflegerin ausgebildet werden

wirst. Heiraten wird dich eh niemand, deshalb wirst du später mal alleine für dich sorgen

müssen. > – < Ich will aber nicht Kinderpflegerin, sondern Lehrerin werden.> – < Du

wirst einen sozialen Beruf ergreifen, das ist das einzige, was für dich in Frage kommt, zu

was anderem bist du auch gar nicht in der Lage. Was deine Lehrerin oder sonst wer

möglicherweise sagt, ist mir egal. Allein schon die Tatsache, daß du dich mit Jungens

rumtreibst, zeigt mir, daß du nicht in der Lage bist, ein anständiges Leben zu führen.

Ausnutzen werden sie dich, und du dumme Gans wirst drauf reinfallen. Glaubst du denn

wirklich, daß dich jemand will? > Was soll ich darauf antworten? Ich will doch mit anderen

zusammensein, mich dazugehörig fühlen, dabeisein. Ich will doch auch fühlen, wie es ist,

wenn jemand für mich schwärmt.“360

Zwei wesentliche Punkte sind bei der Analyse dieser Szene zu beachten. Zum

Einen der gesellschaftliche Rahmen der 50er und 60er Jahre mit dem Blick auf

das Idealbild der weißen deutschen Frau, und zum Anderen die Rassifizierung

und Sexualisierung Ikas als Schwarzer Frau.

4.5.1. Das Frauenbild der 50er Jahre in Deutschland

360 Hügel-Marshall, S. 54

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Bedingt durch den Mangel an Männern, die im Krieg gefallen waren oder sich in

Kriegsgefangenschaft befanden, leisteten weiße deutsche Frauen während und

unmittelbar nach dem Krieg den Großteil der anfallenden Arbeiten. Als

„Trümmerfrauen“ sicherten sie den Wiederaufbau und rapiden Neuanfang, als

alleinerziehende Mütter verkörperten sie das Familienoberhaupt, und durch die

im öffentlichen Bereich liegende Arbeit erfuhren sie Anerkennung und

Aufwertung.361 Die Autorinnen Delille und Grohn konstatieren, dass weder vor

noch nach dem Krieg ihnen diese Arbeiten und die damit einhergehende

gesellschaftliche Position und Status wieder zugemutet wurden.

Gegenteilig wurden die weißen deutschen Frauen, so die Autorinnen, in den 50er

Jahren in die traditionelle Rolle der Ehefrau und Mutter gedrängt. Sowohl von

Seiten der konservativen Politik wie auch der christlichen Kirchen wurden die

Werte der nun “modernen“ Frau auf „Kind, Küche und Kirche“ reduziert.362 Das

Mutter-Sein wurde zum Beruf stilisiert, denn die Familie als wirtschaftliches und

gesellschaftliches Gut, hatte die Funktion der Zeugung und Aufzucht der

Nachkommen für die Gesellschaft.363 So äußerte sich der damalige

Familienminister Würmeling wie folgt:

„<Der Mutterberuf ist Hauptberuf wie jeder andere Beruf und hat höhere Werte als jeder

Erwerbsberuf>“364 Zudem wurde den Frauen als „den Gefühlsträgerinnen der

Beziehungen [...] dabei die Funktion der inneren Harmonisierung und Repräsentation des

<kleinen Glücks> nach außen zugewiesen. Ehefrauen wurden nicht als eigenständige

Personen dargestellt, sondern als auf das Wohl ihres Ehemannes und das Gelingen der

ehelichen Beziehung gerichtet. [...] So entstand der Mythos von der <vollkommenen

Ehefrau>.“365

Durch die Einführung der modernisierten Haushaltsgeräte wurde den Frauen

zwar die Hausarbeit erleichtert, so dass sie sich mit mehr Zeit und Energie den

Kindern, dem Haushalt und ihrem Ehemann widmen konnten. Die „eingesparte“

361 Vgl. Delille, S.16362 Vgl. Ebenda, S.120363 Vgl. Ebenda, S.80364 Delille S. 70, Die außerhäusliche Erwerbstätigkeit von verheirateten Frauen wurde im Paragraphen 1360BGB geregelt, wonach die Möglichkeit einer Tätigkeit vom Einverständnis des Ehemannes abhängig war S.(28)365 Ebenda, S.125

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Arbeitszeit und Kraft hingegen wurde, entgegen dem Idealbild der „modernen

Frau“, von verheirateten Frauen und Müttern zur außerhäuslichen

Erwerbstätigkeit genutzt,366 um sowohl der gesellschaftlichen Orientierung an

Konsumgütern zu folgen, wie auch um den gestiegenen Bedarf an weiblichen

Arbeitskräften von seiten der Wirtschaft zu stillen.367

In den 50er Jahren bildete sich also ein Frauenbild heraus, dass zur

modernisierten Hausarbeit gehörte und dessen Leitbild die schicke, adrette,

gepflegte weiße Hausfrau und Mutter war, die peinlichste Ordnung und

Sauberkeit einzuhalten hatte. Die Autorinnen betonen, dass das „ Gebot der inneren

und äußeren Anständigkeit [...] bis zur Perversion übertrieben [ wurde ]. <Anständigkeit> mußte in

allen Bereichen familiären und gesellschaftlichen Lebens gewahrt bleiben. Jede nur vermutete

<Unregelmäßigkeit> erhielt somit den Stempel der <Unanständigkeit> und entging so jeglicher

Reflexion.“368

Unterstützt wurde dieses Bild der Frau von der christlichen Kirche, die „in dem

verstärkten Einsatz von Frauen in dem gesellschaftlichen Aufbauprozess eine

akute Bedrohung von Ehe und Familie“ sah.369

Aber auch die angebliche Lockerung der Sexualmoral der 50er Jahre wurde von

der Kirche kritisch betrachtet. Enthaltsamkeit galt als sexueller Standard. Die

katholische Kirche erklärt „ Jungfräulichkeit [...] in den 50er Jahren zum <lebendigen

Mahnmal> gegen den <Materialismus des Geldes>, gegen die <Bedrohung der Lüste> und <zum

lebendigen Protest gegen alle Sklaverei der Triebe> [...] “.370 Dabei werden Askese,

Jungfräulichkeit und monogame Beziehungen in rigoroser Weise explizit nur von

Frauen gefordert, während männliche sexuelle Ausschweifungen mit weniger

schwerwiegenden Folgen zu rechnen hatten.

„Ihre sexuelle Erfüllung findet sie sowieso im Empfangen und Gebären. In einer

neuerlichen Mystifizierung und Verklärung ist das <harte Los des Mutterseins> zu einem

Akt der Selbstfindung geworden. Nicht nur der Kinderwunsch sei in der Natur der Frau

366 Die Zahl der außerhäuslich erwerbstätigen Mütter verdreifachte sich trotz massiver Propagierung des Fauenideals als Hausfrau und Mutter ( S.50)367 Vgl. Delille S. 50368 Delille S. 128 ; Was blieb für Ika übrig, wenn sie in die se bigotte und biedere Ordnung nicht hineinpasste?369 Ebenda, S. 72370 Ebenda, S. 73

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begründet, sondern auch Pflege und Erziehung der Kinder werden als dem Wesen der

Frau zugehörig erklärt.“ 371

Die Autorinnen betonen, dass das „Einwirken der Kirche auf Moral und sittliches

Bewußtsein der Bevölkerung in den 50er Jahren [...] die Tendenz einer zur Schau getragenen

und aufdringlichen Biederkeit und Prüderie mitbestimmt und untermauert hat“.372

Delille und Grohn konstatieren, dass die Propagierung der Ehe als dem einzigen

Ort für die Ausübung der Sexualität zur sozialen Ablehnung aller anderen

Lebensformen geführt hat, so dass unehelich geborene Kinder und ihre Mütter

Diskriminierung erfuhren.373 Viele der in Heimen der Nachkriegszeit lebenden

Kinder waren unehelich geboren oder kamen aus zerrütteten familiären

Verhältnissen. 374 Auch für sie stand jegliche Beziehung zwischen Jugendlichen

unterschiedlichen oder gleichen Geschlechts und jegliche Form der Sexualität

unter härtester Strafe. Aus Schriften der 30er Jahre kann man entnehmen dass

zum Kampf gegen die Folgen der Erbsünde die lückenlose Kontrolle der

Heimkinder gehörte, besonders in den Schlafräumen. „ Um gut zu überwachen, bleibt

man am besten an einer Stelle stehen, von wo aus man alles übersehen kann. Die Zelle, in

welcher die überwachende Schwester schläft, soll an geeigneter Stelle eine oder mehrere

Öffnungen haben, damit man über alles, was im Schlafsaal vorgeht, sich Rechenschaft ablegen

könne.“375 Es ist davon auszugehen, dass auch in der Nachkriegszeit von diesen

oder ähnlichen Kontrollmechanismen Gebrauch gemacht wurde.

Heimkindern, bei denen das gewaltvolle Straf und Überwachungssystem

erfolglos blieb, wurden oft ungerechtfertigterweise in Psychiatrien eingewiesen.376

Aber auch in öffentlichen Räumen fanden unter der Annahme einer

Verwahrlosung der Jugend polizeiliche Kontrollen statt. Gesetze wurden

erlassen, die den Bewegungsraum junger Leute einschränkten, und vom

Jugendamt wurden Akten über „sittenwidriges“ Verhalten Jugendlicher geführt377

Wie schon weiter oben beschrieben galt voreheliche Sexualität, v.a. für Mädchen,

als Schande, die um alles in der Welt vermieden werden sollte.

371 Ebenda, S. 74372 Delille S. 73373 Vgl. Delille S. 73374 Die Kriterien für „zerrüttete familiäre Verhältnisse“ waren oft, wie schon oben erwähnt, nichtig.375Wensierski, S.48376 Ebenda , S.49377 Ebenda, S.54

Page 128: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

„<Der Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe hinterlässt vor allem bei Mädchen

zeitlebens ein Gefühl des Peinlichen und der Schuld>, warnt ein [ ] Ratgeber“.378

Der damalige Familienminister Wuermeling appellierte an die Jugend, ihre Triebe zu

unterdrücken und <Selbstzucht> und <Verzicht> zu üben.379

Unter diesen Umständen wird einer der Gründe ersichtlich, warum die

Heimleiterin Ikas Verhalten in der oben beschriebenen Szene in der Eisdiele

sofort in Beziehung zu einem sexualisierten Verhalten stellt. Ein weiterer Grund

liegt in der Kontinuität der Sexualisierung Schwarzer Frauen in der modernen,

westlichen Gesellschaft.

4.5.2. Die sexualisierte Schwarze Frau

Bereits in der Berufszuweisung für Ika durch die Heimleiterin scheint das Bild der

sexualisierten Schwarzen Frau auf.

„<Ich will aber nicht Kinderpflegerin, sondern Lehrerin werden.> – <Du wirst einen

sozialen Beruf ergreifen, das ist das einzige, was für dich in Frage kommt, zu was

anderem bist du auch gar nicht in der Lage. [...] Heiraten wird dich eh niemand, deshalb

wirst du später mal alleine für dich sorgen müssen.> “380

Ika bekommt als einzige der in der Szene vorkommenden Frauen eine

Lebensunfähigkeit attestiert, die sie allein durch einen „dienenden“ Beruf

kompensieren kann.

Zu Beginn der 60er Jahre wurden die Diskussionen zur Integration afrodeutscher

Kinder in die deutsche Gesellschaft wieder aufgenommen, nachdem die

Nachkriegsgeneration in die Berufswelt einsteigen sollte. Den afrodeutschen

Jungen wurde dabei eine bessere Berufschance attestiert als afrodeutschen

Mädchen. Für diese schienen die Berufe der Krankenschwester oder

Kinderpflegerin als die am Besten geeigneten zu sein, da sie der „Natur“ der Frau

378 Ebenda, S. 16f 379 Ebenda, S. 53380 Hügel-Marshall, S. 54

Page 129: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

am nächsten ständen, so die Argumentation. Gleichzeitig würden sie den

afrodeutschen Mädchen und jungen Frauen, die aufgrund ihrer „rassischen

Andersartigkeit“ keine Chancen auf dem Heiratsmarkt hätten, zur Selbständigkeit

verhelfen, denn diese Berufe könnten auf der ganzen Welt, so auch in den

ehemaligen Kolonien, ausgeübt werden.381

Diese Argumentationen stehen wiederholt in der Kontinuität der Rassifizierung

Schwarzer Menschen als „andersartig“, und Verortung Afrodeutscher in eine

„wahre Heimat“, da sie sich den Aussagen zufolge „ durch psychische Eigenschaften,

die sie als väterliches Erbteil bekommen haben, für Tätigkeiten in tropischen oder subtropischen

Gebieten besonders eignen [würden]“. 382 Die Auswahl der Berufe für afrodeutsche

Frauen erinnert an alte koloniale Muster der Rassifizierung Schwarzer Frauen als

der „Urmutter“, die sich durch eine gesteigerte Fertilität auszeichnet und sich so

für den Beruf der Kinderpflegerin qua ihres „naturgegebenen“ Bezugs zu Kindern

eignet, und der Krankenschwester, als der „gehorsamen Dienerin“.383

Und gleichzeitig wird durch die Betonung ihrer „natürlichen Veranlagung“ für

diese Berufe in der Debatte um afrodeutsche Kinder nicht nur „Rasse“

thematisiert, sondern auch das Geschlecht.384

Im folgenden Abschnitt des Zitats gehe ich genauer auf die Äthiologie des Stigma

und der damit einhergehenden Reduzierung der Schwarzen Frau auf einen

sexualisierten Körper ein.

„< Wenn ich dich noch ein einziges Mal mit diesen oder anderen Jungen erwische oder

davon erfahre, kannst du was erleben. Du solltest Dich schämen, pfui Teufel. Auf die

schiefe Bahn kommst Du noch früh genug> [...] <Allein schon die Tatsache, daß du dich

mit Jungens rumtreibst, zeigt mir, daß du nicht in der Lage bist, ein anständiges Leben zu

führen. Ausnutzen werden sie dich, und du dumme Gans wirst drauf reinfallen. Glaubst

du denn wirklich, daß dich jemand will?> Was soll ich darauf antworten? Ich will doch mit

anderen zusammensein, mich dazugehörig fühlen, dabeisein. Ich will doch auch fühlen,

wie es ist, wenn jemand für mich schwärmt. <In 14 Tagen bist Du im Internat. Geh mir

aus den Augen!>“ 385

381 Vgl. Lemke Muniz de Faria, S. 187382 Kursave, zitiert nach Lemke Muniz de Faria, S.187383 Vgl. Grada in Subalterne, S.158 f.384 Vgl. Lemke Muniz de Faria,, S.187385 Hügel-Marshall, S.54

Page 130: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

In der oben erwähnten Debatte um den Berufseinstieg wurde der Frage der

Partnersuche afrodeutscher Jugendlicher eine übermäßig große Bedeutung

beigemessen. „ In der Frage der Partnerschaft spiegelte sich das Spektrum von biologistischer

Determination und veralteten Rassenideologien, das in der Angst vor <Rassenmischung> zum

Ausdruck kam, bis hin zu sexualisierter Wahrnehmung von den Körpern Schwarzer Menschen

wider.“386

Während nach dem ersten Weltkrieg der Schwarze Mann zur sexuellen

Bedrohung der weißen Frau und damit der weißen „Rasse“ erkoren wurde, war

es nach dem zweiten Weltkrieg die afrodeutsche Frau. Sie wurde, analog zu den

in Presse und Film verbreiteten Stereotypen „der“ Schwarzen Frau als

Sexsymbol, feurige Liebhaberin und ewige Verführerin weißer Männer zu einer

„sittlichen Bedrohung“ der bundesdeutschen Gesellschaft.387

Während dem afrodeutschen jungen Mann die Möglichkeit der gesellschaftlichen

Anerkennung durch berufliche Tüchtigkeit attestiert wird, bleibt dem

afrodeutschen Mädchen diese verwehrt, da für sie eine Heirat, die einzige

Möglichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs für Frauen der 50er und 60er Jahre,

nicht in Frage kommt. Stattdessen wird ihr unterstellt, einen „fremdartigen Reiz“

au f weiße Männer auszuüben, der zu einer „sittlichen Gefährdung“ führe.388

Derart stigmatisiert und sexualisiert wird die afrodeutsche Frau ins Ausland, und

Ika in ein Internat, verbannt.

Das Sexualisieren und Pathologisieren des Schwarzen weiblichen wie

männlichen Körpers ist tief in der Geschichte der modernen weißen

Gesellschaften verwurzelt.

Die Sexualität verkörpert den Gegenpol der Zivilisation, und stellt eine Gefahr für

die Ordnung der modernen bürgerlichen Gesellschaft dar. In der Verdrängung

dieses „natürlichen Triebes“ und ihrer permanenten Projektion auf Trägerobjekte

sichert sich die moderne Gesellschaft ihre konstruierte Ordnung.

„Die die moderne Gesellschaft bedrohenden anti-zivilisatorischen Kräfte fanden ihr

Symbol in der ungezügelten Sexualität und diese wiederum wurde durch die <schwarze

386 Lemke Muniz de Faria, S. 179387 Vgl. Lemke Muniz de Faria, S.184f388 Vgl.Lemke Muniz de Faria, S. 188

Page 131: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

Rasse> symbolisiert. [...] Das bedrohliche, unzivilisierte, <dunkle> Feld der Sexualität

wurde mit dem bedrohlichen, unzivilisierten, <dunklen Kontinent> identifiziert.“389

Dabei kam der Schwarzen Frau in dreifacher Hinsicht eine antithetische Position

zu: Als Angehörige einer als Gegenpol zum weißen konstruierten

minderwertigen, der Natur nahestehenden „Rasse“, als dem Gegenbild der

weißen, bürgerlichen Frau, und als der Trägerin bzw. der Quelle von

Krankheiten.390

Während der Sklaverei und der Kolonialzeit wurden Schwarze Frauen und

Mädchen zur Untermauerung der weißen Vorherrschaft systematisch

vergewaltigt, geschlagen und entblößt, und ihre Körper wurden zur Reproduktion

von zukünftigen Arbeitskräften mißbraucht.

Die Schwarze Frau wird auf die Rolle der dienenden, von „Natur“ aus sehr

fertilen „Mama Africa“ reduziert, und ist gleichzeitig die Verkörperung der

sexualisierten und rassifizierten Frau: die ungezügelte, primitive Hure. Hall

argumentiert, dass Rassismus das Schwarze Subjekt immer in einer Dopplung

konstruiert, in der sich Angst und Begehren vermengen, die Strukturen des

othering durchkreuzend.391

Ika wird mal zum „bösen Teufelchen“, dem „N....“ und „Bastard“, und mal das

sexuell frühreife Mädchen, dessen Schicksal es ist, auf die „schiefe Bahn“ zu

kommen. Sie wird zur „dummen Gans“, der naiven, dummen Schwarzen. Die

eigenen weißen Verwicklungen in koloniale Strukturen und Machtphantasien

werden abgewehrt und auf Ika übertragen. Sie wird zum stigmatisierten Subjekt,

dass die „Schuld“ am Begehren und möglichen Vergehen der Männer trägt. (Da

in der Kontinuität und Logik eines biologistischen Rassismus von ihr als Kind

eines Schwarzen Vaters und einer als unmoralische „N...hure“ degradierten

weißen Mutter nichts anderes zu erwarten ist.)

Ferreira erkennt in der weißen Gesellschaft eine weiße, weibliche Furcht vor der

„Schwarzen Mutter“, eine weiße, weibliche Angst vor der sexualisierten

Schwarzen Frau und das weiße, männliche Begehren gegenüber der Schwarzen

389 El-Tayeb 2001, S. 152390 Gilman schreibt über das Bild der Schwarzen Frau im späten 18. Jahrhundert:

„Die Antithese zu europäischer Sexualmoral und Schönheitsidealen ist der Schwarze, und der Urschwarze auf der untersten Stufe der Seinskette ist der Hottentotte.“ in: Gilman, Sander 1992, S. 124391 Hall, S. 256

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Frau.392 Dabei gilt das Begehren dem Schwarzen Körper, und dient zur

Befriedigung der weißen, männlichen Lust.393 Ika bleibt in der Vorstellung der

Aggressoren der Platz als potentielle Partnerin eines deutschen Mannes, als

Ehefrau und Mutter deutscher Kinder, verwehrt. Hier findet die Kontinuität ihres

Ausschlusses aus der weißen, deutschen Gesellschaft statt. Sie bleibt die

rassifizierte „Andere“, die Fremde. Stereotypisierungen legitimieren und

reproduzieren Herrschaftsverhältnisse und damit verbundene Manifestationen

von Ausgrenzung und Diskriminierung.

Ikas ÜberLebensstrategie lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Ika leidet unter der Rassifizierung und Ausgrenzung ihrer Person. Anfangs

bemüht sie sich um die Aufmerksamkeit und den Lob der Erzieherinnen, entdeckt

aber, dass sie Weißen nicht trauen kann. Infolge dessen zieht sie sich immer

mehr zurück um der permanenten Diffamierung ihrer Person aus dem Weg zu

gehen und um ihrer Umgebung möglichst wenige Anlässe für Aggressionen zu

bieten. In dieser Isolation entwickelt sie ihre eigene Phantasiewelt und lernt für

sich zu sorgen, indem sie sich viele alltäglichen Dinge selbst beibringt.

Gleichzeitig beginnt sie zunehmend die Fremdzuschreibungen zu internalisieren

und sich für den erlebten Rassismus schuldig zu fühlen. Sie beginnt ihre

Hautfarbe zu hassen und wünscht sich weiß zu sein, um der Rassifizierung und

Isolation entfliehen zu können.

In ihrer Erkenntnis, Weißen nicht trauen zu können, entwickelt Ika eine Situation,

die ihr Sicherheit gibt. Sie bekommt die Möglichkeit sich selbst zu schützen,

indem sie ihre Gefühle vor den Aggressoren versteckt. Als eine weitere

ÜberLebensstrategie sehe ich Ikas Fähigkeit, dem Sinn des Leidens

nachzugehen, um die Achtung vor ihren Gefühlen und letztlich vor sich selbst zu

bewahren.

392 Ferreira 2003, S.159393 Vgl. Lemke Muniz de Faria, S.185

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4.6. Ikas ÜberLebensstrategien in der Schule

Die deutsche Öffentlichkeit wurde sorgfältig auf die Einschulung der 909

afrodeutschen Kinder vorbereitet, um rassistische und diskriminierende

Erfahrungen möglichst gering zu halten, und um die Kinder möglichst reibungslos

in die Gesellschaft zu integrieren.394 Zu diesem Zweck wurden sie im Auftrag des

Kultus- und Sozialministeriums und der Jugendwohlfahrtsbehörden der

besonderen Sorge der SchulleiterInnen und LehrerInnen anempfohlen. Inwieweit

der Schutz Ikas vor Rassismus, Bloßstellung und Entwertung ihrer Person greift,

werde ich im Folgenden aufzeigen.

Die Autorin schreibt, dass sie in ihren ersten Heimjahren noch gerne zur Schule

gegangen ist. Doch mit vermutlich zehn Jahren beginnt sie die Schule zu

hassen.

„Alles, was mir gelingt, was ich leiste, worauf ich stolz bin, und dazu gehören auch meine

schulischen Leistungen, ist in den Augen der meisten Lehrerinnen ein Resultat meiner

Hautfarbe.“395

Meines Erachtens legt Ikas Hass für die Schule die Vermutung nahe, dass sich

das Verhalten der LehrerInnen ihr gegenüber dahingehend verändert hat, dass

sie vermehrt offenen Rassismen und Diskriminierungen ausgesetzt war. Ein

Grund dafür könnte in einer stetigen Abnahme der sozialen und staatlichen

Kontrollen bezüglich der Lebenssituation afrodeutscher Kinder liegen, womit

sich das Interesse für deren Wohlergehen vermindern und der Weg für

Rassismen weiten würde. 396

Andererseits kann Ikas Hass auf ihre Schule auf der kontinuierlichen

Traumatisierung im Heim beruhen. Durch die Heimsituation vorbelastet, erfährt

394 Vgl. Kapitel 2.4395 Lemke Muniz de Faria, S. 47396 Denn als 1954 im Auftrag der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit eine Umfrage zur Situation afrodeutscher Kinder durchgeführt wurde, waren die Ergebnisse für die AuftraggeberInnen noch zufriedenstellend. Das Verhalten der LehrerInnen ihren afrodeutschen SchülerInnen gegenüber sei erfreulich verständnisvoll, und sie nähmen die Anwesenheit der Kinder als Anlass zur Erziehung zur Toleranz. Die Ergebnisse dieser Umfrage sind zwar nicht repräsentativ, da sie sich auf Aussagen weißer Deutscher stützen. Aber großangelegte Umfragen wie diese schaffen eine Atmosphäre der Überwachung und Kontrolle, auf die die Deutschen mit Gehorsam und Pflichterfüllung reagieren. Dies war aber nach meinen Kenntnissen die letzte Umfrage, und nach 1953 fanden keine Tagungen „zum Problem der Deutschen Mischlingskinder“ statt.(Vgl. Lemke Muniz de Faria, S.167ff.)

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sie in der Schule möglicherweise nur ein oberflächliches Interesse an ihrer

Person, begleitet von weiteren Ausgrenzungserfahrungen. Nach ihren

Beschreibungen genießt sie keinen geschützten Raum in ihrer Schule.

„Nicht mein Wissen und Können und auch nicht mein Handeln sind ausschlaggebend für

das Verhalten der meisten Lehrerinnen, es ist meine Hautfarbe, mit der sie nicht

umgehen wollen, und die kann ich nicht verändern. Daher ist es nicht verwunderlich, daß

ich bei Verfehlungen nicht in gleicher Weise wie die anderen Kinder bestraft werde. Auch

wenn wir alle gemeinsam gegen die Regeln verstoßen, [...] zum Schluß heißt es immer:

<Du sollst dich ganz besonders schämen, deine Wildheit werden wir dir schon noch

austreiben, wir sind doch hier nicht bei den Hottentotten im Busch, bring dein Haar in

Ordnung, du siehst ja jetzt schon aus wie die.>“ 397

Wie schon im Heim wird Ika auch in der Schule als die „Andere“ stigmatisiert

und aus der weißen Gemeinschaft ausgeschlossen. Sie wird wiederholt in ein

koloniales setting zurückversetzt, in welchem sie in der rassifizierten Vorstellung

weißer von Schwarzen Menschen zur „Wilden“, „dummen“ und „unzivilisierten“

degradiert wird. Nie kann sie ihren weißen MitschülerInnen ebenbürtig sein, sich

vorbildlich betragen oder intelligenter als diese sein. Ihre Anwesenheit, ihre

Persönlichkeit und ihr Intellekt dürfen die Ordnung des weißen, deutschen

Gemüts nicht in Gefahr bringen. Ikas Verbannung und Isolation ist m.E. die

notwendige Folge und gleichzeitig die Basis der weißen Hegemonie. Sicherlich

trug diese Erfahrung auch zu Ikas Mißtrauen weißen gegenüber bei.398

4.7. Ikas ÜberLebensstrategien in der Interaktion mit anderen

Kindern in Heim und Schule

Unter den weißen Heimkindern, denen allein schon durch ihren Status als

Minderjährige und Heimbewohner aufgrund der menschenverachtenden

Pädagogik ein verminderter menschlicher Wert attestiert wird, bleibt Ika

diejenige, welcher der geringste menschliche Wert zugeordnet wird. Indem ihr

397 Vgl. Ebenda S.48398 Vegl. Kapitel 2.3

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Verhalten immer in Bezug zu dem der anderen Kinder gesetzt wird, wird ein

hierarchisches Verhältnis zwischen ihnen geschaffen. Damit wird Ikas

Ausschluss aus der Gruppe untermauert und durch die Entwertung ihrer Person

legitimiert.

„Ich bin das einzige Schwarze Kind im Heim. Die anderen Kinder mögen mich schon

deshalb nicht sonderlich und kommandieren mich gerne herum.“399

Um dieses Gefälle auszugleichen nutzt Ika in den ersten Heimjahren ihre im

Vergleich zu den anderen Heimkindern bessere Schulbildung, um bei Aktivitäten

wie dem „Schule spielen“ eine Situation zu kreieren, bei der die anderen Kinder

aufgrund ihrer mangelhafteren Bildung nur verlieren können.

„ Es ist nur ein Spiel, aber ich empfinde Genugtuung und riesige Schadenfreude, ihnen

ihre Gemeinheiten auf diese Weise heimzahlen zu können.“400

Und:

„Ich spiele wahnsinnig gern mit anderen Kindern, und hin und wieder gelingt es mir , alle

so von meinen Ideen zu begeistern, dass selbst Hans, Peter und Gerti nicht merken, mit

wem sie spielen, und vor allem, wer den Ton angibt.“401

In beiden Fällen nutzt sie ihre Vorteile und Ressourcen zu ihren Gunsten und

kann sich zumindest für eine kurze Zeit eine Situation erschaffen, in der sie nicht

zum Opfer degradiert wird sonder eine mächtigere Position einnimmt.

Eine weitere Überlebensstrategie Ikas ist, sich mit anderen outsidern im Heim,

wie z.B. dem stotternden Heimkind Peter, zu verbünden. Sie geht eine

Verbindung mit ihm ein, die wärmend wirkt und die ihr die Gewissheit bringt, nicht

als Einzige diskriminiert zu werden. Dass dieser Peter sie aber wiederholt an die

Heimleitung verrät, lässt sie nicht davon abbringen, weiterhin seine Nähe zu

suchen. Hier ist die Abgrenzung schwierig, da durch die symbiotische

Verbindung, die aufgrund der Gemeinsamkeit des Diskriminierungserlebens

entsteht, die Grenzen zwischen den Subjekten verschwimmen, und Ika sich nicht

399 Hügel-Marshall, S.45400 Vgl. Ebenda S.45401 Vgl. Ebenda S.45 f.

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abgrenzen und somit hier noch nicht die volle Verantwortung für sich

übernehmen kann.

Insgesamt aber durchzieht die Erfahrung des Ausschlusses Ikas Beziehungen zu

den Heimkindern. In der Folge der Ausgrenzungserfahrungen zieht sich Ika

zurück.

„Zehneinhalb Jahre bin ich alt und sehr allein. Oft ziehe ich mich zurück, spiele auf

meiner Mundharmonika und denke an zu Hause. Im Heim gibt es keine Gemeinschaft, zu

der ich gehöre, auch wenn alle davon reden.“ 402

Die Isolation Ikas als Afrodeutsche setzt sich auch außerhalb der Heimsituation

fort. Hinzu kommt hier noch das Stigma als Heimkind, denn in ihrem

nachbarschaftlichen Umfeld, so schreibt die Autorin, fielen die Heimkinder schon

allein durch ihre Kleidung auf, und niemand wollte so recht etwas mit ihnen zu

tun haben. Die Chance, Kontakte zu MitschülerInnen auch außerhalb der Schule

zu nutzten, bleiben ihr verwehrt, da sie unmittelbar nach Schulschluss im Heim

erwartet wird. Ihre MitschülerInnen verabredeten sich oft an einem dem Heim

gegenüberliegenden See, doch durfte Ika sich nicht ohne Aufsicht mit ihnen

treffen.

„Ich darf mich nie mit ihnen dort verabreden, es sei denn, alle Heimkinder gehen

geschlossen mit einer Erzieherin dorthin. Ich will das nicht und schäme mich vor meinen

KlassenkameradInnen, nur unter Aufsicht Schlittschuhlaufen zu dürfen.“403

Es bleibt offen, inwieweit Ika sich mit ihren MitschülerInnen befreundet hat, da sie

keine Freundschaften erwähnt. Sie beschreibt jedoch eine Interaktion mit

anderen Schulkindern, bei der sie ihren „Ausnahmestatus“ als Afrodeutsche zu

ihren Gunsten nutzt.

„Während des Schulweges überlege ich mir oft, wie ich an die reichlich belegten Brote

meiner KlassenkameradInnen herankommen kann. Meine sind zu langweilig, als das

jemand mit mir tauschen wollte. Es gelingt mir aber trotzdem, an die Leckerbissen der

anderen zu geraten. Ungeschriebenes Gesetz ist: Niemand in der Schule darf mich

402 Hügel-Marshall, S.31403 Ebenda, S.28

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wegen meiner Hautfarbe beleidigen. Tut es dennoch jemand, schlage ich denjenigen vor,

mir doch lieber ihr Schulbrot zu geben, als dass ich sie beim Direktor oder der

Klassenlehrerin verpfeife. Mindestens einmal in der Woche werfe ich auf diese Weise

mein Pausenbrot in den Mülleimer und esse das einer Klassenkameradin.“404

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Ika sich anfangs noch gegen ihren

Ausschluss und die Diskriminierungen wehrt und Kontakte sowohl zu den Heim-

wie auch Schulkindern sucht. Ihre Kräfte scheinen noch nicht aufgebraucht, und

die Rassismen noch nicht gänzlich verinnerlicht zu sein, so dass sie ihre

Ressourcen, ihren Intellekt, die starke Neugier und Kontaktbereitschaft für sich

nutzen kann. Doch mit der über Jahre andauernden Rassifizierung,

Diskriminierung und Mißhandlung ihrer Person vereinsamt Ika zunehmend, fühlt

sich zunehmend wertloser:

„Als ich älter werde, laufe ich niemandem hinterher, um mich zu prügeln. Da heisst es

dann: „ Das gehört sich nicht für ein Mädchen.“ Und ich? Ich traue mich auch nicht mehr.

Längst habe ich begriffen, dass ich nichts wert bin, nur soviel, um verlacht zu werden.

Aus dem Gefühl heraus, ein Nichts zu sein, verteidige ich mich nicht mehr, schlage nicht

mehr zu. Manchmal balle ich den Schmerz in meine Fäuste, stecke sie in die Tasche und

gehe. Selbst die Zuneigung und Achtung einzelner Menschen, etwa meiner Lehrerin,

reichen bei weitem nicht aus, die Ablehnung der meisten anderen weißen Menschen

wettzumachen. Auch die Liebe meiner Mutter kann nicht verhindern, dass ich immer

wieder an der weißen Gesellschaft verzweifle.“405

Die Autorin betont, dass es keinen Ort gab, an dem sie sich nicht ignoriert gefühlt

hat, niemanden, mit dem sie über ihre Hautfarbe hätte sprechen können. Auch

lehrte sie niemand, in einer rassistischen, sie ablehnenden Gesellschaft zu

überleben. Die wenigen Strategien, die sie für eine Integration, für den Respekt

ihrer Person gegenüber entwickeln konnte, griffen nicht. Unbeachtet dessen, was

sie tat, wurde sie immer wieder auf ihren Platz außerhalb der Gemeinschaft, und

am Ende der Hierarchie, verwiesen.406

404 Ebenda, S.27405 Ebenda, S.49406 Vegl. Kapitel 2.5

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„Irgendwann aber erkenne ich: Weiße brauchen keine Rechtfertigung, sie schlagen auch

so zu, gleichgültig, ob ich reagiere oder nicht. Alle Weißen sind rassistisch. Sie sind es,

weil sie – ebenso wie ich – diese sogenannten Wahrheiten über mich angenommen

haben. Man hat ihnen beigebracht, dass Schwarze von Natur aus dumm und

minderwertig seien.“407

407 Hügel-Marshall, S.47

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4.8.1.Ikas Selbstbilder

4.8.1. Ikas Selbstbilder im familären Kontext

In den ersten fünf Jahren ihres Lebens wurde Ikas Selbstbild von der Familie

und dem sie umgebenden weißen Umfeld geprägt. Es gab für sie nur eine Welt,

„[...] die weiße Welt, in die ich hineingeboren worden war, eine schwarze Welt

existierte nicht, und es gab nur eine Wirklichkeit, nur eine Wahrheit.“408

Da in ihrem Weltbild weiße Menschen die Norm bildeten und ihre einzig

bekannte Realität darstellten, sah sich Ika dieser Welt zugehörig. „Alle waren

weiß, und da Kinder so aussehen wie ihre Eltern, war auch ich weiß, was denn

sonst? In einen Spiegel schaute ich erst später.“409

In ihrem Selbstverständnis ist sie Teil der Familie, in der sie nach eigenen

Angaben unbeschwert aufwuchs. Ihr ist bewußt, dass ihr weißer Stiefvater nicht

ihr leiblicher Vater ist, dies beeinflußt jedoch nicht ihr Selbstbild, denn

„noch teilte ich die Welt nicht ein in Schwarz und Weiß, eher vielleicht in Gut und Böse, in

Freundlich und Unfreundlich. Für mich gab es überhaupt keinen Grund, daran zu

zweifeln, mit meiner weißen Mutter in meiner weißen Familie in meiner weißen Heimat

glücklich zu sein und erwachsen zu werden.“410

Es scheint dass ihre Beziehung zur Mutter und den übrigen Familienmitgliedern

bereits in ihrer frühesten Kindheit vom Schweigen über ihr Schwarzsein geprägt

war. Anzunehmen ist, dass vor allem die ihr liebevoll zugewandte Mutter Ika vor

einer Markieren bewahren wollte, indem sie ihr Kind nicht als Schwarz labelte.411

Denn nach Aussagen der Autorin fühlten sich alle als Familie, und eine

Markierung Ikas als Schwarz wäre einer Trennung ihrer Person vom Rest der

normalen Familienmitglieder, und ihres weißen Umfeldes, gleichgekommen.412

408 Ebenda, S. 17409 Ebenda, S.17410 Hügel-Marshall, S.17411 Vgl. Kapitel 2.6412 Vgl.Hügel-Marshall, S. 17

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Zudem hätte die Mutter die Herkunft und den Grund der Abwesenheit ihres

Vaters thematisieren müssen, was auf dem Hintergrund der frühen

Nachkriegszeit und der Rassifizierung und gesellschaftlichen Tabuisierung

Schwarzer Menschen, und hier vor allem Kinder afroamerikanischer Besatzer, für

beide sicherlich traumatisierend gewesen wäre.413

Dennoch erlebte Ika Momente der Irritation und der Ausgrenzung.

„Hinter vorgehaltener Hand wurde getuschelt und geflüstert, wenn ich mit meiner Mutter

zum Einkaufen ging. Irgendetwas mußte an mir <anders> sein als bei den anderen

Kindern.“414

Diese wiederkehrenden Erfahrungen müssen für das Kleinkind verunsichernd

gewesen sein. Umso mehr, da das Kind die negative Aufmerksamkeit um ihre

Person nicht zuordnen konnte. Ika war bereits hier einer Isolation ausgesetzt,

denn ihr Schwarzsein wurde nicht thematisiert, und offensichtlich auch nicht die

Erfahrungen der Irritation durch die Blicke und Reaktionen fremder Menschen auf

Ikas Person.

Da sie keine Schwarzen Menschen kannte, konnte sie sich nicht in ihnen

spiegeln, ihre Hautfarbe nicht zuordnen. Hier entstanden Gefühle der

Zugehörigkeit und der Verbundenheit, aber auch Momente der Irritation.415

Exkurs

Ikas Geschlechtlichkeit konnte sich vermutlich nicht, wie die Theorien der

Soziologin Hagemann-White annehmen, in einem uneingeschränkten Dialog zu

ihrer weißen Mutter ausbilden, da sie als afrodeutsches Mädchen im weißen,

rassistischen Nachkriegsdeutschland sozialisiert wurde.416 M.E. sind zwei Punkte

in Ikas Abtrennung zur Mutter zu beachten: Zum einen erfährt Ika gleich zwei

Momente einer abrupten und für das Kind traumatischen Trennung von der

Mutter: Die erste als die Mutter sich entschließt, Ika ins Heim zu geben, und die

zweite, als sie ihr Kind ohne Abschied im Heim zurücklässt. Wesentlich ist

413 Vgl. Kapitel 2.4414 Hügel-Marshall, S. 17415 Vgl. Kapitel 2.5 und 2.7416 Vgl.. Kapitel 2.7

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hierbei, dass die Trennung von der weißen Mutter und nicht vom Kind ausgeht,

und gesellschaftlich legitimiert ist. In dieser Trennungssituation lernt Ika, dass sie

nicht weiß und kein integrierter Teil der Familie ist, sondern dass ihr Schwarzsein

der Grund für die Trennung von der Mutter und für die

Rassifizierungserfahrungen im Heim ist. Ika wird hier also aus der symbiotischen

Verbindung zur Mutter getrennt und erlebt ebenfalls eine Trennung vom

Weißsein. Eine uneingeschränkte dialogische Abtrennung von der weißen Mutter

scheint hier also nicht möglich, da Ika Schwarz ist und das Vertrauensverhältnis

zur Mutter gestört ist. Zum anderen besteht m.E. ein weiteres Problem darin,

dass Ika keine Schwarzen Identifikationsfiguren hat, im Besonderen keine

positiven, denn im Heim erfährt sie Schwarzsein als negativ. Hierin sehe ich ein

weiteres Hindernis in der Übertragung von Hagemann-Whites Theorien zur

Ausbildung von Geschlechtlichkeit bei Ika als afrodeutschem Mädchen.

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4.8.2. Ikas Selbstbilder im Heim und in der Schule

Mit der Einweisung ins Heim erfährt Ikas Selbstbild eine vehemente

Veränderung. Bereits ihr erster Tag in der Einrichtung beginnt mit der

traumatischen Erfahrung, von der Mutter im Heim zurückgelassen zu sein.

„ [...] Am Abendbrottisch, als meine Mutter immer noch nicht zurück ist, überfällt mich

plötzlich ein entsetzliches Gefühl von Panik.“417

Und

„[...] Mama, wo bist du, warum hörst du mich denn nicht? Mama, komm doch, wo bist du,

Mama? Sie hört mich nicht. [...] Wo ist sie? Warum hat sie mir nicht <Lebewohl, bis bald>

gesagt? [...] Zusammengerollt, die Bettdecke über den Kopf gezogen, weine ich jeden

Abend leise bis spät in die Nacht hinein.“418

Diese Erfahrung muss dem afrodeutschen Kind ein Gefühl der Wertlosigkeit

vermittelt haben, denn Ika erfährt einen Vertrauensbruch zur Mutter. Auch sind

Gefühle des Kontrollverlusts und der Abhängigkeit wahrscheinlich, denn sie ist

an der Trennung nicht beteiligt, und ihr Schicksal hängt von anderen Personen

ab.

Traumatisierend kommt die gewaltvolle Erziehungspraxis im Heim hinzu. Ika wird

in ihrer Trauer um die Mutter nicht wahrgenommen, sondern erfährt gegenteilig,

Sanktionierungen für die Äußerung ihrer Gefühle.

„<Willst Du wohl sofort mit dem Geschrei aufhören, du elendiger Bastard, deine Mutter

kann dich nicht hören, auch wenn du noch so hysterisch herumschreist. Sie ist schon

ganz früh heute morgen mit dem Zug weg.> Schreiend werde ich auf mein Zimmer

gebracht. Ich kriege keine Luft mehr. Jedes noch so leise wimmern von mir wird mit

erneuten Schlägen bestraft, und so spüre ich irgendwann nur noch das Brennen der

Tränen, die mir über das Gesicht laufen.“419

Ika erfährt in immer wiederkehrenden Situationen die Rassifizierung und

Stigmatisierung ihrer Person. Sie wird zur „Anderen“, zum „Bastard“, für den es in

der Heimgesellschaft keinen Platz gibt.420 Dieser gewaltvolle Ausschluss, die 417 Hügel-Marshall, S. 23418 Hügel-Marshall, S.24419 Hügel-Marshall, S.24420 Vgl. Kapitel 4.4

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Verletzungen aufgrund der Rassifizierung und ihre Erfahrung, von der Mutter

zurückgelassen worden zu sein prägen sie dahingehend, dass sie sich wertlos

und nicht zugehörig fühlt und sich immer mehr zurückzieht.

Die siebenjährige schreibt:

„Es ist still um mich, beängstigend still. Kein Schreien, kein Flehen hilft, man hat mich

vergessen. Man hat mich zurückgelassen, hier an dieser Mauer, an diesem fremden Ort

zurückgelassen. Zurückgelassen, ohne Abschied, weil der für Mutter und Tochter zu

schmerzvoll gewesen wäre? Vergessen – um sich nicht mehr zu erinnern. Abgesondert

vom Rest der Gesellschaft.“

Und

„Völlig vertieft baue und spiele ich stundenlang, spiele um zu vergessen, spiele mit

Dingen, die wie ich wertlos sind. So erschaffe ich mir eine Phantasiewelt, die nur für mich

Bedeutung hat und die mir niemand wegnehmen kann.“421

Auf sich allein gestellt lernt Ika schnell, dass sie sich viele Dinge des alltäglichen

Lebens selbst beibringen muss. Als ehrgeiziges und fleißiges Kind versucht sie

durch ihr Können Anerkennung zu bekommen. Doch „[i]m Heim interessiert sich

niemand für meinen Fleiß und Ehrgeiz. Ob Auszeichnungen oder gute Noten, die Schwestern

nehmen das gleichgültig zur Kenntnis. Nicht so bei den anderen Heimkindern.“422

Die mangelnde Anerkennung ihrer Leistungen, im Heim wie in der Schule, und

das „Nicht-wahr-genommen-werden“ verstärken ihr Gefühl der Wertlosigkeit.

Hügel-Marshall schreibt, dass besonders die Situation der Zeugnisausgabe für

sie schwer zu ertragen war.

„Ich bin die einzige, die nie gelobt oder belohnt wird. Mein Notendurchschnitt liegt zwar

stets zwischen <gut> und <befriedigend>, doch Schwester Hildegard sagt nach jedem

Zeugnis: < Du warst nicht fleißig genug, schau dir die Noten der anderen an. Das nenne

ich fleißig, sie sind nicht vorlaut, so wie du, und haben in Betragen eine Eins, schämen

solltest Du dich. Aber wir haben ja alle gar nichts anderes von dir erwartet. Wisch dir die

Tränen ab, heulen hättest du früher sollen, jetzt nützt es dir nichts mehr. > <Meine Schule

ist doch viel schwerer als die der anderen.> < Wenn Du auf die Hilfsschule willst, mußt du

421 Hügel-Marshall,S.26422 Hügel-Marshall,S.29

Page 144: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

es nur sagen, ich wundere mich sowieso, daß du noch nicht dort gelandet bist, da sind

doch fast alle, die so sind wie du.>“423

Ika wird hier in eine Situation versetzt, in der sie unabhängig von ihrem Willen

und ihren Taten als Verliererin markiert ist. Ihre Selbständigkeit, ihre Intelligenz

und ihr Fleiß werden nicht nur ignoriert, sondern sie werden ihr abgesprochen.

Gleichzeitig wird sie kritisiert, vorlaut zu sein. Die weißen Erzieherinnen

konstruieren ein koloniales setting, welches das Schwarze Subjekt in die

kolonialen Muster des Herr/Sklave Verhältnisses versetzt, in dem das Schweigen

und Stillhalten des Schwarzen Subjekts und die Abhängigkeit vom Kolonisator

die weiße Hegemonie und weiße Privilegien sichert.424 Für das afrodeutsche

Mädchen gibt es keine Norm an der sie ihr Verhalten anpassen kann, um sich

adäquat zu verhalten.

„Ich habe kein Handwerkszeug, um zu lernen, wie ich meinen Stolz entwickeln könnte,

vor allem warum und wofür. Ich habe etwas anderes gelernt: < Du bist dumm, Schwarze

Menschen sind nichts wert, unabhängig davon, was sie leisten und was sie können.>.“425

Ika bleibt in einer ohnmächtigen Position zurück, in der sie die Anforderungen,

die an sie gestellt werden, nicht erfüllen kann, und aus der heraus sie kein

positives Selbstbild und Selbstbewußtsein entwickeln kann.

In dieser Position fixiert, kann Ika der permanenten Entwertung ihrer Person

nicht entfliehen. Dies ist für das afrodeutsche Kind irrational. Rassismus kann

Menschen in einer irrationalen Situation verharren lassen, in der das Subjekt

handlungsohnmächtig gemacht wird, einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung

verfallend.

Ikas Lösung für diese Situation ist ihr Wunsch, weiß wie die anderen zu sein, da

den weißen Heimkindern zumindest in einigen Situationen positives Lob und

Anerkennung ihrer Leistungen entgegen gebracht wird.

423 Hügel-Marshall, S. 29424 Vgl. Ferreira 2003425 Hügel-Marshall, S. 30

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„Völlig verwirrt laufe ich in den Waschraum, schaue verzweifelt in den Spiegel und

wünsche mir so sehr, nicht so zu sein, wie ich bin. Wenigstens für einen einzigen Tag will

ich weiß sein, ganz besonders dann, wenn es Zeugnisse gibt.“426

Ikas Selbstbild und ihr Selbstwertgefühl erfahren mit der Teufelsaustreibung eine

erneute Gewalt und Verzerrung, denn sie beginnt, sich vor sich selbst zu

fürchten:

„Jahrelang habe ich Alpträume und fürchte mich vor mir selbst und vor der Dunkelheit.

[...] Ich habe Angst, daß die Teufel versuchen, mich heimlich zu fangen, um mich dann zu

quälen und anschließend in eine tiefe Grube zu werfen. Ich bin zehn Jahre alt und fühle

mich schrecklich schuldig.“427

Das Kind erfährt hier eine traumatisierende Destabilisierung ihrer Person und

beginnt, die gewaltvollen Fremdzuschreibungen, die sie zum personifizierten

Bösem, zum kleinen Teufelchen machen, zu internalisieren, bis sie letztendlich

Angst vor sich selbst hat. Die Folgen sind für Ika fatal:

„Ich beginne meine Hautfarbe zu hassen. Fortan gibt es für mich keinen sehnlicheren

Wunsch, als weiß zu sein.“428

Obgleich Ika ein Wissen darum hat, dass sie Schwarz ist und aufgrund ihrer

körperlichen Merkmale diskriminiert wird, kann sie nach eigenen Aussagen lange

Zeit nicht begreifen, dass sie „anders“ ist und was dieses Anderssein bedeutet.

„Plötzlich werde ich das kleine Teufelchen, das unberechenbare Geschöpf, bar jeglicher

Intelligenz, mein Handeln vom Instinkt geleitet: < Das ist der Neger, der in dir steckt.>.

Lange kann ich mit solchen Sprüchen nichts anfangen, außer daß es sich dabei wohl um

etwas Schlimmes handeln muß und das es irgendwie mit mir zu tun hat.“429

Da sie in einer rein weißen Umgebung aufwächst, lernt sie, dass Weißsein der

Norm entspricht, richtungsweisend ist und die einzige Wahrheit darstellt. Somit

426 Hügel-Marshall, S. 29427 Hügel-Marshall, S. 38428 Hügel-Marshall, S. 39429 Hügel-Marshall, S. 39

Page 146: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

bildet es als alleinige Realität eine Matrix, in der sich Ika als „anders“ entdeckt,

da sie auffällt.430 Doch offensichtlich ist ihr Selbstbild von sich als Schwarzer

Person nicht von Beginn an mit negativen und rassistischen Attributen besetzt,

da sie sich in den ersten sieben Jahren in ihrer Familie und der Gesellschaft

integriert sieht. Möglicherweise ergibt sich aus dieser Erfahrung der Umstand,

dass sie ihr Wissen ums Schwarzsein nicht richtig zuordnen kann, und ein noch

inkonsistentes Selbstbild in Bezug auf sich als eine rassifizierte Person hat.

„Morgens, wenn ich in den Spiegel sehe, kann ich nichts Abstoßendes an mir entdecken:

Ich habe langes, dunkelbraunes, gelocktes Haar, das zu einem Pferdeschwanz

zusammengebunden ist, dunkelbraune Augen, lange Beine und gehöre zu den Größten

in meiner Klasse.

Und doch muß ich häßlich sein, sonst würden nicht alle immer und immer wieder an

diesem Entsetzen festhalten, wenn sie mich anschauen, würden mir nicht die Teufel

austreiben und mir nicht mit einer Wurzelbürste das Gesicht blutig kratzen, damit die

anderen Kinder endlich den Beweis dafür haben, daß meine Hautfarbe echt ist und ich

weder ein <Negerkuß> noch aus Schokolade bin. Irgend etwas an meinem Aussehen

muß so schlimm sein, daß sie besonders mich so oft und besonders hart schlagen, nur

meinen Haare als widerspenstiges Negerhaar bezeichnen, nur mich nie in den Arm

nehmen, mich einfach nicht so lieben, wie sie weiße Kinder lieben.“431

Ika erfährt sich hier nicht nur als „ anders“ im Sinne von „anders farbig““, sondern

als „anders“ im Sinne von „falsch“ und „anormal“. Kilomba konstatiert: „Während

das weiße Subjekt sich mit der Frage beschäftigt: "Was sehe ich?“, ist die Schwarze Person

gezwungen, sich mit der Frage zu beschäftigen: "Was sehen die?". Diese Dialektik des Blicks,

der die Schwarze Person als Fetischobjekt erforscht, wird von Frantz Fanon als

"Depersonalisierung"[432] bezeichnet, weil das Schwarze Subjekt eine Beziehung zu sich selbst

entwickeln muss, die durch den Kolonisator vorgeschrieben wird. So entsteht in ihm oder ihr der

innerlich gespaltene Zustand der Depersonalisierung. Es handelt sich keineswegs um eine

einfache Frage, die darauf abzielt Differenzen festzustellen, sondern um einen Prozess, in dem

man sich als 'Andere' in der Gesellschaft begreift - isoliert in einer weißen Nation.“433

In den oben zitierten Aussagen zeigt Ikas Blick in den Spiegel ihre widerständige

Haltung, das was die anderen über sie sagen, nicht anzuerkennen, sondern in

einem autonomen Akt die Aussagen zu überprüfen. Sie entdeckt, dass an ihr

430 Vgl. Kapitel 2.7431 Hügel-Marshall, S. 39432 Fanon 1971433 Kilomba vom 24.09.08

Page 147: "ÜberLebensstrategien und Selbstbilder afrodeutscher Kinder im Weissen Umfeld bei abwesendem Schwarzen Vater" von Patricia Redzwesky

nichts Abstoßendes ist, und setzt so ihre eigene Deutungsmacht ein. Sie erblickt

sich hier also nicht durch den Blick der Weißen, sondern unmittelbar, so dass

man davon ausgehen kann, dass hier keine Depersonalisierung stattfindet.

Doch gleichzeitig ist sie diesem Depersonalisierungsprozess unterworfen, indem

sie beginnt, sich schuldig zu fühlen und somit die Verantwortung für die

Rassifizierung ihrer Person zu übernehmen. Ika betrachtet sich dabei durch den

Blick der Weißen, deren Deutungsmacht und Einfluss sie sich nicht permanent

entziehen kann. Umso mehr, da sie ein „anderes“ als das Weißsein nicht kennt,

sich also nicht an Schwarzen Menschen orientieren kann, und ihr niemand

erklärend zur Seite steht. Hügel-Marshall schreibt:

„Wie kann ich überprüfen, ob wahr ist, was über mich erzählt wird? Wen kann ich

fragen?“434

Die Rassifizierung ihrer Person wird durch den gesellschaftlichen Konsens

legitimiert und erhebt einen Wahrheitsanspruch, den das zehnjährige Kind nicht

nachvollziehen kann, da sie aufgrund des fehlenden erfahrungsbezogenen

Referenzraumes435 keine Möglichkeit der Verifizierung vorfindet. Dies übt einen

enormen Druck auf das isolierte afrodeutsche Kind aus, dass einerseits,

möglicherweise aufgrund der eher positiven Selbstbilder der frühen Kindheit,

eine widerständige Haltung einnimmt und die Zuschreibungen überprüft,

andererseits aber die Fremdbilder internalisiert, da u.a. statushohe Weiße Ika

permanent rassifizieren und sie in einer Gesellschaft lebt, die vom strukturellen

Rassismus durchwoben ist und sich in ihr die hegemoniale Position des

Weißseins durch Praktiken der Hierarchisierung und Ausgrenzung immer wieder

neu erschafft.436

Somit ist die Entwicklung von Ikas Selbstbilder nicht linear oder chronologisch,

sondern bildet, sich überlappend, ein inkonsistentes Bild. Dabei schwankt Ika

zwischen Assimilation und widerständigem Handeln.

434 Hügel-Marshall, S. 39435 Vgl. Lauré al-Samarai, S. 200436 Vgl. Kapitel 2.3, 2.5 und 2.7

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Mit zunehmendem Alter und andauernder Rassifiszierungs- und Ausgrenzungs-

erfahrung verinnerlicht das afrodeustche Mädchen die ihr zugeschriebenen

Attribute.

„Als ich älter werde, laufe ich niemandem mehr hinterher, um mich zu prügeln. Da heißt

es dann: <Das gehört sich nicht für ein Mädchen.> Und ich? Ich traue mich auch nicht

mehr. Längst habe ich begriffen, daß ich nichts wert bin, nur soviel, verlacht zu werden.

Aus dem Gefühl, ein Nichts zu sein, verteidige ich mich nicht mehr, schlage nicht mehr

zu.“437

Und

„Wenn grundsätzlich Einigkeit darüber besteht, daß es eine Schande ist, Schwarz zu

sein, und daß Schwarze dumm sind und so weiter und so fort, und diese Einhelligkeit

nicht in konkreten Lebenszusammenhängen aufgebrochen wird, dann bleibt auch mir

nichts anderes übrig, als diese Werte anzunehmen. Da ist es kein Wunder, daß ich mit

allen Mitteln versuche, mein Schwarzsein zu ignorieren, und daß mein Bedürfnis, nicht

aufzufallen, immer stärker wird.“438

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Ika sich die ersten sieben

Jahre der weißen Familie zugehörig fühlte, sich als Teil ihrer weißen Umgebung

betrachtete, und ihr Selbstbild hier noch nicht von rassistischen Attributen

geprägt war.

Im Heim dagegen prägten Gefühle der Wertlosigkeit, Erfahrungen der

Rassifizierung, Ausgrenzung und Isolation Ikas Selbstbild und Selbstwert

negativ. Aufgrund der Ausgrenzungserfahrungen begann sie ihre Hautfarbe zu

hassen, hatte aber gleichzeitig ein inkonsistentes Selbstbild in Bezug auf sich als

rassifizierte Person, so dass sie die ihr entgegengebrachten rassifizierten

Attributierungen zu hinterfragen begann. Mit den über Jahre andauernden

Rassifizierungs- und Ausgrenzungserfahrungen und in Anbetracht der

Ermangelung eines erfahrungsbezogenen Schwarzen Referenzraumes begann

Ika letztlich die Fremdzuschreibungen zu internalisieren.

437 Hügel-Marshall, S.49438 Hügel-Marshall, S. 46

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5. Nutzen der Rassifizierung für hegemoniale weiße Personen

Im Folgenden möchte ich beleuchten, welchen Nutzen sich aus den oben

untersuchten Rassifizierungen für die Hegemonialen ergeben, und welche

psychologischen Mechanismen dabei eine Rolle spielen.

Zwischen dem Verhalten weißer Subjekte gegenüber Schwarzen und dem

Verhalten weißer Erwachsener gegenüber weißen Kindern besteht Gstettner

zufolge eine Verbindung. Der Beginn der systematischen Erforschung des

Kindes als Wissenschaftliches Objekt begann im Europa des ausgehenden

19.Jahrhunderts, rund hundert Jahre nach der Veröffentlichung der Ergebnisse

der anthropologischen Forschungsreisen in den afrikanischen Kontinent.

Gstettner sieht hier einen Zusammenhang und konstatiert, dass der Eroberung

der kindlichen Seele durch die Wissenschaft die Eroberung unbekannter

Territorien und deren Kolonisierung voraus ging. Demzufolge griffen die

Pädagogen in der Kinder- und Jugendforschung auf Theorien und Methoden

zurück, die sich schon in der kolonialen Praxis bewährt hatten.439 Albrecht-Heide

konstatiert dass „ [d]as Kind [...] bei >uns< zum internen Wilden [wurde], und >unser<

zivilisatorischer Übergriff gegenüber dem externen Wilden der Eroberung des Kindes voraus

[ging]. [...] Beide – Kind und Wilder – fungieren bei >uns< als Antonyme für das, wofür der

Mensch sich hält. Sie sind nicht nur über die Kultur:Natur-Dichotomie verbunden, sondern

ebenso über >unseren< Erkenntniszugriff und eine Zeitachse [...]. Während `das (männliche)

Kind´ in Zukunft ein Mensch sein wird, symbolisiert der Wilde in der gleichen Logik eine

Vergangenheit des Menschen. Gemeinsam ist dieser verzeitlichenden Zuordnung – einmal in die

Zukunft, das andere Mal in die Vergangenheit - ein hierarchisches Stufendenken.“440

Diese permanente Inanspruchnahme und Behauptung einer hierarchischen

Machtposition durch Mechanismen der Rassifizierung, in anderen Worten das

wiederholte Herstellen eines Status als weiße Person bedeutet „ein Stadium

permanenter Manie, die sich selbst als normal definiert und über die Anomalität

der Anderen redet“441. Die Hegemonialen benutzen ihre erniedrigenden Praktiken

Hans-Jürgen und Ika gegenüber um die rassistischen Strukturen

aufrechterhalten zu können, welche ihnen wiederum erlauben, das eigene weiße

Selbstbild und die eigenen Privilegien nicht zu hinterfragen.

439 Gstettner, S.14f440 Albrecht-Heide, internetlink vom 26.09.08, vgl. auch Albrecht-Heide 2005441 Grada 2003, S.158

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Zudem dient nach Musfeld die Fremdheitskonstruktion und rassistische

Stigmatisierung, wie im Kapitel 2.4 erwähnt, der eigenen Entlastung und dem

Versuch, sich so von Aggressionen zu entledigen, die ursprünglich durch die

eigene Unterdrückung von Außen entstanden sind. Dieser Unterdrückung von

außen entsprach Miller zufolge die Erziehungspraxis der sogenannten

„Schwarzen Pädagogik“ der letzten zwei Jahrhunderte, die das kindliche Selbst,

seine Gefühle und Bedürfnisse negierte.442 Besonders die während des

Nationalsozialismus geforderte Erziehung zur Härte, die darauf hinzielte, jegliche

Emotionalität, Empathie, aber auch Gefühle von Angst und Ohnmacht im

eigenen Selbst zu bekämpfen, diente der Abspaltung und Projektion der Anteile

des Selbst auf Trägerobjekte.443 Dieser Missbrauch des hier Schwarzen

Subjektes dient zur Aufrechterhaltung des weißen „Verdrängungsapparates“ und

zur weißen „Psychohygiene“.

Wenn die Aggression Kindern gegenüber der eigenen Entlastung der

unterdrückten narzisstischen Kindheit dient, so dient die Aggression,

Rassifizierung und Entmenschlichung von Hans-Jürgen und Ika zusätzlich der

Entlastung von der Bürde der eigenen kolonialen Vergangenheit.444 Die

Rassifizierung und Entmenschlichung Ikas in der weißen christlichen

Heimsituation und der Schule dient der Entlastung von der Bürde der eigenen

kolonialen, faschistischen und missionarischen Vergangenheit.

Afrodeutsche Kinder bilden hier eine dreifache Projektionsfläche für die

narzisstischen Weißen: Als wehrloses Kind, als Schwarzer, rassifizierter Mensch

und als Schwarze(r) sexualisierte(r) Frau bzw. Mann.

442 Vgl. Kapitel 3.3.1443 Miller 1981, S. 100f., und ders. S.107f.444 Vgl. Kapitel 2.3

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6. Schlussbetrachtung

Während der Analyse der beiden Biographien wurde mir bewußt, dass die

Heterogenität Schwarzen Erlebens einen wichtigen Aspekt Schwarzer

ÜberLebensstrategien und Selbstbilder darstellt. Die Beachtung dieser

Heterogenität ist wesentlich für die (analytische) Arbeit an den Biographien von

Hans-Jürgen Massaquoi und Ika Hügel-Marshall. Im Besonderen, da unter

anderem afrodeutsche Kinder faktisch von Geburt an durch hegemoniale

Rassifizierung im weißen Raum gezwungen sind, die für sie Besten

Handlungsstrategien zu entwickeln. Diese Erkenntnis förderte meinen Wunsch,

meine persönliche Lesart der beiden Biographien neu zu überdenken. So habe

ich während des Schreibprozesses gelernt, mich unter Bezugnahme des

jeweiligen Kontextes und vor allem der persönlichen Aussagen der AutorInnen

auf die individuellen Selbstpositionierungen und die damit einhergehenden

unterschiedlichen Schreibstile der VerfasserInnen einzulassen und diese zu

würdigen.

Bei meiner Analysearbeit entdeckte ich die Besonderheit und Stärke der

AutorInnen in ihrer Fähigkeit, schon in frühester Kindheit die unterschiedlichen

sozialen Strukturen und Machtdifferenzen zu erkennen und ihre Erkenntnisse

dahingehend umzusetzen, dass sie die für sie günstigsten ÜberLebens-

strategien und Selbstbilder im rassifizierten und machtdurchsetzten weißen

Raum entwickeln.

Meine anfänglich festgelegten Zielsetzungen, ÜberLebensstrategien und

Selbstbildern den gleichen Raum zukommen zu lassen, änderten sich

dahingehend, dass die ÜberLebensstratgien aufgrund ihrer Differenziertheit und

Vielfältigkeit einer besonders gründlichen Analyse bedurften. Dies nahm mehr

Raum ein, als anfangs angedacht, so dass ich mich entschloss, den

Selbstbildern ausschließlich anhand der vorgefundenen Aussagen nachzugehen

und mich nicht auf die Identitätsbildung, die mit Selbstbildern verknüpft ist, zu

konzentrieren.

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Der gesellschaftliche Rahmen, in dem Hans-Jürgen aufwuchs, bot weißen

Deutschen die Möglichkeit einer neuen Lebensperspektive. Die Schaffung von

neuen Arbeitsplätzen ermöglichte eine wirtschaftliche Sicherheit, neue Mobilität

und sozialen Aufstieg im nationalsozialistischen Kollektiv. Dies allerdings unter

der Voraussetzung, dass sie mit dem System konform gingen. Die Erhebung der

weißen Deutschen zum „Herrenmenschentum“ und die Institutionalisierung der

Rassenideologie schaffte sicherlich eine neue Welle der Euphorie. In dieser

konnten sich Räume ergeben, die Einzelpersonen wie den parteitreuen Morell

dazu bewogen, den afrodeutschen Jungen ins nationalsozialistische Kollektiv zu

integrieren. Gleichzeitig schufen diese Strukturen neue Möglichkeit der

Ermächtigung Einzelner, die ihre Position zur Terrorisierung und Ausgrenzung

unter anderem des afrodeutschen Jungen nutzten. Somit wird auf diesem

Hintergrund die Willkür und Entstehung paradoxer Situationen erkennbar, in

welchen sich Hans-Jürgen zurechtfinden musste. Unterstützend und als

Ressource in seinem ÜberLebensprozess im nationalsozialistischen Deutschland

diente ihm etwa der Umstand, dass er ein liebevolles und vertrauensvolles

Verhältnis zu seiner Mutter hatte und diese ihm als „helfende Zeugin“ zur Seite

stand. Ebenso stärkend und als Ressource wirkte sich der bereits in seiner

frühen Kindheit erlebte erfahrungsbezogene Referenzraum im Verbund mit der

liberianischen Familie auf die Entwicklung seiner Selbstbilder und seiner

ÜberLebensstrategien aus. Hans-Jürgen lernte hier eine Beziehungsstruktur

zwischen Schwarzen und Weißen kennen, in der Schwarze Menschen von

Weißen bewundert wurden und in der Schwarze eine mächtige, befehlsgebende

und statushohe Position einnahmen; dies sowohl im familiären als auch, bedingt

durch den kosmopolitischen Rahmen indem sich sein Großvater bewegte, im

öffentlichen Raum. Seine ÜberLebensstrategien und seine Selbstbilder waren

geprägt von diesem positiven Bild Schwarzer Menschen und der Bewunderung

und Anbindung an statushohe, mächtige Schwarze, wie zum Beispiel an die

erfolgreichen afroamerikanischen Sportler Joe Louis und Jesse Owens. In seinen

Bemühungen um Anpassung und Integration in das weiße nationalsozialistische

Kollektiv knüpfte er an diese Erfahrungen an, war aber in immer

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wiederkehrenden Situationen mit Rassifizierungen seiner Person und

Ausschlüssen aus der weißen Gemeinschaft konfrontiert. Hans-Jürgens

Integration ins Kollektiv zeigt, dass die Gesellschaft nicht hermetisch verriegelt

war. Die unterstützend wirkende Solidargemeinschaft in Form “helfender Zeugen“

schaffte Räume in denen widerständiges Handeln möglich war. Diese Momente

können jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass sein ÜberLeben im

nationalsozialistischen Regime von kumulativen Erfahrungen der

Rassifizierungen, Diffamierungen und des Ausschlusses geprägt war. Im

Gegenteil zeugen die vielen Helfer von der Notwendigkeit einer Einschreitung in

die gegebenen Umstände und von Situationen, in denen der afrodeutsche Junge

handlungsohnmächtig war. Erfahrungen rassifizierender Fremdzuschreibungen,

der Ausgrenzung und handlungsohnmächtiger Situationen versetzten ihn in

einen Zustand des Kontrollverlusts und waren für ihn verletzend und

beschämend: Sie deautorisierten ihn als Schwarze Person und sprachen ihm

seine Identität als Deutscher ab. Damit war seine Zugehörigkeit zu seiner weißen

Mutter, zur weißen Gesellschaft, zu den mächtigen Nazis und seiner weißen peer

group in Frage gestellt. Dies wirkte sich negativ auf sein Selbstbild und sein

Selbstwertgefühl aus und behinderte ihn in der Entwicklung seiner Männlichkeit,

im Besonderen, da Männlichkeit für ihn mit Schwarzsein und machtvollem Status

verbunden war. Zudem gefährdeten die Diffamierungen seine Position in der

peer group, die für sein positives Selbstwertgefühl und Selbstbild als statushohe

Person und zur Ausbildung seiner Männlichkeit wesentlich war.

Hans-Jürgens Schweigen über die erfahrenen Bloßstellungen lässt sich auf

diesem Hintergrund dahingehend verstehen, dass er sich einerseits für diese

erniedrigenden Erfahrungen schämte und andererseits das Schweigen über

Gefühle der Angst, Trauer und Scham ein integraler Bestandteil der deutschen

Erziehung waren und somit einen gesellschaftlichen Konsens bildeten. Des

weiteren war die zunehmende Nazifizierung der Gesellschaft und die damit

einher gehende Zunahme der Gefahrensituation für Schwarze Menschen für den

Afrodeutschen besorgniserregend. Mit der Zeit begann er zu verstehen, dass der

Terror gegen ihn ein strukturelles Phänomen der deutschen Gesellschaft ist, und

so mag sein Schweigen über erfahrenen Rassismus ein Schutz vor der

drohenden Gefahr gewesen sein.

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Für Ikas ÜberLebensstrategien und Selbstbilder stellen sich andere Bedingungen

und Situationen dar. In der Nachkriegszeit war die allgemeine Stimmung in

Deutschland geprägt von dem verlorenen Zweiten Weltkrieg und der

Enttäuschung und Scham über den Niedergang des „Deutschen Reiches“.

Dementsprechend wurde ein „Mantel des Schweigens“ über die

nationalsozialistische Vergangenheit gelegt. Die Deutschen favorisierten den

„Blick in die Zukunft“ und legten den Fokus auf materiellen Wohlstand. Die

Verdrängungsleistung der nahen Vergangenheit kostete enorme Energie. Diese

Energie fehlte dann die für die Bewältigung der Gegenwart445. Auf diesem

Hintergrund wirkte sich die Präsenz afrodeutscher Kinder störend auf die

Deutschen aus, da sie als meist Kinder afroamerikanischer Soldaten an die

erneute „Schmach“ einer Schwarzen Besatzungsmacht und den verlorenen Krieg

erinnerten. Ihre Rassifizierung wurde weiter tradiert, afrodeutsche Kinder wurden

als „rassischer Problemfall“, der soziale Schwierigkeiten implizierte, betrachtet

und ihnen wurde eine „rassische Andersartigkeit“ attestiert, die eine

Bevormundung durch weiße Deutsche legitimierte. Anders als zur Zeit des

Nationalsozialismus konnten die Kinder meist nicht bei ihren Müttern verbleiben,

sondern wurden ins Ausland geschickt oder, wie in Ikas Fall, in Heime

abgesondert.

Ikas Kindheitserfahrungen waren eng mit der bundesdeutschen Debatte um die

„Fürsorge“ der afrodeutschen Kinder verbunden. Durch ihren forcierten

Heimaufenthalt wurde Ika aus ihrem vertrauten Lebensraum herausgerissen und

war ihren Erzieherinnen und LehrerInnen schutzlos ausgeliefert. Anders als

Hans-Jürgen hatte sie keinen erfahrungsbezogenen Referenzraum, den sie als

Ressource für ihre ÜberLebensstrategien und Selbstbilder nutzen konnte. Sie

erfuhr die Beziehungsstruktur zwischen Schwarzen und Weißen als eine

rassifizierte und hierarchisierte. In dieser wurde ihr Schwarzsein über negative,

rassifizierte Attributierungen vermittelt. Die rassistische und

menschenverachtende Erziehungspraxis im Heim und Ikas traumatische

Trennung von der Mutter vermittelten ihr das Gefühl der Wertlosigkeit. Anfangs

war Ika um Anerkennung und Lob seitens der Heimerzieherinnen und um eine

Anbindung an ihre peer group bemüht. Sie lernte jedoch infolge der kumulativen 445 Vergl. Mitscherlich, Alexander & Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. Piper Verlag, München 2001, S. 26

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Rassifizierungserfahrungen und infolge ihres permanenten Ausschlusses aus der

Gemeinschaft der Weißen, dass ihr die Zugehörigkeit verweigert wird,

unabhängig von ihren Bemühungen, sich möglichst gut an die vorgegebenen

Normen anzupassen. Zudem konnte Ika nicht von einer Solidargemeinschaft

profitieren, in der sie Unterstützung gefunden hätte, noch hatte sie die

Möglichkeit, an statushohe Schwarze Personen anzuknüpfen. Schwarzsein war

für Ika unmittelbar mit einer ohnmächtigen und ausgegrenzten Position verknüpft

und mit dem Makel des „bösen“ und „unreinen“ versehen. In diesem Bild von

Schwarzen Menschen und ihrer isolierten Situation blieb Ika gefangen und hatte

keine Möglichkeiten zu entfliehen, da Weiße in immer wiederkehrenden

Situationen im Kollektiv gegen sie agiert haben. In dieser forcierten Isolation

lernte sie, sich für die Zuschreibungen schuldig zu fühlen, und nahm diese in ihr

Selbstbild auf. Gleichzeitig lernte sie, dass sie weißen Menschen nicht trauen

kann und begnn ihre Gefühle und Gedanken nicht preiszugeben. Ika entfloh den

starren Mauern der pejorativen Zuschreibungen in eine Phantasiewelt, in der sie

nicht mehr in einer Abhängigkeitssituation von den Weißen verharrte, sondern in

der sie eigenmächtig über ihre Gefühle und Gedanken entscheiden konnte.

Mangelhafte Kommunikation und Schweigen über ihre Gefühle prägten zudem

die Beziehung zu ihrer Mutter, denn sie verschwieg ihr gegenüber die

traumatischen Erlebnisse im Heim und in der Schule. Einerseits wollte das

afrodeutsche Mädchen die Mutter vor möglichen Schuldgefühlen bewahren, um

die Liebe der Mutter nicht aufs Spiel zu setzen. Andereseits wurde Ika seit ihrer

frühesten Kindheit beschwiegen; Sie brach mit ihrer Existenz zwei

gesellschaftliche Tabus, als uneheliches und als afrodeutsches Kind, so dass ihr

die Erfahrung des Schweigens über ihre Person und Situation vertraut war.

Letztlich war die bundesdeutsche Gesellschaft von einem kollektiven Schweigen

geprägt, das sicherlich auch Ika und ihre Familie prägte. Und bis heute ist die

Auseinandersetzung mit Heimerziehung in der Nachkriegszeit von Schweigen

geprägt.

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In der Notwendigkeit und Fähigkeit beider ProtagonistInnen, ihre

ÜberLebensstratgien wie auch Selbstbilder in Abhängigkeit vom jeweiligen

Kontext zu verändern, sehe ich eine große Herausforderung und

Anpassungsleistung von Hans-Jürgen und Ika in einer sie rassifizierenden und

für sie feindlichen Gesellschaft. Für Schwarze Kinder in Deutschland, die

teilweise auch heutzutage ohne einem erfahrungsbezogenen Referenzraum

aufwachsen, besteht weiterer Forschungsbedarf.

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7. Literaturliste

Albrecht-Heide, Astrid: Weißsein und Erziehungswissenschaft. In: Eggers, Maisha M .u.a. (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Unrast-Verlag, Münster 2005

Albrecht-Heide, Astrid: Historische Grundlagen der europäischen Erziehungswissenschaft – weiß446 und hegemonial. Von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft. http://www.ewi.tu-berlin.de/files/resourcesmodule/@random454f129cc3fca/1162979373_Doktorandencolloquium_Albrecht_Heide.doc, vom 26.09.08

Alonzo, Christine: Rassenhygiene im Klassenzimmer. Ein Hakenkreuzzug gegen die Kinder im Namen der Rasse. In: Martin, Peter u.a.(Hg): Zwischen Charleston und Stechschritt. Schwarze im Nationalsozialismus. Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 2004

Amoateng, John: Schwarze Deutsche. Eine ethnische Minderheit in der Bundesrepublik Deutschland - ihre Geschichte sowie die Entwicklung und Bedeutung ihrer Eigenorganisation. Diplomarbeit an der Freien Universität Berlin, Berlin 1991

Arndt, Susan u.a.(Hg): Afrika und die deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagwerk.Unrast Verlag, Münster 2004

Ayim, May: Weißer Stress und Schwarze Nerven. In: Schäfgen, Maria: Streß beiseite. Orlanda Frauenverlag, Berlin 1995

Bilden, Helga: Geschlechtsspezifische Sozialisation. In: Hurrelmann, Klaus u.a.(Hg): Neues Handbuch der Sozialisationsforschung. Beltz Verlag, Weinheim 1991

Birungi, Patricia: Rassismus in Medien. Jean Baudrillards Das Bild geht dem Realen voraus oder wie die Konstruktion von Rasse und Image unsere Sicht- und Denkweise beeinflußt. Reihe: Mensch und Gesellschaft. Schriftenreihe für Sozialmedizin, Sozialpsychiartrie, Medizinische Anthropologie und Philosophische Reflexionen. Peter Lang Verlag, Berlin 2007

446 Für diejenigen, die sich neu mit "Weißsein" beschäftigen: Es handelt sich um eine gewaltsam sozial hergestellte hierarchische Kategorie (vgl. u.a. Maureen Maisha Eggers u.a. 2005, Ruth Frankenberg 1993, Martha R. Mahoney 1997). So gehörten z.B. Juden in den USA lange nicht zu "den Weißen" (vgl. Karen Brodkin Sacks 1997), und ebenso wurden u.a. die Iren und die Deutschen erst später dort "weiß" (vgl. u.a. Matthew Frye Jacobson 1999 u. Noel Ignatie 1995). "Weiß"sein bedeutet u.a. an (ursprünglich gewaltsam hergestellten, jetzt strukturell aufrechterhaltenen) Privilegien teilzuhaben (vgl. u.a. Shannon Sullivan 2006). Es wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit ergiebig, etwa die verschiedenen Migrationsbewegungen nach Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute auf ähnliche Markierungsveränderungen hin zu untersuchen.

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