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Ulrich PrehnMax Hildebert Boehm

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Hamburger Beiträgezur Sozial- und Zeitgeschichte

Herausgegeben von derForschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg

Band 51

Redaktion: Joachim Szodrzynski

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Ulrich Prehn

Max Hildebert BoehmRadikales Ordnungsdenken

vom Ersten Weltkrieg bis in die Bundesrepublik

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© Wallstein Verlag, Göttingen 2013www.wallstein-verlag.de

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Titelfoto: Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Personalakte aus dem Bereich Volksbildung Nr. 2532, B. 41r

Druck und Verarbeitung: Hubert & Co, GöttingenISBN (Print) 978-3-8353-1304-0

ISBN (E-Book, pdf ) 978-3-8353-2472-5

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

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Inhalt

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

2. Das sozio-kulturelle Umfeld: Herkunft, frühe Einflüsse und »Prägungen« im »Grenzland« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

2.1 Familiale und schulische Sozialisation: Kindheit und Jugendjahre in Livland und Elsass-Lothringen . . . . 29

2.2 Akademische Sozialisation: Studienjahre in Jena, Bonn, München und Berlin . . . . . . . . . . 42

3. Politisierung im Ersten Weltkrieg und in der Novemberrevolution . . . . . . . . . . . . . . . . 59

3.1 Die »Schwenkung nach rechts«: Berliner Milieu und »kulturkritische« Kriegspublizistik . . . . . . . 62

3.2 Propaganda und »Abwehrkampf« im »Reichsland« Elsass-Lothringen, im Baltikum und in der Schweiz . . . . . . . . . 81

3.3 »Reichsbaltische« Krisendiagnostik, Beiträge zur Kriegszieldiskussion und frühe ethnopolitische Konzepte für den baltischen Raum . . . . 94

3.4 »Politische Grenzlandarbeit« an der Seite von Georg Cleinow: Die »Deutschen Volksräte Posens und Westpreußens« . . . . . . . . 109

4. Die verhasste Republik von Weimar und der rechte Weg zur »Volksgemeinschaft« . . . . . . . . 133

4.1 Die »Jungen in der Politik«: Konturen und Entwicklung eines politisch-intellektuellen Gegenmilieus . . . . . . . . . . . . . 134

4.2 Neue Betätigungsfelder, Vernetzungen und Institutionen: Politisches Kolleg – Institut für Grenz- und Auslandstudien – Deutsche Hochschule für Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

4.3 Praxis und Folgen der »Führerauslese«: Die Schüler Max Hildebert Boehms – fünf biographische Studien . 211

Harald Laeuen 213 — Kleo Pleyer 216 — Friedrich Heiß 220 — Hermann Raschhofer 226 — Werner von Harpe 230

4.4 »Volkstheorie« und Nationalitätenkunde als politische Wissenschaft: Grundlagenforschung zur Etablierung einer neuen »Völkerordnung« in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

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5. Positionsbestimmung und Mobilisierung des »politischen Volkes«: Akademische Lehre und wissenschaftlich-politische Expertise im NS-Staat . . . . . 248

5.1 Dem »Führer« zu Diensten: Die Protagonisten der »Deutschtumsbewegung« . . . . . . . . . . . 248

5.2 »Dissimilation« statt »Assimilation«: Nationalsozialistische »Judenpolitik« und »Volksgruppenrecht« . . . 273

5.3 »Totales Volk« oder »Totaler Staat«? Die Etablierung der »Volkstheorie« an der Universität Jena . . . . . 294

5.4 Im »Spiel der Mächte«: Akademische Lehre in Jena und Berlin . . . 311

6. »Volkstumspolitische« Expertise, Nachkriegsplanung und Neuorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

6.1 »Ein kluger SS-Mann würde sagen …«: Vorschläge zur »völkischen Flurbereinigung« im Ausschuss für Nationalitätenrecht der Akademie für Deutsches Recht . . . . . 337

6.2 Die Hinwendung zur »Westforschung« und die Wiederentdeckung der »Reichsgeschichte« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354

6.3 Ein Lebenswerk in Trümmern? Übergänge in die deutsche Nachkriegsgesellschaft . . . . . . . . . . 375

7. Das »eigenständige Volk« im »Europa der Völker«: Die Arbeit der (Nord-)Ostdeutschen Akademie in Lüneburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405

7.1 Nordostdeutsches Kulturwerk und Ostdeutsche Akademie: Politische Bildungsarbeit – Politikberatung – landsmannschaftliche Organisationstätigkeit und »Kulturpflege« . . 405

7.2 Geschichtspolitische Initiativen und konzeptionelle Anpassungen: Das Erbe der »Deutschtumsbewegung« zwischen »Ehrenrettung« und »semantischen Umbauten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440

8. Schluss: Biographische Konstruktion und die Beharrungskraft von »Prägungen« und »Kernüberzeugungen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467

Boehms Netzwerke: Biographische Skizzen . . . . . . . . . . . 474

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Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487

Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490

Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491

Publikationsverzeichnis Max Hildebert Boehm . . . . . . . . . . . 491 Archivalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 Periodika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571

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»Was meine Person anlangt, so möchte ich zu Ihrer Orientierung sagen, daß mein Name kurz vor meiner Berufung in Jena etwa 1931 in den Konversations-Lexika auftauchte, aber nach 1945, soweit ich es beobachten konnte, überall verschwunden ist. Ob man mich für eine tiefbraune Naziblüte hält oder nur der Meinung ist, daß Volk nicht gefragt ist und niemanden interessiert, vermag ich nicht zu beurteilen. Ich lege nur Wert auf die Feststel-lung, daß ich sozusagen reif für das Konversations-Lexikon wurde, ehe das Dritte Reich ausbrach und ich Professor in Jena wurde.«

Max Hildebert Boehm an Werner Essen, 5.6.1952

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1. Einleitung

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stellt sich mit Blick auf das vergangene – jenseits aller groß angelegten Einordnungs- und Interpretationsangebote wie dem des »Zeitalters der Extreme« (Eric Hobsbawm) – die Frage nach der Bedeutung und den »langen« Wirkungen von Ideologien oder »Weltanschauungen« sowie von Diskursen, die in Europa Reaktionsmuster auf das Ende des »Zeitalters des Na-tionalstaats« darstellten. Angesichts der Nationalitätenkonflikte und der »ethni-schen Säuberungen« des ausgehenden 20. Jahrhunderts haben sich in diesem Zusammenhang die Debatten, die um die Begriffe »Volk«, »Reich« und »Na-tion« sowie um »Rasse« bzw. Ethnizität kreisen, in historischer Perspektive als langfristig wirkungsmächtig erwiesen.

Mit dem Soziologen, »Volkstumsforscher« und »konservativ-revolutionären« Aktivisten Max Hildebert Boehm (1891-1968) steht im Rahmen dieser an der Schnittstelle von biographischer und ideen- bzw. intellektuellengeschichtlicher Forschung angesiedelten Untersuchung1 ein Mann im Zentrum des Interesses, dessen Lebensspanne nicht nur das Deutsche Kaiserreich, die von ihm selbst leidenschaftlich bekämpfte Weimarer Republik, die zur ideologischen wie wis-senschaftlichen Profilierung und Karriere genutzte NS-Zeit, sondern auch die ersten beiden Dekaden deutscher Nachkriegsgeschichte umfasst.

Im doppelten Blick auf das Deutschland des 20. Jahrhunderts, seine wech-selnden politischen Systeme und auf das Leben – vor allem auf das Werk, den intellektuellen und politischen Einfluss sowie auf die wissenschaftliche Be-deutung – des Protagonisten dieser Untersuchung ist zu fragen: Welchen Bei-trag zur Erhellung der Dimension der Debatten um eine Reihe von Ord-nungsparadigmen und »Identitätsressourcen«, die im rechtsintellektuellen Milieu in der Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt und bereitgestellt wurden, kann eine der Intellectual History2 verpflichtete biogra-

1 In den letzten Jahren sind an dieser Schnittstelle eine Reihe von Arbeiten entstanden, u. a.: Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte; Eckel, Hans Rothfels; Dietze, Nachgeholtes Leben; sowie Morat, Von der Tat zur Gelassenheit. Man könnte den Fokus meiner Arbeit durchaus unter dem Begriff Intellectual Biography fassen, für den sich neben Eckel auch Uta Gerhard bei der Wahl des Titels für ihre Studie entschie-den hat; vgl. dies., Talcott Parsons. Allerdings überzeugt mich die deutsche Übersetzung »intellektuelle Biographie« für jenen aus dem angloamerikanischen Raum stammenden theoretischen Ansatz, die auch Jan Eckel für seine o. g. Studie über Rothfels wählte, nicht vollständig. Denn die adjektivische Zuschreibung in der Über setzung ist missver-ständlich – handelt es sich ja weniger in diesem (adjektivischen) Sinne um »intellektu-elle« Biographien als vielmehr um Intellektuellen-Biographien (bzw. um intellektuellen-geschichtlich motivierte Biographien).

2 Als in methodischer Hinsicht anregend für die vorliegende Studie sind aus der mittler-weile umfangreichen Forschungsliteratur zu nennen: Chartier, Intellectual History or Sociocultural History?; ders., Intellektuelle Geschichte; Hübinger, Intellektuelle, Intel-lektualismus; LaCapra, Rethinking Intellectual History; Lottes, »The State of the Art«;

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phische Studie3 leisten? Auf welche Weise beeinflussten die Ordnungskon-zepte jenes rechtsintellektuellen »Gegenmilieus« die politische Praxis sowie die »geistigen«, weltanschaulichen und kulturellen Transformationsprozesse der jungen Weimarer Republik, die seit ihrer Geburtsstunde die schwere Bürde des »Revisionssyndroms«4 trug? Wie sind Boehms politisch-intellek-tuelle Interventionen im Hinblick auf die von ihm und seinen »jungkonser-vativen« Gesinnungsgenossen angestrebte Neupositionierung des deutschen Konservatismus nach dem Ersten Weltkrieg einzuordnen und zu bewerten?

Die biographische Studie über Kontinuitäten und Wandlungen eines deut-schen Rechtsintellektuellen, der sich zeitlebens bestimmten Themen widmete, will als eine Art »Sonde«5 fungieren. Mithilfe einer solchen »biographischen Sonde« können am konkreten Beispiel die aktiven Anteile herausgearbeitet wer-den, welche von rechtsintellektueller Seite die zeitgenössischen Debatten um zentrale Begriffe wie »Volk«, »Rasse« und »Nation« sowie die aus jenen »Iden-titätsressourcen«, »invented traditions«,6 und politischen Mobilisierungsformeln abgeleiteten Ordnungskonzepte bestimmten. Der Blick durch die vor allem aus einem ideen- und intellektuellengeschichtlichen Erkenntnisinteresse heraus ein-gesetzte biographische »Sonde« soll – grob gesprochen für einen Zeitraum kurz nach 1900 bis in die fünfziger und sechziger Jahre – helfen, eine Reihe von Pro-blemfeldern zu benennen und zu analysieren, durch die sowohl die deutsche als

Ringer, The Intellectual Field; Trebitsch / Granjon (Hrsg.), Pour une histoire comparée; sowie der Literaturbericht von Morat, Intellektuelle. Darüber hinaus, v. a. mit deut-schem bzw. europäischen Fokus, weiterführend: Hübinger / Hertfelder (Hrsg.), Kritik und Mandat; Hübinger, Die europäischen Intellektuellen; van Laak, Zur Soziologie der geistigen Umorientierung; sowie Schlich (Hrsg.), Intellektuelle.

3 Die Biographie-Forschung insgesamt hat sich in den in den verschiedenen wissenschaft-lichen Disziplinen in den letzten Jahren stark weiterentwickelt, inter- bzw. transdiszi-plinäre Ansätze sind jedoch immer noch selten. Aus der Fülle der Literatur vgl. Klein (Hrsg.), Grundlagen der Biographik; ders. (Hrsg.) Handbuch Biographie; sowie Fetz (Hrsg., unter Mitarbeit von Hannes Schweiger), Die Biographie. Einen guten Über-blick über die verschiedenen biographischen Ansätze im internationalen Vergleich bietet Niethammer, Probleme heutiger Biographik; den Nutzen für die Zeitgeschichte diskutiert Gallus, Biographik und Zeitgeschichte. Als nach wie vor gültige Warnung vor den Fallstricken biographischer Konstruktion vgl. auch Bourdieu, Die biographi-sche Illusion.

4 Vgl. hierzu den nach wie vor grundlegenden Aufsatz von Salewski, Das Weimarer Revi-sionssyndrom.

5 Vgl. zu diesem Mikro- und Makroebenen verschränkenden Ansatz meine anlässlich eines Workshops über »Ostforscher«-Biographien verfasste Problemskizze: Prehn, Mit der biographischen Sonde, S. 86.

6 Vgl. Hobsbawm / Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition. Neben diesem Ansatz hat sich in der Nationalismusforschung der Ansatz von Benedict Anderson, die Nation als gesellschaftlich konstruierte, »imaginierte« Gemeinschaft zu definieren und konzeptio-nell zu fassen, als einflussreich erwiesen. Vgl. ders., Imagined Communities. Eine gute Zusammenfassung des Forschungsstands bieten die Einleitung und das erste Kapitel in: Hering, Konstruierte Nation.

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auch die europäische Geschichte im 20. Jahrhundert geprägt wurden. Zu nen-nen sind hier etwa– die Entwicklung des deutschen Konservatismus und der radikalnationalisti-

schen, »völkischen« Bewegung nach der Jahrhundertwende;– die Hintergründe und die politischen Agenden des deutschen »Europa-Dis-

kurses« der Zwischenkriegszeit;– die Debatten um nationale Minderheiten oder »Volksgruppen«, deren Rechte

und entsprechende Revisionsbestrebungen nach dem Ersten Weltkrieg;– die Entwicklung von Bevölkerungs- (oder »Volks«-)Wissenschaften und ins-

besondere ihre Radikalisierung und »Entgrenzung« im nationalsozialistischen Regime sowie übergreifend

– die Schnittstellen und Kopplungen von Wissenschaft und Politik in den ver-schiedenen Bereichen, die mittels der biographischen »Sonde« beleuchtet werden können.

Damit sind einige der Punkte benannt, warum und mit welchen Erkenntnis-interessen ich mich mit einem deutschen Rechtsintellektuellen beschäftige, den man aus heutiger Perspektive – verglichen etwa mit Ernst Jünger oder Carl Schmitt – eher als »Mann der zweiten Reihe« bezeichnen kann. Ein wichtiger Punkt jedoch ist bislang nur am Rande angesprochen worden: Boehm ist der einzige deutsche, ja sogar der einzige europäische Forscher, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts versucht hat, eine Theorie zu begründen, deren Aus-gangspunkt und zentrale Kategorie »Volk« – und zwar in einem vornehmlich ethnischen Sinn – ist: eine »Volkstheorie«. Ist mit diesem Befund bereits ein bisheriges Forschungsdesiderat in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht iden-tifiziert, so gewinnt die Beschäftigung mit dem »Volkstheoretiker« und »Volks-tumsideologen« Boehm noch an Brisanz, wenn man sich die Bedeutung der Be-schwörungsformel und (sozialen wie ethnischen) Ordnungskategorie »Volk« in den entsprechenden Diskursen der zwanziger und dreißiger Jahre vergegenwär-tigt. Kurt Sontheimer zufolge war die »Idee des Volkes […] der zentrale politi-sche Begriff der antidemokratischen Geistesrichtung« der Weimarer Zeit.7 In diesem Sinne ist auch der Begriff »völkisch« – ein hinsichtlich des rechten poli-tischen Spektrums des Deutschen Kaiserreichs seit den 1880er Jahren überaus schillernder, keineswegs trennscharfer Begriff – zu verstehen.8 Nicht zuletzt mit Blick auf Boehm und dessen engeres weltanschauliches Umfeld trug dieser Be-griff eine allgemeine, für ein relativ breites politisch-ideologisches Spektrum grundlegende Bedeutung, wie sie Ulrich Herbert in seiner Studie über Werner Best herausgearbeitet hat:

7 Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 250.8 Vgl. neben Schmitz / Vollnhals (Hrsg.), Völkische Bewegung, v. a. Puschner, Struktur-

merkmale; Hartung, Völkische Ideologie; sowie zur Radikalisierung des deutschen Konservatismus Schildt, Der deutsche Konservatismus. Nach wie vor hilfreich zur Ein-ordnung des Begriffs ist der Aufsatz von Broszat, Die völkische Ideologie.

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»Im Kern meint ›völkisch‹ zunächst nur den Bezug auf die Kategorie des ›Volkes‹ als Ausgangspunkt einer politischen Philosophie, in der die Zugehö-rigkeit zu einem ›Volk‹ als der für das Leben des einzelnen Menschen wie für die Entwicklung von ›Geschichte‹ insgesamt ausschlaggebende Faktor angese-hen wird.«9

Die Absolutsetzung von »Volk« und die damit verbundene, intendierte Front-stellung des Begriffs gegen »den Staat« als zentrale Ordnungsmacht in den entsprechenden rechten, antidemokratischen Diskursen der zwanziger Jahre10 – und zwar speziell im sogenannten jungkonservativen11 oder »konservativ-revolutionären«12 Spektrum – sollte, wie herauszuarbeiten sein wird, weitrei-chende Folgen in verschiedenen Bereichen haben: zum einen im akademischen Bereich, in dem sich neben der Staatsrechtslehre eine Richtung zu etablieren begann, die in den dreißiger Jahren unter wechselnden Bezeichnungen (z. B. »Volkswissenschaften« oder »Volksforschung«) der »gesamten Staatswissenschaft« den Rang streitig zu machen suchte. Zum anderen sind die politischen Implika-tionen – und zwar nicht zuletzt mit Blick auf die Weltanschauungsdiktatur des NS-Regimes – zu bedenken. Ulrich Herbert hat zu Recht betont, dass die »prak-tische Konsequenz eines ›organischen‹ Volksbegriffs«, wie er prominent von M. H. Boehm, Wilhelm Stapel, Edgar Julius Jung und anderen propagiert wurde, in der Ablehnung des Staatsbürgerbegriffs bestanden habe.13 Welche Aus-wirkungen jene Ablehnung in Verbindung mit der politisch mobilisierenden Rede von der deutschen »Volksgemeinschaft«14 in Bezug auf die »Volksgenossen«

9 Herbert, Best, S. 59.10 Boehm und sein Werk sind in der Forschungsliteratur v. a. unter diesem Gesichtspunkt

diskutiert worden. Der Soziologe Carsten Klingemann hat sich sehr ausführlich mit Boehm, und zwar schwerpunktmäßig mit Blick auf die NS-Zeit, beschäftigt. Seine Ar-beiten werden in den entsprechenden Kapiteln diskutiert. Außerdem liegt ein Hand-buch-Artikel des Historikers Jürgen Elvert vor: ders., Max Hildebert Boehm. Neben Joachim Petzoldt, Die späte Einsicht, hat sich Eyk Ueberschär in seiner Diplomarbeit mit Boehm beschäftigt: ders., Volkstheorie und Nationalitätenrecht. Vgl. auch ders., Jungkonservative Vorstellungen.

11 Die Entwicklung dieses Milieus um Arthur Moeller van den Bruck, Heinrich von Glei-chen, M. H. Boehm und andere wird ausführlich geschildert und – mit entsprechenden Literaturhinweisen versehen – analysiert in Kap. 3.

12 Zur Problematisierung des Begriffs »konservative Revolution«, für dessen Verbreitung maßgeblich das Buch von Mohler, Die Konservative Revolution, sorgte, vgl. u. a. Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, insbes. S. 1-7 und S. 180-202; Kellers-hohn, Zwischen Wissenschaft und Mythos; sowie Weiß, Moderne Antimoderne; und Kemper, Das »Gewissen«.

13 Herbert, Wer waren die Nationalsozialisten?, S. 32.14 Zu den verschiedenen Aspekten der Rede und den Vorstellungen von der »Volks-

gemeinschaft«, die seit dem Ersten Weltkrieg und dann v. a. in der Weimarer Republik nicht etwa nur für das rechte, sondern auch für das demokratisch-republikanische Spektrum charakteristisch waren, liegt mittlerweile eine Reihe von Publikationen vor, etwa: Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat; ders., Von der inklusiven zur exklusiven Volksgemeinschaft; Verhey, Der »Geist von 1914«; sowie Wildt, »Volks-

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zum einen, und zum anderen auf die im »Dritten Reich« als »gemeinschafts-fremd« und »fremdvölkisch« stigmatisierten Menschen und Menschengruppen hatte, liegt auf der Hand. So wird insbesondere die Rolle zu untersuchen sein, die »Experten« wie Boehm im Hinblick auf die Propagierung entsprechender Maßnahmen spielten, die unter dem Stichwort der »Dissimilation« zunächst die als Juden identifizierten deutschen Staatsbürger (und später, zumal während des Zweiten Weltkriegs, auch andere »Fremdvölkische«) betrafen und zur Legitima-tion ihrer Entrechtung dienen sollten.

Dabei standen tendenziell »offene« Begriff wie »Volk« und »Gemeinschaft«, die bereits in der Weimarer Zeit in den rechts- und sozialwissenschaftlichen De-batten von zentraler Bedeutung waren, nach 1933 verstärkt als »Begriffshülsen« zur »Aufnahme eines Ideenkonglomerats« zur Verfügung, wie Oliver Lepsius mit Blick auf das entsprechende »Weltanschauungsfeld« herausgearbeitet hat. Inhaltlich »offene« Begrifflichkeiten der Weimarer Republik wurden im NS-Re-gime zur »offiziellen Wertverkörperung«.15 »Leit- und Leerformeln« wie die der »Volksgemeinschaft« (aber auch des »Führerstaates«, des »Volkskörpers« und des »Lebensraums«) waren im »Dritten Reich« nicht nur anschlussfähig für »Denk-muster und Handlungsziele der meisten etablierten Sozialexperten«.16 Vielmehr wird auch zu fragen sein, auf welche Weise Experten wie Boehm an der Aus-deutung und »Aufladung« jener Begriffe bereits vor 1933 mitwirkten und sich darüber im akademischen Kontext etablierten.

Für einen analytischen Umgang mit dem Begriff »Volksgemeinschaft« sind (mindestens) zwei Ebenen zu unterscheiden: Zum einen thematisiert und trans-portiert »Volksgemeinschaft« die Perspektive der »Volksgenossen«, nämlich so-wohl auf der Ebene eines Erwartungsraumes und einer entsprechenden Projek-tionsfläche (und zwar bereits weit vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten) als auch eines Erfahrungsraumes im »Dritten Reich«, wobei in diesem Zusammenhang der Begriff der Erfahrung – etwa in Bezug auf die

gemeinschaft« als politischer Topos. Zum »Volksgemeinschafts«-Bekenntnis in der deutschen Jugendbewegung vgl. u. a.: Held, Die Volksgemeinschaftsidee; sowie Preuß, Verlorene Söhne, S. 161 ff. Die Forschungsliteratur zur »Volksgemeinschaft« im Natio-nalsozialismus, v. a. auch zu den Aspekten ihrer »Herstellung«, ist ungleich breiter. Vgl. neben den neueren Sammelbänden von Schmiechen-Ackermann (Hrsg.), ›Volks-gemeinschaft‹; sowie von Bajohr / Wildt (Hrsg.), Volksgemeinschaft, auch: Dülffer, Hitler, Nation und Volksgemeinschaft; Götz, German-Speaking People; ders., Unglei-che Geschwister; Jegelka, »Volksgemeinschaft«; Mergel, Führer, Volksgemeinschaft, Maschine; Mitchell, Volksgemeinschaft; Müller, Nationalismus (hier den entsprechen-den Abschnitt, S. 34-40); Otto / Sünker, Volksgemeinschaft als Formierungsideologie; Sösemann, Propaganda und Öffentlichkeit; Stolleis, Gemeinschaft und Volksgemein-schaft; Thamer, Nation als Volksgemeinschaft; ders., Volksgemeinschaft: Mensch und Masse; Weisbrod, Der Schein der Modernität; Wildt, Die politische Ordnung; ders., Charisma und Volksgemeinschaft; sowie ders., Volksgemeinschaft als Selbstermäch-tigung.

15 Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, S. 108. Das Konzept der »Begriffs-hülsen und Begründungshülsen« ist ausführlicher dargestellt in: ebenda, S. 365 ff.

16 Raphael, Sozialexperten S. 337.

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deutschen »Volksgruppen« jenseits der Grenzen des Deutschen Reiches vor dem Zweiten Weltkrieg – kritisch zu hinterfragen sein wird. Zum anderen wird die »Volksgemeinschaft« als (aus zeitgenössischer Perspektive) schrittweise und auf verschiedenen Ebenen zu verwirklichendes Projekt – als Gemeinschaft in statu nascendi und dementsprechend als Projekt, das wiederum eine Vielzahl von möglichen Projektionsflächen bot, in den Blick zu nehmen sein. Diese Analyse-ebene berührt also die auf die Herstellung von »Volksgemeinschaft« gerichteten konkreten Bestrebungen, Maßnahmen und Praktiken, die – obwohl auf den ver-schiedenen Feldern der sozial- und bevölkerungspolitischen Umsetzung immer von einer entsprechenden Propaganda begleitet – über eine reine Rhetorik im Sinne der bereits erwähnten, nahezu substanzlosen »Begriffshülsen« hinausging. Wirkungsmächtig war jedoch die Rede von der »Volksgemeinschaft« und waren die sozial- und bevölkerungspolitischen Maßnahmen des NS-Regimes überall dort und immer dann, wenn die »Verheißung« sich subjektiv, auf Seiten der »Volksgenossen«, als »gefühlte« (und insofern subjektiv erfahrene) Gemeinschaft niederschlug.17

Für das intellektuelle Feld, das in der vorliegenden Studie beleuchtet wird, er-scheint in diesem Zusammenhang folgende Formel zur Charakterisierung eines Prozesses treffend, den Max Hildebert Boehm und andere Rechtsintellektuelle bereits während des Ersten Weltkriegs beschworen: die geistige Mobilmachung der »Volksgemeinschaft«. Der Begriff der »Mobilmachung« nimmt Bezug auf die publizistische Auseinandersetzung Boehms mit Ernst Jünger und dessen 1932 veröffentlichtes Buch »Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt«. Boehms »Ant-wort« darauf, das 1933 erschienene, von der Forschung bis heute kaum beach tete Werk »Der Bürger im Kreuzfeuer« gab der Autor als Versuch einer »Ehrenret-tung des Bürgers«18 gegenüber Jüngers Verklärung und Beschwörung der Figur

17 Dass die Dimensionen der »Verheißung« sowie des Zusammenspiels von (vor allem »rassisch« begründeter) Inklusion und Exklusion von größerer Bedeutung waren als die in der Forschungsliteratur bisweilen anzutreffende Behauptung, nationalsozialistische »Volksgemeinschaft« habe sich vornehmlich in realem sozialen Wandel und in der er-folgreichen Strategie der Herstellung sozialer wie politischer Einheit materialisiert, hat Ian Kershaw, »Volksgemeinschaft«, überzeugend dargelegt.

18 Boehm, Der Bürger im Kreuzfeuer, S. 13. Die prinzipielle Verteidigung des Bürgertums durch Boehm (bei aller grundsätzlichen Kritik am Wilhelminismus und den zeitgenös-sischen »Verkrustungen«, die im deutschen Bürgertum auszumachen seien) bricht mit der bisweilen in der Forschungsliteratur anzutreffenden Einordnung der »Konserva-tiven Revolution« als »geistiges Milieu«, das durchweg von antibürgerlichen Haltungen und Affekten geprägt gewesen sei. Darüber hinaus stellt jener »Ehrenrettungs«-Versuch Boehms – neben dem prinzipiell »volksgemeinschaftlichen Denken – eines der verbin-denden politisch-weltanschaulichen Elemente zwischen dem »Volkstheoretiker« und seinem Kollegen an der Deutschen Hochschule für Politik, Theodor Heuss, dar. Auf das Verhältnis zwischen Boehm und Heuss wird noch näher einzugehen sein, wobei das »landläufige« dichotomisch-starre Bild vom (angeblich) durchweg liberalen »Papa Heuss« und dem antiliberalen Boehm zumindest in Teilen zu modifizieren sein wird. In diesem Zusammenhang wird darüber nachzudenken sein, in welcher Hinsicht mit Blick auf politisch-weltanschauliche oder intellektuelle Milieus von undurchlässigen

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des »Arbeiters« aus. Am Rande spielte Boehm dort auch auf Jüngers Essay »Die totale Mobilmachung« aus dem Jahr 1930 an und nahm die Figuren der Übertra-gung des militärischen Jargons in die für Jünger und den »heroischen Realismus« typische technikverherrlichende und nationalistische Tabula-rasa-Rhetorik, die die »Weimarer Verhältnisse« in politischer und sozialer Hinsicht »aufzuspren-gen« helfen sollte, in seinem »Bürger«-Buch auf. So konzedierte Boehm zwar, dass angesichts der zeitgenössischen »Entwurzelungs«-Erscheinungen und -Er-fahrungen in sozialer Hinsicht »militärische Begleitgedanken gut am Platze« wä-ren, die »dem ›Bürger‹ besonders auf die Nerven fallen« und unter der Formel der »Mobilisierung« zu fassen seien.19 Auch wenn er scharfe Kritik übte an der Jünger’schen Vision einer »›totale[n] Mobilisierung‹ der Welt, die auf Bolsche-wismus oder Nihilismus« hinauslaufe, so griff er in seiner eigenen Skizze eines künftigen nationalen »Bedrohungs«-Falls und eines entsprechenden Kriegssze-narios auf das Muster der deutschen »volksgemeinschaftlichen« Kollektiv-Erfah-rung im Ersten Weltkrieg zurück und malte deren Potenziale aus:

»In künftigen Kriegen wird es jedenfalls, was persönlichen Einsatz jedes Ein-zelnen anlangt, zwischen Front, Etappe und Hinterland, zwischen kämpfen-der Truppe und der übrigen Landesbevölkerung keinen wirklichen Unter-schied mehr geben. Mindestens zur Abwehr unmittelbarer Lebensgefahr wird jedermann ›mobilisiert‹ werden müssen.«20

Nicht zuletzt formierte sich die deutsche »Volksgemeinschaft« – zumal nach dem aus der Sicht der antidemokratischen und antirepublikanischen Rechten zu revidierenden »Diktatfrieden« von Versailles – in Boehms Augen im »Abwehr-kampf« des an den Grenzen des Deutschen Reiches und in den von ihm »ab-getrennten« Gebieten lebenden »Deutschtums«.21 Die zentrale Fragestellung ist dementsprechend der Untersuchung von Boehms »Lebensthema« – der Erfor-schung der Problematik der nationalen Minderheiten oder »Volksgruppen« und im Besonderen der »Grenz- und Auslandsdeutschen« – sowie dessen »Überfüh-rung« und Einbettung in ein eigenes theoretisches Konzept (die Begründung einer »Volkstheorie«) gewidmet. Damit verbunden ist zum einen die wissen-schaftsgeschichtlich relevante Frage nach der Etablierung dieses Forschungsfel-des. Zum anderen werden die Probleme in den Blick zu nehmen sein, die

»Lager«-Grenzen gesprochen werden kann und an welchen Punkten der Beschreibung und Einordnung bestimmter, v. a. für die zwanziger Jahre typischer intellektueller Pro-zesse die Dichotomien »demokratisch – antidemokratisch« oder »links – rechts« zu Ver-zeichnungen führen.

19 Boehm, Der Bürger im Kreuzfeuer, S. 11.20 Ebenda, S. 11 f.21 Mit dieser Problematik habe ich mich bereits in meiner Magisterarbeit ausführlich

auseinandergesetzt; vgl. Prehn, »Volksgemeinschaft im Abwehrkampf«. Vgl. außerdem Münz / Ohliger, Auslandsdeutsche; Hiden, The Weimar Republic; Jaworski, Der aus-landsdeutsche Gedanke; Komjathy / Stockwell, German Minorities; sowie speziell zum sog. Grenzdeutschtum: Oberkrome, »Grenzkampf« und »Heimatdienst«, S. 191 ff.

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Boehms – beinahe obsessive – lebenslange Forschungs-, »Aufklärungs«- und politische »Erziehungs«-Arbeit in intellektuellengeschichtlicher wie biographi-scher Hinsicht aufwirft. Eine solche Herangehensweise zieht fast zwangsläufig Fragen nach der Verortung des Subjekts bzw. – um eine von Alf Lüdtke favo-risierte Bezeichnung aufzugreifen – des Akteurs in intellektuellen Prozessen nach sich und lässt es sinnvoll erscheinen, mit Blick auf Angehörige der Wissens-, Deutungs-22 und Weltanschauungseliten23 einen weiteren Aspekt in der Analyse zu berücksichtigen: die »Praxen der ›Aneignung‹«, im Sinne eines umfassenden und komplexen Sets von »Wahrnehmungs-, Deutungs- und Verhaltensweisen«.24

Für die Erforschung und Einschätzung von Handlungsfeldern und -kontexten sowie von Handlungsoptionen und -spielräumen sei auf die Theorien und Erklä-rungsmodelle von Pierre Bourdieu und – erneut – Alf Lüdtke verwiesen, die das »intellektuelle Feld«25 bzw. das Feld, in dem Angehörige der Funktionseliten und Experten handeln und Entscheidungen herbeiführen, als Kräftefeld begreifen.26 In einem solchen Kräftefeld, wie Lüdtke es beschreibt, bewegte sich auch Boehm mit seinen Expertisen und über seine diversen institutionellen Ein- und Anbindun-gen – und zwar nicht nur in der NS-Diktatur (auf die sich Lüdtkes Überlegungen beziehen), sondern auch in der Weimarer Zeit sowie in der Bundesrepublik:

»Auszuleuchten bleibt das Kräftefeld, in dem Entscheidungen der Führungs-zirkel und Machteliten nicht nur hingenommen, sondern vielmehr aktiv vorbereitet oder auch verhindert werden. Insbesondere das Zurichten ge-sellschaftlicher Zustände als ›decisions‹ oder ›non-decisions‹ wird hier be-sorgt – das Interpretieren von Interessen und Wünschen, von Zwängen und Ängsten. Dieses Deuten und Filtern von Wirklichkeiten als entscheidungsreif und zugriffsbedürftig ist eine Domäne der mittleren Gruppen spezialisierter Fachleute, hier überwiegend: Fachmänner.«

22 Vgl. hierzu die ausführlicheren theoretischen Überlegungen in meinem Aufsatz: Prehn, Deutungseliten – Wissenseliten.

23 Vgl. hierzu v. a. Herbert, Weltanschauungseliten; sowie Wildt, Generation des Unbe-dingten, S. 137-142.

24 Lüdtke, Alltagsgeschichte: Aneignung und Akteure, S. 84 f. Wie der Titel schon sagt, hat Lüdtke seine Vorschläge und konzeptionellen Angebote nicht etwa im Rahmen eines der Intellectual History, der Ideengeschichte oder der Sozialgeschichte der Ideen verpflichteten Ansatzes entwickelt, sondern mit Blick auf die alltagsgeschichtliche For-schung. Mir erscheint es sinnvoll, die von Lüdtke vorgeschlagenen Felder – etwa das re-petitive Moment, Fragen der Routinisierung im Hinblick auf das Handeln in sozialen Gruppen und Institutionen, aber auch gegenläufige Prozesse dazu und eigen-sinnige Aneignungspraxen – als Untersuchungsebenen in die Analyse von »geistiger Arbeit« zu integrieren. Vgl. speziell zum Konzept der »Aneignung«: ders., Einleitung, S. 11-13.

25 Von zentraler Bedeutung sind in diesem Zusammenhang: Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, v. a. S. 75-124; sowie ders., Sozialer Raum und »Klassen«, S. 68 ff. Einige Überlegungen zu den Funktionsmechanismen und zur Struktur des »in-tellektuellen Feldes« und seinen »Grenzen« habe ich angestellt und zusammengefasst in: Prehn, Deutungseliten – Wissenseliten, S. 45 ff.

26 Vgl. Lüdtke, Funktionseliten, S. 574 (Hervorhebung i. O.), auch für das folgende Zitat.

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In diesem Zusammenhang wird besonders der Karriereschub zu beleuchten sein, der für Boehm mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten einherging: Welche Bedeutung hatte die Einrichtung eines genau auf ihn zu-geschnittenen Lehrstuhls an der Universität Jena im Herbst 1933 für den Aufstieg Boehms, der weder eindeutig dem Feld der »Ostforschung« noch dem der »Westforschung«27 zuzuordnen ist, zu einem »Souffleur der Macht«?28 Und wel-chen Beitrag zu diesem Aufstieg leisteten neue wie alte (d. h. aus der »Systemzeit« stammende) Netzwerke?

Der »Netzwerk-Aspekt«29 spielte in Boehms Leben, vor allem im Hinblick auf seine an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik angesiedelten Tätigkei-ten, eine kaum zu überschätzende Rolle. Die Untersuchung von intellektuellen, politischen und im weiteren Sinne sozialen Netzwerken und deren Erträge kön-nen aus meiner Sicht einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, die Einwände zu relativieren, die gegen die biographische Methode vor allem aus struktur-geschichtlicher Sicht vor Jahrzehnten noch vorgebracht wurden.30 In die gleiche Richtung wirkt die Einbeziehung weiterer komparativer und Kontextualisie-rungsebenen in die biographischen Fragestellungen. An erster Stelle ist hier der Vergleich von Karrieren, Einstellungen, politischen Initiativen, intellektuel-len bzw. wissenschaftlichen Einflüssen und Beiträgen anderer Personen oder Personengruppen zu nennen: Kollegen, Mentoren, politische »Mitstreiter«, in-tellektuelle oder weltanschauliche Gegner bzw. »Gesinnungsgenossen«. Die vor-liegende Untersuchung zeigt eine Vielzahl solcher Vernetzungen und »Kor-respondenzen«, Lager- und Frontbildungen, Allianzen und Trennlinien auf.

Einer bestimmten Gruppe, nämlich den »Schülern« Boehms31 im akademi-schen Bereich sowie in der »nationalpolitischen Erziehungsarbeit«, die er bereits seit den frühen zwanziger Jahren in verschiedenen Einrichtungen leistete, ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Denn der Aspekt der Weitergabe (bzw. des Fortwir-

27 Zur »Ostforschung« vgl. Burkert, Die Ostwissenschaften; Burleigh, Germany Turns Eastwards; Fahlbusch, Wissenschaft; Haar, Historiker; ders., Deutsche »Ostforschung« und Antisemitismus; ders., »Ostforschung« und »Lebensraum«-Politik; ders., Ostfor-schung im Nationalsozialismus; Mühle, »Ostforschung«; ders., Ostforschung und Na-tionalsozialismus; ders., Für Volk und deutschen Osten; sowie die Beiträge folgender Sammelbände: Piskorski (Hrsg.), Deutsche Ostforschung; Middell / Sommer (Hrsg.), Historische West- und Ostforschung; Verweise auf Publikationen von DDR-Histo-rikern zum Thema finden sich in Kap. 7.2, Literaturangaben zur »Westforschung« in Kap. 6.2.

28 Siehe van Laak, »Nach dem Sturm schlägt man auf die Barometer ein …«, S. 26.29 Zur Bedeutung der Analyse von Netzwerken auch und gerade für intellektuellen- und

wissenschaftsgeschichtlich motivierte biographische Untersuchungen vgl. die überzeu-gende, mit anregenden Ausblicken verbundene Überblicksdarstellung von Arend, Über die Grenzen; sowie den entsprechenden Abschnitt in meinem Problemaufriss: Prehn, Deutungseliten – Wissenseliten, S. 52 ff.

30 Die zumeist von strukturgeschichtlich arbeitenden Historikern formulierten Vor-behalte referiert Gestrich, Einleitung, S. 5 ff.

31 Hier spielen Fragen der generationellen Erfahrung und Prägung, aber auch der Selbst-stilisierung jener »politischen Generationen« eine Rolle.

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kens) von Wissen und Deutungen, von »Weltanschauung« und Habitus, von Stil32 und »Denkstil«33 ist bislang in intellektuellengeschichtlichen Studien allzu selten berücksichtigt worden. Gleiches gilt in Bezug auf einen weiteren Aspekt, der selbst in biographischen Arbeiten, die sich der Analyse von »Leben« und »Werk« widmen, häufig »unterbelichtet« wird: die Frage der Rezeption. Die Aus-blendung dieser Ebene in einer ideen-, wissenschafts- und intellektuellenge-schichtlich motivierten biographischen Arbeit erschiene paradox, geht es doch in entsprechend fokussierten Studien auch um die Wirkungsmacht von Ideen, intellektuellen Interventionen sowie von wissenschaftlichen Traditionen, Adap-tionen und Innovationen. Deswegen nimmt in der vorliegenden Arbeit die Rezep-tionsanalyse zweier thematischer Komplexe in Boehms Werk relativ breiten Raum ein. Hier sind zum einen die Texte zu nennen, die im Ersten Weltkrieg sowie in der Etablierungs- und Machtkonsolidierungsphase des nationalsozialistischen Re-gimes der »Judenfrage« und deren »Lösung« (vor allem mit Blick auf das soge-nannte Assimila tionsjudentum) gewidmet waren. Zum anderen gilt das Augen-merk der – ebenso langen wie breiten – Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Boehms Hauptwerk, dem 1932 erschienenen Buch »Das eigenständige Volk. Volkstheoretische Grundlagen der Ethnopolitik und Geisteswissenschaften«.

Mit Blick auf Boehm und seine Grundüberzeugungen und -positionen, aber auch die seines engeren wissenschaftlichen und politischen Umfeldes (etwa seines Schülerkreises) wird zu fragen sein, inwieweit das bereits angesprochene Modell von Fleck, die Lehre von »Denkstil« und »Denkkollektiv«, hilfreich ist, um die Dimension von Boehms »Lebensthema« und die entsprechenden menta-len, intellektuellen und (im eigentlichen Wortsinn) weltanschaulichen Aneig-nungsprozesse zu erhellen. Kann hier von einem »Gestaltsehen« im Fleck’schen Sinne gesprochen werden, von der Herausbildung eines spezifischen »Blicks« durch die »ethnisierende Brille«34 in einem begrenzten, sich auf wissenschaftlicher Ebene mit Fragen und Problemen des »Volkstums« beschäftigenden Forschens?

Ein weiterer Fragenkomplex berührt die Untersuchung der identitätsstiften-den Aspekte in Boehms Werk. Hier erscheinen die Überlegungen hilfreich, die insbesondere Lutz Niethammer zur Problematisierung des Konzepts der »kollek-

32 In vorbildlicher Weise hat Berthold Petzinna in seiner Arbeit über den jungkonserva-tiven »Ring«-Kreis die Ausprägung eines spezifischen »Stils« in jenem politisch-intel-lektuellen Milieu herausgearbeitet. Vgl. ders., Erziehung zum deutschen Lebensstil.

33 Die Lehre Ludwik Flecks vom »Denkstil« und den Entstehungsbedingen dieses »Stils« und entsprechenden »Denkkollektiven« hat Thomas Etzemüller in seiner Arbeit über den Historiker Werner Conze (dessen Wege sich mit dem Boehms über Jahrzehnte hin-weg immer wieder kreuzten) überzeugend in seine Analyse integriert. Vgl. ders., Sozial-geschichte als politische Geschichte; sowie Flecks im wissenschaftsgeschichtlichen Kontext längst zum »Klassiker« aufgestiegenes, 1935 erschienenes Buch: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache.

34 Zum Konzept der Ethnisierung und zu entsprechenden historischen Prozessen vgl. Bu-kow, Feinbild: Minderheit; Dittrich / Radtke (Hrsg.), Ethnizität; Stender, Was heißt Ethnisierung?; sowie Salzborn, Zwischen Homogenitätsdruck, (Selbst-)Ethnisierung und Segregation.

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tiven Identität« angestellt hat.35 Es soll gezeigt werden, dass Boehms ethnopoliti-sche und »volkstheoretische« Arbeiten »magische Formeln« zur Stiftung einer deutschen Kollektividentität darstellen. Zu untersuchen ist in diesem Kontext vor allem das emotional besonders aufgeladene Projekt der (aus zeitgenössischer Perspektive) zu verwirklichenden »Volksgemeinschaft« als »Vision«, die darauf angelegt war, die internationale Ordnung der Nationen und »Volksgruppen« in Europa nach Beendigung des Ersten Weltkriegs aufzusprengen und die »geis-tige« Grundlage für ein Neuordnungsszenario zu liefern. Bezugnehmend auf Niethammers Überlegungen zur kollektiven Identitäts(stiftung) soll Boehms »Volks«- und »Raum«-Konzept36 als ein Beispiel dafür in den Blick genommen werden, dass kollektive Identität »in der Gesellschaft und im transnationalen Raum« nur dort Sinn macht, »wo sie etwas anderes will, als das Recht regelt, ent-weder ein Kollektivsubjekt konstituieren, das im positiven Recht keine Stütze hat, oder seinen Angehörigen Aufgaben zuweisen, die diesseits oder jenseits rechtlicher Regelungen liegen«.37

Gilt Niethammers Befund hinsichtlich der Bereitstellung von »Identitäts-ressourcen« durch Boehm und andere rechte »Ideologen« – und zwar bis in die Nachkriegszeit und in die fünfziger Jahre hinein –, so werden auch die Felder und Bereiche zu betrachten sein, in denen Boehm und andere »Minderheiten«- oder »Volksgruppen«-Experten« in der Zwischenkriegszeit die Realisierung der deutschen »Volksgemeinschaft« durch Entwürfe konkreter Maßnahmen der »Gemeinschafts«-Herstellung und Abgrenzung forderten und förderten, die über die »Erfindung« und Propagierung identitätsstiftender »magischer For-meln« hinausging. Im Besonderen werden in diesem Zusammenhang die Initia-tiven Boehms und anderer »Deutschtumspolitiker« und »Volkstumsforscher« wie etwa Karl Christian von Loesch, Werner Hasselblatt oder Hermann Rasch-hofer38 zu untersuchen sein, die auf die Durchsetzung neuer rechtlicher Formen der Stärkung von »Volksgruppen« in Europa (und zwar vor allem der deutschen »Volksgruppen«) auf internationaler Ebene abzielten.

Schließlich sind noch zwei übergreifende Fragestellungen zu diskutieren. Be-reits für Boehms Tätigkeiten während des Ersten Weltkriegs und verstärkt für die Weimarer Republik und die NS-Zeit werden Strategien bzw. Entwicklungen der Mobilisierung und Selbst-Mobilisierung sowie der vornehmlich für die dreißi-

35 Vgl. Niethammer, Kollektive Identität.36 Willi Oberkrome hat in seiner Einordnung einer wichtigen Strömung der deutschen

Geschichtsschreibung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den spezifischen Beitrag deutscher Historiker zur ethnoradikalen Aufladung des historischen Raum-begriffs herausgearbeitet. Vgl. ders., Raum und Volkstum. Dieser Befund gilt nicht nur für Historiker, sondern ist auf eine ganze Reihe von Wissenschaftlern (Soziologen, Geographen usw.) auszuweiten, die auf dem Gebiet der sich in den dreißiger Jahren unter dieser Bezeichnung formierenden »Volks(tums)wissenschaften« – wie auch M. H. Boehm – tätig waren. Vgl. hierzu auch Prehn, »Volk« und »Raum«.

37 Niethammer, Kollektive Identität, S. 626.38 Zu den beiden Erstgenannten vgl. die Kurzbiographien im Anhang; zu Raschhofer die

biographische Skizze in Kap. 4.3.

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ger Jahre auszumachenden (Selbst-)Radikalisierung eines deutschen Rechtsintel-lektuellen herauszuarbeiten sein. Dabei wird es hilfreich sein, in der Analyse die von Mitchell G. Ash vorgeschlagene Unterscheidung zweier Rhetoriken aufzu-greifen, derer sich Wissenschaftler in der nationalsozialistischen »Weltanschau-ungsdiktatur« bedienten, um ihre Arbeiten dem System »anzudienen«. Ash spricht hier von Rhetoriken und Angeboten einer (behaupteten) »ideologischen Kohärenz« bzw. – als alternative Handlungs- und Begründungsoption der frag-lichen Wissenschaftler – von Rhetoriken einer »Instrumentalisierung«,39 also eines Angebots von Forschungen, die vom ideologischen Standpunkt des Re-gimes aus fragwürdig oder zweifelhaft erschienen. Die Analyse jener Rhetoriken und Angebote wird außer in der Untersuchung der bereits erwähnten Stellung-nahmen Boehms zur »Assimilation« und »Dissimilation« ethnischer Gruppen insbesondere bezüglich seiner Forschungen und Expertisen zur deutschen bevöl-kerungspolitischen Planung in den östlichen und westlichen Besatzungsgebieten während des Zweiten Weltkriegs vorzunehmen sein. Es wird nachzuzeichnen sein, wie der längere Prozess der »Verwissenschaftlichung des Sozialen«40 im »Dritten Reich« in der Praxisorientierung eines »radikalen Ordnungsdenkens«41 mündete. Ins Blickfeld geraten dabei, wie Margit Szöllösi-Janze, eine Formulie-rung des US-amerikanischen Historikers Mark Walker aufgreifend, treffend for-muliert hat, »die ›grauen Bereiche‹ von Kompromiß und Kollaboration«. Die Konstatierung solcher »Grauzonen« basiert auf dem gleichermaßen zutreffenden Befund, dass »Wissenschaftler (wie andere Deutsche auch) gleichzeitig gewisse Aspekte nationalsozialistischer Politik ablehnen und andere unterstützen konnten«.42

Neben der Identifikation von Phasen und Prozessen der Radikalisierung der von Boehm in verschiedenen politischen Systemen entwickelten Wissens- und Deutungsangebote, Expertisen und politischen Initiativen stellt sich mit Blick auf die zweite deutsche Nachkriegszeit im 20. Jahrhundert die Frage, ob auch für seine Ordnungskonzepte eine Deradikalisierung ausgemacht werden kann, wie sie für den westdeutschen Kontext der fünfziger Jahre von verschiedener Seite als allgemeine Tendenz in den sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen konstatiert worden ist.43 Dieser Gesichtspunkt, der Boehms Wirken in den zwei Jahrzehnten nach der militärischen Niederlage des »Dritten Reiches« betrifft, ist

39 Ash, Wissenschaft und Politik, S. 124.40 Vgl. Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen.41 Vgl. ders., Radikales Ordnungsdenken.42 Szöllösi-Janze, »Wir Wissenschaftler bauen mit«, S. 163.43 Vgl. etwa Muller, The Other God that Failed; Eckel, Geist der Zeit, S. 89-111; sowie van

Laak, »Nach dem Sturm schlägt man auf die Barometer ein …«, S. 38 f. Van Laak hat, die veränderten politischen Rahmenbedingungen und die Perspektiven der rechtsintel-lektuellen Akteure unter jenen veränderten Vorzeichen betonend, eine gewisse Zwangs-läufigkeit der Entradikalisierungstendenz in folgendem Urteil auf den Punkt gebracht: »Es ging nicht oder kaum noch um Revision, meist ging es um schiere Selbstbehaup-tung.« Ebenda, S. 38 (Hervorhebung i. O.).

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mit Blick auf die »weiche« Zäsur 1945 zu kontextualisieren und diskutieren. Denn die zentrale Fragestellung dieser Arbeit – die Analyse des Beitrags, den ihr Protagonist zur »geistigen Mobilmachung« der »Volksgemeinschaft« leistete – bricht zwar nach 1945 keineswegs ab. Doch sind die für Boehms Nachkriegs-Œuvre charakteristischen Anknüpfungs-Diskurse (die sich im biographischen Sinne überwiegend als Selbstanküpfungen an die Zeit vor 1933 darstellen) nur noch teilweise in dem Bereich der »Volksgemeinschafts«-Bezüge zu verorten, de-ren Resonanzraum in den Jahren der »Trümmergesellschaft« und des Wiederauf-baus nur noch schwach ausgeprägt bzw. als »Restbestand« kollektiver Mentalitä-ten in einem veränderten soziokulturellen und politischen Rahmen anders konnotiert waren als noch vor 1945. Entsprechende Rückbezüge bzw. Anpassun-gen an politische, ideologische und intellektuelle Nachkriegskonstellationen las-sen sich etwa an einem Bereich aufzeigen, der für Boehms Nachkriegsschaffen im Lüneburger Kontext von erheblicher Bedeutung war: die Mitarbeit – und zwar in konzeptioneller Hinsicht, als Autor und Mitherausgeber – an dem ersten umfassenden, dreibändigen Sammelwerk zum Problem der Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen in Westdeutschland.44

Während ich in den letzten Kapiteln die Bedeutung des Netzwerkaspekts auch für Boehms Nachkriegsschaffen ebenso beleuchte wie seine Bemühungen und Initiativen als wohl wichtigster Chronist der »Deutschtumsbewegung« der Zwischenkriegszeit, fällt die Darstellung eines anderen späten Wirkungsfelds des Protagonisten dieser Untersuchung knapper aus: Boehms Hinwendung zu seinen deutschbaltischen »Wurzeln« vor allem in seiner späten Lebensphase wird nur in Ausschnitten diskutiert bzw. in thesenhaften Ausblicken thematisiert.45

Abschließend soll ein knapper Überblick gegeben werden über die Quellen, auf die ich zurückgreifen konnte. Dagegen wird an dieser Stelle darauf verzich-tet, über die bereits erwähnten und z. T. problematisierten methodologischen Fragen und inhaltlichen Aspekte hinaus auf den Forschungsstand zu einzelnen thematischen Feldern näher einzugehen. Nachweise der Forschungsliteratur sowie die Diskussion des Forschungsstands erfolgen in den entsprechenden Kapiteln.

Glücklicherweise existieren drei Teilnachlässe Boehms, deren Überlieferung sich auf fünf Archive erstreckt. Ein Nachlassteil befindet sich im Bundesarchiv (Koblenz), ein weiterer – relativ kleiner, aber überaus interessanter (weil bis in den Ersten Weltkrieg zurückgehender) – Teil im Jenaer Universitätsarchiv. Ein dritter Nachlassteil, der überwiegend aus der Zeit nach 1945 stammt, aber auch unterschiedlichste Materialien aus der Weimarer Republik und der NS-Zeit umfasst, ist in Lüneburg in drei verschiedenen Einrichtungen überliefert, die allesamt auf institutionelle Neu- bzw. Wiedergründungen Boehms in der Nach-

44 Lemberg / Edding (Hrsg., in Verbindung mit M. H. Boehm, K. H. Gehrmann und A. Karasek-Langer), Die Vertriebenen in Westdeutschland.

45 Einzelne Hinweise hierzu finden sich in dem von mir verfassten, kurz vor der Ver-öffentlichung stehenden Handbuchartikel: Prehn, Deutschbalten im Exil.

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kriegszeit zurückgehen: die Überlieferungen des Nordostdeutschen Kultur-werks, der Ost-Akademie (mittlerweile übernommen vom Bundesarchiv, Kob-lenz) sowie der Carl-Schirren-Gesellschaft. Da infolge des nahezu vollständigen Verlusts der Korrespondenz Boehms aus der Zeit vor 1945 – die einzige Aus-nahme bildet der Teilnachlass im Jenaer Universitätsarchiv46 – ein starkes Un-gleichgewicht in der Überlieferung persönlicher Quellen zu konstatieren ist, habe ich versucht, einen Teil der Korrespondenz, welche die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts betrifft, aus »Gegenüberlieferungen«, also zumeist anderen persönlichen Nachlässen bzw. den Überlieferungen von Behörden sowie ande-ren staatlichen Stellen und nichtstaatlichen Institutionen, zu rekonstruieren.

Ausgewertet werden auch zwei autobiographische Quellen, wobei an dieser Stelle nur kurz auf die spezifische Problematik jener Quellensorten eingegangen werden soll. Überliefert ist ein Memoiren-Fragment47 Boehms, das – Mitte bis Ende der fünziger Jahre verfasst48 – Ausschnitte aus seinem Leben thematisiert, die im Groben den Zeitraum der 1890er bis in die 1920er Jahre und in Ausschnit-

46 Über die Umstände gibt Boehms Schilderung in seinem Brief an Werner Hasselblatt v. 22.7.1947 Auskunft: Nachdem er im Januar 1946 von Jena aus in die britische Besat-zungszone, nach Ratzeburg, übergesiedelt war, habe er von dort aus nur abwarten kön-nen, »bis der nächste Schub meiner Akten von den Mäusen gefressen wird, die mein ganzes Privatarchiv in Jena vernichtet zu haben scheinen, das ich vor den Russen auf den Boden meines Hauses evakuierte«. Siehe Bundesarchiv Koblenz (BAK), N 1077 /4. Die weitgehende Vernichtung der Privatkorrespondenz Boehms durch »Mausefraß« er-wähnte Boehm auch in: Universitätsarchiv der Georg-August-Universität Göttingen (UAG), Kur. PA Boehm, Max Hildebert, Bl. 109, Boehm an Verwaltungsdirektor Pflug v. 8.5.1963. Der Teilnachlass im Universitätsarchiv Jena (UAJ) stellt die Überreste eines Dachbodenfundes in dem früher von der Familie Boehm bewohnten Haus in der Je-naer Westendstraße 17 im Jahr 1983 dar; vgl. die entsprechende Notiz zur Übergabe im Findbuch des UAJ. Ein ebenfalls nahezu vollständiger Verlust der Aktenüberlieferung ist für die Archiv bestände des Instituts für Grenz- und Auslandstudien in Berlin-Steglitz, Boehms Wirkungsstätte seit Mitte der zwanziger Jahre, zu konstatieren. Aller-dings konnten aus einer Reihe anderer archivalischer Überlieferungen viele Materialien zur Arbeit des Instituts ausgewertet werden.

47 Das Manuskript trägt den Titel »Um das gefährdete Deutschtum. Erlebnisse und Be-gegnungen in der Volkstumsbewegung«. Das im Teilnachlass Boehms im Bundesarchiv (Koblenz) überlieferte Exemplar wird im Folgenden zitiert als »Um das gefährdete Deutschtum«. Zum Genre sowie zu den spezifischen Problemen, die autobiographi-sche Quellen für die geschichtswissenschaftliche Forschung aufwerfen, vgl. neben En-gelbrecht, Autobiographien, Memoiren; v. a. Holdenried, Biographie vs. Autobio-graphie; Günther, »And now for something completely different«; und Depkat, Autobiographie. Vgl. auch Hermand, Von der »Wichtigkeit« des eigenen Lebens; sowie zum autobiographischen Gedächtnis: Rubin (Hrsg.), Remembering Our Past; und Welzer, Was ist das autobiographische Gedächtnis.

48 Einen Hinweis darauf, an welchem Punkt seiner Darstellung Boehm um die Jahres-wende 1958 /59 angelangt war, bietet sein in BAK, B 137 /7318, überliefertes Schreiben an Min.rat von Zahn, Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, v. 10.1.1959: Er habe seine Arbeit an dem Manuskript für zwei Jahre unterbrechen müssen, diese nun aber »mit Hochdruck wieder aufgenommen« und habe soeben seine »Erinnerungen an die Anfänge der Deutschtumsarbeit in Posen im Winter 1918 /19 zu Papier gebracht«.

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ten – zumeist in Vorausblenden in der Erzählung – auch die NS-Zeit umfassen. Doch thematisiert Boehm dort auch weiter zurückliegende Aspekte der Fami-liengeschichte und streift bisweilen in seinen für das Genre der Memoriallitera-tur typischen Reflexionen auch die (zum Zeitpunkt der Abfassung) zeitgenössi-sche Gegenwart. Dabei war er sich offenbar eines dem (auto-)biographischen Genre eigenen Grundproblems – zumindest ansatzweise – bewusst. Lucy Moel-ler van den Bruck, der Ehefrau seines bereits 1925 verstorbenen jungkonservati-ven Gesinnungsgenossen Arthur Moeller van den Bruck, schrieb er 1953 über die geplante Niederschrift seiner Memoiren: »Wenn ich dazu komme, wird sich ver-mutlich unter die Wahrheit einiges an unfreiwilliger Dichtung mischen.«49

In dem Memoiren-Fragment bricht die prinzipiell chronologisch angelegte Erzählung völlig unvermittelt in der Schilderung der politischen Bemühungen der sich in den zwanziger Jahren formierenden »Deutschtumsbewegung« ab. Der Grund, warum Boehm seine Memoiren, an denen er Ende der fünfziger Jahre eifrig arbeitete, schließlich nicht fertigstellte (obwohl er noch rund zehn Jahre länger leben sollte), ist unbekannt.

Das zweite wichtige Ego-Dokument ist bislang in der Forschungsliteratur nicht ausgewertet worden. Ich fand es in dem in der Ost-Akademie überliefer-ten Lüneburger Nachlassteil Boehms, der damals weitgehend ungeordnet war. Dort stieß ich auf eine von Boehm verfasste chronologische Aufzeichnung, die den irreführenden Titel »Ahnenlisten Boehm« trägt, wobei eher unwahrschein-lich ist, dass diese Bezeichnung auf Boehm selbst zurückgeht. Bei den »Ahnen-listen« handelt es sich jedoch keineswegs um Stammbäume oder dergleichen, sondern um eine retrospektiv, wahrscheinlich in den späten vierziger Jahren ver-fasste, chronologische und z. T. handschriftlich ergänzte Aufzeichnung Boehms, die den Zeitraum 1891 bis 1947 umfasst. Sie gewährt einen Überblick über aus-gewählte Ereignisse in seinem Leben, über seine Veröffentlichungen und Vor-träge sowie vor allem über die von ihm unternommenen Reisen (und kontak-tierten Personen an den Zielorten). Insofern weist sie wohl noch am meisten Ähnlichkeiten mit der Quellengattung des Itinerars auf. Diese wertvolle Quelle beinhaltet meines Erachtens – zumal mit Blick auf die NS-Zeit und trotz des stichwortartigen Charakters der Aufzeichnungen – nur wenige Auslassungen oder Fälle von (Selbst-)Zensur. So erwähnt Boehm z. B. etliche seiner Vorträge vor NS-Parteigliederungen und militärischen Stellen im »Altreich« sowie in den vom Deutschen Reich besetzten Gebieten während des Zweiten Weltkriegs ganz »ungeniert« und liefert in der Regel sogar präzise Datierungen.

Die »Ahnenlisten« geben auch, in begrenztem Umfang, Aufschluss über Boehms Privat- und Familienleben. Allerdings habe ich mich dafür entschieden, diesen Bereich aus der Darstellung weitgehend auszublenden, da er für die in dieser Arbeit verfolgten zentralen Fragestellungen kaum relevant ist. Jenseits des-sen habe ich die entsprechenden Teile dieser Quelle jedoch, ebenso wie das

49 Ost-Akademie, Lüneburg (OA), 2-8, Boehm an Lucy Moeller van den Bruck v. 10.10.1953.

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Memoiren-Fragment, für die Darstellung der familialen Sozialisation Boehms, seiner Kindheits- und Jugendjahre intensiv ausgewertet.

Aus dem umfangreichen Quellenmaterial ist mit Blick auf die NS-Zeit und speziell auf den Beitrag, den Boehm und andere Experten als »Politikberater« be-züglich der besetzten Gebiete in Ostmitteleuropa leisteten, ein Teil des Bundes-archiv-Bestandes »Akademie für Deutsches Recht« (AfDR) hervorzuheben: die Protokolle des Ausschusses für Nationalitätenrecht der AfDR und dessen Unter-ausschüssen. Sie nehmen einen besonderen Stellenwert ein, da es sich hierbei um Wortprotokolle handelt, die Boehms Auffassungen und zum Teil kritische Inter-ventionen veranschaulichen. Vor allem wird jedoch deutlich, dass in Gremien wie diesem Ausschuss eine unmissverständliche Sprache mit Blick auf die bruta-len Methoden der dort diskutierten bevölkerungspolitischen Maßnahmen (und deren Folgen) insbesondere im »Protektorat Böhmen und Mähren« sowie im »Generalgouvernement« gesprochen wurde.50 Boehms Interventionen erschei-nen nicht zuletzt vor dem Hintergrund jüngster Forschungsbeiträge wie der Dissertation Gerhard Wolfs, der eine Neubewertung der Frage von assimilations-fördernden Maßnahmen im Rahmen deutscher Besatzungs- und »Volkstums-politik« vornimmt,51 von einiger Brisanz. Dabei ist die Rede über breite Assimi-lation, wie von Boehm in besagtem Ausschuss propagiert, allerdings nicht zu diskutieren und einzuordnen, ohne die Debatten um »völkische Flurbereini-gung« und die auf »Ausmerze« und Vernichtung abzielende Politik gegenüber Bevölkerungsgruppen mitzuberücksichtigen, die von den Protagonisten natio-nalsozialistischer »Volkstumspolitik« nicht als assimilationsfähig oder -würdig erachtet wurden.

Zu dem ebenfalls umfangreichen wissenschaftlichen und politisch-publizisti-schen Werk Boehms ist Folgendes anzumerken: Zum einen ist es mir gelungen, eine ganze Reihe von Titeln nachzuweisen, die in der wichtigsten, in der »Fest-gabe« für Boehm aus dem Jahr 1961 publizierten Liste der Veröffentlichungen des »Volkstumsforschers«52 fehlen. Deswegen fällt die Übersicht über seine Ver-öffentlichungen im Quellen- und Literaturverzeichnis umfangreicher aus als die in der erwähnten »Festgabe«. Zum anderen beziehe ich in meine Analysen neben den zentralen Werken bewusst auch eine ganze Reihe »kleinerer Texte« ein. So bediente sich Boehm z. B. in seinen journalistischen Arbeiten einer an deren, dem Medium entsprechenden Sprache – zumeist, vor allem im Vergleich mit seinem wissenschaftlichen Werk, einer (zumal in politischer Hinsicht) deutliche-ren. Dies gilt auch für eine Vielzahl ungedruckter Manuskripte oder Aufzeich-

50 Dieser Aktenbestand, der mittlerweile in edierter Form vorliegt, ist teilweise bereits – wenn auch insgesamt überraschend selten – in der Forschungsliteratur ausgewertet worden, etwa von Carsten Klingemann, Wissenschaftsanspruch; und Ingo Haar, Historiker.

51 Wolf, Ideologie und Herrschaftsrationalität.52 [Peterleitner, Hans,] Max Hildebert Boehm – Verzeichnis der Schriften. Das Ver-

zeichnis stellt zwar angeblich eine Auswahlbibliographie dar, Peterleitner und Boehm strebten aber offenbar zumindest annähernde Vollständigkeit an.

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nungen, etwa zu Vorträgen53 oder Vorlesungen, deren Auswertung hilft, die Bandbreite der verschiedenen Publika und Rezeptionsfelder von Boehms an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik angesiedelten Interventionen, Stel-lungnahmen und Initiativen auszuleuchten.

53 Einen besonderen Stellenwert nimmt hier das Manuskript eines Vortrags mit dem Titel »Die Ordnung des Volkes im neuen Europa« ein, den Boehm im Sommer 1943 auf Einladung der rumänischen Regierung an der Universität Odessa hielt, das bislang in der historischen Forschung nicht ausgewertet worden ist.

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2. Das sozio-kulturelle Umfeld

Herkunft, frühe Einflüsse und »Prägungen« im »Grenzland«

Im Jahr 1940, in seinem 50. Lebensjahr stehend, blickte der Nationalitäten-forscher und »Volkstheoretiker« Max Hildebert Boehm in einem in der Danzi-ger »Monatsschrift für Kultur, Politik und Unterhaltung« Der Deutsche im Osten publizierten Aufsatz, also höchst öffentlich und ausdrücklich aus »baltischer« Perspektive, auf seinen bisherigen Lebensweg zurück. Bereits der Aufsatztitel »Mein Weg zur Volkslehre. Versuch einer baltischen Rechenschaft« verrät nicht nur die Absicht des Autors, sein Leben als gleichermaßen »sinnhaft« und ziel-gerichtet zu (re-)konstruieren und darzustellen, sondern wurde offenbar in der Absicht gewählt, den Leser dazu zu bringen, das von Boehm konstruierte Prä-judiz seiner Existenz und seiner Vita stillschweigend als Vorbedingung der Lek-türe dieses »Versuchs« einer »baltischen Rechenschaft« zu akzeptieren: nämlich die Perspektive auf (angeblich) ausschlaggebende »kulturräumliche« Prägungen eines Menschen – wenn nicht gar des Menschen an sich.

Ganz in diesem Sinne dankt Boehm »dem Schicksal, […] daß Keime früher Erfahrung sich oft sehr viel später als Grundstamm meines Seins und meiner Arbeit entfalten« konnten, aber auch – den eigenen Lebensweg darüber hinaus in einen überindividuellen sozialen und politischen Zusammenhang stellend – dafür, »daß noch freundschaftliche Beziehungen aus dieser frühen Kinderzeit Jahrzehnte später auch in gemeinschaftlicher volksdeutscher Arbeit ihre Früchte tragen konnten«.1 Und mit Blick auf seine Kindheits- und frühen Jugendjahre beschwört Boehm sein deutschbaltisches Heimatbewusstsein, den Bezug auf das als »Mutterland« betrachtete Deutsche Reich2 sowie die Erfahrungen des Auf- und Heranwachsens sowohl im deutsch-russischen als auch im deutsch-fran-zösischen »Grenzland« als wichtige »Prägekräfte« und »erklärt« sich selbst – d. h. seine Persönlichkeitsentwicklung, die Herausbildung seiner »Weltanschauung«, seinen beruflichen Werdegang und seinen politischen Aktivismus – auf diese Weise in einer Mischung aus plakativer Verkürzung und Stilisierung, oder an-ders ausgedrückt: Vornehmlich basiert Boehms Selbstentwurf auf einem nahezu eindimensionalen Erklärungsmuster bezüglich der (in der subjektiv konstru-ierten Rückschau des Autors) maßgeblichen »Prägungen«, »schicksalhaften Be-stimmungen« und Motivationen seiner Vita:

»Mein seltsam schicksalhafter Lebensweg führte mich zunächst aus dem Grenzland im Nordosten außerhalb des Bismarckreiches in das Reichsland

1 Boehm, Mein Weg zur Volkslehre, S. 28.2 Zu den von Boehm bemühten Kategorien »Mutterland« und »Reichssehnsucht« der

»Volksdeutschen aus dem Ausland«, zu denen Boehm sich zählte, vgl. ebenda, S. 33.

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familiale und schulische sozialisation

im Südwesten, nach Elsaß-Lothringen, das mir zur zweiten verlorenen Hei-mat werden sollte.«3

Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden die Lebensumstände der Familie Boehm und des heranwachsenden Max Hildebert in Livland sowie später in Lothringen beleuchtet, der erhebliche Konstruktionscharakter einer (in der Selbstsicht des Protagonisten) vornehmlich durch »Heimatverlust« geprägten »Grenzland«-Biographie aufgezeigt und die Mechanismen der Selbstkonstruk-tion und die entsprechenden Argumentationsweisen und -muster anhand der zur Verfügung stehenden Quellen4 analysiert werden.

2.1 Familiale und schulische Sozialisation: Kindheit und Jugendjahre in Livland und Elsass-Lothringen

Maximilian Hildebert Boehm wurde am 16. März 1891 in Birkenruh bei Wenden (Cēsis) in Livland, einer der drei zum Herrschaftsgebiet des russischen Zaren-reiches gehörenden baltischen Provinzen,5 geboren. Max(imilian) hieß bereits sein Vater (*1859), der zur Zeit der Geburt des ersten Kindes6 als Gymnasial-

3 Ebenda, S. 28. 4 Hierbei werden allgemeinere Quellen zur Sozial-, Bildungs- und Kulturgeschichte der

russischen Ostseeprovinzen Kurland und Livland konfrontiert mit Quellen, die vor allem die Familiengeschichte Boehms beleuchten und unter quellenkritischem Gesichtspunkt insofern besonders problematisch sind, als es sich hierbei um retrospektive Aufzeichnun-gen handelt, die von Max Hildebert Boehm selbst, seinem Vater und seinem Großvater väterlicherseits verfasst wurden: 1. die bereits in der Einleitung charakterisierten so-genannten Ahnenlisten Boehm, überliefert in: OA, 2-16; 2. das ebenfalls vorgestellte Me-moiren-Fragment »Um das gefährdete Deutschtum«; 3. die Aufzeichnungen des Vaters mit dem bezeichnenden Titel »Lebenswege eines baltischen Schulmanns. Wie die Fa milie Boehm den Rückweg ins Reich findet. Seinen Kindern erzählt von Max Boehm« (ver-fasst im Zeitraum 1921 bis 1935), die in der Manuskriptsammlung der Carl-Schirren-Ge-sellschaft, Lüneburg (CSG), AR11 /1, überliefert sind; 4. die Veröffentlichung von Max Boehm, Erinnerungsbilder; sowie schließlich 5. die Erinnerungen des Großvaters väter-licherseits, die ebenfalls gedruckt vorliegen: Christian Böhm, Lebenswege.

5 Hierzu zählten neben Livland noch die anderen beiden russischen Gouvernements Est-land und Kurland. Wenden war eine Kleinstadt von rund 4.500 Einwohnern (1893); vgl. Brockhaus’ Konversations-Lexikon, 14. Aufl., Bd. 16, S. 632. Dabei verdiente Wenden in den Augen von Max Boehm vor der Jahrhundertwende »voll und ganz den Namen einer deutschen Stadt, denn die anderen Volksstämme, Russen sowohl als Letten und Juden, bildeten nur einen geringen Bruchteil der Bevölkerung und waren für die Eigenart des Städtchens völlig belanglos.« Dagegen habe die in kultureller Hinsicht be deutende Stadt »ungewöhnlich viel [deutschstämmige, U. P.] Intelligenz, Adel und Literaten« beheimatet, aber auch »dem Kaufmann und dem gediegenen deutschen Handwerker günstige Lebens-bedingungen« geboten. Siehe CSG, Mss., AR11 /1, Max Boehm, Lebenswege, S. 59 f.

6 Max Hildebert Boehm hatte insgesamt fünf Geschwister: drei jüngere Schwestern, Erika (*1892), Grete (*1899), die bereits in ihrem sechsten Lebensjahr verstarb, und Ilse (*1900), sowie zwei jüngere Brüder, Herbert (*1894) und Siegfried (genannt Friedel, *1897). Siehe OA, 2-16, Ahnenlisten Boehm.