Unbestellte Bildungsfelder. Wo bleiben die neuen Formate der Erwachsenen- und Weiterbildung?...

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Benjamin Jörissen - [email protected], http://joerissen.name Unbestellte Bildungsfelder. Wo bleiben die neuen Formate der Erwachsenen- und Weiterbildung? Preprint - cc-by-nd 3.0 . Zitierfähige Fassung siehe: Jörissen, Benjamin (2013): „Unbestellte Bildungsfelder – Wo bleiben die neuen Formate der Erwachsenen- und Weiterbildung?“. In: forum erwachsenenbildung 2/2013, S. 16–21. Das Internet ist kein "Mitmachnetz" Traditioneller Weise denken wir über Medien nach, indem wir diese als eine besondere Sorte von Gegenständen betrachten, die Menschen im Alltag begegnen. Diese Perspektive ist nicht nur die unserer alltäglichen Erfahrung, sondern weitestgehend auch der Pädagogik als Profession und Wissenschaft. So hat man, weil Dinge Wirkungen hervorrufen, "die Medien" nach ihrer Wirkung befragt (wenn auch mit ausgesprochen mäßigem Erfolg). Man hat dann eingesehen, dass eine handlungsorientierte Sicht erstens sachgemäßer und zweitens pädagogisch fruchtbarer ist als die bange Frage nach Negativ- und die oft naive nach Positiveffekten. Dieses Handlungsmodell, aus den 1970er Jahren stammend, stellt ein potenziell mündiges Subjekt einer von diesem produktiv zu verarbeitenden Umwelt gegenüber, und als Teil dieser Umwelt bildeten "Medien" einen augenscheinlich besonderen Gegenstandsbereich, der jedoch nicht minder produktiver Verarbeitung – also der Nutzung und Aneignung – offensteht. Wenn im deutschsprachigen Diskurs, durchaus auch auf wissenschaftlicher Ebene, bisweilen vom "Mitmachnetz Web 2.0" die Rede ist, so schwingt eine dieser Perspektive entstammende, etwas anheimelnde Hoffnung auf Umgrenztheit, Fassbarkeit und Handhabbarkeit, vielleicht auch auf so etwas wie souveräne Nutzungshoheit, deutlich mit. Man sollte von solchen verniedlichenden Metaphern Abstand nehmen. Nicht etwa deswegen, weil das Internet viel gefährlicher sei als allgemein wahrgenommen – die international sprichwörtliche "german internetangst" hat in dieser Hinsicht schon die meisten Gefahrenpotenziale recht effizient aufgespürt und ausgeleuchtet. Vielmehr Bedarf es eines angemessenen Verständnisses der Bedeutung des stattfinden globalen medialen Wandels im 1

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Preprint - cc-by-nd 3.0. Zitierfähige Fassung siehe: Jörissen, Benjamin (2013): „Unbestellte Bildungsfelder – Wo bleiben die neuen Formate der Erwachsenen- und Weiterbildung?“. In: forum erwachsenenbildung 2/2013, S. 16–21.

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Benjamin Jörissen - [email protected], http://joerissen.name

Unbestellte Bildungsfelder. Wo bleiben die neuen Formate der

Erwachsenen- und Weiterbildung?

Preprint - cc-by-nd 3.0. Zitierfähige Fassung siehe:

Jörissen, Benjamin (2013): „Unbestellte Bildungsfelder – Wo bleiben die neuen Formate

der Erwachsenen- und Weiterbildung?“. In: forum erwachsenenbildung 2/2013, S. 16–21.

Das Internet ist kein "Mitmachnetz"

Traditioneller Weise denken wir über Medien nach, indem wir diese als eine besondere Sorte

von Gegenständen betrachten, die Menschen im Alltag begegnen. Diese Perspektive ist nicht

nur die unserer alltäglichen Erfahrung, sondern weitestgehend auch der Pädagogik als

Profession und Wissenschaft. So hat man, weil Dinge Wirkungen hervorrufen, "die Medien"

nach ihrer Wirkung befragt (wenn auch mit ausgesprochen mäßigem Erfolg). Man hat dann

eingesehen, dass eine handlungsorientierte Sicht erstens sachgemäßer und zweitens

pädagogisch fruchtbarer ist als die bange Frage nach Negativ- und die oft naive nach

Positiveffekten. Dieses Handlungsmodell, aus den 1970er Jahren stammend, stellt ein

potenziell mündiges Subjekt einer von diesem produktiv zu verarbeitenden Umwelt

gegenüber, und als Teil dieser Umwelt bildeten "Medien" einen augenscheinlich besonderen

Gegenstandsbereich, der jedoch nicht minder produktiver Verarbeitung – also der Nutzung

und Aneignung – offensteht. Wenn im deutschsprachigen Diskurs, durchaus auch auf

wissenschaftlicher Ebene, bisweilen vom "Mitmachnetz Web 2.0" die Rede ist, so schwingt

eine dieser Perspektive entstammende, etwas anheimelnde Hoffnung auf Umgrenztheit,

Fassbarkeit und Handhabbarkeit, vielleicht auch auf so etwas wie souveräne Nutzungshoheit,

deutlich mit.

Man sollte von solchen verniedlichenden Metaphern Abstand nehmen. Nicht etwa deswegen,

weil das Internet viel gefährlicher sei als allgemein wahrgenommen – die international

sprichwörtliche "german internetangst" hat in dieser Hinsicht schon die meisten

Gefahrenpotenziale recht effizient aufgespürt und ausgeleuchtet. Vielmehr Bedarf es eines

angemessenen Verständnisses der Bedeutung des stattfinden globalen medialen Wandels im

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Hinblick auf die mit ihm einerhergenden kulturellen, sozialen, ökonomischen und

individuellen Transformationen. Dies gilt nicht nur, aber insbesondere auch hinsichtlich der

Frage professionell-pädagogischer Praxis und ihrer Strategien.

Dass der Begriff "Medien" im pädagogischen Diskurs all die Jahre hindurch und bis heute

keine konsistente theoretische Grundlage gefunden hat, hat der Vorstellung ihrer primären

Gegenstands- oder Dinghaftigkeit keinen Abbruch getan. Dass man (auf begrifflicher Ebene)

nicht so genau wusste, womit man es eigentlich zu tun hatte, war deshalb kein Problem, weil

die Vergegenständlichungen von Medien in Form der zumeist ausschließlich gemeinten

technischen Apparaturen fraglos gegeben, und ebenso fraglos Anlass pädagogischer Sorge

(Kulturverfall durch Fernsehen, Videos, Computerspiele etc.) und eben auch Hoffnung

(emanzipatorisches Radio/Fernsehen, pädagogischer Film, serious games etc.) waren. Die

Medien(-dinge) ließen dies zu, denn ihre Erscheinungsformen waren – im Gegensatz zu dem,

was wir seit einigen Jahren erleben – relativ konstant und der Zahl nach überschaubar. Wenn

auch zunehmend klar wurde, dass Medien gar keine "Gegenstände" sind (denn uns

"gegenüber stehen" eben nur Geräte, nicht "das Fernsehen", nicht "das Radio", nicht "das

Internet"), hielt und hält sich die Idee, dass ein kompetenter Umgang mit oder eine

kompetente Nutzung von "Medien" erreichbar und auch als pädagogisches Ziel hinreichend

wäre. Nicht selten wurde in der Praxis diese instrumentalistische Perspektive konsequent

verschärft, indem sie weitestgehend, vom e-learning bis zum Computerführerschein, auf

technische Aspekte im Umgang mit Mediendingen und -geräten reduziert wurde.

Ich möchte die Frage, ob dieser Blick auf Medien jemals adäquat war, hier nicht diskutieren –

immerhin war er offenkundig weithin akzeptabel und auch pädagogisch durchaus fruchtbar

(was z.B. die Entwicklung und Institutionalisierung der Medienpädagogik betrifft).

Spätestens im Hinblick auf das, was wir (immer noch und immer wieder) "neue Medien"

nennen, kommen reduktionistische Vorstellungen über Medien an ihre Grenzen. Für die

Frage, was die Erwachsenenbildung mit Neuen Medien anfangen kann oder soll – und wenn,

aus welchen Gründen, ist es einerseits wesentlich, ein angemessenes Verständnis des

Phänomens digital vernetzter Medialität zu entwickeln, und andererseits nötig, dieses

Verständnis bildungstheoretisch zu reflektieren.

Das Internet ist eine mobil verfügbare Infrastruktur, die getrennte Lebensbereiche

zusammenführt und umstrukturiert

Wie in wenigen Zeilen erklären, wozu ein Buch nicht ausreicht? (Empfohlen sei bei dieser

Gelegenheit das nicht ganz ironiefreie, aber sehr informative Buch "Internet - Segen oder

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Fluch?" von Kathrin Passig und Sascha Lobo.) Beginnen wir mit einem

Gedankenexperiment. Man nehme eine beliebige Reihe bekannter Medienphänomene,

Internet inklusive, und stelle sich vor, das jeweilige Medienphänomen wäre plötzlich zerstört,

inaktiv oder sonstwie nicht zugänglich. Die Effekte eines tage- oder wochenlangen Ausfalls

von Printpresse (Druckerstreik), Post (Postarbeiterstreik), Radio und Fernsehen (globale

Funkstörung) oder Telefon wären erheblich, aber nicht katastrophal. Eher katastrophal

hingegen wäre schon ein kurzer Ausfall des (als ausfallsicher geltenden) Internets, weil damit

ein Großteil der kommunikativen, logistischen und ökonomischen Prozesse, die überwiegend

auf internetbasiertem Informationsaustausch basieren, blockiert wären. Die von Gunter

Dueck (ehemaliger Chief Technology Officer der IBM, nun Autor, Redner und Technologie-

Evangelist) in den populären Netzdiskurs hineingetragene Metapher vom

"Gesellschaftsbetriebssystem" zielt (wenn auch nicht als ernsthafte soziologische Analyse

brauchbar) zu Recht auf Korrektur des allgemein unterschätzten Status digital vernetzter

Medialität: Die (von vielen als Zumutung empfundene) Persistenz und Ubiquität des Internets

speist sich nicht nur oder nicht primär, wie es bei anderen Medien der Fall ist, aus seinem

Freizeit-, Informations- und Unterhaltungswert. Vielmehr basiert seine rhizomartige

Ausbreitung auf seiner tieferen, global-ökonomischen und infrastrukturellen Bedeutung. Die

damit einhergehende Verlässlichkeit im Hinblick auf seine Funktionalität, vor allem aber auf

seine Weiterentwicklung und weitere Verbreitung (sowohl technisch als auch

medienkulturell) macht das Internet zu einem vielfältigen ökonomischen Entwicklungsraum,

dessen Gewicht sich am Wachstum großer Technologie- und Softwareunternehmen wie

Google oder Apple leicht ablesen lässt.

In der universalen, weithin (mobil) verfügbaren Infrastruktur des Netzes durchdringen sich

ökonomische Räume, Kommunikationsräume, Kulturräume und alltäglichen Lebensräume.

Diese Durchdringung von Bereichen, die zuvor eher getrennt waren, erfahren wir heutzutage

in der erstaunlichen Zusammenführung von Kommunikation, Spiel, Arbeit,

Alltagsorganisation und kreativen Ausdrucksmöglichkeiten auf den winzigen vernetzten

Hochleistungscomputern, die wir mit einigem Understatement "Smartphone" bzw.

"Smartpad" nennen.1 Nachrichten lesen, im Büro die englische Korrespondenz mithilfe einer

Übersetzungs-App erstellen, nach Feierabend noch zwei oder drei (oder auch zehn)

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1 Die mobilen "Smart Devices" haben das Problem der technischen Medienkompetenz und der Unzugänglichkeit (und oft Unzulänglichkeit) der alten PCs gelöst und zu einer massenweisen Verbreitung der Nutzung digitaler Technologien beigetragen – allein im Jahr 2012 wurden insgesamt über 800 Millionen dieser Geräte weltweit abgesetzt; Tendenz steigend.

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berufliche Emails schreiben, etwas auf Wikipedia recherchieren, etwas auf Wikipedia

ergänzen, ein Spiel spielen, Fotos aufnehmen (vielleicht bearbeiten und mit Bekannten

teilen), Musik hören, Musik machen (von der Retro-Drummachine über experimentelle

Klangsoftwares bis zur klassischen Synthesizer-Workstation), auf Facebook von jemandem

benachrichtigt werden, in einem Bestand von 20 Millionen Büchern eine Volltextsuche

durchführen, ein Rezept im persönlichen Online-Archiv nachschlagen, eine Einkaufsliste

erstellen, einen Konsumartikel suchen, Testergebnisse recherchieren, Preise vergleichen,

kaufen, Kontostand einsehen, ein Video ansehen, Termine verwalten, per Social Messaging

App kontaktiert werden, von netzbasierten ToDo-Listen erinnert werden, ein PDF aus dem

persönlichen Cloud-Ordner lesen, annotieren und an einen Mitarbeiter versenden, ein Buch

lesen und annotieren (die Randbemerkungen auf allen Geräten synchronisiert verfügbar, für

alle Zeit gespeichert und durchsuchbar haben), den Buchautoren auf Twitter folgen, ein

Bahnticket aktivieren, sich per Navigation zum Konferenzort führen lassen, sich vorher über

das Wetter und den Temperaturverlauf des Tages informieren, einen Audioschnitt vom

Vortrag anfertigen, etc. – dies alles geschieht in meinem Alltag, zumeist eher unmerklich

eingebettet. Und haben Sie bemerkt, dass in der Aufzählung die Suche per Suchmaschine

fehlt? Die personalisierte, an unsere Interessen und unseren Standort individuell angepasste

Suche mittels eines hochkomplexen Algorithmus in einem Bestand von einer knappen

Milliarde Websites ist für uns so selbstverständlich geworden, dass es der Erwähnung kaum

mehr wert ist.

All dies basiert auf Netztechnologien und -anwendungen, die sich im wesentlichen in den

letzten fünf bis zehn Jahren entwickelt haben. Die Aufzählung gibt ein Beispiel für die

Verflechtung von mobil vernetzter Digitalität und Alltag, das in privater Hinsicht bereits für

viele Menschen typisch sein dürfte (in seinen berufsbezogenen Aspekten wahrscheinlich eher

weniger). Betrachtet man die Bandbreite der aufgelisteten Tätigkeiten, so wird deutlich,

inwiefern Neue Medien die Selbst- und Weltverhältnisse verändern – was sowohl als

Potenzial wie auch als Gegenstand kritischer Reflexion betrachtet werden muss: Das Netz

restrukturiert die kulturellen Archive und die Verfasstheit von Wissen, nicht nur hinsichtlich

ihrer Zugänglichkeit, sondern auch in ihren Orientierungsfunktionen und in ihren

Produktionsformen und Verbreitungsökonomien; es ermöglicht damit andere und neue

Formen des Lernens; es restrukturiert individuelle Artikulationsmöglichkeiten in

biographischer, kulturell-ästhetischer, politischer und alltäglicher Hinsicht; es restrukturiert

Sozialität, indem es als technologischer Katalysator der öffentlichen Sichtbarkeit und

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sozialer Netzwerkbildungen fungiert; es restrukturiert die uns umgebenden Ökonomien. Es

restrukturiert nicht zuletzt Subjektivität: Arten und Gebrauchsweisen von Gedächtnis, des

Aufbaus von Orientierungswissen im Kontext instantan abrufbarer sozialer Netzwerke (SMS

und Instant Messaging) und vorstrukturierter Verweiszusammenhänge (Wikipedia,

Verlinkungen, Suchmöglichkeiten, Visualisierungen, Kartierungen), des Selbstverständnisses

und der Inszenierung von Identität, der Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen

Sphären sowie zwischen Arbeit und Freizeit.

Gefordert sind partizipative und erfahrungsorientierte Angebotsformate

Der digital vernetzte Alltag geht in vielerlei Hinsicht mit neuen Optionen einher. Zwar dürfte

die mediale Durchdringung des Alltags vielen Menschen inzwischen bewusst sein, doch

scheint ein tiefergehendes Wissen um Potenziale – jenseits beruflich benötigter EDV-

Kenntnisse, die wenig bis nichts mit den hier beschriebenen neuen medialen Welten zu tun

haben – auch seitens der Pädagogen eher gering verbreitet zu sein. Aiga von Hippel zeigt in

einem aktuellen Beitrag zur – übrigens ziemlich sparsam geführten – Diskussion um Neue

Medien in der Erwachsenenbildung auf, dass die pädagogischen Angebote überwiegend

immer noch der überkommenen Aufteilung in kritisch-reflexive Medienkunde versus

instrumentell-qualifikatorische Mediengestaltung folgen. Zu Recht bezeichnet sie als

"innovative Angebote" solche, die Mediengestaltung und Medienkritik verknüpfen.2

Gefordert sind partizipativ orientierte Angebotsformate, die eine Kultivierung des eigenen

Verhältnisses zu Medien ermöglichen.

Wer über Medien forscht – genauer: nicht nur "über", aus unbeteiligter Vogelperspektive,

sondern auch in und mit Medien – weiß, dass die komplexen Architekturen des Internet und

ihre Zusammenhänge sich nicht allein theoretisch erschließen. Vieles muss teilnehmend

beobachtet oder erkundet werden – dies gilt gleichermaßen für Forschende wie für Lehrende

und Lernende. Der Weg geht, wenn auch auf unterschiedlichen Niveaus und mit

unterschiedlichen Methoden und Zielsetzungen, über die Erfahrung zur Reflexion. Nötig sind

daher Zugänge, die Wege zu explorativem und tentativem Handeln eröffnen (und dabei über

die zwei bis drei dominanten und wohlbekannten Webphänomene – Google, Facebook,

Wikipedia – deutlich hinauszugehen). Es geht längst nicht mehr nur um die kritische oder

kreative "Nutzung" einzelner Medienangebote, sondern um Potenziale umfassender Bildung

in medialen Kontexten; letztlich um reflektierte Zugänge zum Leben in digital mediatisierten

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2 Vgl. Aiga von Hippel: Erwachsenenbildung und Medien. in: R. Tippelt/A. v. Hippel: Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung. Wiesbaden: VS-Verlag 2011, S. 687-706.

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und vernetzten Welten.3 Hier liegt inzwischen doch auch aus der Alltagsperspektive vieler

Menschen – der Erziehenden, der Berufstätigen, der non-formal und informell

Lernorientierten, aber auch der Hilfe- und Beratungsbedürftigen – eine spürbare Relevanz

und Notwendigkeit der produktiven Auseinandersetzung; entsprechend ist auf dieser Ebene

der Bildungsauftrag primär zu verorten (wie auch immer nachgeordnete Ziele aufgeschlüsselt

werden).

Medienbildung als transversale Bildungsaufgabe in der Erwachsenenbildung

Wenn, nach der immer noch aktuellen Forderung Wolfgang Klafkis, Bildung wesentlich in

der Auseinandersetzung mit Schlüsselproblemen der eigenen Zeit besteht, so stellen Neue

Medien einen integralen Teil allgemeiner Bildung dar. Dies geht, wie auch hier noch einmal

betont sei, weit über den Schematismus von Medienkunde und Medienkritik hinaus: Der

radikale Wandel von Strukturen öffentlichen Interesses (nämlich des Pressewesens), der

Wandel der Privatheit in Richtung "post privacy" und ähnlichen neuen Formen, der Wandel

der Kreativität von der schöpferischen Ressource zum Imperativ der vernetzten

Aufmerksamkeitsökonomie, der Wandel der Wissensgesellschaft hin zu dezentralen

Produktions- und Verbreitungsformen, der Wandel individueller Artikulationsmöglichkeiten

und politischer Partizipationsformen – all dies sind Beispiele für kulturelle, soziale und

politische Transformationen in globalem Maßstab, die weniger "im Internet" als aufgrund der

Durchdringung der privaten und öffentlichen Arenen mit neuen Medien stattfinden.

Medienbildung – oder sollte man angesichts der oft ungenauen Verwendung dieses Begriffs

sagen: Bildung im Horizont von Medialität – bedeutet daher allgemeine, soziale, kulturelle

und politische Bildung.

"Medienbildung" meint also aus dieser Perspektive weniger: Bildung über Medien, sondern

Bildung in, mit und durch Medien.4 Die Durchdringung von Kultur und Medialität, Sozialität

und Medialität, Individualität und Medialität kommt darin zum Ausdruck. Aus demselben

Grund wird einsichtig, dass die Forderung von Hippels und anderer AutorInnen nach

innovativen Formaten in der Erwachsenenbildung diesem Durchdringungsverhältnis sowohl

thematisch als auch didaktisch entsprechend umgesetzt werden muss. Es geht um mehr als

Medienkompetenz, die ja eine Kompetenz über Medien ist und die insofern

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3 Dies stellt, wie auch in formalen Lernbereichen wie Schule und Universität, erheblich fortgeschrittenere Anforderungen an Ausbildung und Weiterbildung PädagogInnen, als sie in den heutigen Ausbildungsgängen in aller Regel realisiert werden.

4 Vgl. Benjamin Jörissen/Winfried Marotzki: Medienbildung - Eine Einführung. Stuttgart: UTB 2009.

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gezwungenermaßen Medialität auf Medien als Gegenstände (der Aneignung, des Lernens

etc.) reduziert. Die neuen Formate sollten vielmehr das Thema der Medialität und die

mediatisierungsbedingten Transformationen als transversales, also quer zu den Sparten – in

der allgemeinen, kulturellen, politischen, sozialen Bildung – systematisch kultivieren.

Erst in solcher Perspektive ergibt auch eine mediale Innovation auf Lehr- und

Organisationsebene Sinn. Es geht keineswegs darum, den neuesten Trends hinterherzujagen

(aber eines solchen Innovationsdranges ist unser Bildungssystem generell auch eher

unverdächtig). Es geht auch nicht um Medien- und Technikinnovation als Selbstzweck (wie

es in manchen Forderungen und Ausstattungsinitiativen im Bildungssystem bisweilen den

Anschein hat). Auch eine rein pragmatische Anwendungsperspektive mag zwar hilfreich sein

(wer Texte als pdf verteilt, muss weniger kopieren) – all dies hat jedoch wenig mit dem zu

tun, was es hieße, auf medienstruktureller Ebene die Klientel dort abzuholen, wo sie inmitten

einer Zeit des monumentalen Medienwandels mit unzähligen, und überwiegend sogar noch

unentdeckten Fragen stehen. Gefordert sind medienkulturelle Lernprozesse auf

organisatorischer und praktisch-pädagogischer Ebene, professionelle Phantasie und

Erkundungswille, insbesondere ein medienkulturelles Umdenken der Lehrenden, mit

entsprechenden Konsequenzen für die Aus- und Weiterbildung von

ErwachsenenpädagogInnen.

Was bedeutet dies für die Praxis?

Wie also könnten konkrete Maßnahmen aussehen? Nachfolgend seien einige Beispiele

genannt, die von einem Grundgedanken ausgehen: nämlich dem, die Trennung zwischen

einer "medialen" und einer "nichtmedialen" Sphäre, die im Alltag schon längst nicht mehr gilt

(zumindest aber in generationaler Perspektive), sowohl inhaltlich als auch praktisch nicht

länger künstlich aufrecht zu erhalten.

Auf der Ebene der Programminhalte bedeutet dies, mediale Themen vor dem Hintergrund

gesellschaftlich-kultureller Perspektiven und gesellschaftlich-kulturelle Themen vor dem

Hintergrund medialer Perspektiven zu denken. Klassische, qualifikationsrelevante EDV-

Kurse verlieren nicht an Bedeutung, haben damit aber nichts zu tun. Ein Betriebssystem oder

eine Software bedienen zu lernen ist grundsätzlich nichts anderes als, beispielsweise,

doppelte Buchführung oder die Reparatur von Rasenmähern zu erlernen. Innovative

Angebote befassen sich hingegen beispielsweise mit dem Aufbau personalisierter, vernetzter

Informations- und Lernumgebungen (personal und social learning environments). Dies

berührt Strategien des Aufbaus themenzentrierter sozialer Netzwerke und "Communities of

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Practice" (online und offline), der eigenen Präsentations- und Kommunikationsformen

(Identitätsmanagement), der Informationressourcen und Informationssuchoptionen im Netz,

der Vermeidung von "Echokammer"-Effekten (Diversitätsmanagement), der verlustsicheren

Verwaltung all dieser Aspekte, des sinnhaltigen Mitteilens und Teilens von Ressourcen, der

Kollaborationstools, möglicherweise auch der Zertifizierbarkeit; es berührt aber auch

reflexive Fragen nach Sinn und Grund solcher de facto-Effizienzsteigerungen des Lernens

(selbstgesteuertes Lernen zwischen persönlicher Entfaltung und neoliberaler

Anpassungsstrategie). Während dies schon ein eigenes Kursformat ist, stellen Teilaspekte der

oben genannten Aufzählung wichtige Elemente aller möglichen Themenformate dar. Im

Töpfer- oder Lyrikkurs schafft der Austausch im Netz – also die soziale Vernetzung mit

ähnlich interessierten Menschen – sowohl eine Dezentrierung (Begegnung mit anderen

Techniken und Ästhetiken) wie auch Nachhaltigkeit über den Kurs hinaus; mit zunehmender

gesellschaftlicher oder gesellschaftspolitischer Relevanz der Themen wird dies zunehmend

evident. Kreative und/oder wissensförmige Artikulationen werden so zu teilöffentlichen

Artikulationen.

Auf der Ebene der Didaktik bietet sich aus denselben Gründen an, mobiles Lernen zu

integrieren, Fähigkeiten der Eigenrecherche anzuregen und zu begleiten, kollaborative Tools

zu verwenden, Prozess- und Ergebnispräsentationen im Netz anzufertigen sowie den Aufbau

von Netzwerken auch innerhalb der eigenen Organisation zu fördern (ich empfehle hierzu

gern, weil dieses Angebot allgemein kaum bekannt ist, die von mir wissenschaftlich

kuratierte gemeinnützige Netzwerkplattform opennetworx.org, die solches für

Bildungsanbieter und NGOs sowohl kostenlos als auch werbefrei möglich macht; es gibt

jedoch auch reichhaltige andere Optionen, die zumeist im Netz frei oder als freie Software

verfügbar sind).

Auf der Ebene der Organisationen wäre über Vernetzungen und gemeinsame Strategien, wie

etwa gemeinsame Ressourcen, nachzudenken. Modelle der Open Online Courses und der

Open Educational Resources sowie des Freigebens von Inhalten per Creative Commons

Lizenz für nichtkommerzielle Zwecke wären sowohl innerhalb bestimmter

Anbieterorganisationen (z.B. VHS), aber auch über die jeweiligen Organisationsgrenzen

hinaus wegweisend.

Es besteht Diskussions- und Handlungsbedarf!

Dies alles kann, wie gesagt, nicht am Reißbrett geplant und umgesetzt werden. Die

erforderlichen Einsichten und Lernprozesse betreffen alle Ebenen – die Organisationsebene,

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die Ebene professionell-pädagogischen Handels, aber auch die Ebene des Diskurses, der

Forschung (denn wer weiß schon genau, wo Innovationsblockaden liegen und welche

Strategien des Stukturwandels hilfreich sind), und damit auch der gezielten

Forschungsförderung in diesem Bereich. Es bedarf vor allem eines gemeinsamen Diskurses

über die Ebenen hinweg. Dieser Diskurs ist, wie eine Online-Recherche schnell aufzeigt,

ähnlich wie in anderen pädagogischen Bereiche in der Erwachsenenbildung zwar schon

langjährig vorhanden, jedoch kaum auf angemessen breiter Basis geführt. Es wäre zu

wünschen, dass Publikationen wie die hier vorliegende dies zu ändern vermögen.

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