und - Wissenschaftskolleg zu Berlin · zweite Gebot, das sich dieser intellektuellen Biographie...

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Wissenschaftskolleg zu Berlin INSTITUTE FOR ADVANCED STUDY Köpfe und Ideen 2011

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Wissenschaftskolleg zu BerlinI N S T I T U T E F O R A D VA N C E D S T U D Y

Köpfe und Ideen2011

Anne van AAKEN Kamran Asdar ALI Janis

ANTONOVICS Robert A. ARONOWITZ Mike BOOTS

Pietro BORTONE Robert BOYER Bruce M. S.

CAMPBELL Frederick COOPER Dieter EBERT Frank

FEHRENBACH Steven FEIERMAN Petra GEHRING

Behrooz GHAMARI-TABRIZI Hannah GINSBORG

Beatrice GRUENDLER Wolfgang HOLZGREVE Toshio

HOSOKAWA Nancy HUNT Stefan HUSTER Olivia

JUDSON Elias KHOURY Albrecht KOSCHORKE

Christiane KRUSE David KYADDONDO Helmut

LACHENMANN Niklaus LARGIER Richard E. LENSKI

Oliver LEPSIUS François LISSARRAGUE Curtis M.

LIVELY Julie LIVINGSTON Claire MESSUD Birgit

MEYER Herbert MUYINDA Iruka OKEKE Anca

OROVEANU Thomas PAVEL Tanja PETROVIC Barbara

PIATTI Terry PINKARD Andrei G. PLESU Krzysztof

POMIAN Mary POSS Ilma RAKUSA Ben M. SADD

Vikram SAMPATH Karl SCHLÖGEL Jean-Claude

SCHMITT Reinhard STROHM Alexander VERLINSKY

Bahru ZEWDE Hanns ZISCHLER Fellows 2010/2011

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Zum AuftaktLuca Giuliani

Die sechste Ausgabe von Köpfe und Ideen vermittelt demLeser und Bildbetrachter, dass einer der Vorzüge des Fel-lowseins darin besteht, zwischen Gemeinschaftsleben undRückzug hin- und herzuwechseln. Die Texte – verfasst vonvier Journalisten und zwei Fellows, Petra Gehring und EliasKhoury – berichten allesamt vom intellektuellen, wissenschaft-lichen, sozialen Miteinander. Die Portraits der Fellows hinge-gen zeigen die zweite notwendige Essenz des Forscherlebens:

Versunkensein, Konzentration. Dies erfordert bekannterma-ßen eine Zurückgezogenheit, die anti-soziale Züge annehmenkann. Dies soll auch durch die bewusst inszenierten Bilder vonLesenden vor Augen geführt werden. Wir wissen nicht genau,ob die Fellows in ihren Stunden des Rückzugs tatsächlichBücher lesen oder aber in digitale Textwelten vertieft sind.Sicher ist jedoch, dass sie Bücher schreiben.

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Inhalt

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Wissenschaftler miteinander

Eine Philosophin ist erstaunt über das simple Fellow 2010/2011

Rezept zu gelungener Interdisziplinarität

von Petra Gehring

Die zehn Gebote erfolgreicher Wespenforschung - und auch aller anderen

Ein in Bangalore forschender und lehrender Biologe ist Fellow 2010/2011

Permanent Fellow des Wissenschaftskollegs und offensichtlich

ein idealer Wissenschaftler

von Jürgen Kaube

Es geht zumeist um Zugehörigkeit

Das westliche Bild von Afrika ist schief. Das lernt man aus den Fellows 2010/2011

Nachkriegsplänen zu einem französischen Imperium ebenso

wie aus westafrikanischen Videofilmen

Gesprächsführung: Ralf Grötker

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„Aufklärung ist eine Haltung“

Ein pakistanischer Anthropologe in Austin, Texas und ein Fellows 2010/2011

iranischer Historiker und Soziologe an der University of Illinois

kommen in Berlin mit unterschiedlichen Arbeitsvorhaben an und

werden von einem gemeinsamen Thema überrumpelt

Interview: Andrea Nüsse

African Lessons

A British-born, Nigerian-bred, US-based molecular biologist Fellow 2010/2011

points to the obvious reasons why medical and cultural knowledge

must complement one another

Interview: Carl Gierstorfer

Brief aus Berlin

Nostalgia and Revolution Fellow 2010/2011

by Elias Khoury

Bildnachweise und Autoren

Impressum

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Wissenschaftler miteinander

Eine Philosophin ist erstaunt über das simple Rezept zu gelungener Interdisziplinarität Fellow 2010/2011

von Petra Gehring

Gern stellt man sich die Kommunikation von Gruppenals Netzwerk vor. Da gibt es dann Akteure, welchegleichsam als Knoten im Netz fungieren. Wie durchSchnüre oder Nervenstränge sind sie über Gesprächs-beziehungen, Telefonate, Textbotschaften mit anderenAkteuren verbunden. Diese wiederum kommunizierenihrerseits. Manche Personen lieben breiten Austausch,reden und versenden viel und erhalten vermutlich auchviel Post. Das sind dann dicke Knoten. Andere konzen-trieren sich auf wenige Gesprächspartner. Diese Kno-

ten sind vermutlich nicht weniger produktiv, aberkleiner.

Man kann auch eher die Verbindungslinien betrachtenund nicht die Akteure, sondern die Aktivitätsmuster inden Mittelpunkt rücken. Dann sieht man vielleichtgleichmäßige Muster, ein stark geordnetes Netzwerk.Oder die Gruppenkommunikation erscheint als irregu-lär-verworrenes Geflecht. Untergruppen? Lokale Hau-fen oder Verdichtungen. Kontakte aller mit allen?

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Vielleicht ein mehrdimensionales Gewebe?

Nein, denn die Netzmetapher ist ein schlechter Behelf.Sie passt nicht, und namentlich die Kommunikation überFächergrenzen hinweg wird mit Floskeln wie „interdiszi-plinäre Vernetzung“ schlecht gefasst. Wissenschaftler, diemiteinander arbeiten und leben, sind kein „Netzwerk“.Was sind sie aber wohl dann? Was sind Gelingensbedin-gungen der Kommunikation unter sehr verschiedenenWissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern?

Sich öfter zu sprechen ist anregend. Aber nicht schonauf dem Dass des Kommunizierens liegt das Gewicht.Es klingt rasch poetisch, will man das benennen, wor-auf es ankommt. Das Wie des Eintauchens in einenGegenstandsbereich: mitgebrachte Ansteckbarkeit,dabei Genauigkeit der Wortwahl, Freude an Über-sprungseffekten und zugleich Beharrlichkeit – beiunablässiger Bereitschaft, durch passende Worte sofortzu sichern, was präzisierbar erscheint. Das alles mussnicht Gesprächsrunden dominieren. Es kann mitSchweigen und intensivem Zuhören beginnen. EinemArgument, einer Spekulation, einem Hinweis folgen –da wandert nicht eine Information von A zu B, dannvon B zu C oder zu A zurück. Bewegungen passierenvielmehr gleichzeitig. Wer weiß später noch wer waswann einwarf? Überlegungen werden wie Teilstückeeines Ganzen zusammengesetzt. Vielfach wird tatsäch-lich simultan gesprochen: gutes Durcheinander kanndas Gegenteil von Chaos sein.

Das Format „Vortrag“ ist in dieser Lage ein guterAnfang, aber nicht mehr. Gleiches gilt für vorhandeneProjektgruppen, die sich für die Fellows öffnen – etwa„Recht im Kontext“ – und für die selbstorganisiertenDiskussionsgruppen: Sie schaffen Anlässe teils für inten-sive Vorbereitung, teils zur Orientierung, teils für Zwie-gespräche am Rande. Besonders reizvoll ist das, was manwohl als multiple Gesprächsherde bezeichnen könnte:Themen, die sich quer über die Gelegenheiten, sich zusehen, und oftmals beim Mittagessen oder abends beimWein hartnäckig fortsetzen. Texte austauschen, lesen,extra „Lesetreffen“ müssen damit nicht verbunden sein.Aber sie kommen vor.

Und dann ist da das Zeitgeschehen: Im Jahr 2010/11 sindes die Befreiungsbewegungen in den arabischen Län-dern, die den Atem stocken lassen. Auch hier ist der„Austausch“ untereinander nicht Geben und Nehmenund kein Informationsfluss durch Kanäle, es ist es keine„vernetzte“ Gruppe, die mit Leidenschaft den Ereignis-sen folgt. Vielmehr hat – verschieden und doch ähnlich –ein Enthusiasmus alle erfasst.

Zuhören als Hinhören, Anmerken als Aufgreifen: Soll-te man statt des Bildes vom Netz, was die Gelingensbe-dingungen von Wissenschaftskommunikation angeht,eher an Billardkugeln auf Billardtischen denken? For-schungsobjekte, „Köpfe“ oder „Ideen“ gleichen aberauch nicht Kugeln, die immer schon daliegen, fürImpulse bereit.

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Eine Laborforschung des Denkens müsste wohl jen-seits mechanischer Modelle wie auch abseits eines Ana-lyserasters der „Akteure“ und „Aktanten“ beginnen.Sie hätte wohl mit Handlungen zu tun, vor allem abermit Formen der Umformung eines noch nicht zuErgebnissen geronnenen Sinns. Sie müsste sich demPhänomen der Hingabe an Sachen widmen. Sie müss-te untersuchen, wie man im Leeren sich bewegen kannoder aber im sehr, sehr Komplexen. Und sie müsste derTatsache Rechnung tragen, dass die Erfahrung anstek-kender Gedanken dennoch nichts Ätherisches ist, son-dern höchst konkret. Keineswegs wird alles beliebig,sondern im Gegenteil die Aufmerksamkeit für dieGenauigkeit von Suchbildern, für präzise Passung derEinzelheiten steigt bei allen Beteiligten an. Entsteht esad hoc oder war es immer schon da, das Gespür dafür,wie das geht? Jedenfalls überspringt das aus ihm resul-tierende Kollektivvermögen nahezu mühelos Fächer-grenzen, Altersgrenzen, Grenzen der Sprachen unddurch Denkstile bedingte Grenzen. So viel miteinan-der anfangen können: Erstaunliche Erfahrung.

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Die zehn Gebote erfolgreicher Wespenforschung - und auch aller anderen

Ein in Bangalore forschender und lehrender Biologe ist Permanent Fellow des Wissenschaftskollegs und offensichtlich ein idealer Wissenschaftler Fellow 2010/2011

von Jürgen Kaube

Wie entsteht gute Forschung? Das scheint die 100,000-Dollar Frage der Wissenschaftspolitik zu sein, auchwenn längst größere Summen überwiesen werden, umsie zu beantworten. Wir werden aber sehen, dass dieAntwort gar nichts mit solchen Summen zu tun habenmuss. Wir werden es an einem Beispiel sehen, das geeig-net ist, Gebote für den abzuleiten, der ein guter Forscherwerden will. Womit wir auch schon beim ersten Gebotwären: Du sollst nicht glauben, dass gute Forschung auf-grund guter Wissenschaftspolitik entsteht. Gute Forschungentsteht, das zeigt das Beispiel des indischen BiologenRaghavendra Gadagkar, durch gute Forscher und lokaleIntelligenz. Nicht Institute, Fakultäten, Universitäten,Cluster sind nämlich die Träger der Forschung, sondernLehrstühle und diejenigen, die auf ihnen sitzen, auchwenn schon im Jahrbuch des Wissenschaftskollegs von2001 nachgewiesen wurde, dass nur Geisteswissenschaft-ler meistens sitzen, Naturwissenschaftler hingegen öfter

stehen (Gadagkar 2001: 72 f.). Gadagkar selbst ist aller-dings eine seßhafte Erscheinung. Er hat den Bachelor,den Master und seinen Ph.D. in Bangalore erworben,und er lehrt – in Bangalore. Und das wäre schon daszweite Gebot, das sich dieser intellektuellen Biographieentnehmen lässt: Du sollst nicht dem Götzen der Mobilitäthuldigen, und nicht glauben, was man Dir sagt über deninternationalen Lebenslauf.

Aus dem, was man unterlassen soll, ergibt sich freilichnoch keine Forschung. Darum zu den positiven Geboten,deren erstes lautet: Du sollst ein Hobby haben und Du sollstlesen, Deine Lektüre aber soll abwechseln, bei DeinemHobby jedoch sollst Du bleiben. Raghavendra Gadagkarunterscheidet seine frühen Lektüren während des Biolo-gie-Studiums in „Götter“ und „Mitbewohner der Erde“.Die Götter waren damals die Molekularbiologen, vonCrick und Watson bis zu Har Gobind Khorana und Mar-

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shall Warren Nirenberg. Sie führten aus unerreichbarerFerne das unglaubliche Stück des Studiums der elemen-taren Strukturen der Verwandtschaft auf und zwar, wieGadagkar notiert, weit jenseits dessen, was seinen eige-nen Professoren und den meisten Mitstudenten damals,Anfang der siebziger Jahre in Indien, bekannt war. Dieirdischen Mitbewohner hingegen waren Darwin,Lorenz, Tinbergen, Uexküll, Spalding und von Frisch.Gewiss, Riesen auch sie, aber mit Arbeiten befasst, vondenen sich der Student in Bangalore vorstellen konnte,etwas Ähnliches durchführen zu können. Denn ihre For-schung beruhte auf Beobachtung, nicht auf technischanspruchsvoller Biochemie. Man konnte sie deshalb,anders als die Götter, beneiden um ihre Erkenntnisse,denn es hätten, im Prinzip, auch die eigenen sein können.

Doch mit Verhaltensforschung befasste sich damals inBangalore kaum jemand. Gadagkar machte sie zu sei-

nem Hobby. Die Elfe Serendipity aber belohnt manchen,der ein Hobby hat. Ein im Labor liegengelassenes Jour-nal enthielt einen Aufsatz über die Wesepenart Ropali-dia marginata, dessen Ko-Autor Gadagkar kannte undden er darum las. Er las und stutzte, ob nicht die Wespenan den Fenstern des Instituts für Zoologie, in dem erarbeitete, gerade zu jener Art gehörten. Sie taten es, undein Forscher hatte sein Erkenntnisobjekt gefunden. Beiihm ist er bis heute geblieben.Hobbys allerdings und einen Lieblingsgegenstand, hatmancher Professor, man denke an Literaturwissen-schaftler. Damit Forschung – und nicht nur Sammellei-denschaft am Objekt – daraus wird, braucht es nochetwas anderes. Du sollst nicht nur ein Thema haben, son-dern Fragen, und deine Aufsätze sollen beginnen mit Wortenwie „Warum?“, „Was?“, „Wie?“ oder „Gibt es?“, lautet dasvierte Gebot. Am Anfang stand bei Gadagkar die Fragedanach, worin sich einzelne Wespen seiner Art unter-

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scheiden, und der Ethologe ging vor wie ein Ethnologe,der ein Feldtagebuch über das führt, was er sieht: Sitzen-de Wespen, sitzende Wespen mit aufgerichtetem Fühler,fütternde, gehende, einander jagende Wespen und soweiter. Was waren die Haupttätigkeiten? Herumsitzen,Nahrungssuche und Nestbau sowie aggressive Hand-lungen. Die Königin jedoch, von der man wie von ande-ren Chefs vor allem die Repression von abweichendemVerhalten erwarten könnte, gehört zu den Herumsit-zern. Außerdem ist sie die einzige, die sich reproduziert.Wie aber hält sie die anderen zur Arbeit an, wenn nichtdurch Aggression? Oder anders, evolutionsbiologischgefragt, wie kommt es überhaupt zu einer Arbeitstei-lung, bei der manche ihre Reproduktion für den Dienstan der Königin opfern? Oder, wieder anders, weshalbüberhaupt Sozialität im Insektenreich, Moskitos lebendoch auch allein?

In seinem Aufsatz über die Befragung einer Insektenge-sellschaft (Gadagkar 2009) entfaltet Gadagkar eineganze Sequenz solcher Fragen, die aus einander und ausden Experimenten zu ihrer Beantwortung hervorgehen:Was unterscheidet die Königin? Wie wird sie, was sieist? Wie sichert sie ihr reproduktives Monopol? Woherwissen die anderen Wespen, ob sie noch da ist? Was ent-scheidet über ihre Nachfolgerin, wenn sie nicht mehr daist? Dieser Aufsatz ist ein Modell für wissenschaftlicheAufsätze überhaupt, man sollte ihn jedem Studentenjeden Faches im ersten Semester in die Hand drücken.Er lehrt nämlich nicht nur das Fragen, sondern auch das

fünfte Gebot: Du sollst in Grundbegriffe investieren undAbstraktionen nicht verachten. Kooperation, Konflikt,Tausch, Arbeitsteilung, Altruismus, Hierarchie, Dominanz– in Gadagkars Arbeiten zeichnet sich eine Soziobiolo-gie ab, die den Namen verdient, weil sie der tatsächli-chen Formenvielfalt sozialer Organisation Rechnungträgt.

„Eigentlich hatten wir erwartet…“, ist eine häufige For-mulierung in Gadagkars Publikationen. Das Studiumvon Ropalidia marginata unterrichtet beispielsweise dar-über, dass die Funktion einer Chefin weniger darinbestehen mag, die Organisation zu kontrollieren, alsdarin, eine Stelle zu besetzen, um die sonst tödlicheKämpfe ausgetragen würden. Oder es hat gezeigt, dassman die wichtigsten Eigenschaften der Chefin nichterfährt, wenn sie Chefin ist, sondern in der Phase, in dersie Chefin wird. Und gerade sitzen Gadagkar und seineLeute an der Frage, wie lange die alte Chefin wegbleibenkann, um dennoch wieder als Chefin akzeptiert zu wer-den, wenn sie wiederkommt. Das sechste Gebot – nur soviel noch zur gängigen Soziobiologie und anderen„Paradigmen“ – lautet insofern: Du sollst nicht immerschon vorher Bescheid wissen.

Das führt sogleich zum siebten Gebot: Du sollst beachten,dass der Schall langsamer ist als das Licht. Das Vorher-Bescheid-Wissen ist nämlich für viele nur die günstigsteEinstellung, um möglichst viel zu publizieren. So aberentsteht nicht Vielfalt, sondern Masse, im Grenzfall die

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vielfache Publikation immer derselben Einsicht. ImGespräch verteidigt Gadagkar – der sich, was die Zahlseiner Aufsätze und Bücher angeht, nichts vorzuwerfenhat – die Notwendigkeit des Forschers, sich umzutun,Bücher – ja, Bücher! – zu lesen, langsam zu arbeiten. Erlegt Wert darauf, dass der Doktortitel, den Naturwis-senschaftler im anglophonen Raum halten, nichtumsonst „Philosophical Doctorate“ heißt. Es werde zuwenig auf die Wahl guter Forschungsfragen geachtet,der Nachwuchs finde seine Fragen in Form von Sequen-ziermaschinen oder anderen Laboraufbauten zumeistschon vor, bekomme eine kleine Teilaufgabe zugewiesenund verbringe den Rest seines Berufslebens damit. Dasachte Gebot folgt hieraus: Du sollst lange über DeineProbleme nachdenken und erst dann über Deinen nächstenAufsatz, verachten aber sollst Du den Hirsch-Index. (Gei-steswissenschaftler ahnen an dieser Stelle höchstens, wasgemeint ist, aber das macht nichts.)

Ein Porträt von Raghavendra Gadagkar wäre nicht voll-ständig ohne den Hinweis auf freundlichen Eigensinn.Gerade promoviert, stand er vor der Entscheidung, ent-weder in die Vereinigten Staaten zu gehen, wo alleinman damals Molekulargenetik auf höchstem Niveaubetreiben konnte, oder seinem Hobby zu folgen, das einganzes Forschungsprogramm enthielt: die Organisationund Evolution einer Insektengesellschaft. Die avancier-ten Labors standen in Bethesda, Long Island, Boston,das natürliche Labor bot Indien. Die avancierten Laborsgarantierten Anschluss an den Stand der Forschung.

Das natürliche Labor versprach, dem Stand der For-schung voraus zu sein. Aber das war natürlich nur einVersprechen. Die Kollegen drängten ihn, nach Ameri-ka zu gehen, anders könne man doch gar kein erfolg-reicher Wissenschaftler werden. Doch, das ging. Dusollst nur guten Rat annehmen und dem Druck der Modewiderstehen, lautet das neunte Gebot. Die Treue zurWespe und zur Devise „Das wollen wir doch einmalsehen“ haben eine dreißigjährige, außerordentlichertragreiche Aufmerksamkeit ermöglicht.

Gadagkar zieht daraus wissenschaftspolitische Schlüs-se: Für Forscher in Ländern wie Indien sei es nichtsinnvoll, mit anderen, unendlich viel besser ausgestat-teten Labors direkt zu konkurrieren. Man solle nichtversuchen, auf denselben Wegen schneller voranzu-kommen als andere, sondern andere und bessere Wegefinden. Nachdenken kostet, in Geld gemessen, nichtviel. Hier liege, so Gadagkar, eigentlich ein Vorteilrelativ armer Länder: zum Nachdenken gezwungen zusein. Leider seien aber auch dort die Komitees von teu-rer Forschung oft mehr beeindruckt als von durch-dachter. Am Ende eines Aufsatzes darüber, ob der Pfaunur schön ist oder auch ehrlich – will sagen: seineFedern tatsächlich ein Zeichen guter Gene sind -,beklagt Gadagkar, dass so gut wie kein biologischerBeitrag zu dieser Frage aus Indien kam, wo der Pfausowohl der Nationalvogel als auch eine Landplage ist,und wo man solche Forschung ohne viel Geld hättedurchführen können.

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In die Vereinigten Staaten ist Raghavendra Gadagkarübrigens trotzdem oft gereist. Testors schnelltrocknen-de, geruchslose und ungiftige Modellbaufarben, die manbraucht, um Wespen zu markieren, werden nämlichnicht per Luftpost versandt. Zehntes Gebot: Dienstreisennur, wenn sie der Wahrheitsfindung dienen.

R. Gadagkar (2001): „Two Cultures at the Wissenschafts-kolleg“, Jahrbuch des Wissenschaftskollegs 2000/2001, 68-75

R. Gadagkar (2003): „Is the peacock merely beautiful or alsohonest?“, Current Science, Vol. 85, No.7 (2003), 1012-1020

R. Gadagkar (2009): „Interrogating an insect society“,PNAS Vol. 106, No. 26, 10407-10414

R. Gadagkar (2011): „Science as a hobby: how and why Icame to study the social life of an Indian primitively eusocialwasp“, Current Science, Vol.100, No .6, 845 - 858

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Es geht zumeist um Zugehörigkeit

Das westliche Bild von Afrika ist schief. Das lernt man aus den Nachkriegsplänen zu einem französischen Imperium ebenso wie aus westafrikanischen Videofilmen Fellows 2010/2011

Interview: Ralf Grötker

Der Afrikahistoriker Frederick Cooper arbeitet an einemBuch über die Pläne im postkolonialen Westafrika und inParis, nach 1945 eine Communauté française zu gründen– einen föderalen Staat mit Bürgerrechten für alle Betei-ligten. Die Ethnologin Birgit Meyer schreibt ein Buchüber die Spielfilm-Industrie im heutigen Ghana. Zweidenkbar verschiedene Forschungsthemen. Und dennoch,beide stoßen auf den Wunsch der Westafrikaner, sich vor

allem als Teil einer fortschrittlichen globalen Welt zu ver-stehen. Der typisch westlichen Sicht auf Afrika als einemkulturell klar abgegrenzten Gebiet und als Ressourcelokaler Traditionen kommt das wenig entgegen.

Ralf Grötker: Sie sind im Feld der Afrikastudien zuhau-se. Gibt es trotz der ganz unterschiedlichen Ansätze eingemeinsames Moment in ihrer Forschung?

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Fred Cooper: Was unsere unterschiedlichen Projekteeint, ist unser Interesse an Verbindungen – wie werdenNetzwerke geschaffen und wie entwickeln sich Vorstel-lungen, die Afrikaner untereinander und mit anderenTeilen der Welt verbinden.

Birgit Meyer: Die Frage der Zugehörigkeit ist vielleichtein Thema, das uns verbindet. Wir gehen nicht von fest-stehenden Identitäten aus, sondern blicken auf konkretePraktiken des Zugehörens. Damit geht eine Skepsisgegenüber Begriffen wie „Identität“, „Kultur“, „Religi-on“ oder „Ethnizität“ einher. Mittlerweile hören wirdiese Begriffe aber täglich in den Nachrichten. Sie schei-nen gegebene soziale Fakten zu beschreiben.

Dmitri van den Bersselaar: Wenn meine Studentendie Aufgabe haben, ein Referat über ein Land vorzube-reiten, fangen sie immer mit der Frage an, welche ethni-schen Gruppen dort leben.

Birgit Meyer: Wir Anthropologen und Historikerhaben dazu beigetragen, dass diese Begriffe von Zuge-hörigkeit in die Welt gesetzt wurden. Aber sie sind unsentglitten. Eigentlich wollen wir Abstand davongewinnen, alles immerzu auf die Identitätsfrage zureduzieren.

Ralf Grötker: Kann man das am Beispiel Ihres derzeiti-gen Forschungsfeldes, der ghanaischen Spielfilmindu-strie, erklären?

Birgit Meyer: Seit Mitte der 90er Jahre wird ganzAfrika überschwemmt von preiswert in Ghana undNigeria produzierten Spielfilmen, welche die Leutezuhause auf ihren Video- und DVD-Geräten anschau-en. Für mich als Europäerin ist es immer wieder frap-pierend zu sehen, welches Afrikabild in diesen Filmengezeichnet wird: ein Bild, das schlecht zusammenpasstmit dem bunten Durcheinander, das ich von meineneigenen Reisen her kenne. Die Wohnviertel in denInnenstädten, das Gewusel auf den Wochenmärkten:nichts davon sieht man in den neuen Filmen. Sie zeigenvielmehr moderne, aufgeräumte Stadtlandschaften,sorgfältig angelegte Einfamilienhaus-Siedlungen, eineCity mit teuren Hotels und Restaurants, fantastischeHochhäuser. Das sind ganz andere Bildwelten, als mansie von den Werken afrikanischer Filmemacher wieSouleymane Cissé oder Idrissa Ouedraogo her kennt,die allerdings auch meist mit französischen Fördermit-teln produziert wurden, größtenteils für ein europäi-sches Kinopublikum. Mich erstaunt das. Aber vieleLeute in Ghana, mit denen ich darüber gesprochenhabe, warfen mir vor, dass ich ihr Land auf ein Kli-schee, wie Westeuropäer es pflegen, zurechtstutzenwollte.

Ralf Grötker: Wie interpretieren Sie das?

Birgit Meyer: In diesen Filmen kommt eine neue Art vonZugehörigkeitsgefühl zum Ausdruck. Eines, das nichteinfach erlaubt, sich Afrikaner als Bewohner eines von der

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Weltgemeinschaft abgeschriebenen Kontinents vorzustel-len. Man sieht sich selbst als Bürger einer internationalenWelt – so wie das auch die in Ghana stark vertretenenPfingstkirchen vormachen. Diese Kirchen schmücken sichgern mit den Fahnen jener Länder, wo sie Zweigstellenunterhalten und geben sich dann Namen wie „Internatio-nal Central Gospel Church.“ Und genau dieses Bestrebenzu einer globalen Gemeinschaft zu gehören findet manauch in den Filmen: Das Verlangen nach einem Bruch mitder Vergangenheit – mit der politischen wie mit der per-sönlichen. Ethnizität spielt eine untergeordnete Rolle.Man möchte sich von Verpflichtungen gegenüber entfern-teren Verwandten distanzieren, will nicht mehr die Schul-gebühren für die Tochter eines dritten Cousins zahlen.Man will nicht mehr mit mehreren Generationen zusam-men in einem Mietshaus wohnen, sondern auf einem ein-gezäunten Grundstück in einer der Einfamilienhaus-siedlungen, die in den letzten fünfzehn Jahren hochgezo-gen wurden. Für diese Art des Wohnens gibt es sogareinen eigenen Ausdruck in der lokalen Sprache: das „aut-arke“ oder „in sich geschlossene“ Haus. Man will sichabschotten. Ein kleines Vermögen aufbauen. Ein glückli-ches Leben führen.

Dmitri van den Bersselaar: Ich beschäftige mich mitder Unternehmenskultur innerhalb der United AfricaCompany, die von den 1930er Jahren bis 1992 ein riesigesFirmenimperium in Ghana und Nigeria unterhaltenhat. In Interviews unterstreichen die ehemaligen Ange-stellten immer wieder, welch enorm gutes Ansehen die

UAC in der Bevölkerung genoss. Tatsächlich hat dieUAC zwar viel dafür getan, das Gefühl einer „großenFamilie“ zwischen den Angestellten zu stärken – abergleichzeitig war es auch ganz klar, dass das Unterneh-men alles daran setzte, den Trend zum Fokus auf dieKernfamilie, von dem Birgits Filme handeln, zu unter-stützen.

Birgit Meyer: Für die UAC war das wohl ein Kampfgegen Vetternwirtschaft.

Dmitri van den Bersselaar: Natürlich!

Fred Cooper: Was mir bei dem Gefüge von Zugehörig-keiten, welches die modernen afrikanischen Spielfilmezeigen, vor allem auffällt, ist, dass so etwas wie eine Soli-darität zwischen Gleichen anscheinend verloren geht.Hierarchien werden als unproblematisch vorgestellt,und es gibt keinen Zusammenschluss von denen „unten“gegen die „oben“.

Ralf Grötker: Kann man behaupten, diese Art von tra-dierter Solidarität unter Gleichen sei in den vergangenenJahrzehnten immer weiter verloren gegangen?

Fred Cooper: Das würde ich nicht so sehen. Ichbeschäftige mich mit der Frage von Staatsangehörigkeitund Bürgerschaft innerhalb des französischen Imperi-ums der Nachkriegszeit. Bis 1946 waren die meistenAfrikaner keine französischen Bürger, sondern nur

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Staatsangehörige. Sie hatten keine Bürgerrechte undkeine politische Stimme. Der Krieg brachte Frankreichin eine schwache Position, wodurch französische Füh-rungskräfte neue Wege finden mussten, sich derKooperation der afrikanischen Eliten zu versichern.Obwohl nur sehr wenige Afrikaner Teil der gesetzge-benden Gewalt waren, setzten sie sich intensiv dafürein, dass die neue Verfassung von 1946 die Kategorieder bloßen Staatsangehörigkeit abschaffte und alleBewohner der Überseegebiete zu Bürgern Frankreichserklärte. Aus heutiger Sicht scheint es überraschend,dass man damals sowohl in Frankreich wie in den ehe-maligen Kolonien ernsthaft darüber nachdachte, wieman sich aus einer Situation von extremer Ungleichheitund Ausbeutung herausmanövrieren und eine neueStaatengemeinschaft schaffen könnte – eine neues grö-ßeres Frankreich. Das alles hatte viel mit Zugehörigkeitim politischen Sinn zu tun. In den späten 1940er und50er Jahren sahen sich die Einwohner der Territoiresd’Outre-Mer in Westafrika auf einmal in der Position,Ansprüche stellen zu können: Ansprüche auf Ausbil-dung, auf Zugang zu finanziellen Ressourcen und zueinem Rechtssystem, welches die Bedeutung der Bür-gerrechte betonte. Heute hingegen ist dies alles so gut wie vergessen. Eserscheint uns fast wie ein Naturgesetz, dass Entwick-lung und Unabhängigkeit gleichbedeutend sind mit derSchaffung von autonomen Nationalstaaten, deren Aus-breitung wir überall auf der Welt beobachten. Aus derSicht von damals aber ist es erklärungsbedürftig,

warum man sich 1960 einigte, einzelne Nationalstaatenzu schaffen, die 1945 tatsächlich niemand in Westafrikagewollt hatte. Ich möchte das kurz erläutern: Der senegalesische Poli-tiker Léopold Senghor, beispielsweise, befürchtete, dasseine „nominale Unabhängigkeit“ für die afrikanischenGebiete vor allem deren Schwäche und Armut perpe-tuieren würde. Bis 1960 strebten er und seine Kollegeneine mehrschichtige politische Struktur an. Erstenssollten französisch sprechende Afrikaner eine gemein-same Föderation bilden. Diese Föderation wurde nichtnur als eine viel praktischere politische Einheit emp-funden als die kleinen, armen, räumlich voneinandergetrennten Nationalstaaten, sondern galt zugleich alsVerkörperung des Strebens nach einer afrikanischennationalen Einheit, die viel bedeutungsvoller wäre alsnationale Zugehörigkeit zum Senegal, zur Elfenbein-küste oder zu Dahomey. Zweitens sah er vor, dass dieseFöderation Teil einer größeren Konföderation sein soll-te, bestehend aus dem europäischen Frankreich undallen anderen Teilen des französischen Imperiums.Eine derartige Struktur, so Senghor, würde demBedürfnis Afrikas nach Solidarität innerhalb des Kon-tinents sowie mit einem reicheren, besser ausgebildetenPartner Rechnung tragen. Für Senghor bedeutete einepolitische Beziehung zwischen Afrikanern und Euro-päern auch einen Ruf nach einer universalen Zivilisati-on, die die komplementären Beiträge europäischer,afrikanischer und asiastischer Zivilisationen reflektie-ren könnte.

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Julia Seibert: Heute ist es in Frankreich eine politischeFrage, welche Gruppen von Migranten aus Afrika oderaus europäischen Ländern „naturalisiert“ werden, alsoEinwohnerrechte erhalten. Welche Ideen gab es damalsdafür, so etwas zu regeln?

Fred Cooper: In der Zeit, über die ich spreche, also 1946bis 1960, waren alle Einwohner der ehemaligen Kolo-nien französische Staatsbürger. Wenn ein Senegalesenach Frankreich wollte, musste er lediglich in der Lagesein, ein Fährticket zu bezahlen und sich die passendenReisedokumente zu beschaffen – was prinzipiell mög-lich war. Es stand nicht in der Macht der Regierung, ihmden Zugang zu verweigern. Überhaupt war man inParis viel mehr darum besorgt, Franzosen, die in West-afrika Geschäfte betreiben wollten, den Weg zu ebnen.Deshalb waren sämtliche Verträge sehr stark auf Rezi-prozität hin ausgerichtet. Erst in den 60ern und 70ernkam die Fremdenfeindlichkeit auf.

Birgit Meyer: Vielleicht ist es interessant, hier die Missi-onsgeschichte des 19. Jahrhunderts einzubringen. Ichhabe zur Norddeutschen Mission, die in Togo und inTeilen des heutigen Ghana bei den Ewe aktiv war, gear-beitet. Ihre Missionare kamen nach Afrika mit der Idee,die Bibel in die jeweiligen Muttersprachen zu überset-zen. Sie wollten die traditionellen ethnischen Gruppen,wie zum Beispiel die Ewe, auf diese Weise wiederzusammenbringen und sie dabei gleichzeitig zum Chri-stentum bekehren. Allerdings war das ganze Projekt des

Zusammenführens eines im Laufe der Zeit voneinandergetrennten Volkes mehr oder weniger eine Erfindungder Missionare. Die vermeintlichen „Ewe“ nannten sichnicht einmal selbst so – sie lebten in verschiedenen politi-schen Konfigurationen und sprachen sehr verschiedeneDialekte. Mit der Idee eines ethnisch definierten Chri-stentums wollten sie sich erst recht nicht anfreunden.Die Attraktion der christlichen Religion bestand für siedarin, dass sie ihnen die Augen öffnete für eine größereWelt, an der sie teilhaben konnten. Christ zu sein hieß:Zugang zu haben zu moderner westlicher materiellerKultur; vielleicht sogar nach Europa zu kommen. VonAnfang an war Bekehrung für sie mit Mobilitätswün-schen verknüpft, aber die Mission versuchte, die Ewe-Christen vor der weiten Welt zu schützen und sie in ihreeinheimische Kultur einzuschließen. Auch hier kommtalso dieser Wunsch nach einer Zugehörigkeit zu etwasanderem als einer eng gefassten Gemeinschaft, sei eseinem Nationalstaat oder einer Volksgruppe, zum Aus-druck. Genau dieser Wunsch wird heute durch diePfingstkirchen mobilisiert.

Fred Cooper: Es kann schon sein, dass dieses Strebendanach, Teil der westlichen Welt zu sein, eine entpolitisie-rende Form der kollektiven Imagination ist. MateriellerBesitz gilt als absolut erstrebenswert, Reichtum als LohnGottes. Folglich stellt man sich gut mit den Vorgesetzten,pflegt seine persönliche Beziehung zu Gott, versucht so zuleben, dass einem Segnungen gewiss sind. Das alles han-delt von etwas völlig anderem als der Vorstellung von

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einer Welt, die aus horizontalen Schichten besteht, wel-che es zu durchbrechen gilt. Aber wenn wir wissen wol-len, wie die aktuelle politische Imagination in denafrikanischen Ländern beschaffen ist, sollten wir uns diePfingstkirchen und diese Filme sehr genau anschauen.

Ralf Grötker: Wie beurteilen es die Ökonomen, dassfamiliäre Verpflichtungen in Pfingstkirchen eine immergeringere Rolle spielen? Wird auf diese Weise nicht end-lich Kapital frei, mit dessen Hilfe afrikanische Unter-nehmer Investitionen tätigen und ihre Unternehmenaufbauen können?

Birgit Meyer: Es gibt dazu verschiedene Ansichten.Peter Berger – ein Soziologe – meint zum Beispiel, diePfingstkirchen mit ihrem Fokus auf individuelleAbschottung und moralische Verantwortung seien einMotor für die wirtschaftliche Entwicklung, weil dieMenschen auf lange Sicht dazu gebracht werden, sichgenau wie die von Max Weber beschriebenen Calvini-sten des 16. und 17. Jahrhunderts in ihrem Genuss zumäßigen und ihr Geld effektiv zu investieren. Ich sehedas eher skeptisch. Wenn nicht nur Reichtum alsSegen Gottes betrachtet wird, sondern Armut alsFluch des Teufels – so wie das in manchen der Pfingst-kirchen gelehrt wird – ist das sicherlich kein Anreizfür den Einzelnen, unternehmerisch aktiv zu werden.Eher beschränkt man sich auf den spirituellen Kampfgegen böse Geister, ohne dabei konkrete Schritte zurVerbesserung der eigenen Situation zu unternehmen.

Fred Cooper: Man sollte auch nicht vergessen, dassdie wirtschaftliche Entwicklung der afrikanischenLänder in hohem Maße von der Schaffung vonInfrastrukturen abhängig ist; diese müssen von deröffentlichen Hand bereitgestellt werden. Ein unter-nehmerisches, stark individuell orientiertes Ethos,wie es vielleicht durch die Pfingstkirchen befeuertwird, hilft da wenig.

Dmitri van den Bersselaar: Es gibt aber auch neueFormen der Gemeinschaft, die der Tendenz zur Indivi-dualisierung entgegenlaufen. Schließlich fordern diePfingstkirchen ihre Mitglieder doch auch dazu auf, sichals Teil der Gemeinde zu begreifen.

Birgit Meyer: Ich würde diese Formen eher als Netz-werke bezeichnen. Ich habe einmal an einem Gottes-dienst teilgenommen, in dem Kirchenmitgliedereingeladen wurden, sich bestimmten Berufsgruppenzuzuordnen. Anwälte und Journalisten, oder solche,die es werden wollten, wurden aufgefordert, Netzwer-ken beizutreten. Das kann sicher von Nutzen sein.Aber hier zeigt sich auch, dass es um ganz andereArten der Gemeinschaft geht als die klassische Kir-chengemeinde. In den Pfingstkirchen ist Mitgliedschaftanders organisiert. Menschen kommen, weil sie etwaserwarten, und suchen sich eine andere Kirche, wenndie Erwartung nicht erfüllt wird. Die Kontakte inner-halb der Kirche sind tendenziell oberflächlicher undder Pastor ist weit weg.

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Julia Seibert: Im Kongo habe ich das ganz anderserlebt. Dort gehen gerade die ganz Armen täglich in dieMesse, die übrigens meist in Zelten stattfindet. Sieopfern dem Gottesdienst einen Großteil ihrer Zeit. Vondem wenigen, das sie haben, spenden sie auch noch viel,ohne dass sie danach Zugang zu mehr Ressourcen hättenals vorher, eher im Gegenteil.

Fred Cooper: Auch in den USA fing die Pfingstkir-chenbewegung als eine Religion der Armen und Ausge-stoßenen an. Die Sozialwissenschaftler, die sich in densiebziger Jahren damit befasst hatten, gingen dennochdavon aus, dass diese Glaubensgruppen Ausdruck einesgesellschaftlichen Aufwärtsdenkens seien. Dass solcheInstitutionen gleichzeitig als Tröster der Armen auftre-ten können, schließt sich nicht gegenseitig aus.

Birgit Meyer: Genau, gerade weil Kirchen Erfolg aus-strahlen, ziehen sie auch die Armen an. Aber ich möchtenoch einmal auf die Frage der nationalen Unabhängig-keit zurückkommen, die Fred in seiner Arbeit themati-siert. Mir ist aufgefallen, dass bei den vielenUnabhängigkeitsfeiern, die im vergangenen Jahr inAfrika zum 50. Jahrestag begangen wurden, nie davondie Rede war, dass es auch die von Fred genanntenAlternativen zur nationalen Unabhängigkeit gegebenhätte.

Dmitri van den Bersselaar: In Ghana gab es Kritik anden hohen Ausgaben für die Feierlichkeiten. Vor allem

aber wurde der Präsident dafür gescholten, dass er ineinem grauen Anzug daran teilgenommen hatte...

Birgit Meyer: ... und nicht in einem kente-Gewand.

Dmitri van den Bersselaar: Gerade daran, dass dieKritik sich an der unzureichenden Berücksichtigung dertraditionellen Kleidung entzündete, also an einer Frageder kulturellen Identität, sieht man, dass wirklich nie-mand in Frage stellt, ob die Unabhängigkeit und somitauch die erfolgte Abgrenzung gegenüber dem Westentatsächlich ausschließlich ein Grund zum Feiern ist.

Julia Seibert: Im Kongo waren die Feiern zur Unab-hängigkeit vielerorts von einer „Nostalgie coloniale“durchzogen. Die Menschen trauern der Kolonialzeit ingewisser Weise nach, da sich das Land seit den 1970erJahren in einer permanenten Krise befindet. Viele Kon-golesen sehen in der Unabhängigkeit den Anfang vomEnde. Nach einer kurzen Phase der Hoffnung musstensie erleben wie sie erneut ausgebeutet wurden, diesmaljedoch nicht von Fremden, sondern durch ihre eigenenLandsleute. Diese Erfahrung hat die Menschen imKongo langfristig das Vertrauen in ihre Regierung ver-lieren lassen, was wiederum zu einer Glorifizierung derKolonialzeit führt. Unabhängigkeit wird also nicht nurpositiv empfunden..

Birgit Meyer: Aber erst die Unabhängigkeit hat die ehe-maligen Kolonien zu vollwertigen Mitgliedern der Welt-

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gemeinschaft gemacht – einer Gemeinschaft, die sichheute als Gemeinschaft von Nationalstaaten versteht.Dennoch bin auch ich skeptisch. Ohne jetzt die Zeitendes Imperialismus nostalgisch verklären zu wollen: Wirvergessen heute leicht, dass eine Welt von unabhängigenNationalstaaten auch eine Welt von in sich geschlosse-nen Territorien ist, die es beispielsweise für Afrikanerimmer schwerer macht, in ein sich abschottendesEuropa hineinzukommen.

Fred Cooper: Seit 1960 sind Senegal, Elfenbeinküsteund andere frühere französische Kolonien – wie übri-gens auch Frankreich selbst – zu einem viel stärkerenNationalgefühl gelangt als jemals zuvor. Manche afrika-nische Länder behandeln Menschen, die aus dem Nach-barland stammen, als Fremde, welche Arbeitsplätze, dieSicherheit und das Gefühl nationaler Solidarität gefähr-den. Und jetzt versucht Frankreich, die Söhne undTöchter derer, die es einst einbürgern wollte, auszu-schließen.

Birgit Meyer: Unsere Aufgabe als Ethnologen undHistoriker ist es, genau diese komplizierte Politik derZugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, des Ein- undAusschließens darzulegen. Das stereotype Bild eineskulturell in sich geschlossenen Afrikas ist in dieser Hin-sicht falsch und muss als Ausdruck ebendieser Politikverstanden werden.

Dmitri van den Bersselaar und Ralf Grötker sind 2010/2011Stipendiaten am Internationalen GeisteswissenschaftlichenKolleg re:work : Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtli-cher Perspektive, Julia Seibert ist dort wissenschaftliche Mit-arbeiterin. Mit dem Wissenschaftskolleg ist re:work durcheine Partnerschaft verbunden, die in die Gründungsphase des2009 ebenfalls in Berlin eröffneten Kollegs zurückreicht.

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„Aufklärung ist eine Haltung“

Ein pakistanischer Anthropologe in Austin, Texas und ein iranischer Historiker und Soziologe an der Universityof Illinois kommen in Berlin mit unterschiedlichen Arbeitsvorhaben an und werden von einem gemeinsamen Thema überrumpelt Fellows 2010/2011

Interview: Andrea Nüsse

Andrea Nüsse: Die Welt schaut auf die Umbrüche inder arabischen Welt. Der Westen ist begeistert von denfriedlichen Revolutionen in Tunesien und Ägypten. Wiesehen die Regierung und die Menschen in Iran dieEreignisse in den arabischen Staaten?

Behrooz Ghamari-Tabrizi: Der Blick aus Iran ist sehrinteressant. Es gibt einen starken Wettstreit zwischenRegierung und Oppositionsbewegung darum, wer sichmit den Volksaufständen schmücken darf. Beidebehaupten, die Aufstände in Nordafrika seien von ihreneigenen Bewegungen inspiriert. Die Regierung sieht sieals eine Verlängerung der Islamischen Revolution von1978/79. Die oppositionelle Grüne Bewegung dagegensieht ihren Protest gegen das Ergebnis der Präsident-schaftswahl von 2009 als Vorläufer der Aufstände in derarabischen Welt. Sie versteht die Aufstände als eineDemokratiebewegung. Die Regierung dagegen versteht

sie als eine Bewegung, die den Einfluss der USA in derRegion eindämmen will. Ich persönlich denke, dassbeide Sichtweisen teilweise zutreffen. Fest steht, dasshinsichtlich einer Verringerung des Einflusses der USAin der Region Iran in jedem Fall der große Gewinnersein wird – egal wie die Entwicklungen weitergehen.

Kamran Ali: In Südasien, einschließlich Pakistan habenwir das Gefühl, dass unsere Geschichte anders verlaufenist als in der arabischen Welt, wo Herrscher, gestütztdurch den Sicherheitsapparat, endlos lange an der Machtwaren. Die Pakistaner beispielsweise, sind in den letzten50 bis 60 Jahren regelmäßig auf die Straße gegangen, umgegen Diktatoren zu protestieren, gegen autoritäreRegime und für mehr Rechte. „Wir sind anders“, das istdie allgemeine Sichtweise der Menschen im heutigenSüdasien. Der pakistanische Staat hingegen war rechtschweigsam. Er hat sehr gute Beziehungen zu den Golf-

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staaten, wo viele Pakistaner arbeiten. Daher hält mansich hier extrem zurück. Und zu Libyen hatte Pakistanschon in den siebziger Jahren sehr enge Verbindungen.Das größte Cricketstadion in Pakistan wurde 1974 nachMuammar al-Gaddafi benannt. Jetzt gibt es eine Debat-te, ob das Stadion umbenannt werden sollte. Die Stel-lungsnahmen der Regierung zu den Ereignissen inLibyen sind daher zwiespältig, während die Zivilgesell-schaft und die Medien die aufständischen Libyer unter-stützen.

Andrea Nüsse: Iran hatte seine Revolution, eine islami-sche Revolution. Bei den sogenannten Revolutionen inTunesien und Ägypten hat der Islam bisher keine tra-gende Rolle gespielt. Woran liegt das? Was ist in denletzten vierzig Jahren passiert?

Behrooz Ghamari-Tabrizi: Die Islamische Republikist passiert! Ich glaube schon, dass Iran vielen Arabernsympathisch ist, weil er unabhängige Entscheidungentrifft und Amerika die Stirn bietet. Doch den gleichenWeg wollen sie nicht einschlagen, denn er war sehrkostspielig. Wirtschaftlich, sowie innen- und außenpo-litisch. Im Inneren war Repression nötig um dieseEinigkeit gegenüber den USA herzustellen. Zudemhat Ägypten seine eigene Tradition des politischenIslam. Die Muslimbruderschaft existiert seit 1928. Siehatte aber nie das Ziel, den Staat zu übernehmen. DieMuslimbrüder haben kein bolschewikisches oder jako-binisches Staatsverständnis. Sie haben immer geglaubt,

ein Staat werde islamisch, wenn seine Bürger tugend-hafte, überzeugte Muslime sind. Und die iranischeErfahrung hat gezeigt, dass eine islamische Republiknicht zur Islamisierung der Gesellschaft führt. Son-dern im Gegenteil die Religion säkularisiert. Daherglaube ich nicht, dass das iranische Modell einer Isla-misierung von oben für die Muslimbrüder irgendwieattraktiv ist.

Andrea Nüsse: Was meinen Sie mit Säkularisierungdes Islam?

Behrooz Ghamari-Tabrizi: Es ist eine Sache, alles isla-misieren zu wollen: Gesellschaft, Kultur, Politik, Wirt-schaft. Aber dann stellt sich die Frage: Wie soll das in derPraxis aussehen? Und schon ist man bei der nächstenFrage: Was ist Islam und wer definiert ihn? In Irankamen viele Akteure zusammen – innerhalb und außer-halb der Koranschulen – die beanspruchten, eine legiti-me Auslegung des Islam anbieten zu können, die mitdem zeitgenössischen Leben kompatibel sei. Damitwurde der Islam säkularisiert.

Kamran Ali: Als ich in den 90er Jahren in Ägypten gear-beitet habe, herrschte fast eine Art Bürgerkrieg. DasRegime hatte die Linke und die Säkularisten gezähmt,indem es sich als Schutzwall gegen die Islamisten undderen mögliche Machtübernahme präsentierte. Diesescheinbare Bedrohung durch den Islam funktionierteauch international. Wissenschaftler begannen über den

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politischen Islam zu schreiben. In den USA wurde vielGeld für Doktorarbeiten über diese Themen zur Verfü-gung gestellt. Wir haben unbeabsichtigterweise dazubeigetragen, dass die anderen Kräfte innerhalb derGesellschaft übersehen wurden. Die Islamisten sind nichtdie einzigen Akteure, das sehen wir jetzt.

Andrea Nüsse: Der Westen braucht also keine Angstvor einem Wahlsieg der Muslimbrüder zu haben?

Kamran Ali: Die ägyptische Gesellschaft ist kulturellzwar muslimischer als in den 60er Jahren. Aber diesekulturellen und religiösen Praktiken verwandeln sichnicht automatisch in Wählerstimmen. In Pakistan hattenwir ähnliche Entwicklungen, eine Islamisierung in denachtziger Jahren, von der die religiösen Parteien abernicht unbedingt profitiert haben. Sie haben im Durch-schnitt zwei bis vier Prozent der Wählerstimmenbekommen - nur 2002 waren es sieben Prozent. Das wareine Reaktion auf die anti-islamische Stimmung, die sichim Westen nach den Anschlägen vom 11. September2001 entwickelt hat.

Andrea Nüsse: In Pakistan hat regelmäßig das Militärin den politischen Prozess eingegriffen. Ägypten wirdnach der Revolution von einem Militärrat regiert. Wel-che Gefahren sehen Sie?

Kamran Ali: Pakistanische Kommentatoren haben dierote Flagge gehisst, als ein Militärrat in Ägypten die

Macht übernommen hat. Wir wissen, was das heißt. InPakistan konnte das demokratische Experiment nie zuEnde geführt werden, immer wieder hat die Armee ein-gegriffen. Daher gibt es viele Gründe, skeptisch zu sein.Aber die eigenen Interessen der ägyptischen Armee, ihreengen Verbindungen zu den USA, die in das ägyptischeMilitär investieren - all dies lässt darauf schließen, dassdie Armee wieder in ihren Kasernen verschwinden wird.

Andrea Nüsse: Warum hat es in der arabischen Welt solange gedauert, die autoritären Regime zu stürzen? Gibtes einen Zusammenhang mit der Erfahrung der Kolo-nialisierung?

Behrooz Ghamari-Tabrizi: Meines Erachtens hat dasdamit zu tun, wie die Kolonialherrschaften in der arabi-schen Welt endeten. Das war meist durch Verhandlun-gen und nicht durch Revolutionen. Mit AusnahmeAlgeriens – und auch da wurde am Ende verhandelt.Eliten haben das Ende der Kolonialherrschaft ausgehan-delt. Das Volk spielte keine große Rolle dabei. Volksbe-wegungen wurden marginalisiert. Das könnte einGrund sein, warum es so lange gedauert hat, bis Men-schen in der arabischen Welt sich stark genug fühlten,ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.In Iran hatten wir ein Jahrhundert der Revolution, ange-fangen mit der Konstitutionellen Revolution 1905/06.Später gab es den Kampf für die Nationalisierung derÖlfelder und der Ölindustrie. Wenn ich heute mit mei-nen Studenten die Werke von Frantz Fanon lese,

Psychiater, Philosoph und einer der Vordenker der Ent-kolonialisierung, dann ist sein Aufruf zur Gewalt, umdie Herrschaft der Kolonialisten abzuschütteln, viel-leicht befremdlich. Aber es ist etwas Wahres an seinerBehauptung, dass die Menschen durch gewaltsamesAufbegehren ihr Schicksal wirklich in die eigene Handnehmen.

Kamran Ali: Nach dem Ersten Weltkrieg setzten dieMandatsmächte bestimmte Familien in vielen arabi-schen Ländern als Herrscher ein. Später gab es dannMilitärcoups gegen diese Aristokratie, die von Britenoder Franzosen an die Macht gebracht wurde. Sie ver-traten eine sozialistische Politik und konnten damit ihreHerrschaft zementieren. Sie konnten dies aber auch,weil es keine Geschichte der antikolonialen Massenbe-wegungen gab. Es wurde z.B. in Ägypten ein Sicher-heitsapparat geschaffen, der meist mit jungen Männernvom Land besetzt wurde. Er beförderte soziale Mobili-tät und war daher für die ärmere Landbevölkerungattraktiv. Und natürlich hat die internationale Akzep-tanz dieser Regime zu deren Langlebigkeit beigetra-gen.

Andrea Nüsse: Lesen wir die Ereignisse richtig, wennwir westlich wirkende Blogger als die neue treibendeKraft in arabischen Ländern sehen?

Behrooz Ghamari-Tabrizi: Realitäten sind trügerisch.Das Bild der Blogger lässt einen Großteil der Menschen

außen vor, die Teil der Bewegung waren, aber andereAnliegen haben. Auch wenn ich mich jetzt wie ein ech-ter Marxist anhören sollte: Klasseninteressen spieleneine wichtige Rolle - die Verteilung von Reichtum undder Zugang zu Ressourcen - und sind ebenso präsentwie die Forderung nach politischer Freiheit unddemokratischer Reform. Auf diesem Feld könnten Gruppierungen wie die Mus-limbrüder möglicherweise bei zukünftigen Wahlen gutabschneiden. Denn kulturell sind sie den unterenGesellschaftsschichten näher, sie sprechen die Sprachederjenigen, deren Hauptanliegen wirtschaftlicheUmverteilung ist. Dieses Klassenbewusstsein fehltbeim Blick der westlichen Medien auf die Region. Undder Wunsch nach mehr politischer Unabhängigkeit deseigenen Landes in der internationalen Politik ist einzweiter Aspekt, der in westlichen Medien gerne überse-hen wird.

Kamran Ali: Während der aktuellen Proteste waren dieMuslimbrüder eher daran interessiert, das Regime zustürzen, als die Führung zu übernehmen. Aber in dernächsten Phase haben sie als Grasswurzelbewegung, diegut organisiert ist, natürlich einen Vorteil. Intellektuellein Ägypten kämpfen seit Jahrzehnten für Menschen-rechte und Demokratisierung. Aber sie haben keineAnhängerschaft, weil neben der Regierungspartei und –aus einer Reihe von Gründen – den Muslimbrüdernkeine weitere Organisation geduldet wurde. Und wennich noch einmal das Beispiel Pakistan anführen darf:

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Nicht-religiöse Parteien werden durch die internationa-le Politik immer wieder geschwächt. Die wenigstenMenschen sind für Gewalt oder den Terror der Taliban.Aber sie lehnen Angriffe durch amerikanische Drohnenstrikt ab. Die anhaltende Präsenz der amerikanischenStreitkräfte und die Drohnenflüge mobilisieren anti-westliche Emotionen, die wiederum von Islamistengenutzt werden. Islamischer Radikalismus wird gestärktund säkulare Kräfte gleichzeitig geschwächt. Das mussder Westen verstehen.

Andrea Nüsse: Hat sich das westliche Image des Mus-lims und Arabers durch die friedlichen Revolutionenverändert?

Kamran Ali: Die Angriffe des 11. September haben dieÜberwachung muslimischer Bevölkerungsgruppen inden USA verstärkt. Und Europa tut sich nach den Bom-benattentaten in Madrid und London, dem dänischenKarikaturenstreit, den Unruhen in den Vororten vonParis oder der Ermordung Theo van Goghs in Amster-dam gleichzeitig schwer, seine von Toleranz und libera-len Werten geprägte Haltung aufrechtzuerhalten. Die„Anderen“ unter uns, also muslimische Migranten oderder mögliche EU-Beitritt der Türkei haben die Haarris-se in der europäischen Menschenrechtsrhetorik offenge-legt. Heute sind nur die gezähmten Muslime in Europaakzeptiert. Wenn Muslime aber selbstbewusst ihreEigenheiten hervorheben, schürt das eine Menge Angstunter Europäern.

Behrooz Ghamari-Tabrizi: In den USA reden die Men-schen nur über das Internet und die Kommunikations-mittel, wenn sie über diese Revolutionen nachdenken.Demnach waren diese Bewegungen nur möglich auf-grund der westlichen Technologie. Zudem haben dieAmerikaner ein unglaublich kurzes Gedächtnis. Insechs Monaten kann man sie nach dem Tahrir-Platz fra-gen und sie haben keine Ahnung, wovon man spricht.Ich wäre nicht überrascht, wenn sie gar nicht mitbekom-men hätten, dass die Menschen auf dem Tahrir-Platzzumeist Muslime waren. Daher glaube ich nicht, dasssich das Image der Muslime in den USA jetzt ändertoder verbessert.

Andrea Nüsse: Sehen wir jetzt das Ende des kulturel-len Relativismus? Gehört die Aufklärung nun auch denMuslimen?

Kamran Ali: Die Aufklärung hat zahlreiche Facettenund heutzutage möglicherweise universell akzeptierteZüge. Sie ist nicht an eine bestimmte Kultur gebunden.Nichtsdestotrotz gibt es immer noch Menschen unteruns, deren Lebensweisen und kulturelle Eigenheitenverstanden und akzeptiert werden müssen. Der Libera-lismus tendiert dazu Anderssein nach seinen eigenenMaßstäben zu definieren und kann also ebenso ausgren-zend sein. Daher muss die Möglichkeit der Differenzinnerhalb des kulturellen Relativismus betont werden.Fast überall führen die Menschen ein modernes Lebenund brauchen den Staat seiner Ressourcen wegen. Aber

sie führen auch kulturell bestimmte Leben, die unsbeständig an die anderen Möglichkeiten des Mensch-seins erinnern. In diesem Kontext kann man nicht generalisierendbehaupten, die Muslime hätten sich die Aufklärung zuEigen gemacht. Man muss solche Prozesse innerhalbihres kulturellen und historischen Rahmens betrachten.In Pakistan kann man das Experiment einer liberalenDemokratie nach westlichem Vorbild nun schon eineWeile betrachten. Dennoch bleibt es eine Herausforde-rung, auf lange Sicht soziale Toleranz hervor zu bringen– Toleranz gegenüber verschiedenen Arten von libera-len oder illiberalen Bürgern, Identitäten, Lebensweisenund politischen Ansichten – und gleichzeitig auf sozialeGerechtigkeit und die richtige Verteilung der Ressour-cen zu achten.

Behrooz Ghamari-Tabrizi: Die Ereignisse in Ägyptenzwingen uns, die Geschichte der Aufklärung neu zuschreiben; sie nicht als eine Sammlung von Doktrinenoder Prinzipien zu sehen, die auf die gesamte Weltanzuwenden sind. Die Aufklärung ist eine Haltung.Aufgeklärt zu sein bedeutet, sich über seine eigene Lagein der Welt bewusst zu sein. Wenn man Aufklärung sodefiniert, würde sie vielmehr wie eine Sammlung vonBesonderheiten aussehen, die zusammengehören, alseine Serie universaler Prinzipien, die für die gesamteWelt gelten. Die Lehre, die der Westen aus den Ereig-nissen ziehen sollte, lautet: Es geht nicht darum, ob dieÄgypter so werden wie wir oder eine liberale Demo-

kratie verdient haben. Es geht darum, dass die ÄgypterPosition beziehen, sich ihrer selbst und ihrer Lage in derWelt bewusst sind. Wissenschaftler haben jetzt dieChance, eine revisionistische Interpretation der Aufklä-rung zu erarbeiten.Wenn alle universellen Prinzipien eine Sammlung vonBesonderheiten sind, dann stellt sich die Frage nach demkulturellen Relativismus nicht mehr.

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African Lessons

A British-born, Nigerian-bred, US-based molecular biologist points to the obvious reasons why medical and cultural knowledge must complement one another Fellow 2010/2011

Interview: Carl Gierstorfer

Iruka Okeke is an Associate Professor of Molecular Bio-logy at Haverford College just outside Philadelphia. Inher lab she studies microbes that cause diarrheal andother infectious diseases common in the developingworld. Iruka was born to Nigerian parents in Londonand received most of her education in Nigeria. She wit-nessed the growing divide between African and Westernscientists and recognized that the main killers in develo-

ping countries - infectious diseases - could be tackledonly if African scientists were brought into the globalscientific community. At the Wissenschaftskolleg she is amember of the focus group „Professional Dilemmas ofMedical Practice in Africa.“ The group investigates theeveryday dilemmas faced by physicians in resource-poorsettings in Africa. Research on these issues aims to fosterdebates on health practices in Africa.

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Carl Gierstorfer: Iruka, your focus here at the Wissen-schaftskolleg is to “investigate dilemmas of medicalpractice in Africa”. Where do you see such dilemmas?

Iruka Okeke: Many doctors in Africa have been leftbehind by some of the recent developments in science.They cannot access certain kinds of knowledge, theycannot compete for resources that might raise medicalstandards. I would like to be sure that recent discoveriesin labs actually translate into treatments that are useful tosick people in the developing world. To take things fromthe bench to the bedside, if you will.

Carl Gierstorfer: Medically speaking, what are theissues in the developing world?

Iruka Okeke: Let us take Africa as an example: mostpeople get sick because of treatable infectious disease.This means that the majority of these people have a con-dition that is preventable and curable. It is preventable,which means they should not be there in the first place.It is curable, and that means the patients should leavethe clinics with something that makes them better. Ifsomeone dies of an incurable cancer that is very distur-bing, but you know there is nothing you can do about it.Here we talk about diseases we could do somethingabout, but for various reasons the best thing is notalways done. That certainly is a dilemma that can leaveyou feeling helpless at times.

Carl Gierstorfer: Are you saying that there are a lot ofadvances in medicine, in the biological sciences especial-ly, that are not applied to medical problems in the deve-loping world?

Iruka Okeke: Take diagnostic testing as an example –the methods and tools to identify a disease. In the lab weknow how to identify every single bacterium or virusthat has been reported as a disease. But many of thesetests have never been developed in a way African doctorscan use them.

Carl Gierstorfer: Why is this? Does the West simplynot care about conditions that afflict poor countries? Orare the underlying causes more complex?

Iruka Okeke: A very obvious reason is the question ofresources and markets. Market constraints did not per-mit the use of many drugs and diagnostic tools of theWestern world in African countries until recently.Another reason is that research institutions in Africa,which could develop tools locally, have deteriorated inthe past decades. Most African countries never hadenough universities. But they had one or two reallygood ones. There, scientists worked at European or USlevels until around the 1960s. But after these Africancountries became independent, many universitiesdecayed, mainly because of structural adjustment pro-grams.

Carl Gierstorfer: The International Monetary Fund andthe World Bank basically told developing countries toopen up their economies and make them more market-oriented, otherwise they would not qualify for loans ...

Iruka Okeke: Yes, this discouraged countries from spen-ding money on health and education, but instead encou-raged privatization of public institutions.

Carl Gierstorfer: An open invitation for corruptregimes to stuff money into their own coffers!

Iruka Okeke: Exactly. And what’s even worse: a lot ofoppressive regimes chased academics away from Africa.All of these things came together to produce a system inwhich both the educational and research facilities dete-riorated. In the end, they could not keep pace with therevolutions in the sciences.

Carl Gierstorfer: In the case of the biological sciencesall of this happened in the decades after 1953, when thestructure of DNA was discovered.

Iruka Okeke: In the decades that followed, we had themolecular biology revolution and we had the genomicrevolution. The biological sciences proved crucial tomedicine. But all of these things happened in countriesof the developed world and in such a way that manyAfrican students and scientists weren’t even aware thatthey were going on.

Carl Gierstorfer: You have some first-hand experienceof this decay because you received a large part of youreducation in Nigeria.

Iruka Okeke: When I was a master’s and PhD studentin Nigeria in the early 1990s, there were many strikes byacademia. We should have spotted this; we should haveseen that things were going to go downhill from there.The then military regime was seeking to suppress acade-mia in general and one way to do that was to avoid fun-ding universities. The library stopped subscribing tojournals. Professors had to buy their own chalk. Every-thing changed, and things got worse and worse as timewent on. Then, we wake up today and face a situation in which onthe one hand philanthropists and public organizationsare willing to pump money into research, and on theother hand scientists in Africa are really not up to speed,because they missed out on major revolutions.

Carl Gierstorfer: So how can this gap be bridged?After all, we are talking about decades of misrule andmissed opportunities that have led to this dilemma.

Iruka Okeke: What I would like to do first is to create anawareness of these dilemmas in Africa and outside. Mala-ria is a good example in which cooperation works betterthan in other diseases. There are quite a few malaria bio-logists in Africa who work on the problem. Because oftheir efforts, drugs make it relatively quickly into clinical

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trials. But this community of African scientists didn’tjust magically appear. It was built. Malariologists inter-nationally said: look, we cannot do anything practical forthis disease until we have scientists who live in Africa. Sothey organized training programs and workshops tobuild a community of African scientists, who work onthe disease on the ground. This community is still toosmall. But they are obviously having an impact that wedo not see in a lot of other diseases, like sleeping sicknessor cholera.

Carl Gierstorfer: Isn’t there the financial aspect? Thebig difference in malaria research was made by therelentless engagement of philanthropists. The Bill &Melinda Gates foundation alone has pumped billions ofdollars into research on malaria and tuberculosis.

Iruka Okeke: We are now one step closer to controllingor even possibly eliminating malaria, a challenge that hasbeen put forward by the Bill and Melinda Gates Founda-tion. This is in stark contrast to the early 1990s, whenpeople were needlessly dying at alarming rates. Thanksto public health interventions and the genomic revolu-tion, a lot of things that we could not have envisagedback then have happened by now. You have lots ofmoney invested in the fight against malaria while, at thesame time, very simple and inexpensive solutions areunderway. Insecticide-treated bed nets have been disco-vered as a really simple intervention against malaria; youhave drug development, old drugs have been with-

drawn, new ones introduced. These are things that,twenty years ago, were neither known nor imagined.

Carl Gierstorfer: So, a lack of money isn’t necessarilythe issue. What you are proposing is a closer connectionbetween scientists in the developed world and doctors inthe developing world. But isn’t the gap already too wide?Biomedical research demands a lot of special expertise,special training and special equipment.

Iruka Okeke: It is not as hard as it looks. When themolecular revolution started in the US for example, itwas soon realized that everyone needed these moleculartools. The scientists were able to get them, even if theyhadn’t gone through graduate programs in molecularbiology. They gained this knowledge just throughworkshops, training programs and so on. These are thesame strategies the malaria community applied to buildits expertise. It is true that some people were sent to doPhD programs abroad. But a lot of scientists in Africaattended workshops or were given software and self-learning tools so they would be able to develop theirown expertise. Which is what we all do. I did not learngenomics when I was in graduate school. I had to pickit up as I went along.

Carl Gierstorfer: Looking at the genetic aspect ofinfectious diseases surely is only one part of the solu-tion. What about the practical questions? For example,how does poverty cause disease and how can doctors

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help even with limited means? After all, high-techmedicine doesn’t work in most parts of Africa.

Iruka Okeke: An African doctor is going to understandthe diseases that afflict his patients more than anybodyelse. That is why it is very important not to displace thelocal knowledge with new knowledge. What you reallywant to do is to integrate newly acquired knowledge intoknowledge that already exists. Western scientists couldlearn so many important things from African scientistsand physicians. The lessons I have learned in Nigeria Icould not have learned anywhere else. There are examplesof how properly implemented ‘high-tech’ medicine doeswork in Africa. They usually involve close collaborationbetween those who made the scientific advance and thosewho implement health care every day on the continent.

Carl Gierstorfer: What else did you learn there youwould not have learned in Europe or the US?

Iruka Okeke: African history and literature are oftennot adequately taught in Western schools. But both serveas important cultural lessons that provide a setting forscientific practice. In Nigeria there are certain ways totalk to elders, for example, who are the custodians ofmuch wisdom, things I did not have to think about inEngland. It was great to partly grow up in Nigeria, makefriends there and be able to navigate the system, if youlike. I now know how to get around, how to talk topeople, how to ask questions.

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Carl Gierstorfer: Was this the reason why your parentsinsisted that you get your education in Nigeria?

Iruka Okeke: Not in the first place. My parents met inEngland and stayed on because of the chaos of the Bia-fran war in the late 1960s. They could not afford Englishpublic schools. So they sent me to the best school in Nige-ria. This was before the educational system started todegrade. The quality of education I got there was excel-lent and all of us students were very motivated. You see,in Nigeria if you get a university degree, you can be amiddle class citizen. If you don’t, you are likely to end upbeing extremely poor. So poor it can kill you. The decisi-on to do well in school is not a matter of ‘oh this is inter-esting.’ It is a matter of survival as well as a mandate tobuild one’s country.

Carl Gierstorfer: So we are speaking about a lot ofuntapped talent, a lot of untapped ambition?

Iruka Okeke: To give everyone everything is an impossi-ble dream for one person or even a group of people topursue. I realize that. But networking, making connecti-ons with African scientists, is a first and crucial step. Ialways use an analogy from a friend of mine, MarcelSalathé, who studies epidemics at Penn State University.He was interested in how an individual influenza epide-mic turns into a worldwide pandemic. He found thatwhat causes a pandemic to spread right around theworld is just a few individuals with many connections. It

is the same with science. If you want a pandemic ofscientific enquiry and activity, that touches everywherein the world, you need a few people who connect to thisand connect to that.

Carl Gierstorfer: You seem to be free of bitterness,despite all the obvious inequalities, the massive loss oflives as a result of this lack of cooperation between theWest and the Third World.

Iruka Okeke: I get angry sometimes. But pointing fin-gers and looking for whom to blame does not really solveproblems. I think that African countries themselves areas much to blame as Western ones. It is true that colonia-lism was horrible and is responsible for part of today’sproblems. But there are other things that have a local ori-gin. What we really need to do is say: “Ok, the problem ishere, how do we move beyond this?”

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Letter from Berlin

Nostalgia and Revolution Fellow 2010/2011

by Elias Khoury

It was in a small bar in Berlin; 10 p.m. Zeinep had invi-ted us to a special evening in Kufe, where we wereexpecting to listen to Kurdish music and melodies. Wedrank Turkish arak or raki, the taste of the anis gave us afeeling of nostalgia and the beautiful sad voices of thetwo women singing in Turkish, Zazaki and Kurmanchimade us feel as if we were journeying through thedistant mountains of Kurdistan.

The watery eyes of an old man sitting in a corner with his thickmoustaches along with the collective dance of Zeinep and someof her friends exerted a certain magic. I felt as if I were travelingthrough a very vague if not long forgotten memory.

This sleeping memory is the secret of literature. When Isit alone before the empty screen of my computer andtry this difficult exercise of writing, I know that I amwaiting for a kind of a sleeping memory to awaken inmy soul and give me those first lines that will conjuremy protagonists. This memory can be personal, butmost of the time it is not. It comes out of nowhere, andsuddenly, as if remembering a dream, I start to see it,and smell it.

In that small bar in the Turkish neighborhood of Ber-lin, listening to the music of the Bendir and the Itar andthe Saz, accompanied by the guitar, and watching two

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women facing each other and singing their homelandmelodies in German exile, the same type of sleepingmemories emerged and I felt as if I were reading storiesof pain and oppression from an open book.

This is not nostalgia, I said to myself – but I couldn’t findan alternative word to describe this feeling.

I have always hated nostalgia and believe that this feelingis melodrama par excellence, a combination of impotenceand bitterness that explains the human inability to adaptto the changes that time imposes on us.

After six months in Berlin, where I lived in an alien lin-guistic environment, I was given the opportunity to dis-cover what is beyond nostalgia. A situation in whichthousands of Turks and Kurds and Palestinians andSyrians and Lebanese have the feeling that they aretrapped and that their exile is not profoundly differentfrom the exile of their friends who were left behind.

I am not of course speaking of the huge Arab and Tur-kish communities in Germany or other European coun-tries – this is another problem related to the emergence ofidentity, with the failure of integration policies on the onehand and the feeling of the third generation of immi-grants that they no longer have any place to return to.

I am speaking of people like my new friends in Berlin,Palestinians and Lebanese, who fled Lebanon during the

civil war in the hope of being accepted as political refu-gees in Germany. I met Ahmad in a small Kreuzbergcafé, a Palestinian in his mid-fifties who left Beirut in1986, during the so-called “War of the Camps.”Ahmad’s family is originally from Saffouria, a smallvillage in northern Galilee that was destroyed in 1948and its inhabitants became refugees in Lebanon. He tellsme: “I always dreamed that I would leave the Shatilarefugee camp for Galilee, and look how I’ve now becomea double refugee. Now I dream of returning to Shatila,of returning to Palestine.”

“Then why don’t you go back to Lebanon”? I ask.

My naïve question receives no reply. I am sure that myPalestinian friend likes his new life here in Germany, buthe doesn’t dare to declare this feeling. He tells me that hedoesn’t know his real feelings toward this issue. “Insteadof going back, we have created a small Shatila in Berlin”,he says.

The story of Ahmad is a common one. And it is alsobanal. The banal part is this atmosphere of pessimismregarding the future of Palestine and the Arab world. Ihad thought that the Palestinian could only be a pess-optimist (to use the term coined by the great Palestini-an writer Emile Habiby) in his occupied country.There he can declare this double personality – whichincarnates one of the saddest tragedies of modernhistory.

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The extracurricular project I had in mind for my stay atthe Wissenschaftskolleg was to discover a new city andits secrets, but instead of traveling to Berlin, as it turnedout, I traveled to the Arab world. Ever since December2010 the only two items in the world media have beenthe Arabs and natural disasters. But contrary to what theArab dictators thought, despotism is not a natural phe-nomenon. The late Syrian dictator Hafez Assad believedthat he and his son would stay on their “thrones” forever,but the Arab peoples proved this notion to be obsoleteand meaningless.

2011 was the year of reconciliation between the Arabsand History. The revolutions reflected the aspirations ofa new generation, and they should be seen as a point ofdeparture.

One slogan traveled throughout the Arab World: “Thepeople want to topple the regime.” This slogan, generatedby the Tunisians, represented a turning point in Arabpolitical life. From the very beginning the revolutionsdeclared their ethical approach and their slogans repre-sented a struggle for human dignity. The people will nolonger accept humiliation; this is how the Syrians articula-

ted their aspirations in the midst of blood and oppression.One might also add that this slogan was formulated inclassical Arabic – a new element in the vocabulary ofpopular demonstrations. It reveals unity and diversity atthe same time. The idea of pan-Arabism can now beliberated from the prison of narrow-minded nationalismand redefine itself as a multicultural project.It was by traveling to Berlin that I ultimately traveled tothe Arab world and rediscovered my voice through thevoices of a new generation of Arabs who are reshapingtheir world through the aspiration for freedom, demo-cracy, social justice and dignity.

I think that the idea of traveling is always an attempt torediscover oneself in others.

Here I am at the end of my journey and discovering thatmy attachment to my country is not a nostalgic one butrather an engagement with the present – but I cannot beat all sure that going back to Beirut will not conjure thenostalgia hidden in my soul.

This place with its beauty and the discovery of newfriendships will stay with me.

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Bildnachweise

alle Fotos Maurice Weiss, Ostkreuz Agentur der Fotografen

ausser S. 3 Sabine Immken

Petra Gehring

Raghavendra Gadagkar

Fred Cooper

Birgit Meyer

Behrooz Ghamari-Tabrizi

Kamran Asdar Ali

Iruka Okeke

Elias Khoury

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Herausgeber Der Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin

Professor Dr. Luca Giuliani

Redaktion Katharina Wiedemann, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

Wissenschaftskolleg zu Berlin

Autoren Petra Gehring Professorin für Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt und Fellow

des Wissenschaftskollegs 2010/2011

Jürgen Kaube Ressortleiter für Geisteswissenschaften bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Ralf Grötker freier Journalist und Wissenschaftsautor für Wirtschaft uns Sozialforschung

Andrea Nüsse Redakteurin in der Außenpolitik des Tagesspiegels und von 2001 bis 2009

Korrespondentin des Tagesspiegels in der arabischen Welt

Carl Gierstorfer freier Wissenschaftsjournalist für TV und Printmedien

Elias Khoury Schriftsteller und Fellow des Wissenschaftskolleg 2010/2011

Bildredaktion Katharina Wiedemann

Graphik und Layout Juliane Heise / Reiner Will

Druck Druckerei Heenemann Berlin, Juni 2011

Impressum

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Im Wissenschaftskolleg zu Berlin haben international anerkannte Gelehrte,vielversprechende jüngere Wissenschaftler sowie Persönlichkeiten des gei-stigen Lebens die Möglichkeit, sich frei von Zwängen und Verpflichtungenfür ein Akademisches Jahr (Oktober-Juli) auf selbstgewählte Arbeitsvorha-ben zu konzentrieren. Die rund 40 Fellows bilden eine Lerngemeinschaft aufZeit, die durch Fächervielfalt, Internationalität und Interkulturalität gekenn-zeichnet ist. Die Institution sorgt für optimale Bedingungen, damit die Fel-lows sich ganz ihrer intellektuellen Aufgabe widmen und dabei von demAnregungs-und Kritikpotential einer herausragenden Gelehrtengemein-schaft profitieren können.

Die Zeiten, sie sind nicht so, dass in unseren Hohen Schulen ein gelehrter undkreativer Kopf sich in Kontinuität und Konzentration seiner forscherischenAufgabe hingeben kann. Und: Die Zeiten, sie sind nicht so, dass 'die Gesell-schaft' gleich welchen Landes und welcher Kultur, es sich leisten könnte, aufden Ertrag der kreativen Arbeit des gelehrten Kopfes zu verzichten.“

Peter Wapnewski Gründungsrektor 1982 - 1986

Das Wissenschaftskolleg ist ein Experiment im Verstehen, ein hermeneuti-sches Exerzitium, das ein ganzes Jahr lang währt.“

Wolf Lepenies Rektor 1986 - 2001

Das Wissenschaftskolleg gehört zu jenen - abnehmenden - Inseln des Nicht-Kommerziellen, von denen aus die Konsequenzen der vorherrschendentechnisch-ökonomischen Rationalität überhaupt noch unabhängig beob-achtet und beurteilt werden können.“

Dieter Grimm Rektor 2001 - 2007

Vielfalt ergibt sich nicht immer von allein: gelegentlich muss sie auchgesucht, gehegt und gefördert werden.“

Luca Giuliani Rektor seit 2007

wissenschaftskolleg zu berlin wallotstraße 19 14193 berlin germanytelefon +49 30 / 8 90 01-0 fax +49 30 / 8 90 [email protected] www.wiko-berlin.de