UNTERRICHT ZU HAUSE erwarten keine Müllhalde Davids langer...

1
Bern Mittwoch 16. Juli 2014 LITTERING Besucher des Open Airs Frauenfeld hinterliessen am letzten Wochenende 150 Tonnen Abfall. Beim Gurten- festival rechnet man nicht mit einer Müllhalde auf dem Zeltplatz. Zelte, Luftmatratzen, Camping- stühle, Schlafsäcke, Gummistie- fel und Lebensmittel türmen sich im Schlamm. Der «Blick» spricht nach dem Hip-Hop-Festival in Frauenfeld vom letzten Wochen- ende von einem «Schlachtfeld». Und in der «Thurgauer Zeitung» sagt eine Restesammlerin: «Das ist eine Schande.» Zu einer solchen Schande soll es am Gurtenfestival, das morgen startet, nicht kommen. Zwar sei auch auf dem Berner Hausberg die Tendenz gestiegen, dass Be- sucher des Zeltplatzes ihr Hab und Gut zurücklassen, sagt Festi- val-Sprecherin Valérie Loretan. Sie rechnet aber nicht mit einer Müllhalde nach dem Festival. «Das Litteringproblem war bei uns schon immer weniger gross als bei anderen Festivals.» Das hat verschiedene Gründe. «Bei der Sleepingzone sind wir viel re- striktiver als andere Open Airs», sagt Loretan. Erlaubt sind ledig- lich Doppel-Igluzelte. «Bei ande- ren Festivals nehmen die Besu- cher ganze Sofas und den halben Haushalt mit auf den Zeltplatz. Das ist bei uns verboten und auch wegen der Platzverhältnisse gar nicht möglich», sagt Loretan. «Die Sicherheitsleute weisen den Zeltplatz zu und kontrollieren entsprechend auch das Material der Besucher.» Ausserdem erhal- ten diese beim Eingang zur Slee- pingzone einen 35-Liter-Keh- richtsack. Bringen sie diesen am Schluss des Festivals gefüllt zu- rück, gibts ein Geschenk. Wetter als wichtiger Faktor «Der Gurten ist erstaunlich sau- ber», titelte diese Zeitung vor ei- nem Jahr am Tag nach dem vier- tägigen Festival. Tatsächlich: Bei einem Augenschein vor Ort ent- deckte man zwar vereinzelt ver- lassene Zelte und Abfall, im Ver- gleich zum Open Air in Frauen- feld herrschte aber kein Chaos. «Ein wichtiger Faktor ist das Wetter», betont Loretan. «Bei sehr schlechtem Wetter wie zu- letzt in Frauenfeld werden mehr Zelte und Abfall auf dem Gelände zurückgelassen. Bei schönem Wetter nehmen die Leute ihre Sa- chen eher wieder mit nach Hau- se.» Wie schon im letzten Jahr dürfte das Gurtenfestival auch heuer wieder Wetterglück haben. Die Prognosen laut Meteonews für Bern: «Von Donnerstag bis Samstag schönes Hochsommer- wetter. Meist wolkenlos, am Samstag ein paar hohe Wolken- felder.» Ausserdem steigen die Temperaturen kontinuierlich: «Am Donnerstag um 28 Grad, am Freitag rund 30 Grad, am Sams- tag 30 bis 32 Grad.» Erst am Sonntag ist mit ein paar Regen- tropfen zu rechnen. Gesellschaftliches Problem Aber nicht nur das Wetter spielt bei der Abfallmenge eine Rolle. «Littering ist ein gesellschaftli- ches Problem», sagt Valérie Lore- tan. Sie kritisiert, dass zum Bei- spiel Zelte sehr wenig kosten und die Verlockung dadurch gross sei, sie zurückzulassen. Gute Noten gibt es für das Gurtenfestival von der «IG Sau- bere Veranstaltung», einer Inte- ressengemeinschaft von Kanto- nen, Städten und Gemeinden, unterstützt vom Bundesamt für Umwelt. Das Berner Open Air wird als gutes Beispiel gelobt, ins- besondere, weil es seit Jahren auf Mehrweggeschirr und die soge- nannten Trash-Heroes setzt. Diese sind rund um die Uhr auf dem Gelände im Einsatz und sammeln Abfall ein. Markus Ehinger Gurten-Veranstalter erwarten keine Müllhalde MARKTSTÄNDE An den zahlreichen Marktstän- den zwischen Bacardi-Dome und Zeltbühne wird allerhand feil- geboten: Hüte, Sonnenbrillen und viele weitere Accessoires. In diesem Jahr kommen neue Marktstände hinzu. Die Festival- Veranstalter nennen sie «Boule- vard Partner», Firmen sollen eine Plattform dafür erhalten, neue Kontakte zu knüpfen. Mit einem Stand vertreten sind unter anderem die Outdoor- kleidermarke Mammut, der Landmaschinenhersteller John Deere oder die Buchhandlung Stauffacher. Das Gurtenfestival erweitert das Marktstandangebot. Mit dabei sind etwa John Deere, die Buchhandlung Stauffacher oder Kochoptik. Der Rückzug von grossen Sponsoren zwang die Festival- veranstalter, neue Wege zu ge- hen. Sie haben unter anderem Berner Unternehmen direkt für eine Partnerschaft angefragt. «Geschäft bekannt machen» Erstmals dabei ist heuer Koch- optik. «Der Auftritt am Festival ist eine Chance», sagt Maria Joss, Leiterin der Kochoptik-Filiale an der Kramgasse. «Wir wollen ein junges Publikum ansprechen mit ausgewählten Marken- sonnenbrillen.» Im Sortiment sind klingende Namen wie Rocco, Esprit oder die neonfarbigen Sonnenbrillen von Michael Kors. Auch Police, die Lieblingsmarke von Fussballstar Neymar, fehlt nicht. Die Brillen kosten zwi- schen 130 und 200 Franken. Al- Sonnenbrillen, Bücher und Traktoren am Gurten-Märit lerdings stehe nicht der Umsatz im Vordergrund: «Es geht eher darum, unser Geschäft bekannt zu machen.» Aus diesem Grund wird das Team von Maria Joss unter anderem Rabattgutscheine verteilen, die nach dem Festival bis Ende August in ihrer Filiale eingelöst werden können. Den Festivalauftritt lässt sich Koch- optik mehrere Tausend Franken kosten. Nicht mehr dabei am Gurten- festival ist der Berner Kultladen Fizzen. Geschäftsführer Adrian Masshardt beobachtet eine zu- nehmende Kommerzialisierung. «Sonnenbrillen und Sonnenhüte mit Sponsorenlogos werden zu- hauf gratis verteilt. Die klassi- schen Märitstände machen heute entsprechend fast keinen Um- satz mehr.» ehi YB AUF DEM GURTEN YB-Fans, die auch gerne das Gurtenfestival besuchen, kom- men regelmässig in ein Dilem- ma. Die Super-League-Saison startet nämlich jeweils pünktlich am «Güsche»-Wochenende. Bei einem Heimspiel lässt sich ein Spiel der Young Boys einfach mit dem Festival kombinieren. Am Samstag startet YB aber auswärts beim FC St.Gallen in die Meister- schaft. YB oder Gurten? Das Res- taurant Tapis Rouge zeigt das Spiel wie schon im letzten Jahr live auf mehreren Grossbild- schirmen. In diesem Jahr wird der Match auch im neuen Pavil- lon direkt bei der Gurten-Berg- station übertragen. Hier allen- falls sogar auf einer Grosslein- wand. Anpfiff ist um 20 Uhr. ehi Littering: Das gab es 2012 auch auf dem Gurten, aber nicht in dem Ausmass wie etwa in Frauenfeld. Urs Baumann Für David ist die Schule eine Qual. In der 7. Klasse sagt ihm der Schulleiter, er werde nie eine dreijährige Berufslehre schaffen. Ab der 8. lernt er zu Hause in der Stube. Wie aus der Verzweiflung eine Erfolgsgeschichte wuchs. Davids langer Weg zum grossen Tag UNTERRICHT ZU HAUSE Ein Mitschüler in Anzug und Krawatte drängelt sich durch die Menschen, die aus dem Saal strö- men. «Hey, gratuliere.» Hand- schlag, Schulterklopfen. David Widmer erwidert die Gratula- tion, doch er will raus aus der Menge. Mutter Franziska eilt ihm hinterher, will ihn umarmen. David neigt kurz den Kopf an ihre Schulter, drückt Vater Christoph, dann will er zum Buffet. Fleisch- käse und Kartoffelsalat, Bier und Weisswein. Nicht dass er Hunger hätte, aber man habe ja dafür be- zahlt, sagt David und schenkt sich Wein in einen Plastikbecher. Glä- ser gibt es keine, angestossen wird trotzdem. David, 19 Jahre alt, ist seit einer Viertelstunde Landschaftsgärtner mit eidge- nössischem Fähigkeitszeugnis – dank des Unterrichts zu Hause, wie er sagt. Fünf Jahre ist es her, seit Wid- mers bei der Erziehungsberatung sassen, David sich Bilder und Buchstabenreihen zu merken versuchte. C8 3L X7 – wie ein zappelnder Fisch entglitten ihm die Ziffern, der Experte attestierte ihm eine eingeschränkte Merkfä- higkeit. Fünf Jahre ist es auch her seit jener Standortbestimmung, als Christoph Widmer den Schul- leiter fragte, ob sein Sohn je eine dreijährige Berufslehre schaffen werde. Zwei Jahre hinkte David zu diesem Zeitpunkt hinter dem Schulstoff her. Die Antwort des Schulleiters: «Nein.» «Catalpa bignonioides» Fototermin im Lehrgarten der Gewerblich Industriellen Berufs- fachschule GIB Thun. «Hier ha- ben wir Pflanzennamen gelernt für die Abschlussprüfung», er- klärt David. In einer halben Stun- de beginnt die Diplomfeier. Mut- ter Franziska ordnet ihr Haar, fo- tografiert zu werden, ist ihr nicht ganz geheuer. «Schau, dass man dein Loch im Schuh nicht sieht», mahnt sie David und lächelt. Doch der ist fürs Foto schon auf den nächsten Baum geklettert. «Das ist ein Catalpa bignonioi- des, ein Trompetenbaum», ruft er zwischen den Blättern hervor. Heute präsentiert sich David, posiert stolz für den Fotografen. Damals hat er sich versteckt. Ver- steckt hinter dem Kaninchenstall auf dem Balkon. Die Lücke zwi- schen dem Geländer und dem Stall war klein. David, damals acht Jahre alt, machte sich noch kleiner. Der Boden war kalt im Frühjahr 2003, aber er hatte ja sein Kissen. Er versteckte sich vor der Schule, vor den Büchern, die er nicht lesen wollte, den Re- chenaufgaben, die er nicht lösen konnte. Doch die Mutter fand ihn. Wie jedes Mal. Zu Hause war David glücklich. Im botanischen Garten sammel- te er Beeren vom Boden auf, steckte die Samen in Säckchen mit feuchter Erde und hängte sie an das Heizungsrohr im Bad. Bis zu 200 Jungpflanzen zog er, dicht an dicht, das Rohr war kaum noch zu sehen. Er hatte Kaninchen und Hamster und einen sehnli- chen Wunsch: Zebrawelse, eine vom Aussterben bedrohte Fisch- art, nur im Rio Xingú in Brasilien gibt es sie. «Die Schule aber», sagt er, «war für mich wie ein Ein- schub ins Leben. Stunden, in de- nen ich vor mich hin vegetierte.» Nichts mehr zu verlieren In einer Reihe sitzen sie, David, Christoph, Lehrmeister Daniel Mosimann, Franziska. Sänger Christian Tschanz eröffnet mit ei- nem Chanson. «Tu es mon meilleur ami», singt er. Doch Davids bester Freund, sein jüngerer Bruder Lu- kas, fehlt, und auch Josha, der Klei- ne, ist nicht da. «Schade», sagt Mut- ter Franziska, «aber auf der Einla- dung stand ‹zwei Personen›». 94 junge Gärtnerinnen und Gärtner erhalten heute ihr Zeug- nis, zum ersten Mal werden auch Attestzeugnisse für eine zweijäh- rige Ausbildung verliehen. David aber wird den eidgenössischen Fähigkeitsausweis erhalten. Schon lange hatte Franziska den Gedanken im Hinterkopf ge- wälzt, ihren ältesten Sohn aus der Schule zu nehmen und zu Hause zu unterrichten. Zugetraut hatte sie es sich nicht. Sie hatte einst Nachhilfeunterricht gegeben, ja, aber sie war keine Lehrerin. Nach der Schule hatte sie Kauffrau ge- lernt, jetzt sorgte sie für Haushalt und Kinder, ihr Mann arbeitete als Pfleger. Doch was hatten sie noch zu verlieren nach dem Ge- spräch mit dem Schulleiter? Beim Geburtstagsessen von Oma Sonia erzählte sie von ihrer Vi- In der Natur fühlt er sich wohl, in der Schule nicht: David Widmer klettert für den Fotografen auf einen Trompetenbaum. Bilder Christian Pfander sion vom Homeschooling. Im Nachhinein, sagt Franziska, war es die Reaktion von Opa Ruedi, die sie bestärkte. Nicht Zweifel brachte er vor, sondern Pläne. Dieses und jenes gelte es zu be- denken, da und dort Infos einzu- holen. Opa hatte ein Projekt. Drei Schüler, vier Lehrer Noch einmal gibt es Musik, der Sänger wechselt auf Bern- deutsch. Lehrmeister Daniel Mo- simann klopft im Takt, David sitzt ganz ruhig, fast andächtig da, hört zu. «E Träne louft dir über d Backe ab, du fragsch mi, ob du würklech muesch ga.» Vater Christoph flüstert David etwas ins Ohr und lacht, David aber lauscht still dem Sänger. «U i war- te uf di, allei dehei, wünsche es würd scho zwöufi schlah, dr erscht Schueutag, dä vergisseni nie.» Franziska wischt sich ver- stohlen über die Augen. Achtes Schuljahr, Unterricht am Stubentisch, Unterdorf, Münsingen. Am Mittwoch unter- richtete Oma Französisch, am Donnerstag Opa Natur, Mensch und Mitwelt. Englisch, Deutsch und Mathematik lernte David bei Mutter Franziska, Werken im Bastelraum bei Vater Christoph. Gott habe ihr Kraft und Mut ge- geben, sagt Franziska. Nach einem Jahr nahmen sie auch Lu- kas und Josha aus der Schule. Drei Schüler Widmer, vier Lehrer Widmer. Sie massen Radumfän- ge, büffelten Rechtschreibung. Josha las der Katze vor, Lukas baute einen Pfeilbogen, schoss Pfeile 120 Meter weit. David ent- warf einen automatischen Trian- gel, betrieben mit Solarenergie. Er las nun Buch um Buch über die Zebrawelse, verschenkte selbst gezogene Pflanzen zu Weihnach- ten. Auf die Bühne und lächeln Es sind alle verdankt, die verdankt werden müssen, das Publikum ist begrüsst, die Statistik vorgestellt. Nun ist er da, der Moment der Diplomübergabe. Die Besten wer- den geehrt, für herausragende Leistungen gibts Hüte, Sonnen- creme und Pflanzenbestim- mungsbücher. David applaudiert. Genau eine Bewerbung hat er schliesslich geschrieben, Daniel Mosimann, naturnaher Garten- bau, Münsingen. Er hatte dort ge- schnuppert. Ein paar Tage später kam der Anruf. Er hatte die Stelle. Nach den Ehrungen gehts al- phabetisch weiter. Jeder Abgän- ger, jede Abgängerin erhält ein Sackmesser. Bei den Buchstaben A bis I fällt ein Stapel Sackmesser hinunter. J bis L, weitere Cou- verts, Gratulationen. Eltern mit Kameras und Smartphones doku- mentieren den Moment. 2011, Gewerbeschule. Im ers- ten Test schrieb David eine 6. Zum 18. Geburtstag erhielt er ein Aquarium und sieben Zebrawel- se, endlich. Vertiefungsarbeit, Facharbeit, Abschlussprüfung. Am 19. Juni 2014 meldete die Schule: Bestanden! Bei M bis Z zückt auch Vater Christoph seine Kamera, eine Nikon D200. Normalerweise foto- grafiert er damit Lokomotiven, heute seinen ältesten Sohn. David geht die Treppe runter und rauf auf die Bühne. Händedruck, Gratula- tion, ein Lächeln für den Fotogra- fen – schon ist der Moment vor- über. Zurück am Platz untersucht David sein Fähigkeitszeugnis, dreht es in den Händen, fotogra- fiert es. Nun hat er keine Zeit mehr, den anderen zu applaudieren. Der kleine rote Ausweis geht durch die Bankreihe, noch ungefaltet, frisch gedruckt und makellos, von David zu Vater, Lehrmeister und Mutter. «Widmer David Silas», steht da, «hat das Qualifikationsverfahren bestanden als Gärtner, Garten- und Landschaftsbau.» «Wow», flüstert Franziska, «wow.» Dominik Galliker, Edith Krähenbühl Die drei Schüler Widmer: David (v.l.), Josha und Lukas beim Lernen in der ehemaligen Wichtracher Kiesgrube. zvg Gewächshaus Badezimmer. zvg Endlich: David Widmer erhält an der Abschlussfeier sein Fähigkeitszeugnis als Landschaftsgärtner. Christoph und Franziska Widmer schenken ihrem Sohn einen Helikopterflug. Rund 500 Kinder werden in der Schweiz zu Hause unterrich- tet. 241 davon im Kanton Bern. In den USA ist Homeschooling be- liebt, in Deutschland verboten. Es kam schon vor, dass Kinder mit Polizeigewalt in die Schule ge- bracht wurden. Die Schweiz steht in der Mitte – die Kantone sind sich aber nicht einig. Die West- schweiz zeigt sich liberal. Eltern, die ihr Kind zu Hause unterrich- ten wollen, müssen ihre Stunden- pläne vorlegen – that’s it. In der Deutschschweiz sind die Regeln zum Teil streng, etwa in Ob- und Nidwalden. Vielerorts kann man sein Kind nur zu Hause unterrich- ten, wenn man eine Lehrerausbil- dung hat (Zürich, Luzern, Zug). Bern fordert keine solche Aus- bildung, genau wie Appenzell Ausserrhoden und Aargau. Die Familien brauchen aber eine Be- willigung und müssen mit einer Lehrperson zusammenarbeiten. Sie werden jährlich vom Schul- inspektorat kontrolliert. Geprüft werden unter anderem Lehrmit- tel, Stundenpläne, Selbst- und Sozialkompetenz des Kindes. Viel Kritik Der Kanton zieht Homeschooler an. Laut dem Verein «Bildung zu Hause» werden in der Schweiz rund 500 Schüler zu Hause unter- richtet. Davon wohnen 241 in Bern. Andernorts gibt es viel Kritik: «Die Sozialkompetenz leidet.» «Den Eltern fehlt das Wissen.» «Kindern aus religiösen Familien tut auch eine andere Sicht gut.» Spricht man Homeschooler auf solche Punkte an, reagieren sie oft genervt. «Wir sperren unsere Kin- der doch nicht in den Keller», heisst es etwa. Das seien Vorurtei- le, modelliert aus negativen Ein- zelfällen. Solche gebe es. Dafür dürfe man aber nicht allen die Freiheit nehmen. Die Erfahrungen in Bern sind positiv: «Wir müssen höchst sel- ten jemandem die Bewilligung Die Hälfte der Schweizer Homeschooler wohnt in Bern entziehen», sagt Susanne Müller, Leiterin der kantonalen Schul- aufsicht. Grund kann etwa sein, dass der Unterricht ungenügend ist oder die Leistungen nicht stimmen. «Es gibt höchstens alle zwei Jahre einen solchen Fall.» Allerdings ist auch bei Müller Skepsis zu spüren. Zu denken gibt ihr, wenn Homeschool-Kin- der nur Kontakte pflegen, hinter denen eigentlich die Eltern ste- hen, wie ein ständiges Auffang- netz. «Das sind andere Situatio- nen als in der Schule, wo Kinder lernen müssen, mit anderen zusammenzuarbeiten.» Darum fragten die Schulinspektoren bei den Kontrollen oft, mit wem ein Kind seine Freizeit verbringt. «Wir empfahlen Eltern auch schon, ihr Kind in einen Sport- klub oder ein Orchester zu schi- cken, damit es Freundschaften knüpfen kann.» dog Verein Bildung zu Hause Schweiz www.bildungzuhause.ch LERNEN OHNE STRUKTUREN Es scheint, als könnten Bens Hände nicht ruhen. Sie gestiku- lieren, kratzen am Ohr, trom- meln auf der Tischplatte. «Er ist heute besonders hibbelig», sagt seine Mutter. Vermutlich liegt es am Besucher. Dem Besucher, der in der Zeitung schreiben will, was das heisst, ein Freilerner zu Klassische Homeschooler lernen nach ähnlichen Strukturen wie in der Schule. Freilerner nicht. Ein Besuch. Keine Prüfungen, kein Stundenplan, kein Lehrer sein. Wie er das macht, zu Hause lernen, ohne Lehrer, geleitet von seinen Interessen. Ben heisst in Wirklichkeit nicht Ben. Die Familie will an- onym bleiben. Wer mit den Nor- men bricht, muss sich immer wieder rechtfertigen. Sie schei- nen es leid zu sein. In ihrem Dorf am Thunersee exponieren sie sich schon genug. Ben hat einen Trick. Er wisse ja nicht einmal, was 72 mal 13 gebe, stichelte einmal ein Mäd- chen. Darum hat Ben gelernt, was die Wurzel von 16 ist. Ein unschlagbarer Konter. Die Mut- ter lacht. Täglich Tränen Ben ist 9 Jahre alt. Seit andert- halb Jahren lernt er zu Hause. In der Schule ging es ihm nicht gut. Er war eher langsam, kam mit dem Druck nicht zurecht. «Fast jeden Tag habe ich geheult», erzählt er. Seine Mutter sagt: «Es war eine Erleichterung, als wir ihn aus der Schule nahmen.» Seit- her gibt es bei Ben keine Prüfun- gen mehr, genauso wenig einen Stundenplan oder eine Lehrerin. Seine Mutter sieht sich als «un- terstützende Erwachsene». Sie beantwortet seine Fragen, zeigt ihm, wie eine Mehlexplosion funktioniert, fährt mit ihm ins Dino-Museum. Das ist der Ge- danke des Freilernens: Was auch immer das Kind interessiert – zu diesem Thema soll es lernen. Denn das bleibt hängen. Nur in Mathe, Deutsch und Französisch braucht es eine Struktur. Ben muss den Lehrplan einhalten, die Regeln lassen kon- sequentes Freilernen nicht zu. Jeden Morgen steigt Ben aufs Trampolin. Seine Mutter wirft ihm einen Ball zu und mit ihm eine Rechenaufgabe. «2 mal 2?» «4.» «3 mal 3?» «9.» «Wurzel von 16?» «4.» «Oft arbeite ich mit seiner Mo- torik», sagt die Mutter. «Das ist, was ihm entspricht.» Eine Mut- ter lerne schnell, wie ihr Kind lernt. Ben hat aufgeholt, die Behörden sind zufrieden. Ob- wohl er nur gut zwei Stunden pro Tag strukturiert lernt, wie die Mutter sagt. Ben lernt rechnen, lernt lesen und schreiben. Eines aber lernt er nicht: mit Druck umzugehen. Dessen sind sich die Eltern be- wusst. «Irgendwann muss er das lernen», sagt seine Mutter. Aber nicht jetzt. Jetzt soll Ben Kind sein. dog 3 ANZEIGE

Transcript of UNTERRICHT ZU HAUSE erwarten keine Müllhalde Davids langer...

Page 1: UNTERRICHT ZU HAUSE erwarten keine Müllhalde Davids langer ...s75f21ec71f40e63c.jimcontent.com/download/version... · wegen der Platzverhältnisse gar nicht möglich», sagt Loretan.

BernMittwoch16. Juli 2014

LITTERING Besucher des OpenAirs Frauenfeld hinterliessenam letzten Wochenende 150Tonnen Abfall. Beim Gurten-festival rechnet man nichtmit einer Müllhalde auf demZeltplatz.

Zelte, Luftmatratzen, Camping-stühle, Schlafsäcke, Gummistie-fel und Lebensmittel türmen sichim Schlamm. Der «Blick» sprichtnach dem Hip-Hop-Festival inFrauenfeld vom letzten Wochen-ende von einem «Schlachtfeld».Und in der «Thurgauer Zeitung»sagt eine Restesammlerin: «Dasist eine Schande.»

Zu einer solchen Schande solles am Gurtenfestival, das morgenstartet, nicht kommen. Zwar seiauch auf dem Berner Hausbergdie Tendenz gestiegen, dass Be-sucher des Zeltplatzes ihr Habund Gut zurücklassen, sagt Festi-val-Sprecherin Valérie Loretan.Sie rechnet aber nicht mit einerMüllhalde nach dem Festival.«Das Litteringproblem war beiuns schon immer weniger grossals bei anderen Festivals.» Dashat verschiedene Gründe. «Beider Sleepingzone sind wir viel re-striktiver als andere Open Airs»,sagt Loretan. Erlaubt sind ledig-lich Doppel-Igluzelte. «Bei ande-ren Festivals nehmen die Besu-cher ganze Sofas und den halbenHaushalt mit auf den Zeltplatz.Das ist bei uns verboten und auchwegen der Platzverhältnisse garnicht möglich», sagt Loretan.«Die Sicherheitsleute weisen denZeltplatz zu und kontrollierenentsprechend auch das Material

der Besucher.» Ausserdem erhal-ten diese beim Eingang zur Slee-pingzone einen 35-Liter-Keh-richtsack. Bringen sie diesen amSchluss des Festivals gefüllt zu-rück, gibts ein Geschenk.

Wetter als wichtiger Faktor«Der Gurten ist erstaunlich sau-ber», titelte diese Zeitung vor ei-nem Jahr am Tag nach dem vier-tägigen Festival. Tatsächlich: Beieinem Augenschein vor Ort ent-deckte man zwar vereinzelt ver-lassene Zelte und Abfall, im Ver-gleich zum Open Air in Frauen-feld herrschte aber kein Chaos.«Ein wichtiger Faktor ist dasWetter», betont Loretan. «Beisehr schlechtem Wetter wie zu-letzt in Frauenfeld werden mehrZelte und Abfall auf dem Geländezurückgelassen. Bei schönemWetter nehmen die Leute ihre Sa-chen eher wieder mit nach Hau-se.» Wie schon im letzten Jahrdürfte das Gurtenfestival auchheuer wieder Wetterglück haben.Die Prognosen laut Meteonewsfür Bern: «Von Donnerstag bisSamstag schönes Hochsommer-wetter. Meist wolkenlos, amSamstag ein paar hohe Wolken-felder.» Ausserdem steigen dieTemperaturen kontinuierlich:«Am Donnerstag um 28 Grad, amFreitag rund 30 Grad, am Sams-tag 30 bis 32 Grad.» Erst amSonntag ist mit ein paar Regen-tropfen zu rechnen.

Gesellschaftliches ProblemAber nicht nur das Wetter spieltbei der Abfallmenge eine Rolle.«Littering ist ein gesellschaftli-

ches Problem», sagt Valérie Lore-tan. Sie kritisiert, dass zum Bei-spiel Zelte sehr wenig kosten unddie Verlockung dadurch gross sei,sie zurückzulassen.

Gute Noten gibt es für dasGurtenfestival von der «IG Sau-bere Veranstaltung», einer Inte-ressengemeinschaft von Kanto-nen, Städten und Gemeinden,unterstützt vom Bundesamt fürUmwelt. Das Berner Open Airwird als gutes Beispiel gelobt, ins-besondere, weil es seit Jahren aufMehrweggeschirr und die soge-nannten Trash-Heroes setzt.Diese sind rund um die Uhr aufdem Gelände im Einsatz undsammeln Abfall ein.

Markus Ehinger

Gurten-Veranstaltererwarten keine Müllhalde

MARKTSTÄNDE

An den zahlreichen Marktstän-den zwischen Bacardi-Dome undZeltbühne wird allerhand feil-geboten: Hüte, Sonnenbrillenund viele weitere Accessoires.In diesem Jahr kommen neueMarktstände hinzu. Die Festival-Veranstalter nennen sie «Boule-vard Partner», Firmen solleneine Plattform dafür erhalten,neue Kontakte zu knüpfen.Mit einem Stand vertreten sindunter anderem die Outdoor-kleidermarke Mammut, derLandmaschinenhersteller JohnDeere oder die BuchhandlungStauffacher.

Das Gurtenfestival erweitertdas Marktstandangebot. Mitdabei sind etwa John Deere,die Buchhandlung Stauffacheroder Kochoptik.

Der Rückzug von grossenSponsoren zwang die Festival-veranstalter, neue Wege zu ge-hen. Sie haben unter anderemBerner Unternehmen direkt füreine Partnerschaft angefragt.

«Geschäft bekannt machen»Erstmals dabei ist heuer Koch-optik. «Der Auftritt am Festivalist eine Chance», sagt Maria Joss,Leiterin der Kochoptik-Filialean der Kramgasse. «Wir wollenein junges Publikum ansprechenmit ausgewählten Marken-sonnenbrillen.» Im Sortimentsind klingende Namen wie Rocco,Esprit oder die neonfarbigenSonnenbrillen von Michael Kors.Auch Police, die Lieblingsmarkevon Fussballstar Neymar, fehltnicht. Die Brillen kosten zwi-schen 130 und 200 Franken. Al-

Sonnenbrillen, Bücher und Traktoren am Gurten-Märitlerdings stehe nicht der Umsatzim Vordergrund: «Es geht eherdarum, unser Geschäft bekanntzu machen.» Aus diesem Grundwird das Team von Maria Jossunter anderem Rabattgutscheineverteilen, die nach dem Festivalbis Ende August in ihrer Filialeeingelöst werden können. DenFestivalauftritt lässt sich Koch-optik mehrere Tausend Frankenkosten.

Nicht mehr dabei am Gurten-festival ist der Berner KultladenFizzen. Geschäftsführer AdrianMasshardt beobachtet eine zu-nehmende Kommerzialisierung.«Sonnenbrillen und Sonnenhütemit Sponsorenlogos werden zu-hauf gratis verteilt. Die klassi-schen Märitstände machen heuteentsprechend fast keinen Um-satz mehr.» ehi

YB AUF DEM GURTEN

YB-Fans, die auch gerne dasGurtenfestival besuchen, kom-men regelmässig in ein Dilem-ma. Die Super-League-Saisonstartet nämlich jeweils pünktlicham «Güsche»-Wochenende. Beieinem Heimspiel lässt sich einSpiel der Young Boys einfach mitdem Festival kombinieren. AmSamstag startet YB aber auswärtsbeim FC St.Gallen in die Meister-schaft. YB oder Gurten? Das Res-taurant Tapis Rouge zeigt dasSpiel wie schon im letzten Jahrlive auf mehreren Grossbild-schirmen. In diesem Jahr wirdder Match auch im neuen Pavil-lon direkt bei der Gurten-Berg-station übertragen. Hier allen-falls sogar auf einer Grosslein-wand. Anpfiff ist um 20 Uhr. ehi

Littering: Das gab es 2012 auch auf dem Gurten, aber nicht in dem Ausmass wie etwa in Frauenfeld. Urs Baumann

Für David ist die Schule eineQual. In der 7.Klasse sagt ihmder Schulleiter, er werde nieeine dreijährige Berufslehreschaffen. Ab der 8. lernt er zuHause in der Stube. Wie ausder Verzweiflung eineErfolgsgeschichte wuchs.

Davids langer Weg zum grossen TagUNTERRICHT ZU HAUSE

Ein Mitschüler in Anzug undKrawatte drängelt sich durch dieMenschen, die aus dem Saal strö-men. «Hey, gratuliere.» Hand-schlag, Schulterklopfen. DavidWidmer erwidert die Gratula-tion, doch er will raus aus derMenge. Mutter Franziska eiltihm hinterher, will ihn umarmen.David neigt kurz den Kopf an ihreSchulter, drückt Vater Christoph,dann will er zum Buffet. Fleisch-käse und Kartoffelsalat, Bier undWeisswein. Nicht dass er Hunger

hätte, aber man habe ja dafür be-zahlt, sagt David und schenkt sichWein in einen Plastikbecher. Glä-ser gibt es keine, angestossenwird trotzdem. David, 19 Jahrealt, ist seit einer ViertelstundeLandschaftsgärtner mit eidge-nössischem Fähigkeitszeugnis –dank des Unterrichts zu Hause,wie er sagt.

Fünf Jahre ist es her, seit Wid-mers bei der Erziehungsberatungsassen, David sich Bilder undBuchstabenreihen zu merkenversuchte. C8 3L X7 – wie einzappelnder Fisch entglitten ihmdie Ziffern, der Experte attestierteihm eine eingeschränkte Merkfä-higkeit. Fünf Jahre ist es auch herseit jener Standortbestimmung,als Christoph Widmer den Schul-leiter fragte, ob sein Sohn je einedreijährige Berufslehre schaffen

werde. Zwei Jahre hinkte Davidzu diesem Zeitpunkt hinter demSchulstoff her. Die Antwort desSchulleiters: «Nein.»

«Catalpa bignonioides»Fototermin im Lehrgarten derGewerblich Industriellen Berufs-fachschule GIB Thun. «Hier ha-ben wir Pflanzennamen gelerntfür die Abschlussprüfung», er-klärt David. In einer halben Stun-de beginnt die Diplomfeier. Mut-ter Franziska ordnet ihr Haar, fo-tografiert zu werden, ist ihr nichtganz geheuer. «Schau, dass mandein Loch im Schuh nicht sieht»,mahnt sie David und lächelt.Doch der ist fürs Foto schon aufden nächsten Baum geklettert.«Das ist ein Catalpa bignonioi-des, ein Trompetenbaum», rufter zwischen den Blättern hervor.

Heute präsentiert sich David,posiert stolz für den Fotografen.Damals hat er sich versteckt. Ver-steckt hinter dem Kaninchenstallauf dem Balkon. Die Lücke zwi-schen dem Geländer und demStall war klein. David, damalsacht Jahre alt, machte sich nochkleiner. Der Boden war kalt imFrühjahr 2003, aber er hatte jasein Kissen. Er versteckte sichvor der Schule, vor den Büchern,die er nicht lesen wollte, den Re-chenaufgaben, die er nicht lösenkonnte. Doch die Mutter fandihn. Wie jedes Mal.

Zu Hause war David glücklich.Im botanischen Garten sammel-te er Beeren vom Boden auf,steckte die Samen in Säckchenmit feuchter Erde und hängte siean das Heizungsrohr im Bad. Biszu 200 Jungpflanzen zog er, dicht

an dicht, das Rohr war kaum nochzu sehen. Er hatte Kaninchenund Hamster und einen sehnli-chen Wunsch: Zebrawelse, einevom Aussterben bedrohte Fisch-art, nur im Rio Xingú in Brasiliengibt es sie. «Die Schule aber», sagter, «war für mich wie ein Ein-schub ins Leben. Stunden, in de-nen ich vor mich hin vegetierte.»

Nichts mehr zu verlierenIn einer Reihe sitzen sie, David,Christoph, Lehrmeister DanielMosimann, Franziska. SängerChristian Tschanz eröffnet mit ei-nem Chanson. «Tu es mon meilleurami», singt er. Doch Davids besterFreund, sein jüngerer Bruder Lu-kas, fehlt, und auch Josha, der Klei-ne, ist nicht da. «Schade», sagt Mut-ter Franziska, «aber auf der Einla-dung stand ‹zwei Personen›».

94 junge Gärtnerinnen undGärtner erhalten heute ihr Zeug-nis, zum ersten Mal werden auchAttestzeugnisse für eine zweijäh-rige Ausbildung verliehen. Davidaber wird den eidgenössischenFähigkeitsausweis erhalten.

Schon lange hatte Franziskaden Gedanken im Hinterkopf ge-wälzt, ihren ältesten Sohn aus derSchule zu nehmen und zu Hausezu unterrichten. Zugetraut hattesie es sich nicht. Sie hatte einstNachhilfeunterricht gegeben, ja,aber sie war keine Lehrerin. Nachder Schule hatte sie Kauffrau ge-lernt, jetzt sorgte sie für Haushaltund Kinder, ihr Mann arbeiteteals Pfleger. Doch was hatten sienoch zu verlieren nach dem Ge-spräch mit dem Schulleiter?Beim Geburtstagsessen von OmaSonia erzählte sie von ihrer Vi-

In der Natur fühlt er sich wohl, in der Schule nicht: David Widmer klettert für den Fotografen auf einen Trompetenbaum. Bilder Christian Pfander

sion vom Homeschooling. ImNachhinein, sagt Franziska, wares die Reaktion von Opa Ruedi,die sie bestärkte. Nicht Zweifelbrachte er vor, sondern Pläne.Dieses und jenes gelte es zu be-denken, da und dort Infos einzu-holen. Opa hatte ein Projekt.

Drei Schüler, vier LehrerNoch einmal gibt es Musik, derSänger wechselt auf Bern-deutsch. Lehrmeister Daniel Mo-simann klopft im Takt, Davidsitzt ganz ruhig, fast andächtigda, hört zu. «E Träne louft dirüber d Backe ab, du fragsch mi, obdu würklech muesch ga.» VaterChristoph flüstert David etwasins Ohr und lacht, David aberlauscht still dem Sänger. «U i war-te uf di, allei dehei, wünsche eswürd scho zwöufi schlah, dr

erscht Schueutag, dä vergisseninie.» Franziska wischt sich ver-stohlen über die Augen.

Achtes Schuljahr, Unterrichtam Stubentisch, Unterdorf,Münsingen. Am Mittwoch unter-richtete Oma Französisch, amDonnerstag Opa Natur, Menschund Mitwelt. Englisch, Deutschund Mathematik lernte David beiMutter Franziska, Werken imBastelraum bei Vater Christoph.Gott habe ihr Kraft und Mut ge-geben, sagt Franziska. Nacheinem Jahr nahmen sie auch Lu-kas und Josha aus der Schule.Drei Schüler Widmer, vier LehrerWidmer. Sie massen Radumfän-ge, büffelten Rechtschreibung.Josha las der Katze vor, Lukasbaute einen Pfeilbogen, schossPfeile 120 Meter weit. David ent-warf einen automatischen Trian-

gel, betrieben mit Solarenergie.Er las nun Buch um Buch über dieZebrawelse, verschenkte selbstgezogene Pflanzen zu Weihnach-ten.

Auf die Bühne und lächelnEs sind alle verdankt, die verdanktwerden müssen, das Publikum istbegrüsst, die Statistik vorgestellt.Nun ist er da, der Moment derDiplomübergabe. Die Besten wer-den geehrt, für herausragendeLeistungen gibts Hüte, Sonnen-creme und Pflanzenbestim-mungsbücher. David applaudiert.

Genau eine Bewerbung hat erschliesslich geschrieben, DanielMosimann, naturnaher Garten-bau, Münsingen. Er hatte dort ge-schnuppert. Ein paar Tage späterkam der Anruf. Er hatte die Stelle.

Nach den Ehrungen gehts al-phabetisch weiter. Jeder Abgän-ger, jede Abgängerin erhält einSackmesser. Bei den BuchstabenA bis I fällt ein Stapel Sackmesserhinunter. J bis L, weitere Cou-verts, Gratulationen. Eltern mitKameras und Smartphones doku-mentieren den Moment.

2011, Gewerbeschule. Im ers-ten Test schrieb David eine 6.Zum 18. Geburtstag erhielt er einAquarium und sieben Zebrawel-se, endlich. Vertiefungsarbeit,Facharbeit, Abschlussprüfung.Am 19. Juni 2014 meldete dieSchule: Bestanden!

Bei M bis Z zückt auch VaterChristoph seine Kamera, eineNikon D200. Normalerweise foto-grafiert er damit Lokomotiven,heute seinen ältesten Sohn. Davidgeht die Treppe runter und rauf aufdie Bühne. Händedruck, Gratula-tion, ein Lächeln für den Fotogra-fen – schon ist der Moment vor-über. Zurück am Platz untersuchtDavid sein Fähigkeitszeugnis,dreht es in den Händen, fotogra-fiert es. Nun hat er keine Zeit mehr,den anderen zu applaudieren. Derkleine rote Ausweis geht durch dieBankreihe, noch ungefaltet, frischgedruckt und makellos, von Davidzu Vater, Lehrmeister und Mutter.«Widmer David Silas», steht da,«hat das Qualifikationsverfahrenbestanden als Gärtner, Garten-und Landschaftsbau.» «Wow»,flüstert Franziska, «wow.»

Dominik Galliker,Edith Krähenbühl

Die drei Schüler Widmer: David (v.l.), Josha und Lukasbeim Lernen in der ehemaligen Wichtracher Kiesgrube. zvg

Gewächshaus Badezimmer. zvg

Endlich: David Widmer erhält an der Abschlussfeier seinFähigkeitszeugnis als Landschaftsgärtner.

Christoph und Franziska Widmer schenken ihrem Sohn einen Helikopterflug.

Rund 500 Kinder werden in derSchweiz zu Hause unterrich-tet. 241 davon im Kanton Bern.

In den USA ist Homeschooling be-liebt, in Deutschland verboten. Eskam schon vor, dass Kinder mitPolizeigewalt in die Schule ge-bracht wurden. Die Schweiz stehtin der Mitte – die Kantone sindsich aber nicht einig. Die West-schweiz zeigt sich liberal. Eltern,die ihr Kind zu Hause unterrich-ten wollen, müssen ihre Stunden-pläne vorlegen – that’s it. In derDeutschschweiz sind die Regelnzum Teil streng, etwa in Ob- undNidwalden. Vielerorts kann mansein Kind nur zu Hause unterrich-ten, wenn man eine Lehrerausbil-dung hat (Zürich, Luzern, Zug).

Bern fordert keine solche Aus-bildung, genau wie AppenzellAusserrhoden und Aargau. DieFamilien brauchen aber eine Be-willigung und müssen mit einerLehrperson zusammenarbeiten.Sie werden jährlich vom Schul-

inspektorat kontrolliert. Geprüftwerden unter anderem Lehrmit-tel, Stundenpläne, Selbst- undSozialkompetenz des Kindes.

Viel KritikDer Kanton zieht Homeschooleran. Laut dem Verein «Bildung zuHause» werden in der Schweizrund 500 Schüler zu Hause unter-richtet. Davon wohnen 241 in Bern.

Andernorts gibt es viel Kritik:«Die Sozialkompetenz leidet.»«Den Eltern fehlt das Wissen.»«Kindern aus religiösen Familientut auch eine andere Sicht gut.»Spricht man Homeschooler aufsolche Punkte an, reagieren sie oftgenervt. «Wir sperren unsere Kin-der doch nicht in den Keller»,heisst es etwa. Das seien Vorurtei-le, modelliert aus negativen Ein-zelfällen. Solche gebe es. Dafürdürfe man aber nicht allen dieFreiheit nehmen.

Die Erfahrungen in Bern sindpositiv: «Wir müssen höchst sel-ten jemandem die Bewilligung

Die Hälfte der SchweizerHomeschooler wohnt in Bern

entziehen», sagt Susanne Müller,Leiterin der kantonalen Schul-aufsicht. Grund kann etwa sein,dass der Unterricht ungenügendist oder die Leistungen nichtstimmen. «Es gibt höchstens allezwei Jahre einen solchen Fall.»

Allerdings ist auch bei MüllerSkepsis zu spüren. Zu denkengibt ihr, wenn Homeschool-Kin-der nur Kontakte pflegen, hinterdenen eigentlich die Eltern ste-hen, wie ein ständiges Auffang-netz. «Das sind andere Situatio-nen als in der Schule, wo Kinderlernen müssen, mit anderenzusammenzuarbeiten.» Darumfragten die Schulinspektoren beiden Kontrollen oft, mit wem einKind seine Freizeit verbringt.«Wir empfahlen Eltern auchschon, ihr Kind in einen Sport-klub oder ein Orchester zu schi-cken, damit es Freundschaftenknüpfen kann.» dog

Verein Bildung zu Hause Schweizwww.bildungzuhause.ch

LERNEN OHNE STRUKTUREN

Es scheint, als könnten BensHände nicht ruhen. Sie gestiku-lieren, kratzen am Ohr, trom-meln auf der Tischplatte. «Er istheute besonders hibbelig», sagtseine Mutter. Vermutlich liegtes am Besucher. Dem Besucher,der in der Zeitung schreiben will,was das heisst, ein Freilerner zu

Klassische Homeschoolerlernen nach ähnlichenStrukturen wie in der Schule.Freilerner nicht. Ein Besuch.

Keine Prüfungen, kein Stundenplan, kein Lehrersein. Wie er das macht, zu Hauselernen, ohne Lehrer, geleitet vonseinen Interessen.

Ben heisst in Wirklichkeitnicht Ben. Die Familie will an-onym bleiben. Wer mit den Nor-men bricht, muss sich immerwieder rechtfertigen. Sie schei-nen es leid zu sein. In ihrem Dorfam Thunersee exponieren siesich schon genug.

Ben hat einen Trick. Er wisseja nicht einmal, was 72 mal 13gebe, stichelte einmal ein Mäd-

chen. Darum hat Ben gelernt,was die Wurzel von 16 ist. Einunschlagbarer Konter. Die Mut-ter lacht.

Täglich TränenBen ist 9 Jahre alt. Seit andert-halb Jahren lernt er zu Hause.In der Schule ging es ihm nichtgut. Er war eher langsam, kammit dem Druck nicht zurecht.«Fast jeden Tag habe ich geheult»,erzählt er. Seine Mutter sagt: «Eswar eine Erleichterung, als wir

ihn aus der Schule nahmen.» Seit-her gibt es bei Ben keine Prüfun-gen mehr, genauso wenig einenStundenplan oder eine Lehrerin.Seine Mutter sieht sich als «un-terstützende Erwachsene». Siebeantwortet seine Fragen, zeigtihm, wie eine Mehlexplosionfunktioniert, fährt mit ihm insDino-Museum. Das ist der Ge-danke des Freilernens: Was auchimmer das Kind interessiert – zudiesem Thema soll es lernen.Denn das bleibt hängen.

Nur in Mathe, Deutsch undFranzösisch braucht es eineStruktur. Ben muss den Lehrplaneinhalten, die Regeln lassen kon-sequentes Freilernen nicht zu.Jeden Morgen steigt Ben aufsTrampolin. Seine Mutter wirftihm einen Ball zu und mit ihmeine Rechenaufgabe. «2 mal 2?»«4.» «3 mal 3?» «9.» «Wurzel von16?» «4.»

«Oft arbeite ich mit seiner Mo-torik», sagt die Mutter. «Das ist,was ihm entspricht.» Eine Mut-

ter lerne schnell, wie ihr Kindlernt. Ben hat aufgeholt, dieBehörden sind zufrieden. Ob-wohl er nur gut zwei Stunden proTag strukturiert lernt, wie dieMutter sagt.

Ben lernt rechnen, lernt lesenund schreiben. Eines aber lernter nicht: mit Druck umzugehen.Dessen sind sich die Eltern be-wusst. «Irgendwann muss erdas lernen», sagt seine Mutter.Aber nicht jetzt. Jetzt soll BenKind sein. dog

3

ANZEIGE