Unterschenkelfraktur im Kontext der Polytraumaversorgung

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S106 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001 Das Prinzip der operativen Fraktur- versorgung ist die übungsstabile Osteo- synthese, um eine frühe Mobilisation des polytraumatisierten Patienten zu ge- währleisten. Zunächst werden Frakturen mit begleitenden Gefäßverletzungen oder Kompartmentsyndrom behandelt, an- schließend die offenen Gelenk- und Schaftfrakturen. Beurteilung des Weichteilschadens Gerade beim Schwerverletzten sind schwere Weichteil- und Knochenschä- den im Bereich der unteren Extremität häufig.Insbesondere die Unterschenkel- fraktur ist meist von einem schwersten Weichteilschaden begleitet. Zur genau- en Klassifizierung desselben hat sich mit der Einführung von Scoresystemen so- wohl aus klinischer als auch aus akade- mischer Sicht eine weitere Differenzie- rung bewährt. Diese Scoresysteme wer- den insbesondere zur Beurteilung der Rekonstruktionsfähigkeit eingesetzt. Die Frage der Rekonstruktion er- gibt sich gerade beim Polytraumatisier- ten, da von Seiten der Operationstech- nik mit der Weiterentwicklung von u. a. mikrochirurgischen Methoden, neuen Methoden der Knochenrekonstruktion sowie Verfeinerung der Ilisarow-Technik alle Möglichkeiten vorhanden sind, um die Extremität bei schwerster offener Fraktur zu erhalten.Untersuchungen zu den Langzeitergebnissen dieser Erhal- tungsversuche haben jedoch gezeigt, dass häufig schwere funktionelle Einbußen im Vergleich zur primären Amputation bestehen. Die bei rekonstruktiver Chi- rurgie häufig erforderlichen Mehrfach- eingriffe und die damit verbundene Ver- längerung der Hospitalisation haben zu- sätzlich eine nicht unbedeutende sozia- le Komponente,die der verantwortungs- bewusste Chirurg nicht unberücksich- tigt lassen darf. Der bekannteste Score ist der so genannte Mangeled-extremity-Score (MESS), der 1990 von Helfet et al. [1] ent- wickelt wurde und den Knochenschaden, den Weichteilschaden, die Ischämiezeit, den initialen Schock und das Patientenalter berücksichtigt (Tabelle 1). Eine weitere Entwicklung ist der von McNamara et al. [2] veröffentlichte Score, der zusätzlich den Nervenstatus bei der Initialbefundung berücksichtigt (Tabelle 2). Diese Scores setzen sich aus ver- schiedenen Kriterien zusammen, die je nach Schweregrad eine Punktebewer- tung ergeben. Überschreitet der Gesamt- punktwert eine Grenze (cut-off), ist die Amputation angezeigt. Eine große Spezifität und Sensiti- vität zeigt die Hannover-fracture-Skala, Trauma Berufskrankh 2001 · 3 [Suppl 2]: S106–S109 © Springer-Verlag 2001 Unterschenkelfraktur Gerd Regel · Michael Bayeff-Filloff Unfallchirurgische Abteilung, Klinikum Rosenheim Unterschenkelfraktur im Kontext der Polytraumaversorgung Prof. Dr. Gerd Regel Unfallchirurgische Abteilung, Klinikum Rosenheim, Pettenkoferstraße 10, 83022 Rosenheim (E-Mail:[email protected], Tel.: 08031-363350, Fax: 08031-364930) Zusammenfassung Die Unterschenkelfraktur stellt aufgrund meist ausgeprägter Weichteilbegleitverlet- zungen eine besondere Situation beim poly- traumatisierten Patienten dar.Nach der Ver- sorgung lebensbedrohlicher Verletzungen gehört diese Fraktur zur ersten Priorität der Primärversorgung. Die Schwere der Begleit- verletzungen (Weichteile, Gefäße und Ner- ven) sollte dabei auch bei der Entscheidung zur Amputation berücksichtigt werden. Als Entscheidungskriterien können so genannte „mangeled extremity scores“ beitragen. Beim Mehrfachverletzten ist die Reihenfolge der operativen Versorgung festzulegen und ggf.eine Simultanversorgung an mehreren Extremitätenabschnitten zu erwägen. Im Gegensatz zur Einzelverletzung ist der Poly- traumatisierte mit Unterschenkelfraktur in Rückenlage ohne Extension zu versorgen, dies ermöglicht die freie Abdeckung der un- teren Extremität einschließlich Becken, falls hier mehrere Verletzungen vorliegen.Ipsila- terale und bilaterale Frakturkombinationen erfordern hierbei ein besonderes operatives Management. Schlüsselwörter Unterschenkelfraktur · Weichteilschaden · Polytrauma

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S106 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001

Das Prinzip der operativen Fraktur-versorgung ist die übungsstabile Osteo-synthese, um eine frühe Mobilisationdes polytraumatisierten Patienten zu ge-währleisten.Zunächst werden Frakturenmit begleitenden Gefäßverletzungen oderKompartmentsyndrom behandelt, an-schließend die offenen Gelenk- undSchaftfrakturen.

Beurteilung des Weichteilschadens

Gerade beim Schwerverletzten sindschwere Weichteil- und Knochenschä-den im Bereich der unteren Extremitäthäufig. Insbesondere die Unterschenkel-fraktur ist meist von einem schwerstenWeichteilschaden begleitet. Zur genau-en Klassifizierung desselben hat sich mitder Einführung von Scoresystemen so-wohl aus klinischer als auch aus akade-mischer Sicht eine weitere Differenzie-rung bewährt. Diese Scoresysteme wer-den insbesondere zur Beurteilung derRekonstruktionsfähigkeit eingesetzt.

Die Frage der Rekonstruktion er-gibt sich gerade beim Polytraumatisier-ten, da von Seiten der Operationstech-nik mit der Weiterentwicklung von u. a.mikrochirurgischen Methoden, neuenMethoden der Knochenrekonstruktionsowie Verfeinerung der Ilisarow-Technikalle Möglichkeiten vorhanden sind, umdie Extremität bei schwerster offenerFraktur zu erhalten. Untersuchungen zuden Langzeitergebnissen dieser Erhal-tungsversuche haben jedoch gezeigt,dasshäufig schwere funktionelle Einbußenim Vergleich zur primären Amputation

bestehen. Die bei rekonstruktiver Chi-rurgie häufig erforderlichen Mehrfach-eingriffe und die damit verbundene Ver-längerung der Hospitalisation haben zu-sätzlich eine nicht unbedeutende sozia-le Komponente, die der verantwortungs-bewusste Chirurg nicht unberücksich-tigt lassen darf.

Der bekannteste Score ist der sogenannte Mangeled-extremity-Score(MESS), der 1990 von Helfet et al. [1] ent-wickelt wurde und

∑ den Knochenschaden,∑ den Weichteilschaden,∑ die Ischämiezeit,∑ den initialen Schock und∑ das Patientenalter

berücksichtigt (Tabelle 1).Eine weitere Entwicklung ist der

von McNamara et al. [2] veröffentlichteScore, der zusätzlich den Nervenstatusbei der Initialbefundung berücksichtigt(Tabelle 2).

Diese Scores setzen sich aus ver-schiedenen Kriterien zusammen, die jenach Schweregrad eine Punktebewer-tung ergeben. Überschreitet der Gesamt-punktwert eine Grenze (cut-off), ist dieAmputation angezeigt.

Eine große Spezifität und Sensiti-vität zeigt die Hannover-fracture-Skala,

Trauma Berufskrankh2001 · 3 [Suppl 2]: S106–S109 © Springer-Verlag 2001 Unterschenkelfraktur

Gerd Regel · Michael Bayeff-FilloffUnfallchirurgische Abteilung, Klinikum Rosenheim

Unterschenkelfraktur im Kontext der Polytraumaversorgung

Prof. Dr. Gerd Regel Unfallchirurgische Abteilung,Klinikum Rosenheim,Pettenkoferstraße 10, 83022 Rosenheim(E-Mail: [email protected],Tel.: 08031-363350, Fax: 08031-364930)

Zusammenfassung

Die Unterschenkelfraktur stellt aufgrundmeist ausgeprägter Weichteilbegleitverlet-zungen eine besondere Situation beim poly-traumatisierten Patienten dar. Nach der Ver-sorgung lebensbedrohlicher Verletzungengehört diese Fraktur zur ersten Priorität derPrimärversorgung. Die Schwere der Begleit-verletzungen (Weichteile, Gefäße und Ner-ven) sollte dabei auch bei der Entscheidungzur Amputation berücksichtigt werden. AlsEntscheidungskriterien können so genannte„mangeled extremity scores“ beitragen.Beim Mehrfachverletzten ist die Reihenfolgeder operativen Versorgung festzulegen undggf. eine Simultanversorgung an mehrerenExtremitätenabschnitten zu erwägen. ImGegensatz zur Einzelverletzung ist der Poly-traumatisierte mit Unterschenkelfraktur inRückenlage ohne Extension zu versorgen,dies ermöglicht die freie Abdeckung der un-teren Extremität einschließlich Becken, fallshier mehrere Verletzungen vorliegen. Ipsila-terale und bilaterale Frakturkombinationenerfordern hierbei ein besonderes operativesManagement.

Schlüsselwörter

Unterschenkelfraktur · Weichteilschaden ·Polytrauma

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die ähnliche Bewertungskriterien he-ranzieht [4]. Hierbei wird auch die Ge-samtverletzungsschwere in die Entschei-dung einbezogen. Dies ist ein sehr wich-tiger Gesichtspunkt, da langjährige Re-konstruktionsversuche zu einer vitalenGefährdung des Patienten führen kön-nen.

Die Amputation erfolgt im Gesun-den in Form einer offenen bzw. Guillo-tine-Amputation. Der primäre Stumpf-verschluss birgt generell ein zu hohesRisiko,da das Gesamtausmaß des Weich-teilschadens nicht genau abgeschätztwerden und es insbesondere beim Mehr-fachverletzten zur posttraumatischenAnschwellung und damit zur Weichteil-gefährdung kommen kann. Ein frühzei-tiger Verschluss geht häufig mit erheb-lichen Komplikationen einher. Erst nach-dem der Patient seine kritische Phaseüberwunden hat, kann mehrere Tagenach dem Trauma der Stumpf myoplas-tisch verschlossen werden (Sekundär-periode).

Débridement,Weichteilsanierung

Ist die Entscheidung zur Rekonstruktiongefallen, ist der erste Schritt ein kri-tisches Débridement. Hier sollten alleWeichteilkomponenten in Betracht ge-zogen werden. Die Gefahr, dass avitalesWeichteilgewebe nicht ausreichend ent-fernt wird, ist beim Schwerverletztenhäufig und wird gerade im Bereich desUnterschenkels nicht ausreichend be-rücksichtigt. Hier ergibt sich die Gefahr,dass es bei verbleibender Kontamina-tion oder Weichteilnekrose zu einer er-heblichen Verschlechterung des Allge-meinzustands und im Extremfall zumOrganversagen kommen kann.Hier dür-fen keine Kompromisse eingegangenwerden.

Wichtig ist die ausreichende chirur-gische Exposition, sowohl zur Beurtei-lung als auch zur Behandlung des Weich-teilschadens. Gerade im Bereich desUnterschenkels besteht beim Schwer-

G. Regel · M. Bayeff-Filloff

Management of tibial fractures in polytraumatized patients

Abstract

Fractures of the tibia are often associatedwith extensive soft tissue injuries in multiplytraumatized patients, so that specific man-agement is needed. Once life-threatening in-juries have been dealt with, a tibial fracturehas a high priority in primary fracture treat-ment.The extent of associated injuries (tosoft tissues, blood vessels and nerves) mustalso be considered when a decision has to bemade on whether to amputate in these pa-tients. Mangled extremity scores can help inthis. In the case of multiply injured patientsthe sequence of the various operative treat-ments needed has to be determined at thebeginning; this dictates how each patientconcerned will be positioned and drapedduring surgery. Ipsilateral and bilateral frac-ture combinations are managed differently,as discussed in this article.

Keywords

Tibial fractures · Soft tissue injury · Polytrauma

Trauma Berufskrankh2001 · 3 [Suppl 2]: S106–S109 © Springer-Verlag 2001

Tabelle 1MESS (mangled extremity severity score), aus Helfet et al. [1]

Type Characteristics Injuries Points

Skeletal/Soft-tissue group

1 Low energy Stab wounds, simple closed fractures, 1small-caliber gunshot wounds

2 Medium energy Open or multiple level fractures, dislocations, 2moderate crush injuries

3 High energy Shotgun blast (close range) high velocity gunshot wounds 3

4 Massive crush Logging, railroad, oil rig accidents 4

Shock group

1 Normotensive BP stable in field and in OR 0haemodynamics

2 Transiently BP unstable in field but responsive to intravenous fluids 1hypotensive

3 Prolonged Systolic BP less than 90 mmHg in field but responsive to 2hypotension intravenous fluids only in OR

Ischemia group

1 None A pulsatile limb without signs of ischemia 0a

2 Mild Diminished pulses without signs of ischemia 1a

3 Moderate No pulse by Doppler, sluggish capillary refill, paresthesia, 2a

diminished motor activity

4 Advanced Pulseless, cool, paralized and rumb without capillary refill 3a

Age group

1 <30 years 0

2 >30 years, <50 years 1

3 >50 years 2

aPoints ¥2 if ischemic time exceeds 6 h. OR operating room; BP blood pressure

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verletzten potenziell im Verlauf die Ge-fahr einer zunehmenden Weichteilnek-rotisierung aufgrund einer gestörtenWeichteildurchblutung (bei posttrau-matischem Ödem, Permeabilitätsscha-den, massivem Volumenersatz sowie la-biler Kreislaufsituation). Gerade bei derUnterschenkelfraktur ist die verzöger-te Entstehung eines Kompartmentsyn-droms häufig und sollte im Verlauf durchkontinuierliche Kompartmentdruckmes-sung kontrolliert werden. Bei diesenUnterschenkelverletzungen folgt immereine Second-look- oder Revisionsopera-tion. Nach 48 h, spätestens nach 96 h,sollen bei ausgedehnten Weichteildefek-ten eine Weichteilrekonstruktion undggf. eine Lappenplastik erfolgen.

Kombinierte Verletzungen mit Beteiligung des Unterschenkels

Beim Schwerverletzten hat beim Vorlie-gen von multiplen Verletzungen der un-teren Extremität mit Beteiligung desUnterschenkels die Reihenfolge der ope-rativen Stabilisierung eine besondereBedeutung [3]. So ist gerade der Unter-schenkel aufgrund der besonderen Weich-teilkonfiguration für die progredienteEntwicklung eines Weichteilschadensbesonders empfänglich. Daher ergibtsich auch die Priorität der Frakturver-sorgung in der Reihenfolge:

1. Tibia2. Femur3. Becken4. Wirbelsäule5. obere Extremität.

In diesem Zusammenhang sollte immerauch an die Möglichkeit einer Simultan-versorgung einzelner Extremitätenab-schnitte gedacht werden. Hierzu sind je-doch bestimmte logistische Vorausset-zungen notwendig.

Um diesen Prioritäten der Fraktur-versorgung gerecht zu werden, müsseneinerseits die Versorgungsreihenfol-ge bei Serienverletzung einer Extremi-tät, andererseits bei kontralateralenFrakturen der unteren Extremitäten be-sondere Strategien zur Anwendung kom-men.

Ipsilaterale Frakturkombination

Bei Serienverletzungen im Bereich derunteren Extremität, z. B. gleichzeitigenTibia- und Femurschaftfrakturen (float-ing knee), folgt ein flexibles und prio-ritätenorientiertes Vorgehen. Dies ge-

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Unterschenkelfraktur

Tabelle 2Nissa rating criteria, aus McNamara et al. [2]

Type of injury Degree of injury Points Description

Nerve injury (N) Sensate 0 No major nerve injuryDorsal 1 Deep or superficial peroneal nerve, femoral nerve injurya

Plantar partial 2 Tibial nerve injurya

Plantar complete 3 Sciatic nerve injurya

Ischemia (I) None 0 Good to fair pulses, no ischemiaMild 1b Reduced pulses perfusion normalModerate 2b No pulse(s), prolonged capillary refill, Doppler pulses presentSevere 3b Pulseless, cool, ischemic, no Doppler pulses

Soft-tissue/ Low 0 Minimal to no ST contusion, no contamination (Gustilo type I )contamination (S) Medium 1 Moderate ST injury, low velocity GSW, moderate contamination, minimal crush (Gustilo type II )

High 2 Moderate crush, deglove, high velocity GSW, moderate ST injury may require soft-tissue flap,considerable contamination (Gustilo type IIIA )

Severe 3 Massive crush, farm injury, severe deglove, severe contamination, requires soft-tissue flap (Gustilo type IIIB )

Skeletal (S) Low energy 0 Spiral fracture, oblique fracture, no or minimal displacement (Winquist and Hansen type I,Johner and Wruhs A1, A2 )

Medium energy 1 Transverse fracture, minimal comminution, small caliber GSW (Winquist and Hansen type II,Johner and Wruhs A1, A2)

High energy 2 Moderate displacement, moderate comminution, high velocity GSW, butterfly fragment(s) (Winquist and Hansen type III–IV, Johner and Wruhs B1, B2, B3)

Severe energy 3 Segmental, severe comminution, bony loss (Winquist and Hansen type IV, Johner and Wruhs C1, C2, C3)

Shock (S) Normotensive 0 Blood pressure normal, always >90 mmHg systolicTransient hypotension 1 Transient hypotension in field or emergency centerPersistent hypotension 2 Persistent hypotension despite fluids

Age (A) Young 0 <30 yearsMiddle 1 30–50 yearsOld 2 >50 years

Total score (N+I+S+S+S+A)

GSW gunshot wound; ST soft-tissueaNerve injury as assessed primarily in emergency roombScore doubles with ischemia >6 h

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schieht wiederum in Abhängigkeit vomAllgemeinzustand. In gutem Allgemein-zustand wird über eine kleine Arthroto-mie des Kniegelenks (in 30° Beugung)ein Femurmarknagel retrograd einge-bracht.Anschließend wird das Bein auf-gestellt und antegrad über den gleichenoperativen Zugang die Tibiamarknage-lung vorgenommen (Tabelle 3). Bei frag-lichem Allgemeinzustand wird nach La-gerung auf dem Standardtisch die ge-samte untere Extremität abgedeckt, zu-nächst am Oberschenkel ein Distraktormontiert und eine grobe Reposition vor-genommen. Hierdurch ist der Femurvorübergehend stabilisiert, und es kanneine Manipulation am Unterschenkel vor-genommen werden. Im nächsten Schritterfolgt die Versorgung der Tibiafrakturnach entsprechendem Protokoll.

Danach muss entschieden werden,ob der Patient weiterhin hämodyna-misch und respiratorisch stabil ist oderob er mit temporärer Stabilisierung desFemur, d. h. mit Fixateur externe odermit liegendem Distraktor, auf die Inten-sivstation verlegt wird und zu einem

späteren Zeitpunkt eine Weiterversor-gung mit Femurmarknagel erfolgt.

Ist der Patient kardiopulmonal sta-bil, können der Distraktor als Reposi-tionshilfe benutzt und eine primäre Fe-murmarknagelung vorgenommen wer-den.

Bilaterale Frakturkombinationen

Bei bilateral auftretenden Frakturen desUnterschenkels bietet sich die gleichzei-tige Primärversorgung an. Hierzu wirdauf die Anwendung eines Extensionsti-sches verzichtet. Beide Beine werden zu-sammen abgewaschen und abgedeckt.Wegen des Röntgenbildverstärkers (Platz-bedarf, Handhabung) erfolgt die Versor-gung sequenziell. Zeichnet sich am Endeder Versorgung eine Verschlechterungdes Gesamtzustands des Patienten ab undhandelt es sich beidseits um eine Verlet-zung einer erhaltungswürdigen Extre-mität, kann die noch nicht versorgte Ti-bia mit einem Pinless-Fixateur temporärstabilisiert werden. Nach Stabilisierungdes Allgemeinzustands kann zu einem

späteren Zeitpunkt die Tibiamarknage-lung erfolgen. Der Pinless-Fixateur dientdabei als Repositionshilfe (Tabelle 4).

Bei den bilateralen Frakturen ergibtsich die Priorität der Versorgung ausdem unterschiedlichen Schweregrad derBegleitverletzung.

Die Behandlung der Unterschenkel-fraktur beim polytraumatisierten Patien-ten ist somit von einer kritischen Diag-nostik in der Primärphase abhängig.Dasbedeutet, dass die Verletzung nicht nurerfasst, sondern auch richtig eingeschätztwerden muss. Hierzu eignen sich insbe-sondere so genannte „Mangeled-extre-mity-Scores“, die als Entscheidungshilfeherangezogen werden können. Geradeunter dem Gesichtspunkt der Pathophy-siologie und des reduzierten Allgemein-zustands bei Berücksichtigung der Ge-samtverletzungsschwere ist hier an eineprimäre Amputation zu denken. Lang-wierige Rekonstruktionsversuche kön-nen eine Lebensbedrohung verursachen.

Soll eine Rekonstruktion erfolgen,ist die Unterschenkelfraktur nach ihrerPriorität in die Gesamtbehandlungs-strategie einzuordnen.Alle Verletzungenwerden danach in Abhängigkeit vom All-gemeinzustand in ein Stufenkonzept ein-gebunden und dann entweder temporäroder definitiv versorgt.

Die Prognose der Verletzung diesesExtremitätenabschnitts hängt entschei-dend von der Primärversorgung ab undbestimmt auch langfristig die Qualitätdes Rehabilitationsergebnisses.

Literatur1. Helfet DL, Howey T, Sanders R, Johansen K

(1990) Limb salvage versus amputation. Pre-liminary results of the mangled extremityseverity score. Clin Orthop 256: 80–86

2. McNamara MG, Heckman JD, Corley FG (1994)Severe open fractures of the lower extremity:a retrospective evaluation of the mangled ex-tremity severity score (MESS). J Orthop Trauma8: 81–87

3. Regel G, Pohlemann T, Krettek C,Tscherne H(1997) Frakturversorgung beim Polytrauma.Unfallchirurg 100: 234-248

4. Südkamp N, Haas N, Flory PJ,Tscherne H,Berger A (1989) Kriterien der Amputation,Rekonstruktion und Replantation von Extre-mitäten bei Mehrfachverletzten. Chirurg 60:774–781

Tabelle 3Ipsilaterale Femur-Tibia-Frakturen

Allgemeinzustand Gut Fraglich Kritisch

1. Schritt Femur: retrograder UTN Femurdistraktor FemurfixateurTibia: UTN Tibiafixateur (pinless)

2. Schritt Tibia: antegrader UTN Femur: UTN (bei gutem Zustand)Femurdistraktor (bei kritischem Zustand)

3. Schritt (sekundär) Femur: UTN Femur: antegrader UTNTibia: UTN

UTN unreamed tibial nail

Tabelle 4Bilaterale Tibiafrakturen

Allgemeinzustand Gut Kritisch

1. Schritt 1. UTN2. Schritt 2. UTN Gegenseite Fixateur (pinless)3. Schritt (sekundär) 2. UTN

UTN unreamed tibial nail