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Untervazer Burgenverein Untervaz Texte zur Dorfgeschichte von Untervaz 2008 Churrätien im frühen Mittelalter Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.

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Untervazer Burgenverein Untervaz

Texte zur Dorfgeschichte

von Untervaz

2008

Churrätien im frühen Mittelalter

Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.

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2008 Churrätien im frühen Mittelalter Reinhold Kaiser Kaiser Reinhold: Churrätien im frühen Mittelalter. Ende 5. bis Mitte 10.

Jahrhundert. Herausgegeben vom Institut für Kulturforschung Graubünden,

Chur, in Verbindung mit dem Südtiroler Kulturinstitut, Bozen 2., überarbeitete

und ergänzte Auflage Schwabe Verlag Basel 2008

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S. 229: Nachwort zur 2., überarbeiteten und ergänzten Auflage

Was rechtfertigt es, ein Buch über «Churrätien im frühen Mittelalter» in einer

verbesserten, zweiten Auflage herauszugeben und mit einem umfangreichen

Nachwort zu versehen? Drei Gründe sprechen dafür:

1. Die erste Auflage von 1998 ist schon nach sechs Jahren vergriffen gewesen.

Die seit 2004 andauernde stetige Nachfrage sowie die zahlreichen Rezensionen

bestätigen die positive Aufnahme des Buches. Die Neuauflage erlaubt es,

kleinere störende Fehler im Text und in den Legenden zu den Abbildungen

und Karten zu verbessern, einige Karten neu zu gestalten und im Nachwort

dem Forschungsfortschritt der letzten zehn Jahre Rechnung zu tragen.

2. Die Forschungen zum frühen Mittelalter - nicht nur die allgemein-

historischen, sondern auch die regionalgeschichtlich orientierten - sind in den

letzten Jahren zunehmend in den grösseren interdisziplinären Verbund der

Forschungen zum Übergang von der Antike zum Mittelalter integriert. Als

globales Phänomen des Kulturwandels stehen die Verwandlung der

Mittelmeerwelt und die Herausbildung der drei mittelalterlichen Kulturkreise,

des arabisch-islamischen, des griechisch-byzantinischen und des lateinisch

okzidentalen, im Mittelpunkt des althistorischen, des mediävistischen und des

universalhistorischen Interesses. Zeugen dafür sind die stattlichen Bände, die

im Rahmen des wissenschaftlichen Grossprojektes der «European Science

Foundation» in der Reihe «Transformation of the Roman World» seit 1997

veröffentlicht worden sind Grundlegende Fragen der Kulturkontinuität und des

Kulturbruches, der historischen Periodenbildung, des Verhältnisses von

Zentrum und Peripherie, der Rolle der «neuen» Völker, der Ethnogenese, der

«Regionalisierung der Volkstümer» oder der Identitätsbildung werden darin

mit neuem methodischem Instrumentarium an gegangen. Das ist der

forschungsgeschichtliche Hintergrund für

3. die paradigmatische Bedeutung der frühmittelalterlichen Geschichte

Churrätiens. Als alpines Randgebiet des Imperium Romanum, des

merowingischen und karolingischen Frankenreiches und des ostfränkisch-

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deutschen Reiches liegt Rätien in einer politischen, kulturellen, sprachlich-

ethnischen und wirtschaftlichen Interferenzzone. Diese Rand- und

Zwischenlage

S. 230: erklärt das Wechselspiel von Eigenständigkeit und Beeinflussung, die

verschiedenen Grade von Autonomie und Integration mit ihren

Zwischenstufen, sie erklärt auch die lange Dauer des Wandlungsprozesses

zwischen Antike und Mittelalter, eines Prozesses der Umorientierung, in

welchem die Kontinuitäten lange verfolgbar sind, teilweise bis ins

Hochmittelalter.

Der Prozess der langen Dauer vollzieht sich in dem überschaubaren Rahmen

einer provincia mittlerer Ausdehnung. Von Bregenz nach Chiavenna sind es in

der Luftlinie 130 km, von Disentis bis Müstair 120 km bzw. bis Meran

175 km. Das «regional begrenzte Versuchsfeld» der Raetia Ia, von dem J.

Werner 1979 in der Einleitung zum Sammelband «Von der Spätantike zum

frühen Mittelalter» gesprochen hatte, ist ein überschaubares

Untersuchungsfeld, so überschaubar, dass man eine Synthese wagen kann.

Über schaubar ist auch die Quellenlage. Sie ist relativ gut und bietet eine Reihe

von Inschriften aus dem frühen Mittelalter - nur wenige dagegen aus antiker

Zeit - sowie Rechtstexte, Urkunden und hagiographische Werke -

historiographische im engeren Sinne fehlen demgegenüber -‚ ferner liturgische

Texte. Der hohe Grad der frühmittelalterlichen Schriftlichkeit hat zur

Ausbildung einer eigenen Schriftprovinz, jener der rätischen Minuskel,

geführt. Ständig erweitert wird die Quellenbasis der zentralen

Nachbarwissenschaften, der Archäologie und Sprachwissenschaft, durch neue

Bodenfunde und durch Sichtung und Sammlung der Orts-, Flur- und

Personennamen.

Die neuen Fragen und Methoden, die neuen Perspektiven und die Ergebnisse

der archäologisch-baugeschichtlichen Forschung berühren die drei in den

Grosskapiteln des Buches behandelten Themen in gleicher Weise, weshalb die

neuen Forschungsbeiträge dem Aufbau des Textes folgend vorgestellt und

kommentiert werden sollen. So lässt sich am ehesten der Gang der Forschung

auf den Gebieten der politischen Organisationsformen (1), von Kult und

Kirche, Kunst und Kultur (II) und der Siedlungs-, Sozial- und

Wirtschaftsstruktur (III) nachvollziehen. Die Seitenverweise erleichtern das

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Auffinden im Text der 1. Auflage (S. 15-228). Der Überblick über den

Forschungsstand wird durch eine Zusammenfassung der Ergebnisse und ihre

Einordnung in den grösseren Rahmen der Frühmittelalterforschung

abgeschlossen. Diese Conclusio soll das Fehlen einer Zusammenfassung in der

ersten Ausgabe des Buches, die mit Recht in manchen Rezensionen moniert

worden ist, wettmachen.

S. 231: 1. Das frühmittelalterliche Churrätien im Spiegel der

allgemeinhistorischen Literatur

Die Eigenheiten der Geschichte Churrätiens im frühen Mittelalter, die

besondere Weise des Übergangs von der Spätantike zum Mittelalter, die sich in

Rätien beobachten lässt, finden in den universalhistorischen Werken, in den

Darstellungen zur europäischen Geschichte und in den National- und

Landesgeschichten je unterschiedliche Berücksichtigung. In den schon

erwähnten Bänden der «Transformation of the Roman World» und dem ersten

Band der «Cambridge Medieval History» von 2005, der sich wie ein Handbuch

dazu liest, wird die frühmittelalterliche Geschichte Churrätiens gar nicht

thematisiert, Rätien allenfalls als Teil des römischen, ostgotischen oder

fränkischen Reiches erwähnt Ähnliches gilt für die «Cambridge Ancient

History» oder für das «Handbuch der Geschichte Europas»

Mehr Beachtung findet Rätien in den «deutschen Geschichten». In der

Neubearbeitung des «Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte»

S. 232: behandelt Friedrich Prinz im ersten Band die «Europäischen Grundlagen

deutscher Geschichte (4.-8. Jahrhundert)» und greift dazu weit aus auf die Vor-

und Frühgeschichte Mitteleuropas und die Römerzeit. Rätien wird in das

Panorama einbezogen und die Eroberung zur Zeit des Augustus, die Erhebung

Churs zur Hauptstadt der Raetia Prima unter Diokletian, die vertragliche

Abtretung der Provinz an die Franken durch den Ostgotenherrscher Witigis

(536-540) und die Abgrenzung der Bistümer Chur und Konstanz unter König

Dagobert 1. (623/29-639) erwähnt. Nach Prinz lassen sich «im deutschen

Südwesten durch die politische Existenz Churrätiens bis ins 8. Jahrhundert

hinein Rätoromanen und Alamannen relativ deutlich gegeneinander

abgrenzen» im Gegensatz zur frühen Integration der Romanen in Bayern Als

Signum der frühmittelalterlichen Geschichte Churrätiens betrachtet er die

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kirchliche Umorientierung Churs von Mailand nach Mainz, die weltlich-

kirchliche Doppelherrschaft der Victoriden und wertet «die Sonderentwicklung

Churrätiens» als «ein Ergebnis der starken - archäologisch nachweisbaren -

Siedlungskontinuität, deren Pendant die weitgehende Bewahrung der

kirchlichen Substanz und Organisation gewesen ist» Im Hinblick auf die als

Palimpseste in Churrätien überlieferten antiken Texte spricht Prinz von

«ein(em) relativ intakt gebliebene(n) Rückzugsgebiet der Romania» Für die

Merowingerzeit spricht Rudolf Schieffer im zweiten Band der Neubearbeitung

des «Gebhardt» ähnlich von einem «romanischen Reliktgebiet in Churrätien,

das unter der Herrschaft einheimischer Präsiden stand», er erwähnt die

doppelte «politische Führungsrolle der Viktoriden als Präsiden» und als

Bischöfe, die «spezielle Modifizierung spätrömischen Vulgarrechts als Lex

Romana Curiensis» um die Mitte des 8. Jahrhunderts, die Unterstellung unter

den Schutz Karls des Grossen gegen ein Treueversprechen des rätischen

Volkes um 773, schliesslich die divisio inter episcopatum et comitatum von ca.

806 und die Eingliederung in die Mainzer Kirchenprovinz spätestens 843.

Wesentliche Etappen der Integration Churrätiens in das Frankenreich sind

damit in diesen beiden Bänden der «deutschen Geschichte» wenigstens

angedeutet.

In seiner zusammenfassenden, in 4., ergänzter Auflage 2001 erschienenen

Darstellung «Die Merowinger und das Frankenreich» misst Eugen Ewig

S. 233: Churrätien, das als romanisches Land im 6. Jahrhundert kulturell noch mit

Italien verbunden ist, als Passlandschaft eine wichtige Rolle für Theudeberts I.

Italienpolitik zu. Die Randlage, in die es «nach 570, spätestens nach 590»

geraten sei, habe «eine autonome Entwicklung begünstigt». Für die Mission in

Alemannien um 600 verweist Ewig auch auf Kräfte aus Churrätien und

Norditalien, für die Grenzziehung zwischen den Bistümern Konstanz und Chur

auf König Dagobert 1. und die Zeit «bald nach 623». Schliesslich zählt er

Churrätien neben Elsass, Alemannien, Bayern, Mainthüringen und Thüringen

zu den Ländern ausserhalb der Francia, die als erbliche Herzogtümer «seit der

Mitte des 7. Jahrhunderts eine autonome Entwicklung genommen hatten»,

ohne eigens die typisch geistlich-weltliche Formation der Victoridenherrschaft

zu erwähnen, einen Herrschaftstyp, für den er selber einst die bahnbrechende

Untersuchung zu den Bistums- bzw. Civitasrepubliken geliefert hatte (1954).

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Dass diese spätmerowingischen Bischofsherrschaften, von denen Chur die

langlebigste gewesen ist (bis ca. 806), in den grösseren Zusammenhang der

Verselbständigung der Randgebiete des merowingischen Frankenreichs, mithin

in Parallele etwa zu Mainfranken und Thüringen oder Alemannien und Bayern,

zu setzen sind, betont R. Kaiser in der 3., überarbeiteten und erweiterten

Auflage des Merowingerbandes der Enzyklopädie Deutsche Geschichte.

In der «Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung (378-907)» von Herwig

Wolfram nimmt Chur mitsamt dem Vintschgau eine weit prominentere Rolle

ein als in den «deutschen Geschichten», zweifellos eine Folge der

alpenländischen Perspektive, aber auch des Interesses des Autors für die

politische und ethnische Struktur des zur Ostgotenherrschaft gehörenden

Gebiets der Raetia Ia und IIa, dessen militärische Organisation unter einem dux

Raetiarum die Ostgoten von den Römern übernommen hatten. Mehrere Kapitel

und Unterabschnitte sind dem frühmittelalterlichen Churrätien nach der

Ostgotenzeit gewidmet. Behandelt werden insbesondere «Der Churraetische

Kirchenstaat und der Mailänder Metropolitanverband», «Churraetien bis zur

Immunitätsverleihung von 831» mit den signifikanten Unterabsätzen

«Angliederung und Gleichschaltung», «Einführung der Grafschaftsverfassung»

und «Müstair und der Vinschgau», ferner - im Kapitel über Klöster und

Bistümer - das Bistum «Chur» mit Darstellung der Umorientierung von

S. 234: Mailand auf Mainz unter Wahrung der politischen Identität trotz Wandel von

ducatus zu comitatus bzw. pagus. Schliesslich wird im Kapitel «Die Churraeter

und Venosten» die politisch-rechtliche Einheit, die sich in dem rätischen

«Kirchenstaat» wie auch in der Lex Romana Curiensis und in der noch

spätantik geprägten Sozialstruktur widerspiegelt, sowie das Bewusstsein der

Eigenständigkeit der Romanitas thematisiert.

Dass das frühmittelalterliche Rätien in den «Geschichten der Schweiz»

gebührend beachtet wird, erklärt sich aus der politischen Zugehörigkeit des

grössten Teils der ehemaligen römischen Provinz Raetia Ia zur heutigen

Schweiz. Eine ausgewogene Berücksichtigung der vier Sprachregionen und

zugleich eine Erklärung für ihre Entstehung seit dem frühen Mittelalter strebt

die von Archäologen verfasste Sammelpublikation «Die Schweiz zwischen

Antike und Mittelalter. Archäologie und Geschichte des 4. bis 9. Jahrhunderts»

an Die Funde und Befunde aus dem churrätischen Raum sind darin stark

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repräsentiert, weil sie besser als in anderen Regionen dem Zahn der Zeit

getrotzt haben, das gilt v. a. für die vielen spätantik-frühmittelalterlichen

Kirchenbauten, von denen insbesondere St. Stephan in Chur neben dem

antiken castrum, die Gemeinde- (bzw. «Talkirche») mit Baptisterium (?) in

Zillis neben der erst im 6. Jahrhundert zerstörten heidnischen Kulthöhle, St.

Martin in Cazis, die Klosterkirchen (und -anlagen) von Mistail, Disentis und

natürlich Müstair besprochen werden, aber auch Profanbauten wie jene von

Schiedberg/Sagogn, die dank des Tellotestaments von 765 auch in den

Schriftquellen zu fassen sind, oder der repräsentative Vorgängerbau von St.

Peter in Domat/Ems, dessen Funktion unklar ist, oder die Holzbauten von

Castiel/Carschlingg. In einem eigenen Kapitel wird «Rätien an der Schwelle

zum Mittelalter» vorgestellt, vor allem Chur als zentraler Ort. Es werden die

Siedlungs- und Verkehrsachsen behandelt und schliesslich das grosse

Gräberfeld von Bonaduz und das fränkische Grab in Tamins siedlungs- und

bevölkerungsgeschichtlich eingeordnet.

Die von der Schweizerischen Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte initiierte

Gemeinschaftsarbeit von Archäologen, Historikern und

Sprachwissenschaftlern, erschienen unter dem Titel «Die Schweiz vom

Paläolithikum bis zum frühen Mittelalter», berührt in den beiden letzten

Bänden zur Römerzeit (2002) und zum Frühmittelalter (2005) sämtliche

Aspekte, die in

S. 235: unserer Darstellung behandelt werden, und vieles darüber hinaus, das wie

Klima und Umwelt, Alltagsleben, Demographie, Anthropologie, Archäologie

und Archäobotanik nur aus Kenntnis der Spezialwissenschaften und mit

naturwissenschaftlichen Methoden erarbeitet werden kann In den beiden

Bänden findet sich jeweils eine Liste mit Kurzbeschreibungen der

hauptsächlichen Funde, auf welche sich die Darstellungen stützen, angeordnet

nach den Fundorten und versehen mit den Ausgrabungsdaten, Angaben zur

Datierung, Beschreibung des Befundes und kurzer Bibliographie. Ein

Vergleich der beiden Listen ist aufschlussreich. Im Band zur Römerzeit sind

122 Fundorte erfasst. Davon entfallen fünf auf den Raum des heutigen Kantons

Graubünden, nimmt man die zur ehemaligen Provinz Raetia Ia bzw. zum

frühmittelalterlichen Churrätien gehörenden Orte hinzu, sind es neun, d.h. ca.

4% bzw. etwas mehr als 7%. Im Frühmittelalterband sind insgesamt 108 Orte

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verzeichnet. Davon gehören 15 zu Graubünden bzw. 17 zu Churrätien, das

ergibt ca. 12 bzw. 15%. Das Fazit lautet: In Rätien wird das Römische zur

Bezeichnung der Sprache, des Rätoromanischen, verwendet, und ist die starke

römische Kontinuität so etwas wie eine wissenschaftliche

Selbstverständlichkeit, präsenter, sichtbarer, handgreiflicher dagegen ist das

frühe Mittelalter. Anders ausgedrückt: der Römerband wird beherrscht von

Genf, Nyon, Avenches, Windisch, Kaiseraugst, Orbe, Neftenbach oder

Dietikon, im Frühmittelalterband begegnen dagegen auf Schritt und Tritt

Mistail, Cazis, Disentis, Chur, Müstair, Hohenrätien, Tumegl/Tomils oder

Bonaduz u. a.

Wird im Römerband lediglich die Eroberung Rätiens 15 v. Chr. ausführlich

erörtert, Chur als Bischofssitz erwähnt, die römischen Strassenstationen in

Rätien dargestellt, die Römersiedlung in Chur/Welschdörfli mit dem

Versammlungshaus der Kaufleute (Merkurdarstellung) und die Kulthöhle in

Zillis gewürdigt, wobei gegen die Annahme eines Mithraskultes Bedenken

erhoben werden, so ist im Nachfolgeband das rätische Frühmittelalter

konsequent und kontinuierlich in die Darstellung eingeflossen, so in den

historisch-ereignisgeschichtlichen Überblick (H. Steiner), in die

sprachgeschichtliche Darstellung (S. Sonderegger) und in die Vorstellung der

städtischen und ländlichen Siedlungen sowie der befestigten Höhensiedlungen

(R. Marti, R. Feilner). Ein eigener Abschnitt ist der Kirchenarchäologie in

Graubünden (Churrätien) gewidmet (C. Jäggi) mit Betrachtungen zur

Kathedrale,

S. 236: zu den Baptisterien in Schaan und Hohenrätien, zu den Memorialbauten wie in

Mels und in Chur (St. Stephan, St. Luzius), zur Frage der Kleinkirchen als

«Eigenkirchen» sowie zu den Klöstern. Vieles davon wird wieder aufgegriffen

im Kapitel über «Kult und Glaube» (C. Jäggi, J. Bujard, H.-R. Meier), in dem

u. a. die Bautypen der rätischen Kirchen, die Ausstattung mit Stuck,

Wandmalereien, Mosaiken, Schranken und Priesterbänken, mit liturgischen

Geräten und Reliquiaren weitgehend nach rätischen Funden und Befunden

dargestellt werden. In einem eigenen Abschnitt wird ein konziser Überblick

über die Siedlungsgeschichte Rätiens gegeben (U. Clavadetscher). Für viele

Aspekte der Gräberarchäologie und für die sozialen, ethnischen,

wirtschaftlichen Strukturen wird immer wieder auf das Gräberfeld von

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Bonaduz einerseits, das Tellotestament von 765 andererseits zurückgegriffen.

Die Ausgrabungen in Tumegl/Tomils und Müstair sind eigens Gegenstand

archäozoologischer und archäobotanischer Untersuchungen (H. Hüster

Plogmann, A. Rehazek, C. Brombacher, M. Kühn). In allen Beiträgen werden

die rätischen Befunde und Verhältnisse vergleichend in den grösseren

Zusammen hang der historisch-archäologischen Forschung der Gesamtschweiz

gestellt, was eine ganz wesentliche Erweiterung des Blickfeldes ermöglicht.

Zusammenfassende Darstellungen zur frühmittelalterlichen Geschichte

Churrätiens bzw. Graubündens sind in den letzten Jahren in verschiedener

Form erschienen. An erster Stelle ist hier Band 1 des «Handbuchs der Bündner

Geschichte», erschienen im Jahre 2000, zu erwähnen. In knappster Form wird

hier eine reich mit Karten, Plänen und Abbildungen illustrierte Darstellung

geboten, die den gegenwärtigen Forschungsstand widerspiegelt und «sich in

wissenschaftlicher Grundhaltung an interessierte Laien» wendet und zugleich

den «Fachleuten als erster Einstieg dienen soll». «Graubünden in römischer

Zeit» wird darin von Stefanie Martin-Kilcher und Andrea Schaer, das

«Frühmittelalter (Ende 5. bis Mitte 10. Jahrhundert)» von Reinhold Kaiser und

«Das Hochmittelalter (10. bis Mitte 14. Jahrhundert)» von Werner Meyer

behandelt. Entsprechend der Gesamtkonzeption des Handbuchs wird in den

drei Beiträgen jeweils ein historisch-politischer Überblick über die behandelten

Epochen geboten, dann werden die siedlungs-, sprach-, sozial-, wirtschafts-

und kulturgeschichtlichen Entwicklungen dargestellt.

S. 237: Ähnlich gestaltet ist die Übersicht «Churrätien im Frühmittelalter aus

historischer Sicht (4.-8. Jahrhundert)» von Sebastian Grüninger Sie dient dazu,

den Befund der Siedlungsgrabungen von Wartau/Ochsenberg (SG) in den

grösseren Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung Churrätiens im

Übergang von der Antike zum Mittelalter einzuordnen und stützt sich

insbesondere für die Darstellung der Siedlungs-, Sozial- und

Wirtschaftsstrukturen auf die Lex Romana Curiensis, das Tellotestament, die

Capitula Remedii, das Reichsgutsurbar und die rätischen Urkunden. Doch

werden auch die kirchlichen und sprachlich-ethnischen Verhältnisse erörtert.

Das so entstandene Gesamtbild ist sehr differenziert, gewonnen aus einer

geschickten Gegenüberstellung von Quellenbefund und forschungs-

geschichtlich verschiedenen Deutungsmodellen.

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Weitaus knapper als diese beiden Gesamtdarstellungen sind dagegen, wie

könnte es anders sein, die Beiträge zum frühmittelalterlichen Churrätien bzw.

zu Graubünden oder zu den Rätern und Rätien in den Lexika, so der Artikel

«Graubünden» im Historischen Lexikon der Schweiz (2006) oder die Artikel

«Raeter», «Raetien» im Reallexikon der Germanischen Altertumskunde

(2003). Sie bieten den Vorteil, dass sie zeitlich übergreifend Antike und

Frühmittelalter umfassen und die Hauptquellen und die neuere Literatur

nachweisen. Eine letzte Publikation allgemeinen Charakters zum

frühmittelalterlichen Churrätien ist noch zu erwähnen, die zwar nicht den

neuesten Forschungsstand wiedergibt, aber gleichwohl von mehr als nur

forschungsgeschichtlichem Interesse ist. Es ist die Aufsatzsammlung von P.

Iso Müller, Frühes Mittelalter in Graubünden und der Schweiz (2001), in der

eine ganze Reihe von Beiträgen insbesondere zur churrätischen Hagiographie,

zur Kirchengeschichte und zu den frühen rätischen Texten wie dem

Tellotestament wiederabgedruckt sind, d. h. nach Meinung der Herausgeber

die «wesentlichen Beiträge Müllers …..‚ von denen keiner veraltet ist» Diese

S. 238: begründete Einschätzung mag es rechtfertigen, den Sammelband hier zum

Abschluss der Übersicht über die allgemeinen Werke zur frühmittelalterlichen

Geschichte Churrätiens aufzuführen.

2. Beiträge zu Einzelproblemen

a) Politische Organisationsformen

Die Darstellung der politischen Entwicklung und Organisation Rätiens in

römischer, ostgotischer und fränkischer Zeit beruht auf einem zahlenmässig

beschränkten Corpus von Schriftquellen, auf die sich die Forschung seit

Jahrzehnten stützt, um die verschiedenen Etappen des Wandels der römischen

Provinz Raetia Ia zum ducatus, zur provincia, zum comitatus, pagus oder

pagellus Raetiae Curiensis des Frankenreiches zu klären. Die Zahl der Schrift

quellen ist auch im letzten Jahrzehnt durch keinen spektakulären Neufund

erweitert worden. Trotzdem erscheinen viele neuralgische Punkte der

politischen Entwicklung des frühmittelalterlichen Rätiens in einem anderen

Licht. Neue Ansätze der Quellenkritik, neue Deutungen und neue

Fragestellungen führen zu Modifizierungen unserer Vorstellungen vom dux

bzw. ducatus im römisch-ostgotisch-fränkischen Verband, von Rätien als

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umstrittener Grenzregion zwischen Franken, Goten, Byzantinern, Langobarden

und Bayern, da mit von der Ausdehnung und politischen Zugehörigkeit der

Provinz, schliesslich von der Form der Eingliederung in das Frankenreich bzw.

den Grad von Autonomie und Integration.

Dass eine andere geographische Perspektive ebenfalls zu neuen Deutungen

führen kann, erweist die Dissertation von Irmtraut Heitmeier, Das Inntal

(2005). Diese historisch-archäologische Untersuchung des Churrätien

benachbarten inneralpinen Raumes, der ungefähr mit dem heutigen Nordtirol

umschrieben werden kann, ist eine siedlungsgeschichtliche und raumpolitische

Studie des Gebietes der Breonen, deren Geschichte von ihrer ersten Nennung

in der Zeit des Augustus bis zu ihrer letzten Erwähnung

S. 239: im 8. Jahrhundert der Leitfaden der Darstellung ist. Es geht dabei um ihre

politische und soziale Verfasstheit, ihre sprachliche und kulturelle

Zugehörigkeit sowie ihre Eigenschaft als vorgeschichtliche, die Raumordnung

der Römer überdauernde gens. Parallelen und Berührungspunkte mit der

antiken und frühmittelalterlichen Geschichte (Chur-)Rätiens gibt es viele, so

bei der Erörterung von Funktionen, Amtsbezirk und -sitz des in der Notitia

dignitatum um 400 genannten dux beider Rätien (s. oben S. 15,20). Diesem

unterstanden bei den Grenztruppen der beiden Provinzen ein für den

Nachschub der Legion in Regensburg verantwortlicher praefectus und ein

tribunus gentis per Raetias deputatae, beide mit Sitz in Teriolis/Zirl-

Martinsbühel, also dort, wo die Brennerroute den Inn überquerte, zum

Seefelder Sattel und von dort weiter nach Augsburg führte Der Name der gens,

welche der tribunus befehligt, wird nicht genannt. Die Anbindung an das

castrum Teriolis lässt I. Heitmeier vermuten, dass es sich hier nicht um eine

barbarische gens, sondern um eine mit militärischen Funktionen betraute

«altansässige Gruppe der Inntalbevölkerung», mithin um die Breonen

gehandelt hat Diese hatten nach I. Heitmeier als kaiserliche

Kolonengemeinschaft peregrinen Rechts in der als grosser kaiserlicher

Domänenbezirk und nicht als civitas organisierten Passfusslandschaft des

Inntals in der frühen und mittleren Kaiserzeit ihre gentile Bindung beibehalten.

Sie hatten sich nach der (kurzen) Phase einer territorialen Neuordnung

(Gliederung in pagi) «regentilisiert», weshalb sie um 400 als gens per Raetias

deputata bezeichnet werden konnten

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Als gens mit militärischen Aufgaben unterstanden die Breonen um 400 einem

tribunus. Hundert Jahre später befehligte der dux Raetia rum Servatus im

ostgotischen Dienst die milites im inneralpinen Grenzgürtel (den munimina

Italiae et claustra provinciae) sowie die Breonen, von denen es ausdrücklich

heisst, dass sie kriegsgeübt und bewaffnet seien (militaribus officiis assueti...

armati) (s. oben S. 24-27). Laut I. Heitmeier sind die Breones armati mit der

gens per Raetias deputata gleichzusetzen und sie schliesst daraus: «Danach

hatten die Breonen im Rahmen der Militärorganisation des rätischen Dukats

einen festen militärischen Auftrag an der Brennerstrasse, der zu Beginn des 5.

Jahrhunderts teilweise in der Produktion, vor allem aber in der technischen

Abwicklung und Sicherung des Nachschubs für die Truppen an der

Reichsgrenze bestand». Sie waren von den milites unterschieden, waren auch

keine regulären Grenztruppen (limitanei) oder römische Milizen, sondern,

S. 240: wie I. Heitmeier in Analogie zu den Salzburger exercitales vermutet,

«Kolonen auf kaiserlichem Domänenland bzw. Pächter auf militärischem

Nutzland», die neben ihrer Pacht auch die munera, zu denen militärische

Pflichten zählten, zu leisten hatten Es entspricht der Bedeutung des

Kastellhügels von Teriolis /Zirl-Martinsbühel in ostgotischer Zeit, wenn hier

von I. Heitmeier auch die von dem Geographen von Ravenna genannte

Thedoricopolis lokalisiert wird (s. oben S. 2Sf.). Als Sitz des dux Raetiarum

kommt das spätantike castrum auf dem Martinsbühel eher in Betracht als Chur,

denn «im Schutz der nördlichen Gebirgskette bildeten das Inntal und seine

Fortsetzung über den Arlberg bis ins Alpenrheintal eine west-östliche

Operationsbasis, von der aus man einerseits das Voralpenland kontrollieren,

andererseits die Passstrassen nach Süden sperren konnte. Es bildete zusammen

mit dem Engadin die natürliche inneralpine Verbindung zwischen der Raetia I

und der Raetia II, die einem gemeinsamen Oberbefehl unterstanden»

Was geschah mit dem ducatus beider Rätien, der zur Präfektur Italien gehörte,

in fränkischer Zeit? Nachdem 536/37 die Ostgoten den Franken die Provence

und die Herrschaft über die Alemannen und angrenzende Gebiete - worunter

Rätien verstanden wird - abgetreten hatten, und zwar in durch aus vertraglicher

Form, wurde der ducatus vermutlich von den Franken unter Beibehaltung der

militärischen und administrativen Organisation weitergeführt (s. oben S. 30f.)

Umkämpft von Franken, Byzantinern, Langobarden und Bayern, scheint der

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inneralpine Gürtel der beiden Rätien, wenn auch mit Schwankungen, aufs

Ganze gesehen doch fest in fränkischer Hand geblieben zu sein. Das ergibt sich

aus den beiden Reisen des Venantius Fortunatus von Venetien ins

Frankenreich und zurück: 565 aufgrund des byzantinischen Drucks über den

schnellsten Weg in den fränkischen Herrschaftsraum, durch das Drau- und

Pustertal, durch das Eisacktal über den Brenner

S. 241: zu den Breonen am Inn, dann durch bayerisches Gebiet nach Augsburg, um

575 auf der Rückreise unter Umgehung des bayerischen Gebietes und des

langobardischen im Süden über die westliche Route des Reschenpasses und

des Vintschgaus, die beide in fränkischer Hand waren. Dass beide Reisewege

durch die jeweiligen politischen Konstellationen vorgegeben waren, hat I.

Heitmeier zeigen können Um 565 hatte die fränkisch-byzantinische Spannung

Venantius, der wie Bischof Vitalis von Altinum zur antibyzantinischen

Opposition gehörte, veranlasst, schnellstmöglich fränkisches Gebiet zu

erreichen. Um 575 hatte sich die Situation, nach der Einwanderung der

Langobarden in Italien (568), grundlegend gewandelt. Die Franken und

Byzantiner hatten ein Zweckbündnis gegen die langobardisch-bayerische

Verbindung geschlossen. In diesem grösseren politischen Zusammenhang

gesehen ist die Aktion des fränkischen dux Chramnichis im Val di Non und im

Trentino nicht ein lokales Ereignis gewesen (vgl. oben S. 32, nach H. Büttner),

sondern eine Reaktion auf die Hochzeit des langobardischen dux Evin mit der

Tochter des bayerischen dux Garibald, mit welcher das langobardisch-

bayerische Bündnis beginnt. Die Ermordung des austrasischen Königs Sigibert

I. (575) hat an scheinend dem bayerischen dux den Anlass geboten, nach

Süden auszugreifen. So gehören die Kämpfe um 575 wie jene von 584/85, 588

und vor allem jener Heereszug des dux Chedinus von 590 alle zu der durch die

fränkisch-langobardischen Spannungen bestimmten Grosswetterlage Ende des

6./An fang des 7. Jahrhunderts, wie Jörg Jarnut schon 1985 gezeigt hat und wie

es die neuere Forschung bestätigen konnte.

Die Neubewertung der Ereignisse von 575 bis 590 veranlasst, zwei Fragen neu

zu überdenken: 1. Welche Stellung hatten die fränkischen duces Chramnichis

und Chedinus? 2. Wie weit reichte die fränkische Herrschaft im Osten der

Raetia Ia, mithin: Ab wann gehörte der Vintschgau zur Raetia Ia, und zählten

gegebenenfalls noch weitere Gebiete zu Churrätien?

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Oben (S. 40) ist die Vermutung ausgesprochen, dass bis ins 7. Jahrhundert das

Amt des spätantik-ostgotischen dux weitergeführt worden sei,

dementsprechend der 575 im Vintschgau und Trentino bezeugte dux

Francorum Chramnichis «dux des merowingischen Dukats Rätien gewesen

sein» kann.

S. 242: Dies lässt sich nun, wie I. Heitmeier im Anschluss an D. Claude ausgeführt

hat, auch für Chedinus mit guten Gründen annehmen. Beide duces waren wohl

von den Merowingern als duces Raetiarum eingesetzte Franken. Dem

widerspricht die Aussage von Herwig Wolfram: «Spätestens mit dem Ende der

Ostgotenzeit erlosch das Amt des raetischen Dux und wurde nicht mehr

nachbesetzt». Der westfränkische Name des dux Chedinus lebt nach I.

Heitmeier in dem Ortsnamen Hötting (Erstbeleg 1122-35: in villa Heteningen,

heute nordwestlicher Stadtteil von Innsbruck) fort. Der Name und die

strategisch günstige Lage des Ortes «am hochgelegenen Nordufer des Inn

gegenüber Wilten» lassen vermuten, «dass der Namengeber dieser fränkische

dux war», mithin dass auch das Inntal mit der Brennerroute dem dux

Raetiarum als dux beider Rätien (Raetia I und II wie dem spätantik-

ostgotischen dux Servatus unterstand. Das führt zur zweiten Frage, der nach

der Ausdehnung der fränkischen Herrschaft, der Grenze zwischen der Raetia I

und II und der Zugehörigkeit des Vintschgaus zur Raetia I.

Neue Quellenfunde, etwa Inschriften, die auf die römischen Provinzgrenzen

Bezug nehmen würden, gibt es zu diesem Fragenkomplex nicht. Deswegen

gründen alle alten und neuen hypothetischen Rekonstruktionen auf der

Interpretation der mittelalterlichen Zeugnisse, auf Analogieschlüssen und auf

der Annahme, dass die mittelalterlichen Bistumsgrenzen im grossen und

ganzen mit den römischen Provinzgrenzen übereinstimmen, so auch das oben

entwickelte Modell der Grenze zwischen Raetia I und II entlang der Linie

Bregenz-Arlberg-Münstertaler Alpen-Stilfserjoch (s. oben S. 16-18) und der

Zugehörigkeit des Vintschgaus zum Churer Bistum erst seit der Expansion der

Franken im Alpengebiet unter Theudebert 1. (533-547) und seinen

Nachfolgern (s. oben S. 30-32, 34f.). Diese These und die Gegenthese, wonach

der Vintschgau schon in römischer Zeit zur Raetia I gehörte, sind erneut von R.

Kaiser (1999) erörtert worden.

- 16 -

Aufgrund der Beobachtungen zum ducatus Raetiarum und zum Breonenland

als unter direkter fränkischer Herrschaft stehendem Puffer zwischen

S. 243: Bayern und Langobarden kommt Irmtraut Heitmeier zu einer neuen

Hypothese, wonach der Vintschgau schon Teil der römischen Raetia I war und

536/37 mit dieser per Vertrag an die Franken kam. Aber auch das Gebiet des

oberen Inntals westlich von Imst mitsamt den Seitentälern Stanzertal (Arlberg-

Route), Paznaun und Samnaun haben danach zur Raetia I gehört. Erst nachdem

um 916 der Raum zwischen Imst und Finstermünz als Immunität aus dem

Herrschaftsgebiet der Luitpoldinger herausgelöst worden war, habe die

Neuorientierung, d.h. die Nordorientierung eingesetzt, die dann zur

Modifikation der Bistumsgrenze geführt habe Das Inntal östlich von Imst (wo

der charakteristische Flurname Finais = finis auf die ehemalige römische

Provinzgrenze hinzuweisen scheint), ursprünglich zur Raetia II, d. h. zum

Bistum Säben, gehörig, ist laut I. Heitmeier nach 591 von den Franken von

Säben gelöst und kirchlich Chur angeschlossen worden, entsprechend dem

militärischen Amtsbezirk des dux Raetiarum. Bis nach 739 gehörte das Inntal

bis zur Einmündung des Zillers, d.h. der pagus Vallensium, demnach zum

Churer Sprengel. Erst nach der Übernahme durch den Bayernherzog Tassilo

III. (757) wurde es wieder mit Sähen verbunden und 798 Teil der

Kirchenprovinz Salzburg

Die postulierte starke fränkische und Churer Präsenz im Osten der Raetia I,

bzw. des Bistums Chur hat, wie die Vita Corbiniani zeigt, bayerische

Amtsträger nicht gehindert, zeitweise im Bozener und Meraner Raum zu

wirken. Die Herrschaftsverhältnisse in diesem neuralgischen Gebiet, in

welchem fränkische, bayerische und langobardische Interessen

zusammenstossen, sind komplex und wechselnd gewesen, wie sich auch aus

der Dissertation von Lothar Vogel ergibt, dessen Thesen zur Herkunft und zum

Wirken des heiligen Corbinian, den Vogel «als einen aus Mölten (in einem

linken Nebental

S. 244: des Etsch zwischen Meran und Bozen gelegen, R. K.) stammenden

Alpenromanen ansieht», auf starken Widerspruch gestossen sind Die

Dauerhaftigkeit der von den merowingischen Franken übernommenen und

weitergeführten römisch-ostgotischen militärisch-politischen

Raumorganisation der inneralpinen Gebiete der Raetia I und II und den erst

- 17 -

späten bayerischen Zugriff darauf der in der Form einer Schaffung von

Herrschaftsmittelpunkten und nicht in der Form einer Landnahme erfolgte, hat

I. Heitmeier, ihre Thesen zusammenfassend, auch für den Raum südlich des

Brenners, insbesondere das Eisack- und das Pustertal, neuerdings betont.

Wenn die merowingischen Frankenkönige ein so starkes Interesse am Erhalt

und am Funktionieren des inneralpinen Grenzgürtels des ducatus bei der

Rätien sowie an der direkten Herrschaft über diese Gebiete hatten, wie für den

östlichen Raum nach den neueren Forschungen erwiesen, dann gewinnt das

späte Zeugnis der Barbarossa-Urkunde von 1155, welche die Grenzfestlegung

zwischen den Bistümern Chur und Konstanz und die Demarkation zwischen

Burgund und Churrätien zur Zeit König Dagoberts (623/29-639) beschreibt, an

Glaubwürdigkeit, wie oben (S. 38f.) bereits aus geführt. In der späten Tradition

lassen sich die Spuren eines fränkischen Engagements und einer fränkisch

bestimmten grösseren politisch-kirchlichen Raumordnung fassen, die sich

nicht nur in solchen punktuellen Einzelmass nahmen erschöpft haben wird, wie

sie in der Stauferurkunde für die Nordwestgrenze der Rhetia Curiensis bezeugt

ist. In den Forschungen zum Bistum Konstanz und zum ducatus Alamanniae

wird die Barbarossa-Urkunde neuerdings ebenfalls positiver gesehen, ohne

dass der Zusammenhang mit der inneralpinen Raumgliederung beachtet würde,

so von Helmut Maurer, der für die Fixierung der Bistumsgrenzen einen zeitlich

gestaffelten Vorgang, der

S. 245: zudem stark durch die kirchlichen und königlichen Grundbesitzverhältnisse

geprägt ist, annimmt, wobei nicht die Zeit Dagoberts, sondern «das 8.

Jahrhundert als die entscheidende Zeit für die Festlegung des Grenzzuges

zwischen Konstanz und Chur anzusehen sein» dürfte Hagen Keller datiert die

«Abmarkung Alemanniens, des Bistums Konstanz, des Amtssprengels der

Herzöge im Bodenseeraum?» - auf die Spätzeit Dagoberts und möchte einen

Zusammenhang mit «der 634/35 von den Grossen erzwungenen

Reichsteilung» zwischen den Söhnen Dagoberts, Sigibert III. und Chlodwig II.,

sehen Die Neufestlegung der Grenze, gleichgültig, ob unter Dagobert oder

einem späteren Merowinger erfolgt, reduziert zwar den Umfang der Raetia I

im Raum des Alpenrheintals, geht aber, wenn Burgundia und Curiensis Rhetia

voneinander abgegrenzt werden, vom Weiterbestand des ducatus oder der

provincia aus.

- 18 -

Spätestens seit dem 7. Jahrhundert wird die rätische provincia von der wohl auf

einen fränkischen Amtsträger namens Zacco zurückgehenden Familie der

Zacconen/Victoriden beherrscht (s. oben S. 46-50). Entgegen den Versuchen

Iso Müllers, den Namen des Spitzenahns als vorrömisch zu erweisen (s. oben

S. 48), betrachten ihn Stefan Sonderegger und Wulf Müller offenbar als

germanisch, weshalb an der oben gegebenen Deutung festgehalten werden

kann. Die 1972 wieder aufgefundene Inschrift auf Vintschgauer (Laaser)

Marmor, die der praeses Victor in der 1. Hälfte des 8. Jahrhunderts schreiben

liess, der sogenannte Victoridenstein, ist wie auch die Inschrift des Churer

Bischofs Valentian (gest. 548) (vgl. oben S. 97f.) neu ediert und kommentiert

von Marina Bernasconi Reusser.

Die Herrschaft der Zacconen/Victoriden ist eine typische Form familialer

Samtherrschaft, die sich im 8. Jahrhundert zur Bischofsherrschaft steigert (s.

oben S. 45, 50). Sie gehört, verfassungsstrukturell gesehen, zu jenen spätantik-

frühmittelalterlichen, geistlich-weltlichen Formationen, über deren Entstehung

und Verbreitung in den letzten Jahren viel gestritten worden ist. Da Chur die

letzte dieser Bischofsherrschaften, «Bischofsstaaten», «Bischofsprinzipate»

S. 246: o. ä. gewesen ist, die erst um 806 durch Karl den Grossen aufgelöst wurde,

wird Chur als klassisches Beispiel eines solchen Prinzipats und einer divisio

inter episcopatum et comitatum immer wieder behandelt, zuletzt von Hans

Hubert Anton, der die verschiedenen Thesen dazu referiert, die verschiedenen

Phasen und Typen dieser Bischofsherrschaften, ihre Ausgestaltung und das

Verhältnis der Bischöfe zu den Königen bzw. Hausmeiern untersucht.

Das zwischen Autonomie und Integration schwankende Verhältnis zwischen

dem rätischen rector/episcopus einerseits, den merowingischen und

karolingischen Königen andererseits ist Abbild der Spannung zwischen

Peripherie und Zentrum, die überall in den Randgebieten des Frankenreiches

zu beobachten ist. Sie spiegelt sich in Karls des Grossen Schutzprivileg von ca.

773, wie R. Kaiser gezeigt hat Die Beziehungen Rätiens zum Frankenreich

sind danach vertraglich abgesichert gewesen, wohl spätestens seitdem

Childerich II. 673 das partikulare Recht (lex ac consuetudo) der einzelnen

patriae und so auch der patria bzw. des territorium Raetiarum hat anerkennen

müssen, vielleicht aber sogar schon seit dem ostgotisch-fränkischen Vertrag

von 536/37. Als Rectorat ist Raetien mit der unter einem rector/patricius

- 19 -

stehenden Provence bzw. den Aussendukaten wie Alemannien oder Bayern

vergleichbar, staatsrechtlich ein Teil des Frankenreiches. Dies konnte mit einer

weitgehenden Autonomie für die Binnenstruktur durchaus vereinbar sein. Die

in der Karlsurkunde angedeutete komplizierte Einsetzung des rector/episcopus

durch Wahl und durch Bestellung durch den König könnte wie in Istrien noch

Anfang des 9. Jahrhunderts auf ein Gesetz des frühbyzantinischen Kaisers

Justinus II. von 569 zur Wahl der Provinzgouverneure zurückgehen und von

der merowingisch-karolingischen Praxis der Bischofsbestellung beeinflusst

sein, die eine Verschränkung von Wahlprinzip und Herrschereinsetzung kennt.

Das Schutzprivileg steht im Kontext der Langobarden- und Bayernpolitik

Karls des Grossen, in dem wohl auch die Gründung des Klosters Müstair zu

sehen ist (siehe unten S. 269-271). Dass sich der fränkische Einfluss in

Churrätien in der Zeit Karls des Grossen verstärkt hat, ist unübersehbar.

S. 247: Eine Schlüsselrolle in den rätisch-fränkischen Beziehungen um die Wende des

8. zum 9. Jahrhundert hat zweifellos Bischof Remedius gespielt (s.o. S. 52-56).

Ob er als eine landfremde Kreatur Karls des Grossen oder als Einheimischer

anzusehen sei, ist strittig (s. oben S. 52), wie sich aus den gegensätzlichen

Positionen von I. Heitmeier (Westfranke) und R. Kaiser (Einheimischer)

ergibt, die sich beide u. a. auf namenkundliche Argumente stützen. Dass die

nach ihm benannten Capitula Remedii von ihm verfasst und von ihm als

Novelle zur Lex Romana Curiensis erlassen worden seien, ist angesichts des

Wirkens des westfränkischen missus und (seit 803) Bischofs von Reims

Wulfar in Rätien und der durch ihn vermittelten Übereinstimmungen mit dem

von Aachen ausgehenden Kodifizierungsschub von 802/803 unwahrscheinlich,

wie R. Kaiser gezeigt hat Die Capitula Remedii sind danach nicht Ausfluss der

«dux-ähnlichen Stellung» des rector/episcopus Remedius (vgl. oben S. 53),

sondern «ein durch den missus aufgrund des kaiserlichen Gebotes veranlasstes

Capitulare legi additum»

Dass die berühmte divisio inter episcopatum et comitatum in Chur nicht mit

dem mutmasslichen Tod des Bischofs Remedius (806) und einer an

schliessenden Sedisvakanz zu erklären ist, sondern eher, wie oben (S. 55f.)

angedeutet, mit Karls des Grossen Reichsteilungsplan (divisio regnorum) von

806, ergibt sich aus der gleichzeitigen Auflösung der benachbarten, seit der

Spätantike mit militärischen und wirtschaftlichen Funktionen betrauten

- 20 -

Breonengemeinschaft des Inntals In dem im Rückgriff auf die ehemalige

Präfektur Italien geplanten regnum Italiae sind Sonderbildungen wie die

churrätische Bischofsherrschaft oder die Breonengemeinschaft ein

Fremdkörper. Das Ergebnis der geplanten restauratio ist für beide Gebiete das

gleiche, nämlich das Paradox, dass aus verfassungsrechtlicher Sicht die

Wiederherstellung der italischen Raumeinheit das Ende der Antike für die

beiden inneralpinen Regionen bedeutet.

Die im Laufe des 9. Jahrhunderts häufig wechselnde Zugehörigkeit

Churrätiens zu dem einen oder dem anderen karolingischen Reichsteil bzw.

Teilreich wird schlaglichtartig durch die Auswertung von Münzfunden erhellt.

Ein Hortfund mit Münzen Lothars 1. (840-855), davon 15 aus Mailand, 2 aus

Pavia, der in Lauterach bei Bregenz gefunden worden ist, könnte durchaus

S. 248: mit dessen Bemühungen in Zusammenhang stehen, die ihm 839 bei der

Reichsteilung mit Karl dem Kahlen (s. oben S. 63) zugefallenen Dukate Elsass,

Alemannien und Churrätien mit dem Süden zu verbinden, ein Bemühen, das

spätestens mit der Reichsteilung von Verdun (843) gescheitert ist (s. oben S.

64). Jedenfalls bezeugt der Hortfund von Lauterach die münzpolitisch südliche

Anbindung des Raumes in den kritischen Jahren des karolingischen

Bruderzwistes.

Die seit dem Beginn des 10. Jahrhunderts sich herausbildenden engen

Beziehungen zwischen Rätien und dem schwäbischen Herzogtum (s. oben S.

65-67) sind im grösseren Zusammenhang der Geschichte Südwestdeutschlands

bzw. des Herzogtums Schwaben von Thomas Zotz und Alfons Zettler

dargestellt worden Die komplizierten Rechts- und Besitzverhältnisse, die nach

dem Tode Herzog Burchards II. (926) zur Aufteilung Rätiens in verschiedene

Grafschaften (s. oben S. 67) und namentlich zur Ausbildung der Grafschaft

Vintschgau mit Einschluss des Unterengadins und des Münstertales geführt

haben, versuchen Rainer Loose und Irmtraut Heitmeier zu klären

b) Kult und Kirche, Kunst und Kultur

Die Geschichte des Frühmittelalters ist zu einem guten Teil Kirchengeschichte,

verstanden in dem allgemeinen Sinne einer im wesentlichen durch die Kirche

geprägten Geschichte. Das gilt im allgemeinen wie im besonderen für

- 21 -

Churrätien, nicht nur weil hier wie in anderen Gebieten die aller meisten

Schriftquellen von Klerikern verfasst, geschrieben und überliefert sind, weil

die kirchlichen Institutionen und die kirchliche Organisation als solche ein

besonderes Beharrungsvermögen haben, mithin besonders starke

Kontinuitätsträger sind, sondern weil im rätischen Raum die materiellen

Überreste des Frühmittelalters in ganz besonderer Qualität und kaum

S. 249: anderwärts anzutreffender Quantität in den noch aufrecht stehenden oder

ergrabenen Kirchenbauten und in der Sakralkunst zu fassen sind. Diese

Besonderheit erklärt, wie oben gezeigt, die herausragende Position

Graubündens in der archäologisch-historischen Forschung zur

frühmittelalterlichen Schweiz Sie erklärt weiterhin, warum zu vielen

Einzelaspekten, zu Heidentum und frühem Christentum, zu den Kultbauten,

zur Stellung des Bischofs zu den Klöstern, zu Kult, Kultur und Kunst,

schliesslich zur Frage der Pfarrorganisation und der Eigenkirche, zahlreiche

neue Forschungsergebnisse vorliegen.

Zusammenfassende Darstellungen sind demgegenüber selten. Den historischen

Hintergrund für die archäologisch orientierten Untersuchungen zu den «Frühen

Kirchen im östlichen Alpengebiet» skizzieren knapp und präzise Josef

Ackermann und Sebastian Grüninger in ihrem Beitrag «Christentum und

Kirche im Ostalpenraum im ersten Jahrtausend. Neben den bei den zur

Präfektur Italien gehörenden Provinzen Raetia I. und II. behandeln sie auch die

zur Praefektur Illyrien zählenden östlichen Nachbarprovinzen Ufernorikum an

der Donau und Binnennorikum an der Drau. Den Leitfaden in dieser

vergleichenden Betrachtung bildet die Geschichte der Raetia I, weil hier allein

eine ungebrochene Kontinuität der Verhältnisse anzutreffen ist und gleichwohl

die Einflüsse aus Italien, dem Balkanraum und Gallien zu greifen sind. Das gilt

für die Phase der Christianisierung und Ausbreitung des Christentums wie für

die Kirchenorganisation, die merowingisch-karolingischen Neuordnungen

durch Gründung des Bischofssitzes Konstanz oder der bayerischen Bistümer

oder für die Umorientierung von Mailand nach Mainz (für Chur) wie von

Aquileja nach Salzburg (für Säben). Das gilt aber auch für das Klosterwesen,

für welches die beiden Autoren das fränkische (königliche) Einwirken stärker

gewichten als die gängige Forschung. Diese betont eher die kirchenpolitische

Autonomie in den Herzogtümern Alemannien und Bayern sowie im Churer

- 22 -

«Bischofsstaat». Die neue Gewichtung hat Konsequenzen für die Gründungen

von Pfäfers (Reichenau) und Müstair. Die zumal in Churrätien nachweisbaren

zahlreichen Landkirchen werfen die Frage der Pfarrorganisation, der

Eigenkirchen und der Stiftergräber auf, für welche die beiden Autoren einen

signifikanten Unterschied zu den östlichen Provinzen des Alpenraumes

feststellen.

S. 250: An ein grösseres Publikum wenden sich die Hefte «Geschichte der Kirche im

Bistum Chur». Das erste, verfasst von Michael Durst, behandelt die Zeit «Von

den Anfängen bis zum Vertrag von Verdun (843)» Das Heft ist reich mit

Abbildungen, Plänen und Karten versehen, von denen viele auch schon in

diesem Buch zu finden sind, ohne dass dies erkennbar vermerkt wäre. Nach

einem kurzen Rückblick auf die Romanisierung und Christianisierung der

Schweiz werden in chronologischen Schritten die Anfänge des Bistums Chur,

die bauliche Gestaltung von St. Stephan, St. Andreas und der Kathedrale, das

Gräberfeld von Bonaduz, die Friedhofskirche in Schiers, die Kirchen mit

Baptisterien in Schaan und Zillis, die Kirche in Sagogn/Sagens, die Zeugnisse

der Sakralkunst (St. Lorenz in Paspels), ferner das Wirken der Bischöfe von

Asinio (451) bis Verendar (836-843), der Glaubensboten Luzius, Columban

und Gallus, Fridolin und Gaudentius sowie Florinus dargestellt, ferner die

Klostergründungen von Cazis, Mistail, Disentis, Pfäfers, Müstair sowie

Schänis untersucht und abschliessend eine Übersicht über eine Reihe von

archäologisch und durch die Schriftquellen bezeugten Kirchen geboten, die

eine Vorstellung von der Dichte des Pfarrnetzes in den einzelnen

Siedlungskammern vermitteln soll, aber - verständlicherweise - nicht mit der

Fülle des Materials der Kataloge in «Frühe Kirchen im östlichen Alpengebiet»

konkurrieren kann.

In den grösseren Zusammenhang der Christianisierung des Gebiets der

heutigen Schweiz stellt Michael Durst «Die Anfänge der Kirche im Bistum

Chur» In Analogie zu den Bistümern Oberitaliens und der Westschweiz und

aufgrund des Zeugnisses zum Bischof Asinio (451), dem ersterwähnten

Bischof von Chur (s. oben S. 96f.), vermutet er mit der gängigen Forschung,

dass das Bistum Chur und die Anfänge der Christianisierung der Raetia I. auf

die Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert zurückgehen. Dafür sprechen die frühen

Baubefunde unter der Kathedrale, bei St. Stephan und St. Andreas! St. Luzi,

- 23 -

die ausführlich besprochen werden, und dazu die christlichen Zeugnisse der

spätantik-frühmittelalterlichen Gräberfelder von Bonaduz und Schiers sowie

die Kirchenbauten in Schaan (FL), Zillis, Sagogn und auf Hohenrätien

(Hochrialt), denen jeweils kurze Abschnitte gewidmet sind.

Einzelforschungen zur Geschichte von Kult und Kirche, Kunst und Kultur

liegen in grosser Zahl vor. Sehr kühn ist der Versuch von Randon Jerris, eine

Brücke zwischen den durch Megalithen nachgewiesenen Kultstätten der

S. 251: vorhistorischen Zeit und den Kirchenbauten des frühen Mittelalters zu

schlagen. Insbesondere sollen die Kirchengründungen des 8.-10. Jahrhunderts

auf den Sonnenterrassen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem

vorchristlichen Sonnenkalender und den bäuerlichen Kultbräuchen stehen.

Gestützt auf die Arbeiten von Ulrich und Greti Büchi, Ignaz Cathomen, Josef

Styger u.a. wird diese These am Beispiel von Falera und Disentis illustriert,

beweisen lässt sie sich nicht, auch nicht durch den Hinweis auf die Präsenz des

Heidentums in den Viten der heiligen Gaudentius, Lucius und Florinus sowie

in der Lex Romana Curiensis und den Capitula Remedii, dafür sind die

Anspielungen darin jeweils zu vage.

Unmittelbar in die Zeit vor der Christianisierung führt der Überblick über Kult

und Glaube, heilige Orte, Tod und Jenseitsvorstellungen in der Antike von

Stefanie Martin-Kilcher und Andrea Schaer im Handbuch der Bündner

Geschichte. Behandelt werden insbesondere die Heiligtümer auf dem Julier

und auf der Passhöhe der St. Luzisteig und dazu die generelle Aussage gewagt:

«Bei allen Strassenstationen und Rasthäusern stand ein Heiligtum oder

wenigstens eine Kapelle (Aedicula)», wofür die kleinen Lavezaltäre des

Mercurius Cissonius aus Bondo-Muraia und vielleicht die vier Lavezaltäre aus

Sils-Baselgia zeugen, die dem Handelsgott Merkur und den Vegetations- und

Hirtengottheiten Diana, Silvanus und Pastores geweiht waren (s. oben S. 70).

Die Kulthöhle von Zillis ist in den letzten Jahren mehrfach von Jürg Rageth

und Alfred Liver untersucht und dargestellt worden (s. oben S. 80-82). Das

dort gefundene Kultgefäss (Schlangenvase) weist starke Parallelen zu einem

ähnlichen «in einem möglichen Mithraeum in Bornheim-Sechtem bei Bonn ...

im Frühjahr 1999» entdeckten auf was zusammen mit den Tierknochenfunden,

die auf Opfertiere und Kultmähler verweisen, die These stärkt, dass in Zillis,

wie S. Martin-Kilcher und A. Schaer sehr vorsichtig formulieren, «eine

- 24 -

Gottheit verehrt wurde, die dem in einer Höhle geborenen persischen Lichtgott

Mithras zumindest nahesteht. Für ein eigentliches Mithräum fehlen allerdings

sowohl die Inneneinrichtungen, nämlich Liegeflächen

S. 252: für das kultische Mahl, als auch Hinweise auf ein Kultbild oder Inschriften.

Die westlich unterhalb der Höhle gefundenen Gräber, in Nord-Süd-Richtung,

stammen nach den C14-Analysen aus dem Frühmittelalter (8./9. Jahrhundert).

J. Rageth und A. Liver neigen dazu, in den dort Bestatteten Anhänger des

heidnischen Kultes zu sehen, das wirft die Frage «nach dem verzögerten

Christianisierungsprozess im Raum Zillis» bzw. nach dem Rückfall der

Landbevölkerung «in alte heidnische Bräuche und Traditionen» auf.

Frühe Zeugnisse einer durchgreifenden Christianisierung weist dagegen das

grosse Gräberfeld von Bonaduz auf (s. oben S. 71f.), wie Renata Windler unter

Hinweis auf die beiden als Memorien gedeuteten Grabbauten betont. Gegen

eine inflationäre Verwendung des Begriffs «Memoria» wendet sich H. R.

Sennhauser in seiner höchst instruktiven Übersicht: «Frühchristliche und

frühmittelalterliche kirchliche Bauten in der Diözese Chur und in den nördlich

und südlich angrenzenden Landschaften». Bauten ohne Heiligengrab oder

Reliquien sollten nicht als Memorien, sondern neutral als Grabbauten,

Grabkammern oder -häuser bezeichnet werden Die Grabbauten in Schiers (s.

oben S. 72-74) nennt Sennhauser Friedhofskirchen, jene von

Tiefencastel/Cumpogna (s. oben S. 74), die Annexe im Norden der Kirche von

Bregl da Haida (Sagogn) oder südöstlich der Apsis der Marienkirche in Sagogn

oder den kleinen Grabbau südlich der Südkirche von Mistail (s. oben S. 132)

Grabkammern. Schwierig ist nach Sennhauser auch der Nachweis von

Taufkirchen (Baptisterien) (s. oben S. 75). Neben dem Baptisterium von St.

Peter innerhalb des castrum Schaan (FL) aus dem 5. Jahrhundert ist eine

Taufanlage in der Marienkirche von Disentis (8. Jahrhundert) (s. oben S. 134f.)

bezeugt und eine solche für Zillis anzunehmen, und zwar nach Parallelen aus

Dalmatien, während das Kathedralbaptisterium archäologisch offenbar noch

nicht nachgewiesen ist Sensationell ist daher geradezu das seit den Grabungen

ab 2001 bekannt gewordene, an einem älteren (Kirchen-)Bau angelehnte

Baptisterium mit achteckigem Taufbecken (5. /6. Jahrhundert) auf

Hohenraetien/Sils im Domleschg, errichtet

- 25 -

S. 253: bei einer Kirche in befestigter Höhenlage, wie man vorsichtigerweise die

früher «Kastellkirchen» genannten Bauten nennen muss. Ihre zentrale Lage im

spätantik-frühmittelalterlichen Wegenetz wird von dem Ausgräber M. Janosa

unterstrichen.

Die archäologischen und bauhistorischen Befunde der beiden ausserhalb des

castrum von Chur am Hang des Mittenberges gelegenen Grabkirchen St.

Stephan und St. Andreas/St. Luzi (s. oben S. 75-78) haben inzwischen neue

Deutungen erfahren. Die vor Mitte des 5. Jahrhunderts, spätestens um 500

erbaute gewölbte Grabkammer (Hypogaeum), um die herum ca. 500 oder in

der 1. Hälfte des 6. Jahrhunderts die Friedhofskirche St. Stephan errichtet

worden ist, zeigt an der Ostwand eine figürliche Ausmalung, die nach H. R.

Sennhauser als «Reste der Vorzeichnung von zweimal vier die Nische

rahmenden Figuren, als kranztragende, einem Christussymbol huldigende

Apostel gedeutet» werden, dazu sind «am Fuss der Nische Streifen eines

nachträglich eingearbeiteten Mosaiks, wohl als Vierstromberg mit Bild oder

Symbol Christi zu ergänzen». Erwogen wird neuerdings auch, dass es sich um

je sechs Apostelfiguren handelt.

Weitreichende Konsequenzen hat die Neudeutung der Befunde von St.

Andreas/St. Luzi (s. oben S. 75f., 108) durch H. R. Sennhauser. Er vermutet,

dass zwischen den beiden Grabkammern im Norden und im Osten

(Emeritakammer), die als Grablege der ersten Bischöfe von Chur seit dem

späten 4. Jahrhundert betrachtet werden können, noch vor 400 eine

Andreasmemorie errichtet worden ist (Bau 1). Im 6. Jahrhundert wurde sie

durch eine Saalkirche mit nicht eingezogener Apsis ersetzt. Aufgrund des

Grabsteins für Bischof Valentian (gest. 548, vgl. oben S. 69, 97f.) und einer

Notiz im Proprium Curiense von 1646 über eine Zelle bzw. ein Oratorium des

hl. Luzius, errichtet von Valentian, sowie der Präsenz der Victoridensteine in

St. Luzi (vgl. oben S.46, Abb. 2,S.42) nimmt H. R. Sennhauser an, «dass der

karolingischen Kirche (= Bau III) eine durch Bischof Valentian um 540

erbaute Kirche voranging».

S. 254: Sie diente als Grabkirche des Erbauers und der seit seiner Zeit in Chur

dominierenden (vielleicht mit ihm verwandten) Familie der

Zacconen/Victoriden. In der 1. Hälfte des 8. Jahrhunderts ist diese Kirche

durch den komplizierten Bau einer Saalkirche mit halbrund ummauertem

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Dreiapsidenschluss über einer Ringkrypta als Grabkirche des Bekenners

Luzius (und des Erbauers Valentian) ersetzt worden. In der Westkrypta, einer

Wandelgangkrypta, wäre das Grab des Gründerbischofs Valentian, im Osten in

der Ringkrypta das des hl. Luzius und in der daran anschliessenden

Grabkammer das der (erst im 11./12. Jahrhundert fassbaren) Emerita gewesen.

Der darüber befindliche Chorraum mit den drei hufeisenförmigen, gestelzten

Apsiden und den Altarstipites ist wegen seiner Grösse (das niedrigere

Laienschiff misst keine zehn Meter) und wegen seiner Raumanordnung - der

Priester scheint hinter dem Altar mit Blick auf die Gemeinde/Gemeinschaft

zelebriert zu haben - nach der Vermutung von H. R. Sennhauser als Mönchs-

oder Kanonikerchor zu deuten. Damit wäre mindestens für den Bau III des 8.

Jahrhunderts «ein Konvent als Hüter der Heiligengräber, Mönche oder

Chorherren, die für das Seelenheil der hier beigesetzten Stifter und Gönner

beten, ... anzunehmen» Zur Stütze dieser These verweist Sennhauser auf die in

der Vita Lucii genannten fratres reverendissimi, auf die Vermutung A.

Bruckners, in St. Luzi habe sich das Churer Scriptorium befunden, sowie auf

eine Fälschung P. Karl Widmers von 1656 - zehn Jahre nach dem Proprium

Curiense! - Beweisstücke, die nicht unbedingt tragfähig sind. Die Annahme

eines vorkarolingischen Klosters in St. Luzi ist von beträchtlicher Brisanz, weil

dadurch St. Luzi statt Müstair zu den drei Männerklöstern gehören könnte, die

bei der divisio von 806 dem Bischof entzogen worden waren (vgl. oben S. 128,

147). Müstair wäre demnach nicht als bischöfliches Kloster anzusehen,

sondern als Reichskloster, gegründet von Karl dem Grossen (s. dazu unten S.

269-271).

Durch eine erneute Interpretation des Grabungsbefundes und in kritischer

Auseinandersetzung mit den Gegenargumenten von Urs Clavadetscher so wie

aufgrund allgemeiner patroziniengeschichtlicher Beobachtungen wie der

Untersuchungen zu Marien- und Petruspatrozinien in spätantik-

frühmittelalterlichen

S. 255: Bischofsstädten bemüht sich Hans Rudolf Sennhauser darum, das Gebäude mit

der Bogenmauer im antiken vicus von Welschdörfli (Markthallenplatz) (s.

oben S. 78) als profanes Vereinshaus (schola) zu er weisen, das durch den Bau

einer Binnenapsis in der Spätantike (im späten 4. Jahrhundert oder um 400) zur

Kirche umfunktioniert worden sei, und er lokalisiert hier eine Peterskirche, die

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bei einer Bischofsstadt wie Chur analog zu anderen nicht fehlen dürfe. Von

seiner früheren Interpretation als Friedhofskirche rückt er ab und sieht in der

Bogenmauer auch nicht mehr eine Priesterbank, sondern eine Binnenapsis,

ähnlich wie in Zillis, wo bei fast deckungsgleichem Grundriss der Gebäude

eine ähnliche Abfolge von profanem und christianisiertem Bau vorgelegen

haben könnte. Die Analogien und Parallelen können keine Beweise ersetzen,

wie H. R. Sennhauser zugibt:

«Beweise lassen sich nicht beibringen» Dass eine Kirche mit einem so

wichtigen Patrozinium wie Petrus im Stadtgebiet von Chur abgehen konnte, sei

es in karolingischer oder schon in vorkarolingischer Zeit, ist erstaunlich, weil

alle anderen Churer Kirchen und auch Zillis mindestens einmal erneuert

worden sind, die Kirche im Welschdörfli aber nicht. Das spricht nicht

unbedingt für einen Kirchenbau. Aber ein solches «Gegenargument» beruht

seinerseits wiederum nur auf Analogie (vgl. oben S. 78, Anm. 225).

In seiner übergreifenden, sehr instruktiven Zusammenfassung zu «Typen,

Formen und Tendenzen im frühen Kirchenbau des östlichen Alpengebietes:

Versuch einer Übersicht» behandelt H. R. Sennhauser auch die «liturgische

Ausstattung» mit Altären, Klerusbänken, Schränken, Fusswaschbänken

(vielleicht im Annexbau der St. Mauritiuskirche des endenden 6. Jahrhunderts

von Nenzing, Vorarlberg) und vor allem die Zeugnisse frühchristlicher

Kleinkunst in Rätien (s. oben S. 79), die sich in den Reliquienkammern, -

krypten und -schreinen erhalten haben Sie haben erneut das Interesse der

Forschung auf sich gezogen, weil bei den Ausgrabungen (seit 1992) auf dem

Schlosshügel von Tirol in der auf Vorgängerbauten errichteten Apsiskirche des

8. Jahrhunderts (?) ein Reliquiengrab «mit einem Reliquiensarkophag aus

Marmor, in dem eine die Reliquien enthaltende Silberpyxis verwahrt wurde»,

entdeckt worden ist. Solche zeitlich ins 5./6. Jahrhundert weisenden einfachen

capsellae argenteae sind in Italien, auf dem Balkan, in Afrika und im Orient

verbreitet gewesen. Auch das aufwendiger gestaltete Silberkästchen

S. 256: von Paspels (St. Lorenz) gehört zu diesem Typ. Es wird von H. Buschhausen

wie von W. F. Volbach auf Anfang 5. Jahrhundert datiert und soll aus dem

Orient kommen. Buschhausen vermutete einen Zusammenhang mit einer

Vorgängerkirche von St. Lorenz, die selbst aus dem 11. Jahrhundert stammt.

- 28 -

Neuerdings wird dagegen mit beachtenswerten Argumenten auf eine mögliche

Übertragung aus der im 16. Jahrhundert abgegangenen Mauritiuskirche in

Tumegl/Tomils (Bau I: 6. Jahrhundert, Bau II: 9. Jahrhundert), wohl der frühen

Talkirche des Domleschg, hingewiesen (s. unten S. 267).

Dem Tiroler Reliquienbehälter in Sarkophagform ähnelt der kleine

Marmorsarkophag des Hochaltars der Churer Kathedrale (s. oben S. 79). Er

stammt ziemlich sicher aus dem Vintschgau und steht ebenfalls in östlicher

Tradition. Neben dem merowingisch-karolingischen Bursenreliquiar und der

Aeskulapschachtel hat er nach Buschmann ein Gipsmedaillon (Abguss einer

frühchristlichen Gemme?), eine nachmerowingische Elfenbeinpyxis so wie ein

Urkundensiegel von 1272 enthalten. Das kleine hausförmige Reliquiar mit

vergoldeten Blechen, Flechtbandmustern und Edelsteinen ist jetzt

dendrochronologisch auf «um einiges später als 740» datiert, was die

kunstgeschichtliche Datierung auf «um 800» bestätigt (s. oben S. 79 irrtümlich

5. Jahrhundert). Von Luzi Dosch wird es als karolingisches

Eucharistiekästchen und nicht als Reliquiar betrachtet und beschrieben.

Das Wirken der durch ihre späten mittelalterlichen Legenden bekannten

lokalen Glaubensboten Gaudentius, Lucius und Florinus ist oben (S. 82-84)

nicht mit der Einführung des Christentums in Churrätien in Verbindung

gebracht worden, sondern gemäss der gegenwärtigen Forschung allenfalls mit

der frühmittelalterlichen Christianisierungsphase. Gegen die

dementsprechende Interpretation der Luziusvita, die im wesentlichen auf den

Arbeiten von Iso Müller beruht, wendet sich vehement Bruno Hübscher.

Ausgehend von der um 800 nachweisbaren Legende, den verschiedenen

liturgischen Texten aus Chur, Essen-Werden, England und Augsburg sowie der

wissenschaftlichen Literatur bis zu I. Müller kehrt er zur Deutung der älteren

Literatur (vor 1938) zurück und versetzt das Wirken des Luzius wieder in die

Anfangsphase des Christentums in Rätien, vor der Gründung des Bistums um

380.

S. 257: Luzius stammt nach Hübscher nicht aus Britannien, auch nicht aus dem

Prättigau (so I. Müller, vgl. oben S. 83, Anm. 232), sondern wahrscheinlich aus

Italien und war nicht ein später Einsiedler, sondern vielleicht sogar ein früher

oder der frühe Bischof. Hübschers Legenden- und Forschungsgeschichte ist

lehrreich, sie bringt aber abgesehen von der Überzeugung, dass Bischof

- 29 -

Victors III. Nennung des Luzius als confessor und ersten (?) rätischen

Glaubensboten in seiner Klageschrift von 823 eine «wahrhafte Aussage» sei,

kein wirklich stichhaltiges Argument für seine neue (alte) Deutung. Man wird

das «historische» Wirken des Heiligen doch eher in der Merowingerzeit

anzusetzen haben.

Zweifellos nicht zu den frühen Glaubensboten hat der in Ramosch im

Unterengadin bestattete confessor/presbiter Florinus gehört (s. oben S. 83f.),

weil er schon in einem fest gefügten kirchlichen Rahmen steht, der auf

Verhältnisse des 7. Jahrhunderts hinweist, wie sie auch in Arbon oder Grabs zu

finden sind. Nach erneuter Untersuchung des Florinus-Dossiers bin ich zu dem

Ergebnis gelangt, dass der titulus S. Florini confessoris, der Otmar vor der

Übernahme der Abtswürde in St. Gallen 719 übertragen worden ist, doch eher

in Ramosch bei der Grabkirche des Heiligen als in Chur zu suchen ist (vgl.

oben S. 106). Unter Otmar scheint erstmals versucht worden zu sein, bei der

Einsiedelei (Heraemusciae - Ramosch) des confessor eine Mönchs- oder

Klerikergemeinschaft einzurichten, doch hatte diese wie der

Erneuerungsversuch unter dem abbas Hartbert im 10. Jahrhundert keinen

Bestand, worauf später zurückzukommen sein wird

Aus den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Legenden sind für den

heiligen Gaudentius von Casaccia (s. oben S. 82f.) keinerlei Anhaltspunkte für

sein Wirken, das mit dem des Bischofs Gaudentius von Novara (gest. um 418)

verwechselt wird, zu gewinnen. Das ergibt sich eindeutig aus der Studie über

«Das Kephalophoren-Wunder in churrätischen Viten», die Regula Di Natale

dem Motiv des seinen Kopf tragenden Heiligen gewidmet hat Seit dem 8.

Jahrhundert in Nordgallien fassbar, von dem Königskloster Saint-Denis

propagiert, über Zürich (Felix und Regula) nach Rätien vermittelt, wird das

Kephalophoren-Motiv um 1200 in die Passio s. Placidi (Disentis)

S. 258: aufgenommen und dient hier wie im Falle von Gaudentius von Casaccia,

Victor von Tomils und Eusebius vom Viktorsberg in der spätmittelalterlich

neuzeitlichen Ausprägung der Legende dazu, die Doppelung der

Verehrungsstätte, hier Martyriumsstätte, da Grabstätte, zu erklären - für

Gaudentius: die Todesstätte in Vicosoprano, das Grab bei Casaccia. Das Motiv

gehört nicht zu einer frühmittelalterlichen Kultschicht, sondern ist ein

literarischer Kunstgriff, die komplizierten besitzgeschichtlichen,

- 30 -

kultgeschichtlichen, kirchenpolitischen und konfessionellen Verhältnisse des

späten Mittelalters und der Neuzeit über den Umweg einer «gelehrten»

Tradition zu deuten.

Dem Wirken von Columban und Gallus in der alemannischen heidnischen

Siedlung Tuggen und im zweisprachigen romanisch-alemannischen

Mischgebiet von Konstanz, Arbon und Bregenz lässt sich eine gewisse

Historizität nicht absprechen (s. oben S. 84-87). Das ergibt sich nicht so sehr

aus dem Forschungsbericht und Literaturreferat von Christian Rohr,

«Columban-Vita versus Gallus-Vita ?» als aus den gründlichen, unter sprach-

und religions wissenschaftlicher Perspektive geführten Untersuchungen von

Gerold Hilty der die hagiographischen Quellen (Vita vetustissima, Gallus-

Viten von Wetti und Walafrid Strabo, Vita Columbani) mit ihren Aussagen zur

Herkunft und zur Sprache des Heiligen, zu den Formen der heidnischen oder

synkretistischen Praktiken mit den Befunden der Onomastik und der

S. 259: Archäologie konfrontiert und zu einem Ergebnis kommt, das im wesentlichen

mit der oben gegebenen Darstellung übereinstimmt, die sprachlichen

Gegebenheiten in den bilingualen Zonen aber bei weitem klarer akzentuiert.

Die Zahlenangabe über den Bestand der Kirchen in seinem Bistum Chur, die

Bischof Victor III. in seiner Klageschrift von 823 macht (s. oben S. 87f.),

erweist sich mit fortschreitender archäologischer und bauhistorischer

Erforschung zunehmend als verlässlich. Zu den sechs dort genannten

Baptisterien lässt sich sicherlich das erst kürzlich auf Hohenraetien entdeckte

zählen neben den schon länger bekannten von Schaan, Disentis und Zillis (s.

oben S. 252f. mit Anm. 64, 65). Vergleicht man die oben (S. 88-91) versuchte

statistische Auswertung der archäologischen Literatur mit dem neuesten, von

H. R. Sennhauser verfassten «Katalog der frühchristlichen und

frühmittelalterlichen kirchlichen Bauten in der Diözese Chur und in den

nördlich und südlich angrenzenden Landschaften» und beschränkt man sich

auf den engeren Raum der frühmittelalterlichen Diözese, so ergibt sich

allenfalls ein geringer Zuwachs von fünf Kirchen, darunter die

Dreiapsidenkirche aus dem 9. Jahrhundert in Tumegl/Tomils, errichtet auf

einem Vorgängerbau circa des 6. Jahrhunderts. Die chronologische Verteilung

und das Ungleichgewicht zwischen den Zeugnissen der Schriftquellen und des

archäologischen Befundes verändern sich im wesentlichen nicht. Nach wie vor

- 31 -

ist das Engadin sehr schlecht dokumentiert (s. oben S. 91f.), auch wenn man

die von H.R. Sennhauser hypothetisch rekonstruierte Sebastiankirche von Zuoz

(10./11. Jahr hundert), die vielleicht zwei Vorgängerbauten gehabt hat, zu den

Kirchen von Silvaplana und Ramosch/Remüs hinzuzählt.

Anders sieht es dagegen im Vintschgau aus, der wie das benachbarte Engadin

zu dem im Reichsgutsurbar aufgeführten ministerium Remedii gehört hat, für

welches allerdings die descriptio nicht überliefert ist (vgl. oben S. 92). Die

Übersicht über «Frühchristliche und frühmittelalterliche Kirchenbauten in

Südtirol», die Hans Nothdurfter vorgelegt hat, ergibt, dass genau ein Drittel

(10 von 30) der archäologisch und bauhistorisch untersuchten Kirchen dieses

Raumes zum Vintschgau bzw. zum Bistum Chur gehört haben. Chronologisch,

weniger funktional zählen dazu die beiden einzigen als frühchristlich

S. 260: anzusehenden Kirchen des Vintschgaus, nämlich die seit 1992 ergrabene,

schon erwähnte Kirche unmittelbar südlich von Schloss Tirol und die eine

Viertelstunde davon entfernte Kirche St. Peter in Gratsch, beide mit

aufwendigen Reliquienkammern, aber ohne Priesterbank. Sie scheinen noch

aus dem 5./6. Jahrhundert zu stammen, aber wohl nicht mehr zum Typ der

(grossen) Kirchen in zivilen und militärischen Zentralorten zu gehören wie die

Kirchen in Bozen, St. Lorenz (Pustertal) oder Säben, sondern standen eher im

Zusammenhang mit der Grenzverwaltung und der Verbindung des Weges aus

dem Vintschgau über das castrum Maiense ins Passeiertal. H. Nothdurfter

erwägt auch, wegen der Reliquiengräber an Wallfahrtskirchen zu denken.

Funktional gehören sie jedenfalls schon zur Gruppe der frühmittelalterlichen

Kirchen, die sich durch Grablegen bei der Kirche so wie die Kleinheit der

mehrheitlich rechteckigen Bauten auszeichnen und nun fernab von Siedlungen

auch in Tallage vor allem aber an wichtigen Wegverbindungen angelegt

werden, Zeichen der merowingisch-karolingischen Raumorganisation.

Zu dieser Gruppe der frühmittelalterlichen Kirchen gehören im oberen

Vintschgau gleich drei Kirchen im Raume von Mals: St. Stephan in Burgeis,

eine Kirche, die zeitgleich mit Tirol und Gratsch datiert wird, St. Jakob in

Söles/Glurns, für welche trotz des Patroziniums und trotz namenkundlicher

Argumente, die für das 9. Jahrhundert sprechen, das 7. Jahrhundert in

Vorschlag gebracht wird (wegen der Kleinheit der Kirche und des noch im 12.

Jahrhundert nachweisbaren Begräbnisrechtes), und schliesslich die dank ihrer

- 32 -

Ausstattung mit Stuck, gemalten Figuren, Chorschranken aus Marmor bestens

bekannte Kirche St. Benedikt von Mals (vgl. unten S. 279). Die drei Kirchen

liegen an «Zugängen zum S-charl-Joch bzw. zum Wormser Joch /Umbrailpass,

von wo aus man in das Veltlin und Mailändische einerseits, in das Engadin und

den Bregenzer Raum andererseits gelangt». In den Zusammenhang mit der

karolingischen Wegorganisation nach der Unterwerfung des

Langobardenreiches stellt H. Nothdurfter die beiden Kirchen St. Karpophorus

und St. Medardus in Tarsch/Latsch, «aufgereiht am Zugang zum

Verbindungsweg über das Tarscher Joch (2281 m) und die hohe Marchegg

(2552) in das Ultental, von wo man leicht weiter in den Nonsberg kommt» Die

wegen ihrer Grabbauten und des aus dem Boden gemeisselten

Reliquienloculus auffällige kleine Kirche St. Georg liegt 200 m oberhalb von

Kortsch auf einem steilen Felsen an einem Weg, der als Abkürzungsweg von

der Via Claudia Augusta ins Ötztal und damit in das Inntal führt.

S. 261: Unweit der Via Claudia war auch die Kirche St. Prokulus bei Naturns gelegen,

auf einem hochwasserfreien Murgenkegel, ca. 5 km westlich der antiken

Zollstation an der Grenze zwischen den Provinzen Raetia und Venetia et

Histria. H. Nothdurfter betrachtet diese Friedhofskirche wegen

beigabenführender Gräber des 7. Jahrhunderts «als Gründung eines

Verantwortungsträgers der neuen Herrschaft» d.h. nach seiner Deutung: der

Bayern. Allgemeine historische Erwägungen zur politischen Zugehörigkeit

dieses Raumes und patrozinienkundliche Argumente sind allerdings letztlich

nicht stichhaltig. Der einfache Rechtecksaal der Grabkirche hat im 10./11.

Jahrhundert durch Einbau eines trapezförmigen Chores mit Triumphbogen im

wesentlichen die heutige Form erhalten. Da erst dann die berühmten

Wandmalereien angebracht worden sein können, müssen diese später datiert

werden (als oben S. 159, 163, 241). Doch, so H. Nothdurfter: «Der Fall St.

Prokulus ist weiterhin ungelöst»

Die frühen Kirchen des Vintschgaus, deren Patrozinien auf südlichen und

westlichen Einfluss hinweisen (s. oben S. 166f.), entsprechen den Haupttypen

ländlicher Saalkirchen des Bündner Raumes, die H.R. Sennhauser

unterschieden hat. Es sind in der Regel Saalkirchen mit oder ohne Chor bzw.

Apsis, in St. Peter in Gratsch im 7. Jahrhundert durch eine kreuzförmige

Kirche und unterhalb Schloss Tirol wohl in karolingischer Zeit durch eine

- 33 -

Dreiapsidenkirche ersetzt. Aus dem 11. Jahrhundert stammt die Saalkirche mit

trikonchalem Ostschluss St. Vigilius in Morter (Latsch). Die Verbreitung und

chronologische Abfolge der frühmittelalterlichen Bautypen (s. oben S. 93-95)

sind durch die neueste Übersicht von H.R. Sennhauser, die das ganze Gebiet

zwischen Bodensee und Tessin erfasst, nun deutlicher in ihrer Eigenheit zu

greifen Auf den von Sennhauser erstellten Einzelkarten zu den verschiedenen

Bautypen beruht die oben (S. 94) gebotene neu gezeichnete Karte (Nr. 10) zur

Verbreitung der Bautypen der rätischen Kirchen.

S. 262: Den in der älteren Forschung als typisch rätische Erscheinung bezeichneten

«Kirchenkastellen» (s. oben S. 95f.) widmet H.R. Sennhauser eine kurze

Forschungsgeschichte und entschärft die Diskussion um «Volksburgen»,

«Fluchtburgen», «Fliehburgen» durch die zutreffende und neutrale

Beschreibung als «Kirchen in befestigten Höhenanlagen» Die beiden durch

Schriftquellen bezeugten Georgskirchen von Jörgenberg in Waltensburg/Vuorz

und Rhäzüns gehören zweifellos dazu, ebenso die archäologisch nach

gewiesenen in Trun-Grepault und auf Hohenraetien, wo das erwähnte

Baptisterium auf eine Funktion als Tal- oder Mutterkirche hinweist Sehr

verbreitet sind sie im östlichen Alpengebiet gewesen, in Slowenien, ferner in

Nord- und Südtirol und in der gesamten Schweiz. Eine rätische Besonderheit

waren sie jedenfalls nicht.

Die nur durch wenige Schriftquellen erhellte Geschichte des Bistums und des

Bischofs von Chur in der Spätantike und im frühen Mittelalter ist in den oben

erwähnten Darstellungen von M. Durst sowie von J. Ackermann und S.

Grüninger grosso modo in der gleichen Weise, wenn auch in unterschiedlicher

Breite bzw. Kürze, dargestellt wie oben (S. 96-103) Neue Quellen gibt es dazu

nicht. Hinzuweisen ist jedoch auf die Neuedition der Inschrift für Bischof

Valentian (gest. 548) (s. oben S. 97), die wie auch die Victoriden Inschriften

von Marina Bernasconi Reusser vorgelegt worden ist Wenn im

Zusammenhang mit dem Schwanken der Provinzzugehörigkeit (zu Mailand

bzw. Mainz) zur Zeit des Investiturstreites von der «Doppelwahl von 1078»

gesprochen wird (s. oben S. 102), dann ist das jetzt aufgrund der

Lizentiatsarbeit von Fabian Renz zu korrigieren: die «Doppelwahl» ist nichts

anderes als ein Faktoid der neuzeitlichen Geschichtsschreibung.

- 34 -

Dass Chur um 400 Bischofssitz und ziviler Verwaltungssitz gewesen ist, lässt

sich auch den «Archäologischen Untersuchungen zur spätrömischen Zeit in

Curia/Chur GR» von Sebastian Gairhos entnehmen. Die archäologischen

Befunde erweisen eine Siedlungskontinuität im Bereich des Welschdörfli («bis

mindestens an die Wende des 6. Jahrhunderts») und auf dem Hof,

S. 263: wo nach einer Brandkatastrophe um 400 mit grösseren Baumassnahmen

(Bischofskirche) zu rechnen ist und nach einer zweiten Brandkatastrophe im 8.

Jahrhundert mit umfangreichen Neubauten. Die am Fuss der Mauer des Hofes,

hinter Hotel Marsöl gefundenen Grubenhäuser (Wohnhäuser, Werkstätten) des

4./5. Jahrhunderts weisen auf die «vielen kleinen Siedlungen im näheren und

weiteren Umkreis» des spätrömischen castrum hin (s. oben S. 105), über die

wir bisher nur sehr wenig wissen.

An der Stelle der heutigen Kathedrale (s. oben S.106) vermutet H. R.

Sennhauser drei Vorgängerbauten: 1. eine Saalkirche der ersten Hälfte des 5.

Jahrhunderts mit halbkreisförmiger Apsis und querschiffartigen Ausbauten, 2.

einen vollständigen Neubau des dritten Viertels des 8. Jahrhunderts, eine

Saalkirche («Tellobau») mit hufeisenförmiger Apsis mit nördlichen Neben-

räumen (Korridor, Kreuzgang?), zu der die Ausstattung mit Schranken-

platten, Reste eines Altares und figürliche Stuckreste mit Farbspuren gehören,

und 3. schliesslich - weniger deutlich fassbar - eine Saalkirche mit

rechteckigem Altarhaus, die dann seit dem 12. Jahrhundert zur heutigen

Kathedrale erweitert wurde. Diese Rekonstruktionen werden von Sennhauser

ausdrücklich als Hypothesen bezeichnet. Sie haben sich durch die

archäologischen und bauhistorischen Beobachtungen anlässlich der

Restaurierungsarbeiten zwischen 2001 und 2007 meines Wissens nicht

bestätigen lassen

Von der unterhalb des Hofes gelegenen karolingischen Kirche St. Martin (s.

oben S. 109f.) hat sich die Südseite mit Blendengliederung gut erhalten. Der

Dreiapsidensaal wird in Analogie zu Müstair und nach den Schrankenresten

auf die zweite Hälfte des 8. Jahrhunderts datiert. Aus etwas späterer Zeit (9.

Jahrhundert) stammt die «Untere Kirche», St. Regula, eine Saalkirche mit

gerade hintermauerter Apsis, mit Vorhalle und Seitenannex.

- 35 -

Spätestens seit dem 10. Jahrhundert lässt sich das Domkapitel historisch fassen

(s. oben S. 112f.). Vorstufen dürfte es im 9. Jahrhundert gegeben haben. Über

die Raumgestalt von claustrum mit refectorium, dormitorium, Kirche und

munitio der Kanonikergemeinschaft, die gemäss den Reformen von

Chrodegang von Metz und Ludwig dem Frommen vorauszusetzen sind, wie

Josef Semmler gezeigt hat, ist bisher nichts bekannt. Das allgemeine

S. 264: Bauprogramm von Stiftsgebäuden ist jedenfalls zu beachten, wenn es gilt, die

bei der Domrestaurierung gemachten Beobachtungen zu interpretieren.

Die Herrschaft des Churer Bischofs über die Stadt, das Stadtumland und die

Diözese (s. oben S. 113-427) ist im Vergleich zu anderen Bistümern durch eine

aussergewöhnlich dichte urkundliche Überlieferung dokumentiert. Diese ist

allerdings selektiv und bezieht sich zum einen in der Form von

Restitutionsurkunden, Besitzübertragungen und -bestätigungen auf den

Fernbesitz des Bistums im Elsass bzw. auf den Königshof Zizers, zum anderen

in Form von Übertragungen von Hoheits- und Herrschaftsrechten auf Stadt und

Umland. Beide Urkundengruppen sind von Sebastian Grüninger im Rahmen

seiner Dissertation über die «Grundherrschaft im frühmittelalterlichen

Churrätien» ausführlichst quellenkritisch untersucht, die komplizier ten

Abhängigkeiten der Diplome in zwei instruktiven Schaubildern sichtbar

gemacht und der Charakter dieser Urkunden in dem weiten Spektrum zwischen

einer Verwaltungsschriftlichkeit einerseits und einer situativen

Anspruchsschriftlichkeit andererseits bestimmt worden Das Ergebnis ist, dass

die Aussagen der Diplome über die effektiven Besitzverhältnisse stärker zu

relativieren sind, als dies aus unserer Darstellung hervorgeht. Das gilt vor

allem für die elsässischen Besitzungen, für welche schon Hanna Vollrath auf

die Bedeutung einer Ergänzung durch ortsansässige, landeskundige Zeugen,

mithin des kollektiven Gedächtnisses, hingewiesen hatte und für den

Königshof Zizers. Die dort kürzlich gemachten Ausgrabungen von Fibeln und

Keramik (Terra sigillata) weisen auf eine römische Siedlung (Gutshof?).

Frühmittelalterliche Gebäudereste sowie Skelette (8-10. Jahrhundert) gehören

wahrscheinlich zu dem karolingischen Hof° Der Charakter der Stadt- und

Stadtumlandherrschaft des Bischofs, ob besitzrechtlich oder herrschafts- und

hoheitsrechtlich fundiert, wird von S. Grüninger eher im letzteren Sinne

- 36 -

gesehen. Dem entspricht die auch für viele andere Bischofsstädte Galliens

nachweisbare Entstehung eines Stadtumlandbezirkes,

S. 265: der als bischöflich dominierter Rechtsbezirk erkenntlich ist, sei er nun

suburbium, quinta oder centena u.ä. genannt, wie Karin Fuchs gezeigt hat.

Ein Maximum an Privilegien erhielt die Bischofskirche von Chur von Otto 1.

Der Begünstigte war Bischof Hartbert 1. (ca. 949-970) (s. oben S. 120-126). In

der ihm gewidmeten Lizentiatsarbeit lässt es Vinzenz Muraro in der Schwebe,

ob Hartbert mit dem gleichnamigen Zürcher Kanoniker, der 929 im

Zusammenhang mit einem Hörigentausch und zwischen 926 und 930

anlässlich der Translation von Felix- und Regula-Reliquien nach Einsiedeln

genannt wird, zu identifizieren ist oder nicht. Die Verbindungen Hartberts zum

Herzogshof und zum Königshof, die Sorge um die Verbreitung der Florinus-

Reliquien in Parallele zu Felix und Regula und der Versuch, in Ramosch eine

Klerikergemeinschaft einzurichten, sprechen m. E. eher für eine Identität.

Hartbert dürfte der Erbauer des nach 957/58 wohl als Reaktion auf die

Sarazeneneinfälle errichteten Flucht- und Wohnturms des Klosters Müstair,

des sogenannten Plantaturms, gewesen sein. Möglicherweise ist der an einem

6. Januar 971 oder 972 gestorbene Bischof im Kreuzgang des Klosters bestattet

worden

Die frühen Klöster, fassbar in Rätien seit dem 8. Jahrhundert, gehören nicht zur

Phase der Einführung des Christentums in der Alpenregion, sondern stehen in

einem anderen, späteren, politisch-kulturellen Kontext (s. oben S. 128-153), zu

dem auch die politische und verkehrsgeographische Erschliessung und

Sicherung des Raumes gehört. Das erklärt, warum die rätischen Klöster wie

jene des Inntales im engen Zusammenhang mit der römischen und

frühmittelalterlichen Strassenführung zu sehen sind Die Übersicht über die

frühen Frauenklöster und die Klerikergemeinschaften von R. Kaiser ergibt,

dass es unmöglich ist, die kirchenrechtliche Stellung der

S. 266: Frauengemeinschaften der Frühzeit genauer zu fassen, dass in der Regel ein

Wandel von «anfänglich unsicheren Regeltraditionen zu einem

Kanonissenstift» stattgefunden hat und dass bei den Frauenklöstern wie bei

den Klerikergemeinschaften neben den durch Zufallsnennungen bekannten mit

weiteren Gründungen zu rechnen ist, die sich aus den Schriftquellen und/oder

den archäologischen Zeugnissen erschliessen lassen.

- 37 -

Für die Gründung des um 720/730 von Bischof Victor (II.) und seiner Mutter

als Hauskloster der Bischofs- und Praesesfamilie errichteten Frauenklosters in

Cazis (s. oben S. 128-132) gelingt es R. Di Natale nicht, durch die

Verknüpfung mit der erst in der Neuzeit verschrifteten Legende des heiligen

Victor von Tomils, dem Kephalophoren, neue Anhaltspunkte zur

Frühgeschichte des Klosters zu gewinnen, auch wenn die Parallelen (Namen

und Orte) zwischen der Gründungsgeschichte und der Geschichte des

Märtyrers in die Augen fallen. Auch der Einbezug der neuesten

Grabungsbefunde von Tumegl/Tomils (Sogn Murezi) hilft hier nicht weiter,

denn über die Funktion der Saalkirche des 6. Jahrhunderts, über welche eine

karolingische Dreiapsidenkirche mit Nebengebäuden errichtet worden ist,

wissen wir nichts. War hier, zweifellos einem zentralen Ort des Domleschg

(als ministerium Tumilasca, ca. 842 im Reichsgutsurbar erwähnt), eine

geistliche Gemeinschaft ansässig, war hier ein Wallfahrtsort, ein Hospiz oder,

worauf die reichen Speisereste (vor allem Fisch) hinzuweisen scheinen, eine

adelige Stiftung - die Bearbeiter des Fundstoffes suggerieren einen

Zusammenhang mit den Zacconen/Victoriden und ihrer Gründung in Cazis

Wir wissen es nicht. Auszuschliessen ist eine Klerikergemeinschaft jedenfalls

nicht.

Bevor die Grabungspublikation zum Kloster Mistail (s. oben S. 132-134)

erscheint (vorgesehen von H.R. Sennhauser), ist für die beiden Kirchen und

den kleinen Grabbau, vor allem aber für das ca. 25 m lange karolingische

Nonnenhaus nördlich der heute noch bestehenden Dreiapsidenkirche auf den

kurzen Katalogeintrag von H.R. Sennhauser zurückzugreifen. Die Vermutung,

dass bei Mistail und nicht auf dem Septimer das senodochium s. Petri (831)

gelegen habe, wird von Ingrid Heike Ringel ausführlich zu begründen

versucht.

S. 267: Ähnlich gilt auch für Disentis (s. oben S. 134-140), dass der ausführliche

Bericht über die Grabungen 1980-83 noch aussteht und statt dessen der

Katalogeintrag von H.R. Sennhauser zu benutzen ist. Aus diesem ergibt sich

mit grosser Sicherheit, dass in der Mitte des 8. Jahrhunderts mit drei

Kirchenbauten zu rechnen ist, St. Maria, St. Peter und St. Martin Der

archäologische Befund bestätigt den Wortlaut des Tellotestaments

(s. oben S. 136) von 765, das nach dem letzten Bearbeiter, Sebastian

- 38 -

Grüninger, formal als Fälschung zu betrachten und für die Rekonstruktion des

frühen Klosterbesitzes nicht zu gebrauchen sei, für die wirtschafts- und

sozialgeschichtliche Auswertung aber sehr wohl.

Die Gründungsgeschichte des Klosters Disentis (s. oben S. 134-136, hier im

wesentlichen nach den Forschungen I. Müllers dargestellt) erscheint nach

Bruno Hübscher in einem anderen Licht, einem deutlich weniger «politischen»

Licht. Hübscher betrachtet Sigisbert als «einen fränkischen Priestermönch»,

der um 614 (vgl. Bischof Victor auf dem Reichskonzil in Paris!) nach

Churrätien gekommen ist und dem sich der einheimische Placidus zugesellt hat

bei der Begründung seiner Niederlassung unweit der Gabelung des Lukmanier-

und des Oberalppasses. Placidus sei bald Opfer eines Raubmordes und nicht

einer politischen Auseinandersetzung mit der um ihre Herrschaft bangenden

Familie der Zacconen/Victoriden geworden. Bei seinem und Sigiberts

(Doppel-)Grab sei etwa ein Jahrhundert später - ähnlich wie bei der Galluszelle

an der Steinach oder am Grab des ermordeten Meinrad von Einsiedeln - durch

Bischof Ursicinus ein Kloster eingerichtet worden, gestiftet durch eben den

praeses Victor, den angeblichen Placidus-Mörder, und durch dessen Sohn

Tello mit weiterem Vermögen ausgestattet. Damit wäre Disentis eine

Victoridengründung, ein Männerkloster als Pendant zum Frauenkloster Cazis,

errichtet eine Generation nach jenem. Die Stilisierung des «Tyrannen» Victor

zum Mörder des Placidus und des Placidus zum Kephalophoren, der sein

Haupt von der Märtyrerstätte (an der Stelle der späteren Placiduskapelle) zur

Begräbnisstätte (beim Kloster) trägt, ist erst nach der Flucht der Mönche von

Disentis vor den Sarazenen nach Zürich (um 936/40) erfolgt. In Zürich dürfte

über Felix und Regula die Anknüpfung an die Kephalophorentradition des

Klosters St. Denis vollzogen und Victor zum Antagonisten des «Märtyrers»

gemacht worden sein‘

S. 268: Die annähernd 12'000 Fragmente von bemaltem Putz und Stuck, der so

genannte «Disentiser Stuck», gefunden in der um die Mitte des 8. Jahrhunderts

ummantelten Apsis von St. Martin (II), haben eine überraschende Deutung

durch Walter Studer erhalten. Neben Architekturelementen hat er als Teile

einer Weltgerichtsdarstellung sieben Engel mit Posaunen, 17 lebensgrosse,

Schriftrollen haltende Heilige, deren Gewänder mit Gammadia

(Schriftzeichen) geschmückt waren, und eine Engelsglorie rekonstruieren

- 39 -

können, dazu eine Koimesis, eine byzantinische, auf den Apokryphen des

Pseudo Melitus und des Johannes von Thessaloniki beruhende Darstellung des

Marientodes. Diese frühbyzantinischen Malereien schreibt er «zwei über Rom

nach Disentis verpflichteten byzantinischen Mönchen» zu. Die qualitätvollen

Inschriftreste, meist eingeschnittene und/oder gefärbte Kapitale, die Marina

Bernasconi Reusser ediert und neuerlich kommentiert hat, bezeugen, dass das

Bildprogramm wie in Müstair durch Titel erklärt war.

Die Anfänge und die Frühgeschichte des Klosters Pfäfers (s. oben S. 140-145)

verlieren sich im dichten, von Fälschungen überwucherten Gestrüpp einer

widersprüchlichen Überlieferung, in das Sebastian Grüninger Licht zu bringen

sucht. Für ihn ist über die Anlehnung an die Reichenau hinaus mit stärkeren

karolingisch-fränkischen Einwirkungen in der Gründungsphase zu rechnen.

In einem weit höheren Masse gilt dies auch für die neuen Deutungen der

Gründungsgeschichte des Klosters Müstair (s. oben S. 145-149). Die

archäologischen und bauhistorischen Befunde der immer noch im Gang

befindlichen Grabungen hat H.R. Sennhauser mehrfach zusammenfassend

dargestellt und kommentiert. Umstürzend sind die neuen auf der

Dendrochronologie beruhenden Datierungen. Sie bestärken H.R. Sennhauser

und J. Gollin der schon 1999 von H.R. Sennhauser geäusserten Ansicht, dass

Müstair von Karl dem Grossen gegründet sei, und zwar nach der Eroberung

des Langobardenreiches und im Zusammenhang mit der sich abzeichnenden

S. 269: Auseinandersetzung mit dem Bayernherzog Tassilo. Es sprechen dafür die

späten Karlstraditionen des Klosters Müstair, aber auch die

verkehrsgeographisch günstige Lage, der Typ und die Grösse der

Klosteranlage, die Ausstattung und das Geschick in karolingischer Zeit.

Schliesslich erhärten diesen Zeitansatz der Baubeginn der Klosteranlage (nach

775) und das jetzt neu ermittelte Baudatum der Heiligkreuzkapelle, einer

Doppelkapelle im Süden der Dreiapsidenkirche des Klosters: um 788. Der sog.

Plantaturm, bisher als spätmittelalterlich betrachtet, wurde nach 957/58,

vermutlich im Zusammenhang mit den Sarazeneneinfällen, als Wohn- und

Fluchtturm für den Bischof und das Kloster errichtet, die Bischofsresidenz im

11. Jahrhundert (Dendrodaten: 1034/35) gebaut.

- 40 -

Dass Müstair als Königskloster gegründet sei, steht in scheinbarem

Widerspruch zur Klageschrift Bischof Victors III. von ca. 823, laut der die drei

Männerklöster der Diözese bei der divisio von 806 dem Bischof entfremdet

und dem Reichsgut zugeschlagen worden seien, Als diese drei Klöster gelten

in der bisherigen Forschung die Klöster Disentis, Pfäfers und Müstair, die also

ursprünglich bischöflich gewesen seien (s. oben S.128). H. R. Sennhauser löst

diese Schwierigkeit, indem er, wie oben gezeigt (s. oben S. 254 mit Anm. 68),

ein Kloster in St. Luzi nachzuweisen sucht, das 806 dem Bischof entfremdet

worden sei, während Müstair, von Anfang an als Königskloster gegründet, erst

durch den Tausch gegen elsässische Güter im Jahre 881 zum bischöflichen

Eigenkloster wurde. Dass sich Karl der Grosse im Zuge des

Langobardenkrieges der Alpenregion aktiv zugewendet hat, ist gut bezeugt,

nicht zu letzt durch das Schutzprivileg für den Bischof und rector Constantius

und das rätische Volk von ca. 773. Das darin aufscheinende komplizierte

bilaterale Verhältnis bildet den Hintergrund für die Gründung von Müstair

(vgl. oben S. 246 mit Anm. 45). Ob das Kloster angesichts der schillernden

Stellung des gewählten und gleichzeitig vom König eingesetzten

rector/episcopus als königlich, als bischöflich oder als ein Koprodukt des

Königs und des Bischofs anzusehen sei, ist schwierig auszumachen. Im

Gegensatz zu H. R. Sennhauser betont Jenny Kirsten Ataoguz neuerdings

wiederum stärker die Zeugnisse, welche für eine churisch-bischöfliche

Initiative sprechen. Vielleicht

S. 270: wird man sich von der scharfen Gegenüberstellung bischöflich - königlich

freimachen müssen, sie gilt in ausgeprägter Form erst ab 806. In diesem Sinne

beantwortet «die Frage nach der Gründerpersönlichkeit» auch Jürg Goll, wenn

er schreibt: «Aus heutiger Sicht erscheint am plausibelsten, dass der Anstoss

und einige Mittel vom König ausgingen und der Bischof für die Umsetzung zu

sorgen hatte»‘ Über die Rechtsstellung des Klosters ist damit allerdings nichts

ausgesagt.

Die Eindeutigkeit, mit der oben (S. 149f.) und in der Helvetia Sacra (2004) das

Frauenkloster Schänis als hunfridingisches Haus- und Eigenkloster bezeichnet

wird, das dann im 11. Jahrhundert in der Hand der Herren von Schänis bzw.

der Lenzburger als Nachfolger der Hunfridinger ist, wird von S. Grüninger mit

dem Hinweis auf die neuere Adelsforschung, welche die Fluktuationen der

- 41 -

frühen Adelsgruppen stärker betont als die agnatischen Abstammungslinien, in

Frage gestellt‘ Für die Besitzausstattung des Klosters rechnet S. Grüninger mit

einem grossen Anteil an Fiskalbesitz, also gräflichem Amtsgut, und nicht mit

Hunfridinger Eigengut. Dass über die frühe Regeltraditionen bis zur Mitte des

12. Jahrhunderts, d.h. bis zu dem Versuch, die Gemeinschaft nach der Regel

der Augustiner Chorfrauen zu reformieren, nichts Sicheres bekannt ist,

entspricht den Verhältnissen in den anderen rätischen Frauenklöstern.

Bei der von Bischof Verendar gegründeten, 841 von Lothar I. mit weit

gestreutem Besitz ausgestatteten cellula von St. Maria in Serris (heute Kapelle

St. Jakob in Flums) (s. oben S. 64, 151) ist es nicht zum Aufbau eines Klosters

gekommen. Doch lassen sich immerhin eine kreuzförmige Kapelle (über einem

rechteckigen Gebäude, Grabkammer?) und südlich davon die zur cellula

gehörige, karolingische Saalkirche mit eingezogenem, annähernd

quadratischen Chor und vielleicht nördlich der Kapelle ein Wohnbau

archäologisch nachweisen.

S. 271: Die Geschichte des 884 gestorbenen irischen Inklusen Eusebius auf dem

Viktorsberg bei Röthis in Vorarlberg (s. oben S. 151) und des ephemeren

religiosus Scotorum conventus, der sich bei seiner Klause gebildet hat, ist unter

ausführlicher Erörterung der Zeugnisse in Ratperts Casus s. Galli und der

urkundlichen Überlieferung von R. Di Natale untersucht worden. Eine

unmittelbare Kultverbindung lässt sich zwischen dem irischen Inklusen des 9.

Jahrhunderts und dem in der frühen Neuzeit als Kephalophor auf dem

Viktorsberg (Bestattungsort) und in Brederis (St. Anna-Kapelle, Martyriums-

Ort) verehrten Eusebius nicht herstellen.

Zu den ephemeren oder den gescheiterten Klostergründungen in Rätien wird

man auch den Versuch Otmars vor seiner Übernahme der Abtswürde in St.

Gallen (719) zählen können, eine Klostergemeinschaft im Engadin an der

Grabstätte des confessor Florinus in Ramosch zu gründen (s. oben S. 257 mit

Anm. 77). Dieser Versuch wurde dann anscheinend im zweiten Drittel des 10.

Jahrhunderts wiederholt, als 930 bzw. 948 der presbiter bzw. abbas Hartbert,

der spätere Bischof von Chur, umfangreichen Besitz, darunter Fiskaleinkünfte

im unteren Engadin und den Fronhof von Ramosch mit weit gestreuten Gütern

(bis nach Meran!) und Rechten erhielt mit der Auflage König Ottos 1. ad

recuperandum Christi confessoris Florini servicium, worunter wohl die

- 42 -

Einrichtung einer geistlichen Gemeinschaft zum Dienst an der Grabeskirche in

Ramosch zu verstehen ist, wofür auch die grosszügige Ausstattung (vor allem

mit Fiskaleinkünften) spricht. Auch die (schon von Hartbert?) vollzogene

Übertragung der basilica s. Florini an das Domkapitel könnte ein Hinweis auf

eine Klerikergemeinschaft in Ramosch sein Der archäologische Befund in

Ramosch ist mit einer hypothetischen Klostergründung im 8. Jahrhundert bzw.

einer Neugründung im 10. Jahrhundert gut in Einklang zu bringen: Die auf das

8./9. Jahrhundert datierte Dreiapsidenkirche mit breitem südlichem Annexbau

war unwesentlich kleiner als Müstair oder Disentis und grösser als Mistail, im

10./11. Jahrhundert ist ein dreigeteilter Nordannex, ein Narthex und die

Unterteilung des Südannexes hinzugekommen. Diese Erweiterungsbauten

könnten durchaus mit dem Versuch Hartberts in Verbindung gebracht werden,

hier eine geistliche Gemeinschaft anzusiedeln.

S. 272: Die Auswirkungen der Klostergründungen auf die kulturelle Entfaltung, die

Verbreitung der Schrift und der Schriftlichkeit, die Bewahrung der

Schriftzeugnisse und die künstlerische Ausgestaltung von Codices wie von

Kultbauten werden seit der Mitte des 8. Jahrhunderts in Rätien mit einer

Plötzlichkeit und Einmaligkeit fassbar, dass man fast von der Entstehung einer

eigenständigen Kulturprovinz sprechen könnte. Das gilt mindestens in

Hinblick auf «Schrift, Schriftgebrauch und Textsorten im frühmittelalterlichen

Churrätien», wie das unter diesem Thema im Mai 2006 in Chur veranstaltete

internationale Kolloquium ergeben hat. Alle oben (S. 154-158) vorgestellten

und besprochenen Handschriften erhalten durch die verschiedenen Beiträge

wesentliche Ergänzungen dadurch, dass sie jeweils in den grösseren

paläographischen, kodikologischen und gattungsgeschichtlichen

Zusammenhang gestellt werden.

In seinem allgemeinen Einleitungsvortrag gibt Rudolf Schieffer kurz und

präzise Antwort auf die Frage: «Was ist das Besondere an der rätischen

Schriftkultur des Frühmittelalters?» Als charakteristisch betrachtet er:

1. die Ausbildung einer rätischen Schriftprovinz (»rätische Minuskel»), die in

einem Kontinuitätszusammenhang mit der spätrömischen Schriftkultur steht,

2. eine ausgedehnte pragmatische Schriftlichkeit, die sich in der Überlieferung

von 35 originalen rätischen Privaturkunden aus der Zeit vor 850, davon 27 aus

dem Privatarchiv eines Laien, des Schultheissen Folkwin, widerspiegelt und an

- 43 -

die Praxis der Beurkundung (Ravenna!) anknüpft, dazu in kopial überlieferten

Dokumenten wie dem «Tellotestament» von 765, den Klageschriften Bischof

Victors III. (ca. 823) und dem Reichsgutsurbar von ca. 842 fassbar ist,

3. eine grosse Varietät der Textsorten mit auffällig vielen Rechtstexten (Lex

Romana Curiensis, Capitula Remedii, Canonessammlungen) neben den

üblichen theologischen, hagiographischen, liturgischen und historisch-

enzyklopädischen Texten. Zwei Dinge sind es, die es nach R. Schieffer

erleichtern, die rätische Schriftkultur gegenüber anderen Räumen, etwa

Bayern, Alemannien, Burgund oder der Lombardei, abzugrenzen: die rätische

Schrift als Leitfossil und die besonders günstige Überlieferungssituation in St.

Gallen.

Über beides ist es nun möglich, sich einen Einblick zu verschaffen dank der

von Marlis Stähli erstellten Liste der «Handschriften, die im Zusammenhang

mit der rätischen Minuskel genannt werden». Aus dieser Liste - gleichzeitig

eine Art Zusammenschau der auf der Tagung diskutierten Handschriften -

ergibt sich die weite Streuung der Überlieferung - Einsiedeln wäre

S. 273: nach St. Gallen als wichtiger Überlieferungsort zu bezeichnen‚ ferner der

ganze Reichtum an Textsorten, dazu aber gleichzeitig, wegen der oft

widersprüchlichen paläographischen Einordnung, auch die ganze Problematik,

die mit dem Begriff der «rätischen Minuskel» verbunden ist. Die Liste wird es

der zukünftigen Forschung erleichtern, genauere Vorstellungen über die

rätische Schriftprovinz zu entwickeln.

Die Erforschung kirchenrechtlicher Texte, die aus und über Rätien überliefert

sind, ist durch Rudolf Schieffer angestossen worden, der 1980 sechzehn in der

Bayerischen Staatsbibliothek München aufbewahrte Fragmente einer Collectio

canonum identifiziert, ediert und als ihre Schriftheimat Rätien, genauer: das

Kloster Müstair (Tuberis) bestimmt hat. Die Sammlung ist nach Schieffer von

Afrika aus über Italien und Gallien (Saint-Maur-des Fossés) nach Rätien

gelangt und ist Zeuge für die kirchliche Integration in das Frankenreich (s.

oben S. 156 mit Anm. 499). Hubert Mordek hält diese Interpretation für falsch,

weil er eine engste Verwandtschaft mit der Ende des 8. Jahrhunderts

wahrscheinlich in Chur geschriebenen, heute in Stuttgart aufbewahrten

Collectio Weingartensis feststellen kann. Beide Sammlungen enthalten die

gleichen Texte und gehen nach Mordek ohne den Umweg über Gallien und

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Saint-Maur direkt auf das in Italien (Rom?) überarbeitete afrikanische corpus

canonum zurück, wobei dem neugegründeten Kloster Müstair (Tuberis) eine

bedeutende Mittlerrolle zugeschrieben wird, «ideal als Horchposten und

Transitschiene für kulturelle Importe aus dem Süden».

Klaus Zechiel-Eckes hat in seiner Übersicht über «Historisch geordnete und

systematische Sammlungen des kirchlichen Rechts im frühmittelalterlichen

Rätien» diese Mittlerrolle bestätigen können. Den Reichtum an

kirchenrechtlichen Sammlungen bezeugen des weiteren zwei Exemplare der

774 von Papst Hadrian I. dem Frankenkönig Karl gegebenen Collectio

Dionysio-Hadriana, der historisch geordneten Konzils- und

Dekretalensammlung, die im wesentlichen auf Dionysius Exiguus (Anfang 6.

Jahrhundert) zurückgeht. Die eine Handschrift ist in rätischer Minuskel des

S. 274: ausgehenden 8. Jahrhunderts geschrieben und in Fragmenten aus den

Staatsarchiven Zürich und Solothurn überliefert. Sie gehört zu den frühesten

Handschriften der Dionysio-Hadriana. Die zweite, aus der Zeit nach dem Tode

Karls des Grossen, aus der das Gros der Handschriften der Hadriana stammt,

ist über Einsiedeln (Codex 199) überliefert. Der gleiche Einsiedler Codex 199

enthält in seinem ersten Teil (allerdings in karolingischer und nicht rätischer

Minuskel geschrieben) eine Exzerptensammlung aus der Collectio Hispana (7.

Jahrhundert). Da auch die systematisch angelegten Handschriften aus Rätien

gut bezeugt sind - Ferrandus und Cresconius in einem Codex aus Montpellier

und die Collectio Vetus Gallica in der Stuttgarter Handschrift, die auch die

Weingartensis enthält - kann Rätien laut K. Zechiel-Eckes wegen seines

«breiten Spektrums der erhaltenen Sammlungen des kirchlichen Rechts ... als

eines der bestausgestatteten Territorien im Reich Karls des Grossen und

Ludwigs des Frommen gelten» Die meisten Sammlungen sind über Italien

vermittelt, die Vetus Gallica als einzige aus dem Norden bzw. Westen.

Die weltlichen Rechtstexte Rätiens sind die in drei vollständigen und zwei

Fragmenten überlieferte Lex Romana Curiensis und die im Cod. Sang. 722 im

Anschluss an die Lex geschriebenen Capitula Remedii (s. oben S. 41-43, 157).

Sie haben durch das Wiederauftauchen der dritten, aus Italien (Udine)

stammenden, in Verona geschriebenen, im 19. Jahrhundert durch Gustav Hänel

nach Leipzig verbrachten, seit dem Zweiten Weltkrieg verschollenen

Handschrift erneut das Interesse der Forschung auf sich gezogen. Adelheid

- 45 -

Krah hat 1993 die Beschreibung der Leipziger Handschrift, die E. Meyer

Marthaler für ihre Edition der Lex Romana Curiensis (1959, 21966) nicht nach

Autopsie, sondern nur anhand der Literatur hat vorlegen können, ergänzt und

präzisiert und im Jahre 2006 weitere Beobachtungen zu dieser und zu den

beiden rätischen Handschriften (Cod. Sang. 722 und Cod. Fabariensis XXX)

beisteuern können, aus denen sich ergibt, dass durchaus praktische Bedürfnisse

für die Anlage der Handschriften und die Auswahl der Texte entscheidend

gewesen sein können und ein Bezug zur Rechtspraxis gegeben war, ja, dass

man von «so etwas wie einer <römischen> Rechtslandschaft» im

frühmittelalterlichen Rätien sprechen könne. Eine sehr genaue, die Angaben

S. 275: von A. Krah von 1993 noch präzisierende Beschreibung der Leipziger

Handschrift bietet auch Wolfgang Kaiser. Nach einem Vergleich mit dem Cod.

Sang. 722 erschliesst er für die Epitome Juliani, seinen

Untersuchungsgegenstand, einen rätischen Archetyp, der ein besonderes

Interesse am kirchlichen Recht (Constitutiones de rebus ecclesiasticis)

erkennen lässt

Wie ungeheuer komplex sich die Problematik eines Textes wie der Lex

Romana Curiensis präsentiert, ergibt sich aus dem Tagungsbeitrag von Harald

Siems. So gut wie alle Fragen sind und werden auch in Zukunft noch

kontrovers behandelt: Ort und Zeit der Entstehung, Zweck (für die Praxis, für

den Rechtsunterricht), Realitätsgehalt, Abweichungen und Eigenständigkeit

gegenüber der Vorlage oder besser den Vorlagen (Breviarium Alarici bzw.

Zwischenstufen, Epitomen, Glossen), handschriftlicher

Überlieferungszusammenhang, Herkunft der germanischen Wörter

(Frankenreich, langobardisches Italien) und schliesslich der Inhalt. Als Fazit

der an Einzelbestimmungen exemplifizierten Betrachtungen ergibt sich, «dass

in der Lex Romana Curiensis das rechtliche Kulturgut im frühmittelalterlichen

Westeuropa einbezogen und mit eigener Gestaltung verbunden wird», wobei

für den Redaktor in Hinblick «auf Zielsetzung, Arbeitsweise und Weltsicht

eine rätische Perspektive bestimmend gewesen sein» mag.

Der zweite berühmte Rechtstext des Cod. Sang. 722, die sog. Capitula

Remedii, wird von der Forschung so gut wie einhellig dem Bischof Remedius

zugeschrieben (s. oben S. 41-43, 157). Dafür hat die suggestive Wirkung des

sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich einbürgernden Titels

- 46 -

gesorgt, wie R. Kaiser gezeigt hat. Statt eines Herrschererlasses des

princepsartigen, weltliche und geistliche Macht vereinenden praeses et

episcopus Remedius dürfte es sich bei den zwölf Bestimmungen, die

fränkisches Reichsrecht mit lokalem Recht verknüpfen, um einen Text

handeln, der auf das Wirken des missus Wulfar, des Erzbischofs von Reims,

zurückgeht und im Zusammenhang mit der Welle von Rechtskodifikationen im

Anschluss an

S. 276: das «programmatische Kapitular» Karls des Grossen von 802 und die dazu

gehörenden «Durchführungsbestimmungen» steht. Die «Capitula Remedii»

sind demnach nicht Gesetze des Bischofs Remedius von Chur, sondern ein

durch den missus Wulfar von Reims aufgrund des kaiserlichen Gebots von 802

verfasstes Capitulare legi additum oder, wenn man so will: die «Capitula

Remedii» sind Capitula a misso facta et ad legem Curiensem addita.

Aus dem gleichen bischöflichen Scriptorium von Chur, in dem der berühmte

rätische Rechtscodex Sang. 722 geschrieben worden ist, stammen zwei nicht

minder berühmte liturgische Texte: die Lucius-Vita und das sog. Remedius-

Sakramentar (s. oben S. 157f.). Joseph-Claude Poulin kann die Herkunft des

libellus mit der Conversio s. Lucii, erhalten in der hagiographischen

Sammelhandschrift Sang. 567, aus dem Scriptorium von Chur sichern. Das

kleine Format der Handschrift, die strikte Beschränkung auf die Vita (nur eines

Heiligen), das Fehlen eines Einbandes (lediglich Vorder- und Rückseite sind

zum Schutze freigelassen) und die Faltung sowie die unprätentiöse Gestaltung

und sparsame Ausstattung erweisen sich als typisch für die seit dem 8.

Jahrhundert in grosser Zahl verbreiteten hagiographischen libelli. In diesem

einfachen, praktischen «Taschenbuchformat» war die Conversio s. Lucii

geeignet, auf lokaler Ebene zu zirkulieren und gegebenenfalls auch Leser

ausserhalb der monastischen und klerikalen Zentren zu erreichen und damit

den üblichen liturgischen Rahmen des hagiographischen Schrifttums zu

überschreiten

Aus Oberitalien (Mailand) stammende libelli mit liturgischen Gebetstexten

haben gleichsam in Form von «Loseblattsammlungen» den Anstoss zur

Entstehung des Sacramentarium Gelasianum gegeben, und zwar, so die These

von Bernard Moreton, im dritten Viertel des 8. Jahrhunderts in Rätien, woher

drei, wenn nicht fünf, der neun Textzeugen, darunter das berühmte Remedius-

- 47 -

Sakramentar (Cod. Sang. 348), stammen. Zur Untermauerung dieser These, die

sich gegen die Annahme Burgunds, genauer des Klosters Flavigny, als

Entstehungsort wendet, zieht Helena F. Carr die dichten und vielfältigen

kirchlichen (Zugehörigkeit Churs zur Erzdiözese Mailand) und kulturellen

Beziehungen sowie insbesondere die enge Verwandtschaft

S. 277: zwischen der oberitalischen und der rätischen Schriftprovinz, ferner

patrozinienkundliche Erwägungen heran, die zeigen, dass Rätien wie für die

kirchenrechtlichen Texte so auch für die liturgischen eine bedeutende

Vermittlerrolle im Austausch zwischen Italien und dem Frankenreich zukam.

In welchem Scriptorium, Chur oder Pfäfers, der berühmte Liber Viventium

von Pfäfers (s. oben S. 156f.) angelegt worden ist, bleibt auch nach den

erneuten Untersuchungen von Romain Jurot und Rudolf Gamper sowie Dieter

Geuenich unklar D. Geuenich vermutet, dass er von vorneherein als Liber vitae

geplant war, auch wenn die Gedenkeinträge erst seit 820/30 einsetzen. Die

nach 840 eingetragenen Namenlisten der verbrüderten monastischen und

geistlichen Gemeinschaften weisen, entsprechend der politischen

Zugehörigkeit, vor dem Vertrag von Verdun (843) nach Süden (Biasca,

Como), nach 843 nach Norden (St. Gallen, Konstanz, Schienen am Bodensee).

Die Zeugnisse pragmatischer Schriftlichkeit im Liber Viventium (s. oben S.

156) harren noch der genaueren Analyse, die von dem Kommentarband der

Faksimile-Ausgabe von 1973,zu dessen Vorbereitung die erneute

Beschäftigung mit dem Text angeregt hat, zu erwarten ist.

Ein Scriptorium wird in der Forschung öfters auch für das um 775 gegründete

Kloster Müstair angenommen, und zwar aufgrund der Überlieferung der oben

erwähnten kirchenrechtlichen Texte und der Überlegung, dass bei einem so

wichtigen und grossen «Reichskloster» eine Bibliothek und eine Schreibstube

anzunehmen seien. Doch die im Klosterarchiv von Müstair erhaltenen

Fragmente in rätischer Minuskel und die seit Jahrzehnten währenden

intensiven archäologischen Untersuchungen lassen keinen sicheren Schluss auf

ein Scriptorium in Müstair zu, wie Josef Ackermann und Jürg Goll gezeigt

haben Schrift und Schriftgebrauch waren indessen in Müstair sehr wohl

verbreitet. Dafür zeugen nicht nur die Tituli der Wandmalereien

- 48 -

S. 278: und die Marmorinschriften auf den Chorschranken, die Marina Bernasconi

Reusser ediert und kommentiert hat, sondern auch eine Reihe von

Kleinfunden.

Die in ihrer Vollständigkeit einmaligen Wandgemälde von Müstair (s. oben S.

158f.) sind von Jürg Goll, Matthias Exner und Susanne Hirsch in ihrem

historischen, kunstgeschichtlichen und theologischen Kontext untersucht und

von Michael Wolf in einer rekonstruierten Gesamtschau dokumentiert worden,

so dass das Bildprogramm, soweit erhalten, in seiner ganzen Fülle zu

übersehen ist Einleitend skizziert J. Goll aufgrund der neuesten

archäologischen Befunde die Geschichte des Klosters von seiner Gründung zur

Zeit Karls des Grossen bis heute, situiert die Wandmalereien im

ursprünglichen Bestand der beiden Kirchen, der Klosterkirche St. Johann und

der Heiligkreuzkapelle, und verfolgt die verschiedenen Etappen von der ersten

Ausmalung über die hochmittelalterlichen Veränderungen und die

romanischen Fresken der Zeit um 1200 bis zu den Übermalungen,

Freilegungen und Ablösungen des 19. und 20. Jahrhunderts sowie zu den

neuesten Konservierungsmassnahmen. M. Exner analysiert das Bildprogramm

und schliesst nach der von Joan Cwi 1979 begründeten These, dass die ausser

ordentliche Ausführlichkeit, mit der auf der Nordwand der Klosterkirche die

Geschichte vom Aufstand und Tod von Davids Sohn Absalom dargestellt ist,

eine direkte Anspielung auf den Aufstand der Söhne Ludwigs des Frommen

und die Zeit von 829-834 sei, auf eine Entstehung der Wandmalereien in den

beiden Jahrzehnten nach diesen Ereignissen. Die Fresken wären damit nicht

zeitgleich mit dem Bau der Klosterkirche, weshalb Bischof Remedius auch

nicht als Autor des Bildprogramms in Frage kommen könne (vgl. oben S. 159).

Demgegenüber halten H. Rutishauser und J. K. Ataoguz an der Frühdatierung

fest. Für J. K. Ataoguz ist das Kloster nicht so sehr aus politischen,

strategischen oder wirtschaftlichen Gründen errichtet worden, sondern, wie das

Bildprogramm zeige, aus monastischen und pastoralen. Die zeitgenössische

Verbreitung der homiletischen und liturgischen Texte in rätischer Schrift und

ihre Kenntnis auch in Müstair, der Nachweis, dass entgegen der Ansicht von

H. R. Sennhauser die Kirche einem Laienpublikum offenstand, sowie die

Bedeutung des Apostelprogramms der Fresken erweisen nach ihrer

kunsthistorischen Studie die Seelsorge der Laienbevölkerung und ihre stärkere

christliche Durchdringung als das

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S. 279: eigentliche Anliegen der Klostergründung und als Zweck der Ausmalung der

Klosterkirche. Die vielleicht in der gleichen Werkstatttradition stehenden, etwa

zeitgleichen Stifterfiguren an der Ostwand der Benediktkirche in Mals (s. oben

S. 159) sind in den kunsthistorisch-archäologischen Monographien von

Elisabeth Rüber und Hans Nothdurfter untersucht worden Die Frage nach der

Identität der beiden Figuren, die durchaus Individualisierung und

Porträtähnlichkeit verraten, ist immer noch offen. Für den weltlichen Stifter

werden genannt: Pippin, der Sohn Karls des Grossen, dem nach der divisio

regnorum von 806 Italien mit den Bündnerpässen zugefallen war, Graf

Hunfrid, ein (unbekannter) Angehöriger der fränkischen Oberschicht, oder

Bischof Remedius als praeses, für den geistlichen: ein einfacher Priester, ein

höherer Geistlicher wie der Abt von Müstair oder der Bischof von Chur, etwa

Remedius oder sein Nachfolger Victor III. Da die Benediktkirche um 750

gebaut worden ist, die Malereien aus der Zeit um 820/30 stammen, könnten

sich die «aktualisierten Stifterbilder» angesichts der intendierten

Porträtähnlichkeit auch auf das rätische Brüderpaar Bischof Tello und praeses

Zacco aus der Mitte des 8. Jahrhunderts beziehen, wie R. Kaiser zu zeigen

versucht. Für die kirchliche Erfassung des ländlichen Raumes (s. oben S.

168f.) hat Josef Ackermann nachweisen können, dass sich bis zum Beginn des

9. Jahrhunderts ein dichtes Netz von Pfarrbezirken ausgebildet hatte, in

welchem, wie die Spezialuntersuchung des Bezirkes Sargans ergeben hat, der

siedlungs- und verkehrsgünstige Raum erfasst war und nur die Nebentäler

(hier:

S. 280: Tamina- und Weisstannental) ausgespart blieben. Die Frage, ob die frühen

rätischen Kirchen als «Eigenkirchen», als Kirchen mit «Stifter- oder

Gründergräbern» oder als private «Kirchenstiftungen nach römisch-

rechtlichem Gründungsstil» (s. oben S. 170f.) anzusehen seien, kann durch

einen Vergleich mit den «frühen Eigenkirchen im Südostalpenraum», die Kurt

Karpf unter sucht hat, nicht gelöst werden, denn die in Karantanien und

Slowenien zwischen 750 und 1000 erbauten Kirchen gehen entweder auf den

christlich- slawischen Adel oder - nach den Awarenkriegen und der

Einführung der Grafschaftsverfassung (828) - auf die bayerisch-fränkischen

Grundherren zurück, wozu der weltliche Adel, geistliche Institutionen und der

König gehörten. Sie standen im Zusammenhang mit der Mission der durch

Slawen repaganisierten Gebiete

- 50 -

c) Frühmittelalterliche Siedlung und Grundherrschaft, Sozialstruktur und

Wirtschaft.

Wie stark die frühmittelalterliche Besiedlung der Alpenregionen von den

verkehrsgeographischen und naturräumlichen Faktoren abhängig gewesen sind

(s. oben S. 173), haben Irmtraut Heitmeier für das benachbarte Inntal und

Rainer Loose für das Trentino und den Vintschgau, dort vor allem am Beispiel

von Kortsch, gezeigt, wo alter churischer (bischöflicher) Besitz

(Victoridengut?) und bayerisches Herzogsgut nachweisbar sind.

Das besondere Interesse der historischen Verkehrs- und Siedlungsgeographie

richtet sich auf die Pässe (s. oben S. 173—182). Einen Überblick über die

Alpenstrassen und die «Transitprobleme zwischen Spätantike und

Hochmittelalter» bietet Wilhelm Störmer. Für die Bündnerpässe hat Jürg

Rageth die Forschungen zu den Itinerarien, die Feldforschungen von Armon

Planta und die Siedlungsfunde entlang den römischen Strassen knapp

dargestellt.

S. 281: Danach war die Julierroute für zweirädrige Wagen ausgebaut, der Septimer

indessen entgegen der Vermutung von A. Planta für Wagen nicht geeignet und

die Splügen- und San-Bernadino-Route durch eine Galerie in der Viamala als

Fuss- und Saumpfad benutzbar. Als weitere begangene Pässe er wähnt Rageth

die Inntal-Route, Bernina, Puschlav, Ofen, Albula, Flüela, Vorderrheintal und

Lukmanier.

Der Julier- und Septimer-Route (s. oben S. 176f.) hat Ingrid Heike Ringel

verschiedene Untersuchungen gewidmet, den Verlauf der Strassen

rekonstruiert, auf die zunehmende Beliebtheit des Septimers in

nachkarolingischer Zeit (wegen der Einsparung einer halben Tagesreise) und

auf seine Stellung als der Bündner Pass schlechthin bis zum Ende des

Mittelalters hingewiesen Den archäologischen Befund des zwischen 1979 und

1983 ergrabenen grossen, u-förmigen Gebäudes nebst Nebengebäuden in Riom

an der Julier und Septimer-Route (s. oben S. 180) stellt Ren Matteotti in einer

umfangreichen Studie vor. Die Siedlungskontinuität ist hier zwischen dem

ersten nachchristlichen Jahrhundert und dem Früh- bzw. Hochmittelalter

erwiesen. Das Hauptgebäude wird wegen seiner Form und der

verkehrsgeographischen Lage von R. Matteotti als römische Raststation, der

- 51 -

eventuell ein land wirtschaftlicher Betrieb angegliedert war, betrachtet. Die im

Befund nachweisbaren spätantiken Handelswaren stammen zum grössten Teil

(ca. 85%) aus dem Süden. Der Lavezhandel hat im 4. Jahrhundert seinen

Höhepunkt erreicht. Ein direkter Zusammenhang zwischen den ergrabenen

Gebäuden und dem im Reichsgutsurbar von ca. 842 genannten Königshof in

Riom lässt sich zwar archäologisch nicht nachweisen, ist aber aufgrund der

Forschungen von O. P. Clavadetscher zur karolingischen Verkehrsorganisation

und ihrer Anknüpfung an ihre antiken Vorläufer höchst wahrscheinlich.

Die archäologischen Zeugnisse für eine Benutzung des Lukmanierpasses in

römischer und frühmittelalterlicher Zeit (vor allem auf der Südseite:

Siedlungsfunde, frühe Kirchen, Erwähnungen im anonymen Geographen von

Ravenna) erörtern Rossana Cardani Vergani und Massimo Colombo.

S. 282: Im Osten der Diözese querte die Via Claudia Augusta, die von der Pomündung

(Altinum/Altino) über Trient, Bozen, den Vintschgau, Reschenpass, Fernpass,

Füssen und Augsburg an die Donau (beim Kastell Submuntorium/Burghöfe)

führte, churrätisches Gebiet, während die von Bozen abzweigende, erst im

Laufe des 2. Jahrhunderts ausgebaute Brenner-Route an den Grenzen des

Bistums vorbeiführte. Die Via Claudia ist in den letzten Jahren häufig

untersucht worden, so in zwei von Elisabeth Walde 1998 und von Rainer

Loose 2006 herausgegebenen Sammelbänden, ferner in einem kurzen Beitrag

von Gerald Grabherr, der insbesondere über die archäologische Erforschung

der Trasse nördlich des Reschenpasses referiert und auf den kontinuierlichen

Unterhalt der Strasse bis ins späte 4. Jahrhundert und eine Benutzung ohne

Unterbrechung bis in die Neuzeit hinweist Für das 6. Jahrhundert ist die

Weiterbenutzung der Via Claudia nicht nur durch palynologische Befunde

erwiesen, sondern auch durch den Reiseweg des Venantius Fortunatus von

Ravenna ins Frankenreich über den Brenner (565) und auf der Rückreise über

den Reschenpass (um 575), was, wie erwähnt, durch die politische Situation

bedingt war. Für den intensiven Handel über die Reschen- und Brenner-Route

gibt es viele Zeugnisse: die Reste römischen Tafel- und Küchengeschirrs,

frühmittelalterliche Grabbeigaben, die im langobardischen Oberitalien und im

alemannisch-bayerischen Süddeutschland in identischer oder nachgemachter

Form zu finden sind, das «koptische» Bronzegeschirr oder Prunkschilde.

- 52 -

Aber auch Bleiplomben etwa in Zirl/Martinsbühel oder in Innsbruck/Wilten,

die auf eine Warenkontrolle nachweislich in der Spätantike (4. Jahrhundert)

hinweisen, und die Existenz einer Zollstation an der Grenze des illyrischen und

des gallischen Zollbezirkes deuten darauf hin. Nachgewiesen ist eine solche

Station durch den Diana-Altar von Partschins bei Meran. Was aus dieser

Fiskalorganisation in Verbindung mit dem Strassennetz in spätrömischer und

frühmittelalterlicher Zeit geworden ist, bleibt unbekannt.

S. 283: Die Via Claudia hat im Bereich des Vintschgaus zweifellos die Siedlungsachse

gebildet und die Errichtung von Talbodensiedlungen begünstigt bzw. zur

Siedlungsverdichtung geführt. Dafür zeugen die Siedlungsspuren aus der

Römerzeit, etwa in Mais, Kortsch, Schlanders, Latsch, Naturns oder

Partschins. Die Bedeutung der Reschenpass-Route auch im frühen Mittelalter,

«der relativ starke Fundniederschlag für das 6. Jahrhundert im Bereich des

Klosters Müstair, der an Siedlungsreste im Umfeld eines Pfostenbaues aus dem

4.-5. Jahrhundert anknüpft», sowie allgemeine siedlungsarchäologische

Erwägungen lassen Paul Gleirscher eine Kontinuität des Siedlungsbildes

annehmen, auch wenn diese im Einzelfall - gerade wegen der kontinuierlichen

Bebauung - schwierig nachzuweisen ist.

Die Verbindungen zwischen dem Vintschgau und dem unteren Engadin und

weiter über Flüela und Strela nach Chur (s. oben S. 178) verliefen wohl

weniger über den Reschenpass, Nauders und Martina bzw. durch das

Münstertal über den Ofenpass, als über die direkten Wege, die zwar höher

anstiegen, aber kürzer und leichter zu begehen waren, worauf mit Recht Ulrich

Köpf hingewiesen hat Von Burgeis an der Via Claudia führt eine Route durch

das Schlinigtal über den Schlinigpass (ca. 2310 m) ins Uinatal und erreicht das

Unterengadin bei Crusch zwischen Sent und Ramosch. Vom Münstertal aus

gibt es zwei «relativ bequeme Wege» zum Unterengadin, einmal von Taufers

aus durchs Avignatal über das S-charljöchl (Cruschetta) (2296 m) nach S-charl

und weiter nach Scuol, dann von Santa Maria im Münstertal, wo der Weg von

Bormio über das Wormser Joch (Umbrail-Pass) auf die Münstertalstrasse

stösst, über Lü und den Pass da Costainas (2251 m) nach S-charl und Scuol.

Diese Verbindungen lassen den Raum von Müstair und Taufers, Mals und

Burgeis in einer viel günstigeren verkehrsgeographischen Lage erscheinen (s.

oben Karte 20, S. 174f.).

- 53 -

Für die ethnische und sprachliche Situation des frühmittelalterlichen Rätien

ergeben sich aus der Studie von I. Heitmeier zum Inntal bezeichnende

Parallelen, so die Persistenz der vorrömischen und römischen Toponyme, das

Vorherrschen romanischer Gräberfelder mit charakteristischen germanischen

Einsprengseln oder die Kontinuität der romanischen Sprache (im mittleren

Inntal bis zum 12. Jahrhundert). Die archäologischen Zeugnisse für Churrätien

(s. oben S. 184-188) sind in den oben genannten Sammelpublikationen

ausgewertet.

S. 284: Besonders hinzuweisen ist hier auf die von Margarita Primas u.a.

herausgegebene Sammelpublikation von 2001, in welcher die abschliessenden

Berichte und Auswertungen der Grabungen von Wartau SG-Ochsenberg

vorgelegt werden (vgl. oben S. 186-188, Anm. 586). Das Plateau des

Ochsenbergs (höchster Punkt: 662 m) beherrscht im Norden die zwischen

Sevelen und Sargans gelegene Wartauer Siedlungskammer, schräg gegenüber

von Balzers, das an der rechtsrheinisch verlaufenden Römerstrasse Chur-

Bregenz kurz vor dem Aufgang zur St. Luzisteig gelegen ist. An der Südspitze

des Plateaus, und von diesem durch einen künstlich erweiterten Graben

getrennt, erhebt sich die Ruine der spätmittelalterlichen Burg Wartau. Im

Norden lag ein eisenzeitlicher Brandopferplatz, der nach Ausweis der

römischen Münzen bis Anfang des 5. Jahrhunderts - anscheinend durch die

einheimische Bevölkerung - weiterbenutzt und erst im Zuge der

Christianisierung als Kultplatz aufgegeben worden ist. Die römischen Münz-

und Kleinfunde reichen in Ermangelung von römischen Gebäuderesten nicht

aus, eine römische Besiedlung zu erweisen. Eisenschlackenstücke verweisen

immerhin auf spätrömische Eisenverarbeitung, wobei ein Zusammenhang mit

den Erzlagerstätten am Gonzen noch nicht geklärt ist. Zeugnisse für eine

Begehung oder Belegung des Platzes fehlen für das späte 5. und das ganze 6.

Jahrhundert.

Nach einem Unterbruch von ca. 200 Jahren wird dann in den 20/30er Jahren

des 7. Jahrhunderts eine Mauer um das 125 x 50 m messende Plateau gezogen,

in deren Innern ein Hauptgebäude aus Holz auf Steinsockel mit Feuerstellen

und mehrere Nebengebäude (Speicher, Pferdeställe, Werkstätten) errichtet

worden sind. Nach den Einzelfunden aus Metall (Teile einer Garnitur eines

Frauengürtels und eines Saxgürtels, Reitzeug wie Riemenzungen,

- 54 -

Riemenverteiler, Sporen, Pferdegeschirr und Sattel mit Steigbügel, Lanze,

Messer, Beschläge, Schlüssel, Werkzeuge, landwirtschaftliche Geräte usw.),

aus Glas mit Bernstein (Ketten), aus Knochen (aufwendiger Griffkamm) sowie

nach dem Lavezgeschirr scheint der Ochsenberg der Sitz einer vornehmen

Familie mit Abhängigen gewesen zu sein. Die durch die Fundgegenstände

dokumentierten Fernbeziehungen weisen vor allem auf das langobardische

Italien (Reitzeug, Goldmünzen Liutprands, 712-744), das Gebiet südlich des

Alpenkammes (Lavez), aber auch auf den alemannischen Raum

(Gürtelgarnitur). Die Siedlungsstrukturen, Bauformen (Gebäude und

Umfassungsmauern) und einzelne Fundgruppen wie das Lavezgeschirr und

S. 285: die Glasperlen lassen auf romanische Bewohner schliessen. Diese Siedlung ist

um die Mitte des 8. Jahrhunderts durch Brand zerstört und nicht wieder

aufgebaut worden. Die Burg Wartau datiert erst aus der Zeit um 1200.

Als befestigte Höhensiedlung entspricht der Ochsenberg in Hinblick auf

Verkehrslage, Repräsentativität seiner Rheinfront, Chronologie der Belegung,

Ummauerung und Bebauung im Innern und Fundspektrum ähnlicher

befestigter Höhensiedlungen Churrätiens wie Truns/Trun-Grepault (s. oben S.

93), Sagogn-Schiedberg (s. oben S. 96, 211-216) und Castiel-Carschlingg (s.

oben S. 96, 178, 182). Von einem «Kirchenkastell» kann keine Rede sein. Der

auf dem Ochsenberg ergrabene Sakralbau stammt erst aus dem 13.

Jahrhundert, der Zeit des Burgenbaus. Möglicherweise hängt die Aufgabe des

Siedlungsplatzes nach dem Brand Mitte des 8. Jahrhunderts mit der Erbauung

der Kirche in Gretschins (8.19. Jahrhundert) zusammen. Zu ihrem Sprengel hat

im Mittelalter die heutige Gemeinde Wartau gehört.

Dass neue Funde unser Bild von der romanisch-alemannischen Interferenzzone

(s. oben S. 185f.) präzisieren können, zeigt die Entdeckung eines

alemannischen Grabes des 6.17. Jahrhunderts in Schaan, ca. 180 m von dem

schon bekannten Gräberfeld «Specki» entfernt.

Die sprachliche Situation in der alemannisch-romanischen Interferenzzone (s.

oben S. 188-193) ist in dem Überblick über die Sprachentwicklung der

viersprachigen Schweiz von Stefan Sonderegger und Wulf Müller

zusammengefasst. Viele Parallelen zwischen dem Rätoromanischen in

Graubünden und dem Ladinischen in den Diözesen Trient und Brixen zieht

Hans Goebl, wobei er auch die allgemeine historische Entwicklung Rätiens

- 55 -

berücksichtigt Das Rätoromanische wird demnächst in einem knappen

Handbuchartikel behandelt.

Den Rückzug des Romanischen nach einer Phase des Gleichgewichts zwischen

Romanisch und Alemannisch im Raum des Alpenrheintals (s. oben S. 191-

193) hat auf der Grundlage der Arbeiten von Hans Stricker aus romanistischer

S. 286: Sicht Gerold Hilty für die Zeit vom 7. bis zum beginnenden 13. Jahrhundert

dargestellt und zugleich neues Licht auf den Prozess der Alemannisierung des

Klosters St. Gallen geworfen. Die von G. Hilty untersuchten Sprachzeugnisse

der drei Vitae s. Galli und der Vita s. Columbani bezeugen für den Raum des

Bodensees und des Alpenrheintals im frühen Mittelalter eine romanisch-

alemannische Zweisprachigkeit, die in Arbon und Konstanz bis ins 7.

Jahrhundert gewährt hat, im Alpenrheintal südlich Bregenz länger dauerte,

denn erst um 1200 scheint der Prozess der Alemannisierung bis Schaan und

Grabs vorgedrungen zu sein Hans Stricker hatte 1974/81 in seiner Dissertation

«die romanischen Orts- und Flurnamen von Grabs» untersucht, 1980 die

«etappenweise Verdeutschung Unterrätiens» und 1991 allgemeiner die

«Sprachgeschichte des oberen Rheintals» dargestellt. Für die toponomastische

Erforschung des rechten Alpenrheintals ist jetzt das von H. Stricker u.a.

bearbeitete Orts- und Flurnamenbuch Liechtensteins (1999) unerlässlich. Unter

H. Strickers Leitung ist zur Zeit auch das Werdenberger Namenbuch (Region

Werdenberg, Kt. St. Gallen) in Arbeit. Noch nicht erschienen sind die Bände

der Personennamen des Liechtensteiner Namenbuches. Erstaunlicherweise hat

sich die Forschergruppe des monumentalen Projekts Nomen et gens bzw.

Namen und Gesellschaft, soweit ich sehe, noch nicht mit den Personennamen

der romanisch-alemannischen Interferenzzone Churrätiens (s. oben S. 193-195)

befasst.

Eine mit dem Gräberfeld von Bonaduz (s. oben S. 195f.) vergleichbare

spätantik-frühmittelalterliche Nekropole ist in dem letzten Jahrzehnt im

churrätischen Raum m. W. nicht entdeckt worden, so dass es keine neueren

archäologisch gestützten Aussagen zur frühmittelalterlichen Demographie

Rätiens gibt.

S. 287: In ständiger kritischer Auseinandersetzung mit der prekären Überlieferung der

rätischen Schriftquellen (Lex Romana Curiensis, Tellotestament, Capitula

Remedii, rätische Privaturkunden, Reichsgutsurbar und Königsdiplome) hat S.

- 56 -

Grüninger in seiner Dissertation die rechtsständische Gliederung und soziale

Schichtung der zu den grundherrschaftlich organisierten Hofverbänden

gehörenden Personengruppen untersucht (vgl. oben S. 197-207). Als Ergebnis

zeichnet sich ab, dass die rechtsständische Unterscheidung von Freien und

Unfreien, von liberi und mancipia, servi und coloni im (grund)herrschaftlichen

Verband allmählich durch eine soziale Differenzierung ersetzt wird, in welcher

die Übernahme von Ämtern und die wirtschaftliche Autonomie

statusentscheidend sind. Weitgehend deskriptiv und auf einer

Zusammenstellung der Quellenzeugnisse beschränkt bleibt die Untersuchung,

die Dieter Weidemann in seiner Lizentiatsarbeit den churrätischen Amtsträgern

(s. oben S. 198-202) gewidmet hat

Von den rätischen Amtsträgern ist der centenarius-Schultheiss Folkwin (s.

oben S. 200-202) dank seines über die Abtei St. Gallen überlieferten

Privatarchivs, in dem sich 27 Originalurkunden erhalten haben, sehr gut

dokumentiert. Es ist das einzige Archiv eines Laien, das in einer solch

geschlossenen Form, und zwar für die Jahre 817-825, aufbewahrt ist. Das

vergleichbare Archiv der Totoniden von Campione d'Italia (Prov. Como)

gegenüber von Lugano, das ebenfalls über ein Klosterarchiv, das von San

Ambrogio von Mailand, überliefert ist, enthält 17 Urkunden, die sich allerdings

über fast ein Jahrhundert (721-810) erstrecken. Die nach rätischem Formular,

in rätischer Minuskel von den Notaren bzw. Klerikern Andreas, Valerius,

Vigilius und Drucio ausgestellten Urkunden bezeugen einen hohen Grad

pragmatischer Schriftlichkeit im Raum des unterrätischen Rankweil (Vinomna)

und bekunden einen regen, in der Regel wohl schriftlich festgehaltenen

Güterverkehr, wie er sich auch in den Chartularfragmenten von Chur bzw.

Müstair widerspiegelt. Die 27 Folkwinurkunden, dazu weitere 33 rätische

Privaturkunden sind mustergültig ediert und erschlossen durch Peter Erhart

und

S. 288: Julia Kleindinst. Ihre Edition von 2004 ist noch nicht benutzt in der sozial-,

wirtschafts- und verfassungsgeschichtlichen Studie, die Katherine Bullimore

den Folkwinurkunden und anderen rätischen Urkunden gewidmet hat. K.

Bullimore betont das Fehlen von adligem oder kirchlichem Besitz im

Alpenrheintal, das niedrige soziale Niveau der Landbesitzer, der Zeugen,

Schreiber und Amtsträger, die Geschäftsfähigkeit von Frauen, die

- 57 -

Verwandtschaftsbeziehungen und damit die lokale Herkunft der Schreiber und

versucht, Folkwin mit einem in Grabs 854/51 und 858/65 als Zeugen fungieren

den Folcarinus zu identifizieren. Diese Hypothese lässt sich nicht begründen.

Nachweis, Herkunft, Verbreitung, Umfang und Verwaltung von Fiskal bzw.

Königsgut, kirchlichem und adeligem Besitz im frühmittelalterlichen Rätien (s.

oben S. 207-211) hat ausführlichst S. Grüninger behandelt und die ganze

Spannweite von der amts- und herrschaftsrechtlichen bis zur besitzrechtlichen

Verfügungsgewalt analysiert‘ Am Einzelbeispiel von Vella im Lugnez zeigt

Helmut Maurer den Übergang von Fiskalbesitz an den Adel (Welfen) bzw. die

Kirche (Bistum Konstanz). Sein Interesse richtet sich da bei vornehmlich auf

die Überlieferung, mithin auf den Prozess der Verschriftung des

Besitzwechsels. Dieser ist fassbar in einem Diplom Friedrich Barbarossas von

1155 für die Konstanzer Bischofskirche, in der um 1170 verfassten

Welfenchronik und in einer späten, auf eine Tauschnotiz des 10. Jahrhunderts

zurückgehenden Bemerkung in der Konstanzer Bischofschronik von Jakob

Memel (1519). Daraus lässt sich der wesentliche Wortlaut der Überlieferung

des 10. Jahrhunderts erkennen, die in zwei Stränge aufgespalten ist, einen

adelig-welfischen (Historia Welforum) und einen kirchlichen,

domkapitularisch-konstanzischen (Barbarossaurkunde). Bezeugt wird dadurch

S. 289: die welfische Position in Churrätien seit spätkarolingischer Zeit. Erschliessen

lässt sich ein Zusammenhang mit dem Reichsgutsurbar, das die Kirche S.

Vincentius zu Vella/Pleif im Lugnez erwähnt (s. oben S. 134, 167f.).

Schliesslich machen dieser Überlieferungsbefund und der Nachweis welfischer

Rechte im Lugnez spätestens Anfang 10. Jahrhundert eine Spätdatierung des

Reichsgutsurbars um 920, wie sie von D. Hägermann 1989 und L. Kuchenbuch

1991 erneut vorgeschlagen worden ist, unmöglich.

Hier wie so oft erweist sich das Reichsgutsurbar (s. oben S. 209-211) als eine

der ganz zentralen Quellen Churrätiens im 9. Jahrhundert, nicht nur zum

Nachweis des Königsgutes, sondern auch als Quelle für den kirchlichen und

als Lehen an Weltliche vergebenen Besitz sowie ganz allgemein für die

Wirtschafts- und Sozialstruktur nach der Etablierung der karolingischen

Grafschaftsverfassung in Rätien. Die Problematik, die mit dieser allein durch

eine um 1530/32 gefertigte Kopie von Aegidius Tschudi (1505-1572)

bekannten Quelle aufgeworfen wird, ist in mehreren Beiträgen von S.

- 58 -

Grüninger um fassend diskutiert worden. Sehr vieles ist seit langem umstritten:

Authentizität des Textes, Zuverlässigkeit der Kopie, mögliche Zwischenstufen,

Vorlagen, Datierung, Verfasser, Anlass, causa scribendi, Funktion, Inhalt und

Anlage der Aufzeichnung, Gliederung des Textes nach ministeria,

Gebrauchszusammenhang bzw. -zusammenhänge, Deutungen als

Reichsgutsurbar oder als bischöfliches Rodel, Gebrauchswert für Tschudis

topographische Forschungen, Bearbeitungen, Ergänzungen durch Tschudi und

vieles mehr. Trotz kritischer Zurückhaltung kommt S. Grüninger schliesslich

doch zu einer positiven Beurteilung von Tschudis Arbeitsweise, denn sein

Fazit lautet: «Alles spricht dafür, dass Tschudi, wenn auch weniger in

formaler, so doch ziemlich sicher in quantitativer und inhaltlich-qualitativer

Hinsicht seine Vorlage so genau wie möglich abgeschrieben hat». Insgesamt

hält S. Grüninger an der Interpretation von O. P. Clavadetscher als

Reichsgutsurbar, aufgezeichnet anlässlich der Reichsteilung von 843, fest.

S. 290: Der wichtigsten Quelle für die Besitz-, Verfassungs- und

Wirtschaftsgeschichte des 8. Jahrhunderts, dem sog. Tellotestament von 765 (s.

oben S. 13Sf., 211-214), widmet S. Grüninger ebenfalls eine ausführliche

Diskussion, referiert die verschiedenen Thesen zur Erklärung dieses

«Testamentes» (eigentlich einer donatio post obitum) und kommt zu dem

Ergebnis, dass es sich formal um eine Fälschung handelt, materiell um eine

Kompilation zweier oder mehrerer Texte und dass «auf jeden Fall nicht

auszuschliessen (sei), dass der Text im 9., 10. oder gar 11. Jahrhundert zum

Zweck der Besitzsicherung oder zur Untermauerung von Besitzansprüchen

hergestellt wurde». Konsequenterweise benutzt S. Grüninger deswegen die

Tellourkunde nicht oder nur mit grossen Vorbehalten, um den victoridischen

Besitz oder den Besitz des Klosters Disentis für das 8. Jahrhundert zu

rekonstruieren. Da auch Grüninger von (echten) Vorlagen des 8. Jahrhunderts

ausgeht, benutzt er den Tellotext für alle «jene herrschafts- und

verfassungshistorischen Fragen, die nicht direkt, die möglicherweise

manipulativen Absichten des Fälschers berühren» Damit behält der Tellotext

(des 8. Jahrhunderts) seinen her vorragenden Stellenwert für die zentralen

Teile der Untersuchung, die S. Grüninger der «Grundherrschaft im

frühmittelalterlichen Churrätien» gewidmet hat (s. oben S. 214f. wurde

vorgängig auf die Ergebnisse von S. Grüningers Lizentiatsarbeit von 1995

zurückgegriffen).

- 59 -

Insbesondere aus dem Vergleich der Siedlungs- und Besitzstrukturen der

<tellonischen> curtis von Sagogn (s. oben S. 213f. mit Abb. 45,46), den

coloniae des Tellotextes mit den Befunden des Reichsgutsurbars und der

späteren Königsurkunden ergibt sich, dass die Thesen zur Entstehung der

klassischen «bipartiten» Grundherrschaft von A. Verhulst für Churrätien nicht

zutreffend sind, dass vielmehr die zweigeteilte Struktur der tellonischen

Hofverbände (coloniae/coloni, specia/spehatici) und des Reichsgutsurbars

(mansi, coloniae, hubae) Elemente des spätantiken Kolonats und der

Fiskalverwaltung enthält, welche die Grundherrschaft im frühmittelalterlichen

Rätien keinesfalls als fränkischen Import erscheinen lassen. Im Hinblick auf

das Tellotestament spricht S. Grüninger von einer «Scharnierfunktion ...

zwischen den nicht sehr zahlreichen Belegen für das spätrömische Kolonat und

den karolingischen Zeugnissen für zweigeteilte Grundherrschaft» Eine solche

Scharnierfunktion hat auch S. Grüningers eigene Untersuchung, und zwar

zwischen der «klassischen Grundherrschaftsthese» und der «fiskalistischen

These», von welcher er sich vorsichtig absetzt, indem er die Zwischenbilanz

zieht:

S. 291: «Unabhängig von der Akzeptanz stark <fiskalistisch> geprägter

Erklärungsmuster liegen das spätrömische Kolonatswesen und die

<klassische> Grundherrschaft demnach vielleicht doch näher beisammen, als

die neuere Grundherrschaftsforschung postuliert». Es ist kaum nötig zu

betonen, dass S. Grüninger die zentralen Quellentermini wie vicus, villa, curtis,

fundus, terra domini ca/salica, fiscus, colonia, specia, mansus, hoba, die

dazugehörenden Personen, liber, colonus, servus, spehaticus, und die von

ihnen zu erbringenden Leistungen, opera, tributa, ausführlich erörtert. Was die

Schriftquellen über Ackerbau, Viehzucht und Sonderkulturen (s. oben S. 216-

221) aussagen, die Aufschlüsse, die daraus über die Grössenordnungen der

Güter und Fluren, die Erträge, die Abgaben und Leistungen zu entnehmen

sind, untersucht S. Grüninger im einzelnen und verweist dazu auch auf

Befunde der Archäobotanik (für Wartau-Ochsenberg). Speziell das

Reichsgutsurbar wird als agrargeschichtliche Quelle auch von Julia Kleindinst

ausgewertet, die insbesondere die Bedeutung der Kleinviehhaltung (Ziege,

Schaf und Schwein) betont.

- 60 -

Das Reichsgutsurbar macht nicht nur mit der Eisengewinnung und -

verarbeitung im Vorarlberger Oberland (Montafon und Walgau) bekannt (s.

oben S. 222), sondern auch, wie S. Grüninger gezeigt hat, in Mels (SG) oder

Mäls (FL) und der Walenseeregion. Hier steht sie vielleicht in einer Tradition,

zu der auch die aus der spätrömischen Zeit stammenden Eisenschlacken von

Wartau-Ochsenberg gehören.

Dass die meisten Handelswaren in spätrömisch-frühmittelalterlicher Zeit (s.

oben S. 224f.) aus dem italischen Raum stammen, ergibt sich, wie erwähnt, aus

dem Spektrum der in der Raststation Riom gefundenen Waren und den

Handelsbeziehungen zwischen dem langobardischen Oberitalien und

Süddeutschland (Alemannen). Ein Vergleich mit den in Tirol in römischer Zeit

nachweisbaren Handelswaren bestätigt dies, macht aber zugleich mit einem

regionalen Handel (Lavez aus dem rätischen Gebiet: Bergell, Val Malenco)

und auch mit Beziehungen zum Norden (Glas aus dem Rheinland) bekannt.

S. 292: Südbeziehungen dominieren auch die rätische Münz- und Geldgeschichte des

Frühmittelalters (s. oben S. 22Sf.). Eine neuere Übersicht über die

Fundmünzen im Kanton Graubünden, die v. a. auch die in Müstair geborgenen

Münzen behandelt, bezeugt dies ebenso wie die schon erwähnte Untersuchung

eines Hortfundes aus Lauterach (am Bodensee bei Bregenz) mit Münzen aus

der Zeit Lothars 1. (840-855), von denen die Mehrzahl aus Mailand (15) und

Pavia (2) stammt Chur scheint bis zur Mitte des 9. Jahrhunderts zum italischen

Währungsgebiet gehört zu haben. Oberitalische Prägungen dominieren auch

noch im 10. Jahrhundert, so in dem Schatzfund von St. Nicolai in Chur mit 10

Münzen aus Italien (Pavia 6, Mailand 4) und vier von der Rheinschiene (Köln,

Mainz, Worms/Speyer, Breisach).

Von den in Chur selbstgeprägten Münzen bestätigt die zum Schatzfund von

Ilanz (s. oben S. 226 mit Abb. 31) gehörende Goldmünze Karls des Grossen,

dass Chur zur Zeit der Prägung, wohl um 773, zum italisch-langobardischen

Prägegebiet gehört hat. Die folgenden bekannt gewordenen Prägungen auf die

Namen Ludwigs des Frommen (aus der Zeit 819-822) und Ottos I. als Kaiser

(962-973) verweisen dagegen auf eine währungspolitische Nordanbindung,

wie sie jedenfalls die als Vergleichsstücke zu Ottos I. Münzen herangezogenen

Prägungen aus Strassburg, Basel, Zürich und Konstanz bezeugen.

- 61 -

3. Schluss und Ausblick

Im Kanton Graubünden wird vielfach der Name der Räter in den

verschiedensten Formen zur Bezeichnung von Personen, wissenschaftlichen

S. 293: Einrichtungen und Unternehmen, von Firmen, Gesellschaften, Vereinen und

dergleichen verwendet, man denke an Reto, das Rätische Museum, das

Rätische Namenbuch, die Rhätische Bahn, Rhätia Immobilien AG, Rezia

Treuhand AG, Raetus Apotheke, Chor Rezia, SSC Rätia Chur u.ä. Hinter

dieser Gepflogenheit steht die seit der frühen Neuzeit von Historikern und

Publizisten suggerierte Vorstellung einer ungebrochenen rätischen Tradition

von den vor- und frühgeschichtlichen Rätern bis zu den heutigen Bündnern als

deren wahren Nachfahren im eigentlichen Räterland, dem heutigen

Graubünden, in dem vielerorts ja noch «räto»romanisch gesprochen wird.

In der gegenwärtigen Frühmittelalterforschung werden die durch diese

vorschnelle Verknüpfung aufgeworfenen Probleme stark beachtet. Hat es so

etwas wie ein durchgängiges kollektives Bewusstsein einer

Abstammungsgemeinschaft, einer Sprach- und Kulturgemeinschaft, einer

Rechts- und Friedensgemeinschaft von den Rätern der Vor- und

Frühgeschichte über die Römerzeit bis ins Mittelalter und in die Neuzeit

gegeben? Anders gefragt: haben in dem hier behandelten langen Zeitraum von

mehr als 500 Jahren, einem Zeitraum, der oft nur in höchst unbefriedigender

Weise als Phase des Übergangs von der Antike zum Mittelalter verstanden

wird, denn diese Phase dauerte länger als das Imperium Romanum selbst,

haben in dieser langen Zeit spanne die Bewohner Rätiens ein ethnisches

Bewusstsein gehabt oder entwickelt? Können wir in Analogie zu anderen

frühmittelalterlichen Völkern von einer rätischen Ethnogenese sprechen?

Haben wir es mit einer rätischen gens oder mit einer provincia zu tun, einem

politisch-administrativen Bezirk des Römerreichs, der als regio, ducatus,

territorium o. ä. bezeichnet, das Ende dieses Reiches überdauert und als

politisch-administrative Einheit im Frankenreich weiter existiert hat? Hat sich

in dieser provincia ein rätisch bestimmtes Eigenbewusstsein entwickelt, das als

ethnisch, als gentil bezeichnet werden kann?

Die Griechen und Römer, die seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. für uns erstmals

fassbar von den Rätern sprechen, haben dieses Problem auf ihre Weise gelöst,

indem sie auf ihre traditionellen ethnographischen Kategorien zu rückgriffen

- 62 -

und wie selbstverständlich von den Rätern als einer Grossgruppe wie den

Galliern sprachen und Kleingruppen als civitates («Stämme») bezeichneten.

Die Sammelbezeichnung der Räter diente ihnen dazu, die Bewohner der

inneralpinen und z. T. auch der voralpinen Gebiete in je unter schiedlicher

Ausdehnung zu benennen, die seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. immer wieder

Oberitalien als «Räuber» bedrohten. Gemäss den ethnographischen

Vorstellungen der antiken Autoren stammten die Räter von den Etruskern ab

und verdankten ihren Namen einem dux Raetus, ihrem Heros eponymos, der

sie, als sie von den Kelten bedroht wurden, in die Alpen geführt hätte.

S. 294: Die von den antiken Schriftstellern als Räter zusammengefassten Bewohner

des Alpenraumes waren vor der Eroberung durch die Römer politisch

autonom, gehörten aber aus vorgeschichtlicher Sicht in der Eisenzeit (ca. 800-

15 v. Chr.) zu mindestens drei verschiedenen Kulturkreisen: 1. im Norden zur

Randzone des keltischen Kulturkreises, 2. im Südwesten zum tessinisch-

lombardischen oder lepontischen Kreis, der dem keltischen nahe- steht, und

3. dazwischen, im Gebiet Trentino, Südtirol, Nordtirol, Vinschgau,

Unterengadin, Münstertal und in Ausläufern im Alpenrheintal und in

Vorarlberg, zur eisenzeitlichen Fritzens-Sanzeno-Kultur (Latènezeit), die von

Archäologen, Althistorikern und Sprachwissenschaftlern als rätischer

Kernraum betrachtet wird. Der von einem antiken Text zum anderen je

unterschiedliche Räterbegriff deckt sich nicht mit diesen Kulturkreisen, er ist

an den Rändern höchst unscharf.

Die Raumorganisation der Römer nach der Eroberung des Alpengebietes durch

Tiberius und Drusus (15 v. Chr.) verstärkt diese Unschärfe noch, denn der

ganze inner- und voralpine Raum wurde vom Wallis bis zum bayerischen

Alpenvorland zu einer einzigen Verwaltungseinheit zusammengefasst, die um

40 n. Chr. zur Provinz erhoben wurde. Unter Claudius (41-54) wurde zwar das

Wallis abgetrennt, aber Vindelizien, das Alpenvorland des keltischen

Kulturkreises, blieb in der Provinz Raetia et Vindelicia, die meist mit der

Kurzform einfach Raetia genannt wurde und sich in der mittleren Kaiserzeit

vom Furka- und Oberalppass bis zum obergermanisch-rätischen Limes an der

Donau und bis nach Passau im Osten ausdehnte. Als «rätisch» galt nun, wer

oder was zur provincia Raetia - seit 4. Jahrhundert aufgeteilt in Raetia I im

Westen und Raetia 1I im Osten - gehörte. Das erklärt, warum der Name Rätien

- 63 -

in dem nördlich der Donau und südlich des rätischen Limes gelegenen

niederschwäbischen Ries (in Urkunden des 8.19. Jahrhunderts: in Rieza, in

pago Rezi, Rede oder Retiense), dem Siedelgebiet der alemannischen (!)

Raetobarii, lebendig geblieben ist, mitten im ehemaligen Keltenland.

Auch in der Ostgotenzeit bezeichnet Raetia die Provinz oder die Provinzen, so

im Titel des dux Raetiarum, des dux beider Rätien. Es heisst nicht dux

Raetiorum, wie man bei einem gentilen Verständnis in Analogie zu dem wenig

später in Rätien operierenden dux Francorum erwarten könnte. In dem

Bestallungschreiben des dux Raetiarum (von vor 507) ist nirgends von Raeti

die Rede. Die von dem dux zu Beschützenden sind die provinciales, die

Provinzbewohner. Sie werden als Romani, als Bürger des Imperium

Romanum, von den milites, den Goten des königlichen Heeres (exercitus) und

von den in die Provinz einbrechenden gentes - zweimal wird von ihrem

impetus gentilis gesprochen - unterschieden. In dem zweiten Schreiben an den

dux (507/11) werden noch die kriegstüchtigen und stets kriegsbereiten Breonen

S. 295: erwähnt, ein Zeugnis für ihre «Regentilisierung», wie wir gesehen haben,

während von Raeti in einem gentilen Sinne keine Spur zu finden ist.

Raetia und Raetiae werden in dem politisch-administrativen Sinn der

römischen Provinz(en) auch von den kirchlichen und gelehrten Autoren der

Spätantike und des frühen Mittelalters verwandt: so wenn Eugippius den

Bischof Valentinus Raetiarum quondam episcopus nennt oder Paulus Diaconus

die beiden Rätien unterscheidet, in denen die Räter wohnen (Hist. Lang. 2, 15),

oder wenn Karl der Grosse in seiner Schutzurkunde von ca. 773 den Bischof

Constantius in seiner Eigenschaft als rector über das territurium Raetiarum

bestätigt und zusammen mit dem populo Retiarum in seinen Schutz nimmt,

oder wenn sich Hunfrid 807 sehr korrekt Reciarum comis nennt und noch 952

der Fortsetzer der Chronik Reginos von Prüm den Reichstag Ottos I. in

Augsburg erwähnt und dazu die Stadt in der Provinz Rätien lokalisiert, apud

Augustanam urbem Rhetiae provinciae (ed. Kurze, S. 166).

Dass es sich hier um eine antikisierende Schreibweise handelte, dürfte den

Zeitgenossen bewusst gewesen sein, denn längst war das, was von ihnen als

Rätien betrachtet wurde, auf den inneralpinen Raum zusammengeschrumpft,

den Raum des Bistums Chur, der mit dem des pagus, pagellus, ducatus,

comitatus bzw. der provincia Raetia Curiensis, Curia, zusammenfiel. Die hier

- 64 -

Lebenden waren die Romani der Provinz Raetia oder anders gesagt: die Raeti

waren die Romani der Provinz Raetia I. So konnte derselbe Paulus Diaconus,

der in seiner Provinzbeschreibung Italiens die Reti in traditioneller Sicht in den

beiden Rätien wohnen lässt, die Stadt Chur als civitas Retorum bezeichnen

(Hist. Lang. 6, 21) und der Verfasser der Murbacher Formelsammlung den

Bischof von Chur als episcopus infra valle Recianorum nennen (BUB I 20). In

der Datierungszeile einer Privaturkunde aus St. Gallen von 890 findet sich

schliesslich als Titel des Welfen Rudolf (s. oben S. 65): dux Retianorum. Der

hier benutzte Rätername stammt aus Texten, die ausserhalb Rätiens entstanden

sind, es sind Fremdzeugnisse. Zudem sind es nur wenige und nicht zufällig aus

dem 8. und 9. Jahrhundert, wie wir noch sehen werden.

Üblich blieb der Rätername, die territoriale Bezeichnung, doch waren beide

inzwischen missverständlich geworden. Mit der Abmarkung Alemanniens, des

Bistums Konstanz, des Amtssprengels der Herzöge im Bodenseeraum und mit

der Neufestlegung der Grenze Churrätiens, wie es jetzt in der (allerdings

späten) Barbarossaurkunde von 1155 heisst, gegenüber dem Teilreich Burgund

war durch den Frankenkönig Dagobert oder einen seiner Nachfolger die

ehemalige Römerprovinz Raetia I, um den nördlichen Teil des Alpenrheintals

und um das ganze voralpine Rätien verkleinert worden.

S. 296: Das führte aus dem Wissen um die ehemalige römische Raumorganisation zu

Doppelbezeichnungen, so bei Walafrid Strabo im Prolog der Vita s. Galli, wo

er die Raetia major, das römische «Grossrätien», von der eigentlichen, der

zeitgenössischen Raetia im engeren Sinne, dem «Rumpfrätien», unterscheidet.

Der Verfasser des Breviarium Erchamberti aus dem endenden 9. Jahrhundert

nimmt diese Doppelbezeichnung auf und präzisiert, indem er das engere Rätien

Rhaetia Curiensis nennt.

Der Bezeichnung nach dem Provinz- und Bistumsvorort Chur gehörte die

Zukunft. Sie knüpfte an eine Gewohnheit an, die sich seit der Zeit um 800

nachweisen lässt, und zwar in den Briefen Alkuins an Bischof Remedius, in

offiziellen Schreiben des Königshofes (divisio regnorum von 806), in Victors

III. Klageschriften von ca. 823 oder in Urkunden. Raetia Curiensis oder

einfach Curia, Curio mit oder ohne Zusatz von pagus, pagellus, provincia oder

ducatus, das ist jetzt die Benennung des politisch-herrschaftlich von Chur aus

bestimmten «Rumpfrätien»

- 65 -

Eine vergleichbare Entwicklung durchläuft die Bezeichnung Romani: Um 507

werden damit die römischen Bürger der Provinz Rätien benannt. Noch in der

Lex Romana Curiensis werden die Romani, die römischen Bürger, die nach

römischem Recht leben, den Gentilen und den Juden gegenübergestellt. Die

Capitula Remedii von ca. 802/3-806 verstehen dagegen die Romani als solche,

die in einem besonderen Rechtsverhältnis zu dem praeses/episcopus stehen, sie

sind ihm herrschaftsmässig und politisch zugeordnet. Ca. 100 Jahre später

werden in einer Gerichtsurkunde aus Rankweil die Romani von den Alamanni

unter den Richtern unterschieden. Jetzt ist es die Sprache, die Zugehörigkeit zu

dem zweimal in der Urkunde erwähnten Curuvvala, die als

Unterscheidungsmerkmal dient. Schon 841 ist in einer Urkunde Lothars 1. von

Churwalchen (in valle Curualensae) die Rede. Die Welschen, das waren für

Germanischsprachige die Romanen, und zwar in der gesamten germanisch-

romanischen Sprachgrenzzone. Für den näheren Umkreis wären hier die

Romanen des elsässischen Sundgaus, des Aareraumes oder des Gebietes um

Salzburg zu erwähnen. Romani/Welsche allein genügte nicht, es war unscharf,

es brauchte eine Spezifizierung, und diese war - und das ist das Entscheidende

hier - territorial, geographisch oder, wenn man Chur in seiner Funktion als

Hauptort betrachtet, politisch. Die Sprache erscheint also erst spät, und zwar

zunächst in einer unspezifischen, nicht auf Rätien allein zu beziehenden Weise

als Unterscheidungsmerkmal. Einige amüsante Geschichten in Ekkehards IV.

Casus s. Galli, die G. Hilty kommentiert hat, illustrieren

S. 297: sehr schön, dass Sprache, so auch das Romanische, kulturelle Zugehörigkeiten

signalisiert, und Romanisch im Umkreis von St. Gallen, das war das von den

«Churrätern» gesprochene Romanisch, das, was wir «Rätoromanisch» nennen,

das erstmals in einer wahrscheinlich aus St. Gallen stammenden Handschrift,

der sog. Würzburger Federprobe von Ende 10./Anfang 11. Jahrhundert, fassbar

wird mit dem Satz eines geplagten Schreibers:

Diderros ne habe diege muscha

«Desiderius erhält dafür (nur) zehn Fliegen», d.h.

«Desiderius erhält für seine Arbeit fast keinen Lohn.

Ist die Sprache, das Rätoromanische, erst sehr spät zu einem

Unterscheidungsmerkmal der Romanen der Raetia Curiensis geworden, so

bleibt zu fragen, ob es nicht andere, frühere Zeugnisse für die Entstehung eines

Gemeinschaftsbewusstseins, einer gewissen Eigenständigkeit und

- 66 -

Sonderstellung in der Geschichte Churrätiens im frühen Mittelalter gibt. Die

Grabinschrift für Bischof Valentian von 548 (s. oben S. 69, 98) enthält

zweifellos zahlreiche Formeln, die zum Totenlob eines Bischofs einfach mit

dazugehören, wie ein Vergleich mit zeitgenössischen gallischen

Bischofsepitaphien ergibt. Das entspricht der sozialen und der politischen

Stellung der spätantik-frühmittelalterlichen Bischöfe, gleichsam als

Exponenten ihrer civitates. Wenn nun darin eigens die Trauer des (ganzen)

rätischen Landes (tellus retica) betont wird, so entspricht das sicherlich dem

Stil der Totenklage, zugleich aber wird gerade durch den Formelcharakter

bedeutet, dass der Bischof Integrationsfigur der civitas ist, mit dem sich das

öffentliche Interesse (und Wohl) verbindet. Die integrative Wirkung des

Bischofsamtes wird dadurch verstärkt, dass Bischofsamt und praeses/rector-

Amt in der Hand der Zacconen/Victoriden vereinigt und die von ihr ausgeübte

Herrschaft dynastisch abgesichert ist. Beim Tode Tellos (nach 765) fällt diese

dynastische Klammer weg, es bleibt die institutionelle Verknüpfung der beiden

Ämter, die den rector/episcopus zum monarchischen Leiter von Diözese und

provincia macht, zweifellos ein integratives Element. Zum Ausdruck kommt es

in Karls des Grossen Schutzurkunde von ca. 773, der Erneuerung der

vertraglichen Bindung der rätischen Provinz an das Frankenreich. Der

rector/Bischof des territurium Raetiarum und des populus Retiarum,

verstanden als die Bewohner der patria, sind herrschaftlich und rechtlich

einander zugeordnet. Der hier genannte populus Retiarum ist wohl identisch

mit den in den Capitula Remedii (c. 3) genannten Romani homines, qui ad

domnum Remedium episcopum pertinent, den Romanen Churrätiens, die unter

der weltlich/geistlichen

S. 298: Herrschaft des Bischofs leben. Sie leben im Schutz des Königs und unter der

Garantie ihrer lex ac consuetudo, worunter das regionale Sonderrecht zu

verstehen ist. Das oben festgestellte besondere Interesse in Churrätien an den

Rechtstexten und der Weiterentwicklung des Rechtes, wie es sich in der Lex

Romana Curiensis, den Capitula Remedii und den verschiedenen kirchlichen

Rechtssammlungen widerspiegelt, das gerade seit der zweiten Hälfte des 8.

Jahrhunderts manifest wird, zeugt für das erstarkende Bewusstsein, eine

eigenständige Rechtsgemeinschaft zu bilden.

- 67 -

Ausdruck eines regionalen Sonderrechtes in einem weiteren Sinne ist es auch,

wenn die Beurkundungspraxis eigene Wege geht und die rätischen

Privaturkunden zwischen der Mitte des 8. und dem Anfang des 10.

Jahrhunderts das entstehen lassen, was als «Urkundenlandschaft Rätien»

bezeichnet und mit allen seinen charakteristischen Eigenheiten beschrieben

worden ist. Eng mit der Urkundenpraxis verbunden sind die pragmatische

Schriftlichkeit und der Schriftgebrauch im allgemeinen. Auch für die Schrift

kommt es zwischen ca. 750 und 850 zur Ausbildung und Verbreitung einer

Sonderentwicklung in Form der «rätischen Minuskel». Sie lässt von einer

«rätischen Schriftprovinz» sprechen.

Aus den erhaltenen Texten zur Besitzsicherung und aus dem

Verwaltungsschriftgut lässt sich für Churrätien im frühen Mittelalter für die

Wirtschafts- und Sozialordnung wie für die Besitzorganisation ein

Zwischenstadium ermitteln, das eine eigenständige Entwicklung von der

römischen Sklaven- und Kolonenwirtschaft zur klassischen Grundherrschaft

nordalpinen Typs verrät. Eine solche Mittlerfunktion hat Churrätien noch in

vielen anderen Bereichen im frühen Mittelalter innegehabt. Handel und

Geldwirtschaft waren stark auf den Süden ausgerichtet. Die Kultbeziehungen

der spätantik-frühestmittelalterlichen Zeit weisen ebenfalls nach Oberitalien

(Patrozinien und Liturgie, Zugehörigkeit zur Provinz Mailand), kennen aber

auch eine deutliche Hinwendung und Umorientierung zum Westen bzw.

Norden (gallische Patrozinien, Angliederung an die gallisch-fränkische Kirche

seit dem Konzil von Paris 614, Gebetsbund von Attigny, Zugehörigkeit zur

Kirchenprovinz Mainz).

In der archäologisch-bauhistorischen Forschung galt lange Zeit der «rätische

Dreiapsidensaal» als typische Bauform des frühmittelalterlichen Churrätien.

Demgegenüber wird heute auf Vorläufer in Oberitalien, in Istrien und im

christlichen Orient verwiesen. Allenfalls ist die Adaptierung dieses Bautyps für

Grossbauten, für Kloster- und Gemeindekirchen, eine für Churrätien typische

Sonderentwicklung. Ähnliches gilt für die von der früheren Forschung als

bündnerische Eigenheit reklamierten «rätischen Kirchenkastelle». Sie waren

keineswegs auf das frühmittelalterliche Churrätien beschränkt,

- 68 -

S. 299: sondern fanden sich als «befestigte Höhensiedlungen mit Kirchen» vielerorts

im Alpenraum.

Das frühmittelalterliche Churrätien hat Anteil an den verschiedenen

Kulturströmungen gehabt, stand gleichsam im Schnittpunkt von je

verschiedenen Kulturkreisen, in einer nicht nur sprachlichen, sondern auch

kulturellen Interferenzzone. Die Aneignung und Verarbeitung der

verschiedenen Einflüsse hat zur Ausprägung einer gewissen Eigenständigkeit,

zu Sonderentwicklungen geführt, vor allem in der Phase relativer Autonomie

in merowingischer und frühkarolingischer Zeit. Sie hat nicht eine Ethnisierung

oder Gentilisierung der Provinzbewohner zur Folge gehabt. Von einer

rätischen Ethnogenese wird man daher nicht sprechen können.

Die Sonderstellung Rätiens, die im 8./9. Jahrhundert gut zu beobachten ist, ist

im Wechselspiel von Peripherie und Zentrum als Auswirkung eines starken

Regionalisierungsschubes innerhalb des politisch-administrativen Rahmens der

auf die Curiensis geschrumpften Römerprovinz entstanden. Der territoriale

Bezug ist zweifellos dadurch verstärkt worden, dass provincia, ducatus und

episcopatus zusammenfielen und eine einzige territoriale Grösse waren. Im

Laufe des 9./10. Jahrhunderts verschwindet die Sonderstellung Churrätiens so

allmählich, wie die rätische Minuskel verschwindet. Die Eigenheiten werden

abgeschliffen, umgebogen wie in der Erneuerung der Karlsurkunde von ca.

773 durch Lothar 1. (841): Die Rektorswahl wird darin zur Bischofswahl, der

Schutz vor auswärtigen Angriffen zum Schutz vor ungerechtfertigten

fiskalischen Forderungen und die Garantie des regionalen Rechtes zur Garantie

der gewohnheitsrechtlich fixierten Steuerabgaben. Die Integration - sie kann

als Gleichstellung durchaus ambivalent, positiv und negativ, gesehen werden -

wird offen als Ziel der Privilegierung durch König Konrad 1. (912)

ausgesprochen: Das Inquisitionsrecht, das Recht, die materielle Wahrheit von

den Zeugen zu erfragen, wird dem Bischof von Chur «nach Art und Weise der

übrigen Reichsbischöfe» (secundum morem ceterorum praesulum) verliehen

und die noch verbliebene Eigenheit des regionalen Rechts, die dreissigjährige

Frist zur Erlangung der Freiheit für bischöfliche Hörige (servi vel ancillae),

aufgehoben, und zwar mit der bezeichnenden Begründung, das sei eine

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schlechte Gewohnheit - sie stammt aus dem römischen Recht! - und stehe im

Widerspruch zum Recht der übrigen (Bischofs-) Kirchen. Damit war die

rechtliche Gleichstellung des Churer Bistums mit

S. 300: den übrigen ostfränkisch-deutschen Bischofskirchen vollzogen. Der Wechsel

von der Mailänder zur Mainzer Kirchenprovinz im Zuge des Vertrages von

Verdun von 843, der einem Jahrhunderte währenden Schwanken zwischen

einer Süd- und einer Nord- bzw. Westanbindung ein Ende gemacht hat, zeigt

hier seine Wirkung.

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Aus Platzgründen konnten nur einige Auszüge aus dem sehr lesenswerten

Buche hier angezeigt werden. Ebenso wurden die Anmerkungen (Fussnoten)

weggelassen. Für weitergehenden Gebrauch ist das Original beizuziehen.

(Kantonsbibliothek Graubünden: Sign. KBG 15.60.21 m)

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