Urban Essen

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MARKETINGINSTRUMENT ARCHITEKTUR | ZU REICH FÜR PPP? | NEUE NORMEN GENEHMIGT WETTBEWERBE: ERWEITERUNG KUNSTHAUS ZÜRICH MAGAZIN: JUNGER WEIN IN ALTEN SCHLÄUCHEN URBAN ESSEN NR. 26 23. JUNI 2008 KALORIENHERZ DER STADT | SANDWICH MIT GESCHICHTE

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TEC21 – Fachzeitschrift für Architektur, Ingenieurwesen und Umwelt Ausgabe 26/2008

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Page 1: Urban Essen

MARKETINGINSTRUMENT ARCHITEKTUR | ZU REICH FÜR PPP? | NEUE NORMEN GENEHMIGT

WETTBEWERBE: ERWEITERUNG KUNSTHAUS ZÜRICH

MAGAZIN: JUNGER WEIN IN ALTEN SCHLÄUCHEN

URBAN ESSEN

NR. 26 23. JUNI 2008

KALORIENHERZ DER STADT | SANDWICH MIT GESCHICHTE

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TEC21 26 / 2008 EDITORIAL | 3

Architektur und Essen haben eine besondere Nähe zueinander. Nicht nur, weil sich

Architekten gerne als Genussmenschen geben und die Lust am Gestalten mit der

Freude am Kochen verbinden – das waren die ursprünglichen Gedanken für das Kon-

zept des vorliegenden Heftes. Und dann das: Kaum ein Medium, das sich zurzeit

nicht dem Thema «Essen» widmet. Während der Vorbereitungen zu dieser Ausgabe

sind neben zahlreichen Buchveröffentlichungen ein Sonderheft der Architekturzeit-

schrift «domus» und eine Ausgabe des Kulturmagazins «Du» mit diesem Titel er-

schienen. Andererseits sind die Nachrichten voll mit Meldungen über steigende Nah-

rungsmittelpreise. Als Ursachen werden Gründe wie die steigende Nachfrage in

Asien, höhere Erzeugerpreise, die fragwürdige Verwendung von Lebensmitteln zur

Ethanolerzeugung und die Börsenspekulation auf weiter steigende Preise angeführt.

Die aktuelle Preissteigerung bei Grundnahrungsmitteln, die bei uns vielfach als unan-

genehme Teuerung wahrgenommen wird, bedeutet in den Entwicklungsländern für

viele Menschen, dass sie sich ihr tägliches Brot – oder eben den Reis – kaum mehr

leisten können. Laut einem aktuellen UN-Bericht sind über 800 Millionen Menschen

weltweit vom Hunger bedroht.

In diesem Spannungsfeld zwischen Lifestyle und Existenziellem scheint es zunächst

gewagt, sich dem Thema aus dem Blickwinkel einer saturierten, urbanen Gesellschaft

zu nähern. Da aber das gemeinsame Essen die Basis aller urbanen Gesellschaften

darstellt, haben wir unseren Schwerpunkt genau auf diesen Bereich gelegt: «Kalorien-

herz der Stadt» zeigt einen knappen Abriss einiger kulturhistorischer, soziologischer

und versorgungstechnischer Entwicklungen, die unsere heutigen urbanen Strukturen

erst ermöglichten und weiter beeinfl ussen. Drei Architekturbeispiele zeigen aktuelle

Orte gemeinschaftlichen Speisens im städtischen Umfeld: Die neue Mensa des

Kirschgarten-Gymnasiums in Basel ist ein Ort, an dem in anspruchsvoll gestaltetem

Rahmen heute Schülerinnen und Schüler Grundlagen für ihren künftigen bewussten

Umgang mit Nahrung erleben. Im «Magazin» stellen wir die Wiederbelebung der his-

torischen Wiener Viaduktbögen von Otto Wagner und eines Zürcher Gasthauses für

Quartierbewohner und Stadttouristen vor als eine gelungene Verbindung von Historie

und Globalisierung.

Dass es darüber hinaus noch sehr viel mehr interessante Aspekte gibt, die den Rah-

men einer Heftausgabe bei weitem sprengen, ist nicht der einzige Ansporn, den The-

menbereich künftig weiterzuverfolgen. Hoffentlich macht auch Ihnen dieses Hors

d’œuvre Appetit auf mehr...

Alexander Felix, [email protected]

URBAN ESSEN

Farbkreis aus Nahrungs-mitteln in Anlehnung an Johannes Itten (Bild: Sonja Stummerer und Ludwig Löckinger, A-Wien)

5 WETTBEWERBEErweiterung Kunsthaus Zürich

10 MAGAZINJunger Wein in alten Schläuchen

16 KALORIENHERZDER STADTMartin Hablesreiter Ein kurzer Denkanstoss:

Wie beeinfl ussen Kalorienversorgung und

Urbanität einander? Was können Architektur

und Städtebau von der Ernährungswissen-

schaft, der Lebensmitteltechnologie, der

Soziologie und der Kulturgeschichte lernen?

22 SANDWICHMIT GESCHICHTEAndrea Wiegelmann Mit der neuen Mensa für

das Kirschgarten-Gymnasium in Basel

haben HHF Architekten einen Ort geschaf-

fen, der die Schüler zum gemeinsamen

Essen und Verweilen einlädt.

28 SIAMarketinginstrument Architektur | Zu reich

für PPP? | Zwei neue Normen genehmigt

31 PRODUKTE

37 IMPRESSUM

38 VERANSTALTUNGEN

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10 | Magazin TEC21 26 / 2008

Junger Wein in alten Schläuchen

unvermittelt tauchen im dichten Stadt-gewühl immer wieder kleine gastliche Oasen auf. Mit unterschiedlichem Konzept und beinahe gegensätzlichem charakter erwecken zwei gastrono-mie-Projekte in zürich und Wien bei-spielhaft historische Bauten zu neuem, urbanem leben.

aM Bau BeteiligteBauherrschaft: Stationsstrasse AG, Zürich(Oliver und Michael Baumgartner)Eigentümer: Familie FetzArchitektur: URBANOFFICE, Amsterdam/Zürich (Daniel Kobel, Madir Shah)

PenSiOn Mit SchuSS(af) Zürich hautnah erleben: Bereits zum zweiten Mal – nach dem «Kafischnaps» an der Kornhausstrasse – entsteht durch die Kombination aus Quartierbeiz und günstiger Pension mit Secondhand-Designerausstat-tung ein neuer urbaner Ort in Zürich, der zu-gleich geschickt betriebliche Synergien nutzt.

Das Gasthaus «Zum Guten Glück» befindet sich im Erdgeschoss eines fünfgeschossigen Wohnhauses aus dem Jahr 1897 an der Ecke Stations- und Weststrasse. Mit dem Plan, das Ladenlokal als Gasthaus zu nutzen, wandten sich die neuen Eigentümer an die Architekten und die Betreiber, die das «Kafischnaps» bereits erfolgreich realisiert hatten. Der Grundriss des zuletzt als Werkstatt und Massagesalon genutzten Erdgeschosses wurde so neuorganisiert, dass zwei unter-schiedliche Gasträume entstanden. Das Herzstück bildet eine lang gestreckte Bar aus Zinn im vorderen Nichtraucherbereich, der in hellen Farben gehalten ist. Als Kontrast bietet das zum Hof durchgesteckte Fumoir Hinterzimmeratmosphäre. Für die ange-schlossene Pension mit fünf Zimmern wurde die ehemalige Wohnung im ersten Oberge-schoss umgebaut. Gebucht wird im Internet, und der Zimmerschlüssel wird an der Bar abgeholt.

01 Der gastraum wird dominiert von der theke aus zinn (Bild: URBANOFFICE, Zürich)02 Pensionszimmer (Bild: Julian Salinas, Zürich)03 grundrisse eg / Og, Mst. 1:400

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Schanghai-Küche aM gürtelIn den denkmalgeschützten Viaduktbögen von Otto Wagner im verkehrsumtosten Wie-ner-Gürtel-Dreieck hat das «Neon Restau-rant» einen überraschend oasenhaften Standort gefunden. Die raumbestimmende Lichtinstallation spielt mit dem Bild einer pul-sierenden asiatischen Grossstadt.Der Westgürtel in Wien ist ein beispielhafter Knotenpunkt grossstädtischen Lebens, wenn sich in schwindelnden Höhen kreuzende Verkehrsschleifen als ein Indikator für Urba-nität gelten. Auf den ersten Blick mag es ab-wegig erscheinen, gerade in einem so un-wirtlichen Umfeld ein Restaurant zu eröffnen. Nach der Stilllegung der Bahnlinie auf dem Heiligenstädter Ast in Wien Döbling waren die denkmalgeschützten Viaduktbögen, die an dieser Stelle eine Höhe von rund 11 m aufweisen, aufgrund hoher Sanierungskos-ten vom Abriss bedroht. 2002 wurde auf einem zuvor unzugänglichen Restgrund-stück zwischen den Bahntrassen ein Büro-komplex errichtet, der diesem bislang abge-trennten Stadtgebiet neue Impulse geben sollte. Zusätzlich stellt eine Fussgänger- und Radfahrerbrücke eine geschützte Verbin-dung zwischen zwei bislang getrennten Stadtbezirken her.

Mit diesen baulichen Massnahmen hat sich ein ehemals braches Zwickelgrundstück in einen ruhigen städtischen Hofraum verwan-delt: Zwischen den neu errichteten Gebäu-deflügeln liegen weitere, beschauliche Loka-le, und der Verkehrslärm ist nur noch als ein fernes Rauschen wahrnehmbar. In zwei der Viaduktbögen, die in ihrer Sicht-ziegelästhetik fast römisch anmuten, hat das Wiener Architektur- und Designbüro ten.two ein Restaurant eingerichtet, das in redu-ziertem Ambiente und mit authentischer Schanghai-Küche auf regen Zustrom hofft, etwa aus der nahen Wirtschaftsuniversität. Das Thema «Schanghai» wird in zwei Lichtinstallationen, die aus 1.1 m langen, grossteils U-förmigen Neonröhren zusam-mengesetzt sind, aufgegriffen. Sie verbinden beide Ebenen des Restaurants zu einer Ein-heit und spiegeln sich da und dort im Raum. «Dadurch entsteht eine kühle und urbane Stimmung, die an das pulsierende asiatische Grossstadtleben erinnert», so der Architekt Chieh-shu Tzou. Der gebürtige Taiwanese, der bereits zwei weitere Lokale in Wien reali-sierte, hat für das «Neon» mit Maria Prieto Barea auch das Geschirr entworfen sowie das grafische Erscheinungsbild von Logo und Speisekarte entwickelt. Dem signifi-

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aM Bau BeteiligteBauherrschaft: Zhi-shi Chen, Wien Architektur: ten.two, WienChieh-shu Tzou, Gregorio SantamariaMitarbeit: Conrad Kroencke, Maria Prieto Barea

kanten Pink der Lichtinstallation steht auf zwei miteinander verschränkten Ebenen (plus Plateau) eine schlichte Raumgestaltung gegenüber, die sich in ihrer Materialität auf Sichtbeton, Chromstahl und Streckmetall be-schränkt, um die Präsenz des alten Mauer-werks nicht zu schmälern. Die technische In-frastruktur ist im hohen Ziegelgewölbe des Viadukts offen verlegt. Das herbe Ambiente, in dem die verkehrstechnische Herkunft des Gewölberaums spürbar bleibt, verträgt sich aber mit der Feinheit der Speisen, die in of-fener Küche stets frisch vor den Augen der Gäste zubereitet werden.Gabriele Kaiser, Architekturzentrum Wien

[email protected]

04 + 05 gasträume Og und eg im Bogen 215(Bild 04: Chieh-shu Tzou, A-Wien, Bild 05 : Gerhard Wasserbauer, A-Wien)06 grundrisse eg/Og, Schnitt aa Mst. 1:750 (Pläne: ten.two, A-Wien)

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16 KALORIENHERZ DER STADT Martin Hablesreiter

URBAN ESSEN

NR. 26 23. JUNI 2008

22 SANDWICH MIT GESCHICHTE Andrea Wiegelmann

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Die Stadt besteht nicht aus Architektur allein. Ohne eine ausreichende Kalorienversorgung sind Städte und Urbanität nicht denkbar. Das Essen prägt wesentlich die Stadtgestalt – mit Bauten für die Aufbereitung und Verteilung der Nahrung, vor allem aber, weil das Essen immer und überall als Kultur verstanden und entsprechend architektonisch inszeniert, gestaltet und überhöht wurde. Ein historischer Abriss zur Beziehung zwischen Essen, Kultur und Stadt.

Der kreative Umgang mit Essbarem ist wahrscheinlich ebenso alt wie der Drang des

Menschen, Kunst zu schaffen. Allerdings wird im Gegensatz zum Kunstwerk die Nahrung

aufgegessen und taugt nicht als bleibendes Zeugnis der Menschheitsgeschichte

(vgl. Bild 2). Dennoch hat der gestalterische Umgang mit lebenserhaltenden Kalorien die

Entwicklung der Menschheit massiv beeinfl usst. Sowohl kulturelle Faktoren als auch

pragmatische Denkweisen bei der Nahrungsgestaltung spielten und spielen eine entschei-

dende Rolle bei der Evolution. Der Paläoanthropologe Richard Leakey schrieb dazu: «Zwar

enthielt die Kost der Hominiden mehr Fleisch als die ihrer nichthominiden Verwandten, (…)

aber die entscheidende Abweichung war die ganz neue Verhaltensweise, Nahrung zu

suchen, um sie erst später zu verzehren, sowie der Verzehr in der Gruppe. Die unmittelbare

KALORIENHERZ DER STADTTitelbild «Fuji Onion Omelette»: In seinem Projekt «Sponsored Food» entwirft Marti Guixe die Idee von Restaurants, in denen jeder kostenlos essen könnte (Bild: Imagekontainer, D-Berlin)

01 Ein palästinensischer Bäcker arbeitet fast wie vor 2000 Jahren an seinem Holzofen(Bild: KEYSTONE/CAMERA PRESS/Mustafa Hassona)02 Nahrung und Architektur sind über alle Zeiten eng verknüpft: Der Getreidespeicher, den Wayss & Freytag 1908 in Worms errichteten, erinnert mit seinem Rustika-Mauerwerk, den Säulen, kapitellartigen Klammern und einem Giebel an einen antiken Tempel(Bild: Reyner Banham: A Concrete Atlantis – U.S. Industrial Building and European Modern Architecture. MIT Press, Cambridge Mas-sachusetts 1989)

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Konsequenz einer solchen Ordnung dürfte gewesen sein, dass die bereits unter den

höheren Primaten wohlentwickelten sozialen Wechselbeziehungen noch weiter verstärkt

wurden.»2 Die Ernährung wird vom Menschen als kultureller Akt begriffen, der Hierarchien

festlegt, den Jahresablauf strukturiert und Gemeinschaften eine Identität verschafft.

Der Schritt von der individuellen «Hand in den Mund» zum zivilisierten Erzeugen und

Aufteilen war eine bahnbrechende kulturelle Leistung: Erst das Wissen und die Fähigkeit,

Nahrung zu produzieren, zu lagern, zu transportieren und zu verteilen, führte in der neoli-

thischen Revolution zum Sesshaftwerden der Menschen, zum Bau fester Gebäude (Spei-

cher), zur Entwicklung grösserer Gemeinschaften und letztlich zur Entstehung von Städten.

DIE KULTUR DER ERNÄHRUNG ALS URBANER FAKTOR Die Formen und Arten der Ernährung defi nieren seit je den kulturellen Zusammenhalt

urbanen Lebens. Bis heute werden beispielsweise zu bestimmten Anlässen Feste mit

speziellen Speisen gefeiert. Bis heute entnehmen Gemeinschaften einen Teil ihrer Identität

ihren Nahrungsvorlieben und grenzen sich damit bewusst von anderen Kulturen ab.

Dazu zählen religiöse Tabus und Vorschriften genauso wie der Ekel gegenüber fremden

Ernährungsformen.

Damit gleicht die Art der Ernährung der metaphorischen Bedeutung von Architektur, ist doch

die gebaute Stadt ein kultureller Ausdruck des Zusammenlebens. Auch die formale Sprache

einer Stadt und ihrer Gebäude vermittelt Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Sowohl das

architektonische Erscheinungsbild als auch die rituelle Auseinandersetzung mit dem

Stadtraum, etwa in Form von Festen oder Prozessionen, verhelfen der urbanen Gemein-

schaft zu einer spezifi schen Identität und einer kulturellen Aufarbeitung der eigenen

Geschichte. Hierarchie und soziale Ordnung werden mit Hilfe von Architektur und Stadtpla-

nung immer wieder manifestiert.

Kirchen und Kathedralen gehören zu den bedeutsamsten Bauten Europas und sind ein

essenzieller Bestandteil städtischer Identität. Sie markieren die städtischen Zentren und

erfüllen – aus kulturanthropologischer Sicht – die Funktion eines «rituellen Restaurants»: Das

von Athenaios angesprochene Menschenopfer (vgl. Kasten) fi ndet noch immer symbolisch

in Form der christlichen Liturgie statt. Die Teilnehmer von Messen teilen und verspeisen

gemeinsam den Leib ihres Religionsgründers und trinken sein Blut. Die Kirchenarchitektur,

die einen für die Elemente der Liturgie zweckdienlichen Raum schafft und diese gleichzeitig

inszeniert und überhöht, ist das Resultat einer kultischen Handlung, die direkt mit der

gemeinsamen Aufnahme von Nahrung zusammenhängt.

Doch selbst im mittlerweile atheistisch geprägten kapitalistischen Europa treten identitätsstif-

tende Architektur und Nahrungsgestaltung in trauter Gemeinsamkeit auf den Plan. Nicht

allein die Gesellschaften, sondern ganze Städte defi nieren sich über die Nahrung, wie etwa

die sogenannten «Spezialitätenküchen» zeigen. Speziell gestaltete Esswaren wie das

Wiener Schnitzel oder Zürcher Geschnetzeltes sind vergleichbar mit Wappentieren oder den

gebauten Wahrzeichen der Städte. Auch das jeweilige Sortiment an Essbarem, an Zutaten,

Gerichten und Geschmäckern gehört zum Aufputz städtischer Gesellschaften, wie Kathed-

ralen, Gräber und andere Architekturen. Davon abgesehen ist es guter urbaner Ton, mit

einer Überfülle an Esswaren und deren Gestaltungsmöglichkeiten zu protzen. Während

Brüssel, Turin oder Zürich berühmt sind für ihre Schokoladenvariationen, sind in Wien die

«disneyeske» Darbietung von Nahrung auf dem Naschmarkt oder das Schaufenster des

Hofzuckerbäckers Demel, wo in kurios-dekadenter Gestaltungswut alle nur erdenklichen

Formen aus Zuckerwerk nachgestellt werden, bedeutende Delikatessenattraktionen.

Gemeinschaften grenzen sich durch Vorlieben und Abneigungen bei der Aufnahme von

Nahrung ab. Dieser kulturelle Faktor defi niert auch einen entscheidenden Teil pragmatischer,

urbaner Infrastruktur: So verlangt etwa das hinduistisch geprägte Chennai im Süden Indiens

nach perfekter Distribution verschiedenster Gemüse und vegetarischer Gerichte, während

das Kalorienherz Tokios der weltgrösste Fischmarkt in Tsukiji ist und multiethnische Städte

wie London oder New York möglichst grosse Nahrungsvielfalt bieten müssen. Die logisti-

schen Anforderungen an die Infrastruktur dieser Metropolen sind enorm in Anbetracht des

DEIPNOSOPHISTAI –DAS GELEHRTENMAHL«Als noch Kannibalismus und zahlreiche ande-re Übel herrschten, trat ein gewisser – und al-les andere als törichter – Mann auf den Plan, der als erster dazu überging, das Opferfl eisch zu rösten. Und weil es um so vieles besser als (rohes) Menschenfl eisch schmeckte, liess man davon ab, einander zu verspeisen, und berei-tete fortan die geopferten Tiere auf ebendiese Weise zu. Durch die genussvolle Erfahrung be-lehrt, experimentierte man weiter und kam zur Kochkunst. (...) Nachdem eine gewisse Zeit ver-strichen war, gelang schliesslich die Entdeckung des Wurstens. Sein Erfi nder kochte ein Zicklein, zerlegte es, setzte eine Süssspeise, dann, dem Auge nicht sichtbar, mit viel Geschick einen Fisch zu und rundete das Ganze zum Schluss mit Zugaben von Gemüsen, reichlich gepökeltem Fisch, Grütze und Honig ab. Und als alle auch aufgehört hatten, das Fleisch der verstorbenen Menschen zu essen, verstärkte sich in ihnen, der Genüsse wegen, von denen ich spreche, der Wunsch zusammenzuleben, so dass alsbald die ersten Lokalgemeinschaften, dann – alles, wie gesagt, infolge der Kochkunst! – ganze Städte entstanden.»1

Athenaios, griechischer Schriftsteller im 3. Jh. n.Chr., über die untrennbare Verbindung von Nah-rungsmittelversorgung und Urbanität

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Bedarfs an biologischer, koscherer, geschächteter oder vegetarischer Nahrung. Das Essen

muss zu städtischen Verteilerposten geliefert, gelagert, gekühlt, verteilt, zubereitet und

endlich in entsprechender Form und passendem Rahmen verzehrt werden.

Erst das gezielte Zusammenspiel von Architektur und Nahrungsangebot in gestalteten

Zonen vermittelt die Identität einer Stadt. Dabei sind sowohl Versorgung (Märkte, Kleinhan-

del, Supermarkt) als auch Konsumation (Wohnung, Restaurant, Take-away) essenzieller

Bestandteil der räumlichen Struktur und des gesellschaftlichen Wertekodex. So sind heute

die Versorgungszonen im städtischen Gefüge – ursprünglich übel riechende Areale voller

Logistik, Schweiss und Blut – viel besuchte Touristenattraktionen.

STÄDTISCHE VERSORGUNG IN DER ANTIKEDie Gründungen der ersten nichtbäuerlichen Gesellschaften in Babylon oder Theben waren

erst möglich, als man die Logistik der Versorgung im Griff hatte. Ehe an die Errichtung

architektonischer Wunder in Mesopotamien und Ägypten gedacht werden konnte, musste

die organisierte, «industrialisierte» Herstellung von Brot und Bier zur Versorgung einer

grossen Zahl von Bauarbeitern und Stadtbewohnern gelöst sein.

Später entfaltete sich auch die Macht Roms und Konstantinopels unter anderem dank ihrer

perfekten Versorgung. Im alten Rom waren die Stadtverwaltung und unzählige «Take-away»-

Restaurants für die Ernährung der Bevölkerung verantwortlich, da nur wenige, sehr reiche

Haushalte überhaupt über eigene Küchen verfügten. Die Auswirkungen auf das damalige

Stadtbild und die urbane Struktur sind leider noch unzureichend erforscht. Kulturhistorisch

werden heute die «Circenses» in Form der Kolosseumsruine als Denkmal verehrt, doch ohne

«Panem» wäre Rom in sozialem Unfrieden untergegangen. Zweitausend Jahre vor der

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03 Geschäftige Marktidylle auf dem Campo de’ Fiori in Rom (Bild: KEYSTONE/CAMERA PRESS/Anton Dijkgraaf)04 Auf dem weltgrössten Fischmarkt Tsukiji in Tokio werden täglich etwa 2500 t Fisch gehandelt (Bild: Judit Solt)

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Erfi n dung von Kühlschrank, Supermarkt und Lastwagen waren die Römer in der Lage, ihre

Millionenstadt und eine schlagkräftige Armee ausreichend zu ernähren. Während der Frühphase

des Römischen Reichs belieferte Sizilien die Hauptstadt mit lebensnotwendigem Korn, bis

Ägypten erobert und zur Kornkammer des Reichs wurde. Riesige Mengen an Weizen wurden

nach Ostia verschifft, dort in Lagerhäusern gelagert, in zentralen Herstellungsbetrieben zu

Brot verarbeitet, das gratis an die Bevölkerung verteilt wurde. Erst die Unterbrechung der

«Lebensader» Ostia–Rom ermöglichte den Germanen die Eroberung der Ewigen Stadt.

ESSEN IM MITTELALTERAuf den Untergang des Römischen Reichs folgte ein langer Dämmerschlaf der europäi-

schen Städte. Vergleichsweise kleine, stark befestigte Orte dominierten für Jahrhunderte

das urbane Erscheinungsbild des Kontinents, und sie wurden auch anders versorgt als die

antiken Vorgänger. Im ausgehenden Mittelalter regten sich ausserdem erste Formen des

Kapitalismus, und daraus resultierten soziale Strukturierungen des Stadtraums: Die Lebens-

mittel wurden von den Bauern der Umgebung auf sogenannten Wochenmärkten angeboten,

die nach ihrem Angebot getrennt waren. Die Segregation in Fleisch-, Gemüse-, Wildbret-

oder Fischmärkte defi nierte das Erscheinungs- und Geruchsbild städtischer Zonen und

legte damit auch Hierarchien fest. So ist es beispielsweise kein Zufall, dass das westwind-

exponierte Wien seine fl eischverarbeitenden Betriebe im äussersten Osten der Stadt

ansiedelte und sich ein bis heute existierendes soziales West-Ost-Gefälle ausbildete, da

sich wohlhabende Familien nicht in der Nähe «bäuerlichen Pöbels» oder «riechender

Fleischergesellen» niederliessen. Im Unterschied zur Antike wurde im Mittelalter zu Hause

gegessen. Die mittelalterliche Lebensgemeinschaft, bestehend aus Familie, Gesellen und

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Dienstboten, hatte den Ort ihres Zusammenhalts am gemeinsamen Esstisch, die Aufgabe

der Verköstigung oblag der Hausfrau oder den Mägden. Erst die industrielle Revolution

erschütterte dieses System aus kleinen Versorgungsgemeinschaften.

INDUSTRIELLE REVOLUTIONDas drastische Wachstum der Städte, der schnelle Zuzug tausender Industriearbeiter und

die Notwendigkeit, zur Sicherung des Überlebens alle Familienmitglieder in die Fabrik zu

schicken, provozierten neuartige Formen der Ernährung. Eine Arbeiterfamilie konnte sich

wegen der extrem niedrigen Löhne die kochende Frau am Herd schlichtweg nicht leisten.

Kantinen existierten zunächst kaum und boten kaum ausreichend Nahrung an. Auf diese

Situation reagierten erfi ndungsreiche und geschäftstüchtige Männer wie Justus von Liebig,

Julius Maggi und Henry Nestlé. Liebig kreierte den Fleischextrakt, eine stärkende Nahrung

für die Massen. Maggi erfand gemeinsam mit dem Arzt Fridolin Schuler Methoden zur

kostengünstigen, industriellen Herstellung nahrhafter Hülsenfruchtgerichte für Fabrikarbeiter

und prägte den Spruch: «Wer schneller arbeitet, muss auch schneller essen.» Henry Nestlé

nutzte Liebigs Analyse der Muttermilch und entwickelte daraus unter dem Namen «Henri

Nestlés Kindermehl» das Milchpulver. Diese drei Produkte stehen exemplarisch für die

radikale Industrialisierung der Nahrungsmittelversorgung. In und um Chicago entstanden zu

dieser Zeit riesige, nach industriellen Gesichtspunkten funktionierende Schlachthöfe, die

den Fleischbedarf der US-Metropolen decken konnten. Dort, und nicht in Henry Fords

Autofabrik, haben die ersten Fliessbänder ihre Arbeit aufgenommen.

Nestlé und seine Kollegen ermöglichten die Versorgung der arbeitenden Massen und

erreichten damit wiederum die Vergrösserung von Industrie und Metropole. Billigst herge-

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05 In der Gefriertrocknungsanlage wird Kaffee bei minus 50°C schockgefroren und danach im Unterdruck getrocknet(Bild: KEYSTONE/BILDERBERG/Peter Ginter)06 TV-Dinner wurde 1953 in den USA erfunden. Das Original bestand aus Truthahnfl eisch, Mais, Erbsen und Süsskartoffeln, verpackt in einer Aluminiumschale, wie sie im Flugzeug bereits üblich war (Bild: KEYSTONE/Everett Collection)

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stellte Nahrung, die obendrein kaum Kochaufwand erforderte, und effi ziente Kalorienpro-

duktion sicherten das wirtschaftliche und das urbane Wachstum. Notwendig war auch die

Entwicklung von Gerichten, die in die Fabrik mitgebracht und dort einfach verzehrt werden

konnten. Die heutigen Snacks und Fertiggerichte sind eine Spätfolge der Ernährungssitua-

tion in der frühen Industriegesellschaft. Fastfood ist deshalb in früh und stark industrialisier-

ten Ländern wie England oder Deutschland tiefer verwurzelt als in Ländern wie Österreich

und der Schweiz, wo ländliche und industrielle Lebensformen länger nebeneinander oder

in Mischformen existierten und deshalb lokale Kochtraditionen stärker erhalten bleiben

konnten.

Arbeiter und Angestellte wohnten nicht mehr bei ihren Arbeitgebern, sondern in der eigenen

Wohnung. Der Trend zum Kleinfamilienhaushalt setzte sich im 20. Jahrhundert fort und

prägte die weitere städtebauliche Entwicklung und die Ausgestaltung der Ernährungskultur.

Die Erfi ndung des Kühlschranks erlaubte es, nicht mehr täglich einkaufen zu müssen. Da

damit eine direkte Nähe zu Nahrungsquellen wie Märkten oder Läden nicht mehr entschei-

dend war, wuchsen die Distanzen zwischen Versorgern und Haushalten. So erlaubte der

Kühlschrank die räumliche Ausbreitung der Städte. Der Kühlschrank, neue Konservier- und

Lagermethoden, die Entwicklung des Autos und schliesslich die Einführung des Super-

marktes als umfassender Nahversorger für motorisierte Kunden mündeten in der Ausbildung

riesiger, suburbaner Ansammlungen von Einfamilienhäusern. Schlossen sich einst Menschen

zu engen städtischen Räumen zusammen, um mit kurzen Wegen die Effi zienz zu steigern,

so erlaubte nun modernes Food Design eine distanzierte Behausungsform – eine «anti-

dichte» Stadt.

WAS BRINGT DIE ZUKUNFT?Trotz all diesen Zusammenhängen scheint sich die westliche Gesellschaft kaum für die

Versorgung mit Nahrung zu interessieren. Architekten reden zwar gern übers Kochen und

lieben schicke Restaurants, planen aber immer noch häufi g Küchen wie in den 1950er-

Jahren und schreiben bei städtebaulichen Planungen lediglich das Stichwort «Nahversor-

ger» in den bunten Plan. Beinahe unbemerkt beeinfl usst unterdessen der Lebensmittelhan-

del als Verteiler von Food Design Alltag und Lebensstil. Kaum wahrgenommen arbeiten

Entwicklungsabteilungen von Nahrungsmittelkonzernen an perfekt angepassten Essens-

formen für alle nur denkbaren Lebenssituationen. Möglicherweise werden in nicht allzu

ferner Zukunft Lebensmittel in Tanks an den Stadträndern gezüchtet. Schon heute spricht

die Industrie von «taylor made food», von Produkten etwa, deren Bestandteile auf Wunsch

des Konsumenten im Supermarkt maschinell gemixt werden, nach dem Motto: «Ich hätte

gerne ein Joghurt mit 1.5 % Fett, 25 Erdbeerstückchen, 5 Mandeln, 1 Gramm Vanille und

Crèmigkeitsfaktor 5.» Parallel dazu entwickelt sich das Internetshopping.

Einige der erwähnten Entwicklungen gehen sicher weiter, doch gibt es auch Gegentrends:

Die fortschreitende Industrialisierung der Produktion (mit hors-sol, also bodenunabhängig

produzierter Nahrung und Functional Food) wird von einem neuen Interesse für biologischen

Anbau und traditionelle Sorten begleitet; der Globalisierung der Nahrungsmittelversorgung

steht ein neues Interesse an lokalen Küchentraditionen gegenüber. Auch die Individualisie-

rung geht weiter, doch die steigende Zahl Einpersonenhaushalte in unseren Städten – diese

Prognose darf man wohl mit einiger Sicherheit wagen – wird die soziale Tradition einer

urbanen Gastrokultur nicht gefährden, eher im Gegenteil. Was immer sich durchsetzen wird:

Jede Situation, in der gegessen wird, ist direkt oder indirekt mit Architektur, Städtebau und

Produktdesign verbunden. Es ist die Aufgabe der Architekturschaffenden, Ausdrucksformen

für die Versorgung, Herstellung und den Verzehr von Nahrung zu gestalten.

Martin Hablesreiter, Architekt und Autor, honey & bunny productions, A-Wien, [email protected]

Anmerkungen

1 Claus Friedrich: Athenaios. Das Gelehrtenmahl. Anton Hiersemann Verlag, Stuttgart, 1998

2 Richard Leakey: Die Suche nach dem Menschen. Umschau-Verlag, Frankfurt a. M., 1981, S. 94

AUSTELLUNG / BUCH / FILM«food design – von der Funktion zum Genuss». Ausstellung Herbst 2008 in Dornbirn und Anfang 2009 in BrüsselSonja Stummerer und Martin Hablesreiter: «food design – von der Funktion zum Genuss». Springer Wien / New York 2005, 90 Fr., ISBN 978-3-211-23512-6«Food Design – der Film». Regie: Sonja Stumme-rer und Martin Hablesreiter; Produktion: Nikolaus Geyrhalter Film, Koproduktion: u.a. ARTE, ORF. Fernsehausstrahlung im Herbst 2008

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Vieles verbindet die Disziplinen Kochen und Bauen: Der Einbau der neuen Mensa des Basler Kirschgarten-Gymnasiums in eine bislang wenig attraktive Wandelhalle des denkmalgeschützten Schulhauses von Hans Bernoulli zeigt, dass die Zutaten einfach sein können, wichtig sind der gekonnte Umgang und eine sorgfältige Verarbeitung. Die Architektur erinnert an eine trendige Kaffebar und lässt keine Assoziationen zu herkömmlichen Kantinenräumen aufkommen.

Sandwiches, ob vom Bäcker oder von zu Hause mitgebracht, Obst und Schokolade,

gegessen auf den Fluren, dem Pausenhof, manchmal im Klassenraum, zwischen den

Stunden – alles keine Situationen, die wir uns zum Essen aussuchen. Im Kirschgarten-

Gymnasium ist jetzt alles anders: Es gibt eine Mensa, deren grosszügige Glasfront sich zum

Pausenhof öffnet und deren Sitzstufen zum Verweilen in der Sonne einladen. Der in hellen

Tönen gehaltene Innenraum bildet einen zurückhaltenden Rahmen nicht nur während der

Pausen.

DIE NEUE MENSADas denkmalgeschützte Schulhaus, das die Basler Architekten Hans Bernoulli, Ernst

Mumenthaler und Otto Meier im Jahr 1957 mit einer Fassade aus vorgefertigten Beton-

AM BAU BETEILIGTEBauherrschaft: Immobilien Basel-Stadt, vertreten durch dasBaudepartement des Kantons Basel-Stadt, Hochbau- und PlanungsamtArchitektur: HHF architekten, BaselBauingenieur: Ingenieur-Büro Hans-Peter Frei, BaselKünstlerische Beratung: Gido Wiederkehr, Basel

SANDWICH MIT GESCHICHTE

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URBAN ESSEN | 23TEC21 26 / 2008

01 Der Mensaeinbau greift zwischen den hofseitigen Betonstützen der ehemaligen Wandelhalle als Sonnenschutz und als Terrasse mit Sitzstufen in den Pausenhof hinaus. Die alten Sitzbänke werden um den Brunnen neu gruppiert (Bild: Tom Bisig, Basel)02 Modell03–04 Grundriss und Schnitt, Mst. 1:400A Wandelhalle (Bestand)B WindfangC SaalD KücheE Pausenhof(Bilder: HHF architekten, Basel)

elementen errichteten, liegt zwischen der Basler Innenstadt und dem Schweizer Bahnhof in

der Aeschenvorstadt. Die Versorgung mit Zwischenmahlzeiten vom Bäcker oder mit

Fastfood ist also für die Schüler relativ einfach. Dennoch wurde mit der Verkürzung der

Wochenschulzeit von sechs auf fünf Tage für das Kirschgarten-Gymnasium und die

angrenzende De-Wette-Schule eine gemeinsame Mensa eingerichtet, um den Schülerinnen

und Schülern eine nahe und gesunde Alternative zu bieten.

Nach dem Wunsch der Bauherrschaft sollte der Neubau nicht nur der Verpfl egung dienen,

sondern gleichzeitig einen Aufenthaltsbereich für die Schüler schaffen, da bisher ein

entsprechendes Angebot fehlte. Auch der Pausenhof, der durch die drei Flügel des

Schulbaus, die sich U-förmig um ihn legen, und die stirnseitig anschliessende Wandelhalle

eingefasst ist, konnte dies nicht bieten. Neben einer ansprechenden Platzgestaltung fehlte

es vor allem an Sitzgelegenheiten.

So lag es nahe, dass sich für die Architekten beim Neu- bzw. Umbau die Frage der Aufent-

haltsqualität zu einem zentralen Thema ihres Entwurfs entwickelte. Es war ihnen wichtig,

einen Ort zu schaffen, der Atmosphäre bietet und den die SchülerInnen für sich beanspru-

chen können – nicht nur, um Hausaufgaben zu erledigen, sondern gerade auch für ein

zwangloses Zusammentreffen.

Aufl age der Schulbehörde war, dass die Mensa für die Schüler beider Schulen gut zugäng-

lich ist. So entschied man sich für den zentralen Standort in der Wandelhalle, die den

Pausenhof zur Eingangsseite abschliesst, auch wenn damit kein Neubau möglich wurde.

Stattdessen war die kniffl ige Aufgabe zu lösen, die Mensa in einen denkmalgeschützten

Gebäudeteil zu integrieren, dessen Substanz nicht beschädigt werden durfte. Die Archi-

tekten machten aus der Not eine Tugend und nutzten die bestehende Tragstruktur aus

Stahlbetonstützen als Ausgangspunkt für ihren Entwurf.

DER AUSBAU – DAS ARRANGEMENTIn der ehemaligen Wandelhalle spannt der reversible Einbau vom Boden zur Decke, ohne

die rückwärtige Bestandswand zu tangieren. Die Innenverkleidung zieht sich in Bändern von

der Rückwand bis zur verglasten Front, die den Raum zum Pausenhof öffnet. Die Bänder

bilden aber nicht nur die Innenhülle, sie ziehen sich über die ganze Länge des Einbaus und

strukturieren ihn. Gleichzeitig löst sich dieses Gestaltungselement von der vorhandenen

Baustruktur und bildet im ersten und in den letzten drei Feldern zur bestehenden Betonwand

Zwischenräume aus, in denen Windfang und Küche untergebracht sind. Aus den Bändern

heraus entwickeln sich Sitzbänke, der Küchenblock sowie Ablagefl ächen – weitere Ein-

bauten werden damit überfl üssig. Zusätzlich sind Schallschutzelemente und Leuchten

integriert, die das Gefüge mit einem eigenen Rhythmus überlagern.

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05 Schnitt, Mst. 1:50A Deckenaufbau:Betondecke (Bestand);Tragrost 2 × 60 mm, dazwischen Isolation;Dampfsperre; Installationsebene;Holztäfer MDF lackiert 16 mmB Wandaufbau Saal:Akustikelement 60 mm aus Leisten Weisstanne lasiert, dahinter Holzfaserplatte;Lattung konisch; Dampfsperre;Konterlattung 40/40 mm, dazwischen Wärme-dämmung;Ständer 120/60 mm ohne Rückverankerung, dazwischen Wärmedämmung;Trennlage (Windpapier);Betonelement (Bestand)C Glasschiebetür in Aluminiumrahmen,elektrisch gesteuert über BodentasterD Einbaumöbel, Sperrholz Polyurethanbeschichtet 16 mmE Verkleidung Aluminium 3 mmE Betonstütze (Bestand)F Bodenaufbau Saal:Anhydrit-Fliessmörtel, weiss eingefärbt, Oberfl äche geschliffen, 60 mm;Trennlage; Wärmedämmung 80 mm;Trennlage; Ausgleichsschüttung;Betonplatte im Gefälle (Bestand)G Lärche 27mm auf Metallunterkonstruktion(Bild: MMF architekten, Basel)06 Hocker und Aufenthaltsqualität bedeuten für die Schüler noch keinen Gegensatz(Bild: Tom Bisig, Basel)07 Holzstufen ergänzen das Sitzplatzangebot auf dem Pausenhof (Bild: Andri Pol, Basel)

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Die Elemente sind in fünf Breiten eingebaut und bestehen aus unterschiedlichen Holzwerk-

stoffplatten: Während die Übergänge von Boden zu Wand bzw. Wand zu Decke durch

Formholzteile mit Standardradien gestaltet sind, bestehen die geraden Wandelemente aus

gespritzten MDF-Platten. Die Sitzbänke sind in Sperrholz ausgeführt, die perforierten

Akustikelemente aus Tannenholz mit dahinter liegenden Holzfaserplatten.

Das Farbkonzept aus drei minimal unterschiedlichen Farbtönen wurde in Zusammenarbeit

mit dem Künstler Gido Wiederkehr entwickelt: Ein warmgrauer Grundton wechselt mit zwei

Aufhellungsstufen zwischen den Elementen. Die so changierende Wandverkleidung geht

optisch fast übergangslos in den hellen Bodenbelag über, einen abgeschliffenen und

versiegelten Anhydritmörtel. Auch die alten Betonstützen und -träger verschwinden hinter

Aluminiumverkleidungen, die im gleichen Grundton gehalten sind.

Den farblichen Kontrapunkt zur hellen Umgebung bildet die dunkle Möblierung, die eben-

falls von den Architekten entworfen ist. Der Verzicht auf typisches Schulmobiliar unterstützt

den eleganten Charakter der neue Mensa. Alle Möbel sind aus massivem, geräuchertem

Akazienholz gefertigt und damit unempfi ndlich für Kratzer und robust gegenüber der

ständigen Beanspruchung. Die Hocker mit ihren trapezförmigen Sitzfl ächen sind stapelbar,

sie können sowohl einzeln benutzt als auch zu Bänken zusammengestellt werden. Bei

Bedarf lassen sie sich unter den Tischen verstauen, die selbst klappbar sind.

Den thermischen Raumabschluss zum Pausenhof bildet eine grossformatige Verglasung,

die gleichzeitig innen und aussen miteinander verbindet. Sie leitet in eine Freitreppe über,

die den Niveauunterschied zwischen Halle und Hof ausgleicht und den SchülerInnen Raum

bietet für zwangloses Zusammentreffen, auch dann, wenn sie nicht zum Essen kommen.

Um den Brunnen im Pausenhof haben die Architekten die alten Bänke aus der Wandelhalle

gruppiert. Mit diesen simplen Massnahmen ist es ihnen gelungen, den Hof nicht nur zu

fassen, sondern ihm darüber hinaus Aufenthaltsqualitäten zu geben.

GUTER GESCHMACKBereits bei dem Projekt «Choco Loco», einer Schokoladenconfi serie am Spalenberg in

Basel, haben die Architekten das Thema Genuss in Architektur übersetzt. Die Materialität

des Ausbaus, die Farbigkeit, vor allem aber die Form bilden dort gleich einer exquisiten

Pralinenverpackung den Rahmen für die Präsentation der süssen Köstlichkeiten.

Auch die Mensa des Kirschgartengymnasiums entwickelt ein ganz eigenes Gesicht: Ebenso

schlicht und unaufdringlich, wie sich die Architektur präsentiert, ist auch das Speisekonzept

der Betreiber. Die Mensa ist während der Schulzeit von 9 bis 14 Uhr geöffnet. Ein Koch sorgt

nun eigens für die immer frische Verköstigung der Schüler, die zwischen 11 und 14 Uhr

mittagessen können. Um die 120 bis 150 Essen werden täglich zubereitet, warme Gerichte

ebenso wie Salate. In der restlichen Zeit sind Snacks und Sandwiches sowie Getränke

erhältlich. Ausserdem dürfen die Schüler auch ihre von zu Hause mitgebrachte Verpfl egung

in der Mensa konsumieren, nicht jedoch Produkte aus anderen Läden.

Die Betreiber, Gastronomie Parterre, führen in Basel bereits zwei Restaurants, die für ihre

gute Küche bekannt sind. Sie haben auch für die Mensa des Kirschgartengymnasiums

entsprechende Ambitionen und setzen auf eine gesunde, frische Küche.

Andrea Wiegelmann, Architektin und Architekturjournalistin, Basel, [email protected]