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Mitleid als ästhetisches Prinzip 65 Uta Störmer-Caysa Mitleid als ästhetisches Prinzip: Überlegungen zu Romanen Hartmanns von Aue und Wolframs von Eschenbach 11 essing beschreibt in der >Hamburgischen ~ramaturgi~< i~ 75. Stück (19. Januar 1768), was Aristoteles m der >Poetik<1m? ~ Buch mit eAwc; und <poßOC; gemeint habe, und er erklärt dIe beiden Begriffe bekanntlich korrelativ, mit der berühmten Fo~el: »diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid«.! Das tragIsche Mitleid hinwiederum ist bei Lessing (im 77. Stück) sehr weit gefasst, nach seiner Meinung versteht Aristoteles darunter »überhaupt alle philanthropischen Empfindungen«.2 Wenige Sätze .nach der Formel vom auf uns selbst bezogenen Mitleid überlegt Lessmg, dass m~n das rechte Verständnis des Aristoteles an dieser Stelle von den rmttelal- terlichen Kommentatoren nicht erwarten dürfe. »Man sollte zwar den- ken, diese Aufschlüsse müssten die Scholastiker, welche die Schriften des Aristoteles an den Fingern wussten, längst gefunden haben. Doch die Dichtkunst war gerade diejenige von seinen Schriften, um die sie ! Hamburgische Dramaturgie, 75. Stück, Gesammelte Werke in 10 Bänden, hg. v. Paul Rilla, Berlin/Weimar 1968, Bd. 6, S. 381. 2 Hamburgische Dramaturgie, 77. Stück, (wie Anm. 1), S. 394: »[00'] die Tragödie soll unser Mitleid und unsere Furcht erregen, bloß um diese und dergleichen, nicht aber alle Leidenschaften ohne Unterschied zu reinigen. Er sagt [00'] >dieser und dergleichen<, und nicht bloß >dieser<: um anzuzeigen, dass er unter dem Mitleid nicht bloß das eigentliche sogenannte Mitleid, sondern überhaupt alle philan- thropische Empfindungen, so wie unter der Furcht nicht bloß die Unlust über ein uns bevorstehendes Übel, sondern auch jede damit verwandte Unlust, auch die Unlust über ein gegenwärtiges, auch die Unlust über ein vergangenes Übel, Be- trübnis und Gram, verstehe.« sich am wenigsten bekümmerten. Dabei fehlten ihnen andere Kennt- nisse, ohne welche jene Aufschlüsse wenigstens nicht fruchtbar wer- den konnten: sie kannten das Theater und die Meisterstücke desselben nicht. «3 Wer .auch ~päter von Schiller bis Schadewaldt' diese Auffassung vom Anstotehschen Mitleidsbegriff korrigiert hat - in zwei Punkten blieb Lessings Darstellung prägend: Mitleid schien als ästhetischer B.egriff seit der Zeit der griechischen Tragiker an die Tragödie und hIer, modem gesprochen, an deren Rezeptionsästhetik gebunden' und das Mittelalter galt für diese Ästhetik als inkompetent. ' Da aber in der Geschichte nur wieder auftauchen kann, was auch noch da ist, frage ich mich, wo das Mitleid in ästhetischer Funktion in mittelalterlicher Literatur zu finden ist. Schließlich hat, anders als die >Poetik<, die >Rhetorik< des Aristoteles im Mittelalter eine breite Wir- ku.ng .entfaltet; und dort ~ibt es eine ausführliche Beschreibung des MItleIds, und zwar auch m rezeptionsästhetischer Absicht. 5 Anderer- seits nimmt das Mitleid in der Romanliteratur des 12. Jahrhunderts eine Schlüsselstellung ein. Das fiel zuerst Julius Schwietering auf6und wurde kürzlich von Andreas Kraß aufgegriffen.? Als poetisch gilt bei- 3 Hamburgische Dramaturgie, 75. Stück, (wie Anm. 1), S. 381. 4 Wolfgang Schadewaldt: Furcht und Mitleid? Zur Deutung des Aristotelischen Tragödienansatzes, in: Ders.: Antike und Gegenwart. Über die Tragödie. Mün- chen 1966, S. 16-60. 5 Rhetorik 1385b-1386b. 6 Julius Schwietering: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg und die Bemhardische Mystik, in: Ders.: Philologische Schriften, München 1969, S.362-384, hier: S.356. ? Andreas Kraß: Die Mitleidfähigkeit des Helden. Zum Motiv der compassio im hö- fischen Roman des 12. Jahrhunderts (>Eneit< - >Erec<- >Iwein<), in: Wolfram-Stu- dien XVI: Aspekte des 12. Jahrhunderts, Berlin 2000, S. 282-304. Dieser anre- gende Aufsatz, dessen Verfasser leider die ergiebige Dissertation von Siegfried Grosse nicht kennt (Siegfried Grosse: Der Gedanke des Erbarmens in den deut- schen Dichtungen des 12. und 13. Jahrhunderts, Diss. (masch.) Freiburg 1952), begeht meiner Meinung nach begriffsgeschichtliche Irrtümer. Für grundsätzlich falsch halte ich es, die compassio mit dem leidenden Gottessohn zum Modell für die Mitleidshandlungen zwischen Menschen zu erheben und die Grenze zur mise- ricordia einzuebnen. Uneingeschränkte positive Wertungen der compassio gibt es ersch. in: Encomia-Deutsch. Sonderheft der Deutschen Sektion der ICLS, Tübingen 2002, S. 64-93.

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Mitleid als ästhetisches Prinzip 65

Uta Störmer-Caysa

Mitleid als ästhetisches Prinzip:Überlegungen zu Romanen Hartmanns von Aue und

Wolframs von Eschenbach

11 essing beschreibt in der >Hamburgischen ~ramaturgi~< i~ 75.Stück (19. Januar 1768), was Aristoteles m der >Poetik<1m?

~ Buch mit eAwc; und <poßOC; gemeint habe, und er erklärt dIebeiden Begriffe bekanntlich korrelativ, mit der berühmten Fo~el:»diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid«.! Das tragIscheMitleid hinwiederum ist bei Lessing (im 77. Stück) sehr weit gefasst,nach seiner Meinung versteht Aristoteles darunter »überhaupt allephilanthropischen Empfindungen«.2 Wenige Sätze .nach der Formelvom auf uns selbst bezogenen Mitleid überlegt Lessmg, dass m~n dasrechte Verständnis des Aristoteles an dieser Stelle von den rmttelal-terlichen Kommentatoren nicht erwarten dürfe. »Man sollte zwar den-ken, diese Aufschlüsse müssten die Scholastiker, welche die Schriftendes Aristoteles an den Fingern wussten, längst gefunden haben. Dochdie Dichtkunst war gerade diejenige von seinen Schriften, um die sie

! Hamburgische Dramaturgie, 75. Stück, Gesammelte Werke in 10 Bänden, hg. v.Paul Rilla, Berlin/Weimar 1968, Bd. 6, S. 381.

2 Hamburgische Dramaturgie, 77. Stück, (wie Anm. 1), S. 394: »[00'] die Tragödiesoll unser Mitleid und unsere Furcht erregen, bloß um diese und dergleichen, nichtaber alle Leidenschaften ohne Unterschied zu reinigen. Er sagt [00'] >dieser unddergleichen<, und nicht bloß >dieser<: um anzuzeigen, dass er unter dem Mitleidnicht bloß das eigentliche sogenannte Mitleid, sondern überhaupt alle philan-thropische Empfindungen, so wie unter der Furcht nicht bloß die Unlust über einuns bevorstehendes Übel, sondern auch jede damit verwandte Unlust, auch dieUnlust über ein gegenwärtiges, auch die Unlust über ein vergangenes Übel, Be-trübnis und Gram, verstehe.«

sich am wenigsten bekümmerten. Dabei fehlten ihnen andere Kennt-nisse, ohne welche jene Aufschlüsse wenigstens nicht fruchtbar wer-den konnten: sie kannten das Theater und die Meisterstücke desselbennicht. «3

Wer .auch ~päter von Schiller bis Schadewaldt' diese Auffassungvom Anstotehschen Mitleidsbegriff korrigiert hat - in zwei Punktenblieb Lessings Darstellung prägend: Mitleid schien als ästhetischerB.egriff seit der Zeit der griechischen Tragiker an die Tragödie undhIer, modem gesprochen, an deren Rezeptionsästhetik gebunden' unddas Mittelalter galt für diese Ästhetik als inkompetent. '

Da aber in der Geschichte nur wieder auftauchen kann, was auchnoch da ist, frage ich mich, wo das Mitleid in ästhetischer Funktion inmittelalterlicher Literatur zu finden ist. Schließlich hat, anders als die>Poetik<, die >Rhetorik< des Aristoteles im Mittelalter eine breite Wir-ku.ng .entfaltet; und dort ~ibt es eine ausführliche Beschreibung desMItleIds, und zwar auch m rezeptionsästhetischer Absicht.5 Anderer-seits nimmt das Mitleid in der Romanliteratur des 12. Jahrhundertseine Schlüsselstellung ein. Das fiel zuerst Julius Schwietering auf6undwurde kürzlich von Andreas Kraß aufgegriffen.? Als poetisch gilt bei-

3 Hamburgische Dramaturgie, 75. Stück, (wie Anm. 1), S. 381.4 Wolfgang Schadewaldt: Furcht und Mitleid? Zur Deutung des Aristotelischen

Tragödienansatzes, in: Ders.: Antike und Gegenwart. Über die Tragödie. Mün-chen 1966, S. 16-60.

5 Rhetorik 1385b-1386b.6 Julius Schwietering: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg und die Bemhardische

Mystik, in: Ders.: Philologische Schriften, München 1969, S.362-384, hier:S.356.

? Andreas Kraß: Die Mitleidfähigkeit des Helden. Zum Motiv der compassio im hö-fischen Roman des 12. Jahrhunderts (>Eneit< - >Erec<- >Iwein<), in: Wolfram-Stu-dien XVI: Aspekte des 12. Jahrhunderts, Berlin 2000, S. 282-304. Dieser anre-gende Aufsatz, dessen Verfasser leider die ergiebige Dissertation von SiegfriedGrosse nicht kennt (Siegfried Grosse: Der Gedanke des Erbarmens in den deut-schen Dichtungen des 12. und 13. Jahrhunderts, Diss. (masch.) Freiburg 1952),begeht meiner Meinung nach begriffsgeschichtliche Irrtümer. Für grundsätzlichfalsch halte ich es, die compassio mit dem leidenden Gottessohn zum Modell fürdie Mitleidshandlungen zwischen Menschen zu erheben und die Grenze zur mise-ricordia einzuebnen. Uneingeschränkte positive Wertungen der compassio gibt es

ersch. in: Encomia-Deutsch. Sonderheft der Deutschen Sektion der ICLS, Tübingen 2002, S. 64-93.

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den das Mitleid erst in zweiter Linie, es ist zuerst eine moralischeQualifikation des Helden, die allerdings einen neuen Typ von Erzäh-lung, nämlich den Ritterroman, charakterisiert. Darüber möchte ich imFolgenden noch einmal nachdenken. Das Problem ist ja sehr viel-schichtig: Zum einen steht nicht fest, ob das, was wir heute unterMitleid und Mitleidshandlungen verstehen, auch für das mittelalterli-che Denken überhaupt unter einen Begriff bzw. in einen Vorstellungs-komplex fiel. Zum anderen muss man sich fragen, was eine unterheutigem Blickwinkel ausgemachte moralische Qualität des Heldendenn erzählerisch in Gang setzt, wenn sie tatsächlich an einen ganzbestimmten Erzähltypus gebunden ist.

Die zwei lateinischen Mitleidsbegriffe des MittelaltersWas man nhd. >Mitleid< nennen würde, kann in der mittelalterlichenBegrifflichkeit zweierlei sein: misericordia oder compassio.

8Die bei-

nur in diesem Bereich, also wenn zumindest als letzter Ziel punkt der leidendeGottessohn im Spiel bleibt, nicht zwischen Menschen, und die Mitleidsdiskussiondes gesamten Mittelalters bleibt deshalb zweisträngig. Kraß hat von seiner Disser-tation her (Andreas Kraß: Stab at mater dolorosa. Lateinische Überlieferung undvolkssprachliche Übertragungen im deutschen Mittelalter, München 1998) immerdie Beziehung zwischen Gott und Christus im Blick, nicht die zwischen Menschund Mensch. Er bezieht sich in dem Aufsatz vor allem auf Hugo von St. Victor,De tripici compassione, PL 177, Sp. 577-579 (Miscellanea 1,180); und auf einePredigt Bernhards von Clairvaux, hg. v. Jean Lec1ercq u.a., Bd. 5, S. 273. Wäh-rend Hugo von St.Viktor tatsächlich explizit über compassio spricht und eine Ty-pologie der Mitleidsaffekte aufstellt, die auch im menschlichen Bereich gilt (vgl.dazu unten), ist an der angegebenen Stelle bei Bernhard nur sinngemäß über com-passio die Rede, und sie bezieht sich sehr eng auf das Mitleiden Mariae mit dem

Gottessohn.8 Das Wort miseratio, das in Schrift und Vätern auftaucht und kontextuell mit mi-

sericordia wechseln kann (miseratio für die substantivierte Tätigkeit, miseri-cordia stärker abstrahiert), hat in den systematischen Auseinandersetzungen des12. und 13. Jahrhunderts offenbar keine begriffliche Kontur gewonnen; es bleibtdeshalb hier außer Betracht und wird als eine Variante zur misericordia ange-sehen. Einen Beleg für die kontextuelle Synonymie von mise ratio und misericor-dia im geschilderten Sinn gebe ich aus Laktanz, wo es im >Divinaruminstitutionum< lib. III,23, CSEL 19, S. 253, heißt: adimit nobis adfectum quo ratio

den Begriffe sind zwar nicht absolut voneinander getrennt, aber in ih-rem Gebrauch unterschiedlich zentriert: die misericordia bezieht sichbeim menschlichen Subjekt überwiegend auf das Mitgefühl mit ande-ren Menschen, die compassio sehr oft auf das Mitleiden mit dem lei-denden Gott. Dabei gibt es Überschneidungen und Übergänge.

Augustinus bestimmt in >De civitate Dei< die misericordia folgen-dermaßen: Quid est autem misericordia nisi alienae miseriae quae-dam in nostro corde compassio, qua utique si possumus subvenirecompellimur?9 Die Hilfestellung, die in dieser Definition enthalten ist,gehört für das Verständnis des Mittelalters zur misericordia; ein inne-res Mitleid ohne den Versuch der Linderung des fremden Leides wür-de nicht unter den Begriff fallen. Dieses Verständnis der misericordiaals eines tätigen Mitleides gründet sich in den vorbildlichen Werken,die in Mt 25,31-46 aufgezählt (den Hungrigen speisen, den Durstigentränken, den Fremden beherbergen, den Nackten kleiden, den Krankenbetreuen, den Gefangenen besuchen) und auf die Forderung Lc 6,36Estote ergo misericordes sicut et Pater vester misericors est bezogenwerden. So gibt es die >Glossa ordinaria< an: Sie weist zu Mt 25,31-46(wo das Wort misericordia oder ein verwandtes nicht fällt) im Literal-sinn auf die Werke der Barmherzigkeit hin.lO Laktanzll fügt als siebtes

humanae uitae paene omnis continetur, cum enim natura hominis inbecillior sitquam ceterorum animalium, quae uel ad perferendam uim tempo rum uel adincursiones a suis armauit, homini autem quia nihil istorum datum est, accepitpro istis omnibus miserationis adfectum qui plane uocatur humanitas, qua nosmetinuicem tueremur. Derselbe Gedankengang wird später in dieser Schrift wieder-aufgenommen, dabei verwendet Laktanz dieses Mal misericordia: Dixi quid de-beatur deo: dicam nunc quid homini tribuendum sit; [...]set illut primum religiodicitur, hoc secundum misericordia uel humanitas nominatur. Div. inst. li. VI,IO,CSEL 19, S. 514.

9 Augustinus: De Civitate Dei IX,c. 5, hg. v. Bernhard Dombart, Leipzig 1877,S. 375; nhd.: Was aber ist die misericordia anderes als ein gewisses Mitleiden mitfremdem Leid in unserem Herzen, durch welches wir angetrieben werden zu hel-fen, wenn wir können?

10 Ad litteram: nota opera misericordiae. Ich zitiere die >Glossa ordinaria<, die seitdem 12. Jahrhundert bis zur Reformation relativ konstant tradiert wurde, nichtnach der Ausgabe bei Migne, sondern nach dem Faksimile der Editio princeps der

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Werk der Barmherzigkeit das Begraben der Toten hinzu. Die Werkeder Barmherzigkeit wurden ikonographisch in Weltgerichts szenenoder Arme-Seelen-Bildern dargestellt. Sie gehörten, auch durch dieVermittlung dieser nichtschriftlichen Belehrungsquellen, schon im frü-hen Mittelalter zum elementaren Glaubenswissen.\2

Wie in vielen anderen theoretischen Fragen, so reflektiert Augusti-nus auch hinsichtlich des Mitleids in der Ablehnung noch die Ver-ständnismöglichkeiten mit, die der griechischen Bildungswelt selbst-verständlich waren. Er wendet den Begriff misericordia zwar auf dastheatralische Mitleid des Zuschauers mit den Protagonisten (den aris-totelischen eAEOC;) an, aber er lehnt es als Christ zugleich ab, dass essich hier um wirkliche misericordia handele. In den >Bekenntnissen<wettert er: »Was in aller Welt ist das jedoch für ein Mitleid im Fall er-dichteten Mitleids auf der Bühne? Der Zuschauer wird nämlich nichtzur tätigen Hilfeleistung aufgerufen, sondern nur zur Schmerzempfin-dung eingeladen [...]«.0 In der Umkehrung ist damit gesagt, dass prin-

Biblia cum glossa ordinaria von Adolph Rusch, Straßburg 1480/81, Turnhout1992, Bd. IV, S. 78 der handschriftlichen Paginierung.

11 Laktantius: Institutionum epitome 60, CSEL 19 hg. v. Samuel Brandt, PraglWien1890, S. 746. Laktanz ist mit seiner Erklärung vorbildlichen Verhaltens nach denRegeln der Barmherzigkeit umfänglicher: innocentiae proxima est misericordia.illa enim malum nonfaeit, haec bonum operatur. [...] si quis uictu indiget, inper-tiamus, si quis nudus occurrerit, uestiamus, si quis a potentiore iniuriam sustinet,eruamus. pateat domieilium nostrum uel peregrinis uel indigentibus tecto. pupillisdefensio, uiduis tutela nostra non desit. redimere ab hoste captiuos magnummisericordiae opus est, aegros item <e>pauperes uisere atque refouere. inopes autaduenae si obierint, non patiamur insepultos iacere. haec sunt opera, haec offieiamisericordiae [...].

12 Vgl. Curt Schweicher: Werke der Barmherzigkeit, in: Lexikon der christlichenIkonographie, hg. v. Engelbert Kirschbaum u.a., Bde. 1-8, Freiburg 1968-1976,Bd. 1 (1968), Sp. 245-251.

13 Sed qualis tandem misericordia in rebus fictis et scenieis? Non enim ad sub-ueniendum prouocatur auditor. sed tantum ad dolendum inuitatur [...] III Conf.II,2, hg. v. Lucas Verheijen, CCSL, Turnout 1981, Bd. 27, S. 27. Die Übersetzungstammt aus: Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. Mit einer Einleitung von KurtFlasch übersetzt, mit Anmerkungen versehen und herausgegeben von Kurt Flasch!Burkhard Mojsisch, Stuttgart 1989, S. 72. Den Hinweis auf diese Stelle verdanke

zipiell in seiner Zeit die Wiedergabe des theatralischen Mitleides mitmisericordia durchaus noch möglich gewesen, nach ihm und durchseine Abwehr eine solche Übersetzung aber viel weniger zu erwartenwäre, selbst dann, wenn sich das Mittelalter für das ästhetische Prob-lem besonders interessiert hätte (was es, damit hatte Lessing völligrecht, nicht tat). Hinsichtlich der ethischen Qualität der misericordiafolgt aber aus der Stelle, dass für Augustinus - und seine Autoritätzählt viel- ein nur gefühltes Mitleid nicht den Namen der misericor-dia verdiene.

Dieses grundlegende Verständnis der misericordia erhält sich inder mittelalterlichen Moralphilosophie und Theologie bis zum Endedes 13. Jahrhunderts. Bonaventura, der ungefähr ein halbes Jahrhun-dertjünger ist als Wolfram von Eschenbach, denkt die misericordia ineiner Predigt über estote misericordes ganz traditionell, von den Wer-ken der Barmherzigkeit her.14 Auf das Verständnis des Thomas vonAquin, der misericordia und compassio zueinander ins Verhältnissetzt, komme ich später bei Gelegenheit der compassio zurück.

Wie verhält es sich nun also mit diesem Schwesterbegriff der mi-sericordia, mit der compassio? Bei Augustinus wurde das Wort in deroben zitierten Definition der misericordia so verwendet, dass manschließen muss: misericordia ist das innere Gefühl der compassio miteiner Zusatzqualifikation, nämlich der helfenden Wendung nach au-

ich Norbert Gramer: Mitleid in der Ethik. Zu Geschichte und Problem eines ver-nachlässigten Prinzips, Diss. Bonn 2000, S. 19.

14 Bonaventura spricht in der Predigt 28 (Dominica I post Pentec.) seiner Jahrespre-digten über estote misericordes (Lc 6,36). Dabei fasst er sowohl in der Einleitungals auch in der Durchführung seines Gedankens das estote misericordes sogleichvon den opera misericordiae her auf, zu denen das göttliche Beispielleite. SanctiBonaventurae Sermones dominicales, hg. v. cura et studio lacobi Guidi Bougerol,Grottaferrata 1977 (BibI. Francisc. Scholast. 27), S. 328-333. Nach Bonaventurawirkt das göttliche Beispiel der Barmherzigkeit auf den ganzen Menschen: auf dasvernünftige Strebevermögen, welches das göttliche Vorbild erfasst und nachbil-den will, auf das begehrende Strebevermögen, das auf himmlischen Lohn aus ist,und auf das zornmütige (irascible) Strebevermögen, mit dem man sich gegen et-was wehren kann, weil es ein unbarmherziges Urteil über den Menschen im Welt-gericht verhindern will.

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Ben. Doch ging es Augustinus dort nicht um Reziprozität der Bestim-mungen, was den Aussagewert dieser Folgerung herabsetzt. SeineVerwendung beider Begriffe ist dennoch nicht singulär, denn es gibtauch eine Stelle über Nächstenliebe bei Abälard, in der die tätige mi-sericordia, die im Samaritergleichnis stecke, mit dem inneren Gefühlder compassio verbunden wird.15

Das mittelalterliche Verständnis von compati, das dem Substantivcompassio zugrunde liegt, kann sich ebenfalls auf biblische Belegestützen, die sich in den Paulinischen Briefen konzentrieren (Rm 8,17;I Cor 12,26; Hbr 4,15). Danach galt die compassio als uneinge-schränkt gut, wenn sie sich auf das Mitleiden mit dem leidenden Gottoder auf den Zusammenhalt des Corpus mysticum Christi bezog.

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Dieses Mitleiden wird offenbar nicht misericordia genannt. Die com-

15 Petrus Abaelardus: Solutio ad problemam Heloissae XII, PL 178, Sp. 704D: Undeet eidem diviti requirenti quis esset proximus ejus, parabolice respondens se illumproximum esse signijicavit, quem ille Samaritanus expressit, qui vulnerati miser-tus est; et quem ex affectu compassionis ipse quoque dives vere proximum fuisse

professus est.16 Vgl. dazu Kraß: Stab at mater dolorosa (wie Anm. 7), S. 93-142, Kap. ,Zur Ge-

schichte der marianischen Compassio-Frömmigkeit<. Im 13. Jahrhundert ist es diefranziskanische Linie der Theologie, die wegen ihrer allgemeinen Hochschätzungdes Willens und der Affekte auch die compassio besonders behandelt. Kraß er-klärt den Unterschied zum vorigen Jahrhundert: »Der franziskanische Compassio-Begriff des 13. Jahrhunderts setzt sich vom zisterziensischen deutlich ab. Er zieltauf direkte Identifikation des Gläubigen mit dem leidenden Jesus, die marianischeCompassio hat keine vermittelnde Bedeutung mehr« (S. 130). Dennoch wird beiBonaventura compassio durchaus noch betont auf Maria bezogen: sermo 7, par.10, Bonaventura (wie Anm. 14), S. 183: Tanta enim compassione Regina miseri-cordiae dole bat de caecitate malitiae ludeorum, eo quod apponebant iniquitatemsuper iniquitatem spernendo illud magnum sacramentum [...] Die Lehre von derseelisch läuternden und erhebenden Funktion des Mitleidens mit Christus findetbeispielhaft Niederschlag in seiner Legenda maior Sancti Francisci, wo es heißt:Pietas vera, quae secundum Apostolum [I Tim 4,8] ad omnia valet. adeo corFrancisci repleverat [...] Haec est. quae ipsum per devotionem sursum agebat inDeum. per compassionem transformabat in Christum, per condescensionem incli-nabat ad proximum [...]. Bonaventura: Legenda S. Francisci [Legenda maior],hg. v. studio et cura P.P. collegii a. S. Bonaventurae, Quaracchi 1898 (Opera om-

nia Bd. 8), S. 526.

passio kann eindeutig positiv bewertet werden und der misericordianahe stehen, wenn das Mitleiden mit einem Menschen gemeint ist; diecompassio ist aber ein offeneres, nicht so eng festgelegtes Gefühl.17

Bei Hugo von St. Victor ist es eine durchaus mitmenschliche Regung,der Augustinischen misericordia verwandt bis auf das entscheidendeLinderungs-Kriterium.18 Bemhard von Clairvaux betont die Herleitungder menschlichen misericordia und compassio aus der göttlichen.Dann gibt es Überkreuzungen, wo die zwischenmenschliche Hilfenicht mitbetrachtet wird.19 Hier ist im 12. Jahrhundert, bei aller be-

17 Zur Illustration zwei Beispiele aus Abälard, von denen das erste synonym zu mi-sericordia steht, das zweite ein allgemeines menschliches Mitgefühl bezeichnet,ohne dass sofort Konsequenzen daraus anvisiert werden: Sermo XXX, PL 178,Sp. 565D: Cum autem charitas in Deumferveat semper, maxime illafervere cog-noscitur, quae per compassionem fraternam in eleemosynis exhibetur. DagegenEpistola V, PL 178, Sp. 205B/C: Nec iam quisquam quod actum est accusaret, utcompassione mei moveretur.

18 Hugo von St. Victor: De triplici compassione, PL 177, Sp. 577 A: Triplex com-passionis modus est. Siquidem compassionum alia est ex vitio, alia ex natura, aliaex virtute. Compassio ex vitio est. quando effectus aliquo reprehensibili doloretangitur, ubi illicito prius amore tenebatur. Compassio ex natura est, quando exinsito sibi pietatis affectu, animus alienis aerumnis condolet. quoties contrapietatis vel humanitatis mensuram eos opprimi sive affligi videt. Compassio exvirtute est, quando propter Deum alienis doloribus compatimur, cum scilicet veljustitiam premi. vel innocentiam affligi videmus. Die Stelle erwähnt auch Kraß,Mitleidfähigkeit (wie Anm. 7), S. 285, Anm. 13.

19 Über das Mitleid und die Barmherzigkeit Gottes, die durch die Menschwerdungerworben werden: De gradibus humilitatis et superbiae m.12, Opera, hg. v. JeanLeclercq u. a., Rom 1963, Bd. 3, S. 25-26: Factus [= der Gottessohn] , inquam,misericors, non illa misericordia, quamfelix manens habuit ab aeterno, sed quammediante miseria reperit in habitu nostro. [...] Quando nos illam miram miseri-cordiam cogitaremus, quam praecedens miseria non informat? Quando nos illammiram misericordiam cogitaremus, quam praecedens miseria non informat?Quando illam adverteremus incognitam nobis compassionem, quae non passionepraeventa, cum impassibilitate perdurat?; Predigt 12 über das Hohelied, Ll,hg. v. Jean Leclercq u.a., Rom 1957, Bd. 1, S. 60-61, über die misericordia, aucheine Hilfstat wird als Möglichkeit erwähnt: BEAT! ENIM MISERICORDES;QUONIAM IPSI MISERICORDIAM CONSEQUENTUR [Mt 5,7] [...] Quis putasest iucundus homo qui miseretur et commodat, pronus compati, subvenire promp-tus, dare quam accipere beatius iudicans. ignoscere facilis [...] 0 quaecumque es

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grifflichen Nähe zwischen compassio und misericordia, der Grund füreine spätere begriffliche Differenzierung gelegt, bei der es gerade aufdie Tat ankommt. Denn wenig später erscheint, besonders in aristote-lisch geprägten Ethikmodellen des 13. Jahrhunderts, die compassioauch als ein Erleiden, ein Leiden, das dem höherwertigen Akt gegen-übersteht; tendenziell also als etwas, verglichen mit der misericordia,moralisch Minderwertiges.

Eine einflussreiche Quelle späterer Auseinandersetzung in diesemSinne ist eine Stelle in den Sentenzen des Petrus Lombardus.20 Im 4.Buch heißt es in dist. 50, a. 6 (unter Berufung auf den Lukaskom-mentar Gregors des Großen21)über die Heiligen, welche die Bös~n v~rund nach dem Weltgericht in ihrer jenseitigen Pein sehen: »WIe dIeVerworfenen von den Straforten zur Glorie der Heiligen hinaufsteigenmöchten und es nicht können, so wollen auch die Gerechten durchBarmherzigkeit im Geiste zu denen hingehen, die den Strafen ausge-setzt sind, um sie zu befreien, aber sie können es nicht. Denn auchwenn die Seelen der Gerechten in der Güte ihrer Natur Barmherzigkeithaben, so werden sie doch zurückgehalten durch die so große Recht-mäßigkeit der ihnen nun verbundenen Gerechtigkeit ihres Schöpfers,so dass sie zu keinem Mitleiden gegenüber den Verworfenen bewegtwerden.«22 Im lateinischen Text heißt das Mitleid, das die Geretteten

anima sie affeeta. sie imbuta rore miserieordiae. sie affluens pietatis viseeribus.sie te omnibus omniafaciens [I Cor 9,22].

20 Den Hinweis auf diese Lehre verdanke ich Meino1f Schumacher: Sündenschmutzund Herzensreinheit. Studien zur Metaphorik der Sünde in lateinischer und deut-scher Literatur des Mittelalters, München 1996, S.293. Die dort angekündigteStudie über das fehlende Mitleid der Seligen ist meines Wissens noch nicht er-schienen.

21 Zu Lc 16,26. Gregorius Magnus: Lib. Il Horn. in Evang., horn. 40 n. 7, CCSL141, hg. v. Raymond Etaix, Tumout 1999, S. 404. ..

22 Petrus Lombardus: IV Sent. 50,6, hg. v. studio et cura P.P. collegl1 a. S. Bona-venturae, Quaracchi 1916, Bd. 2, S. 1037. Gleichlautend ediert schon als Basistextdes Sentenzenkommentars in: Bonaventura, Opera omnia (wie Anm. 16), 1889,Bd. 4, S. 1034: De hoc ita Gregorius ait: »Sicut reprobi a poenis ad gloriamSanetorum transire volunt et non possunt. ita iusti per miserieordiam mente irevolunt ad positos in tormentis. ut eos /iberent; sed non possu~t. quia iustoru",: ani-.mae. etsi in naturae suae bonitate miserieordiam habent. wm tune auctons SUI

ihrer guten Natur nach haben, misericordia; das Mitleiden, das sienicht mehr empfinden können, weil sie nun mit der göttlichen Ge-rechtigkeit verbunden sind, heißt jedoch compassio. Die beiden Re-gungen werden so in Verbindung gebracht, dass das gestoppte innereMitleiden (compassio) auch die Mitleidshandlung der natürlichen mi-sericordia unterbindet. Für die Mitleidstat, welche die misericordiaunter Menschen ausmacht, ist demnach bei Petrus Lombardus die com-passio als innere Regung eine notwendige Voraussetzung. Gleichzei-tig haftet der compassio etwas Rangniederes an, wenn sie selbst - undnicht nur der aus der misericordia entspringende Akt - im Stande derVollkommenheit und Rettung unterbunden werden kann und muss.

In den Kommentaren zu dieser Stelle wird im 13. Jahrhundert kei-ne gegenteilige Position entwickelt,23 sondern mit dem neuen aristo-telischem Vokabular vielmehr bekräftigt, warum die Vollkommenenkein Mitleid mehr haben dürfen: weil sie, im Unterschied zu den Ver-dammten), nicht mehr leidensfähig sind.24Die Begründung dafür liegtin aristotelischen Denkmustern nicht im Moralischen, sondern imMetaphysischen. Die aristotelischen Kategorien der potentia und desactus (für griech. 8uvuJ..ll(; und eVEPYEtU bzw. ev'tEAEXl>tU, nhd. etwaMöglichkeit und Handlung/Wirklichkeitz5) werden auf zusammenge-setzte, veränderliche Substanzen bezogen. Die aktive Potenz bezeich-net die Fähigkeit zu einer bestimmten Handlung, die passive Potenz

iustitiae eoniunetae, tanta reetitudine eonstringuntur, ut nulla ad reprobos eorn-passione moveantur.«

23 Bonaventura steigert die Behauptung noch dahin, dass es den Geretteten sogarFreude machen müsse, die Verdammten in ihren Qualen zu betrachten. Er schreibtIn IV Sent dist. L pars Il art. I quaest. III co.: Dieendum quod consideratio sivecognitio gloriae Beatorum est reprobis poena. et eonsideratio sive eognitio poe-nae reproborum est eleetis gaudium; quia illa eonsiderant gloriam sub rationeamissionis. iste poenam sub ratione divinae ultionis: unde [Ps. 57,11] Laetabituriustus, eum viderit vindietam. Bonaventura (wie Anm. 16), Bd. 4, S. 1049.

24 A1bertus Magnus drückt das in seinem Sentenzenkommentar so aus: [00'] eompatienim non est naturae perfeetae. sed potius imperfeetae et'passibilis [00']' In IVSent. dist. 50, a. 10 co. Beati Alberti Magnis Opera omnia, hg. v. Caesare AugustBorgnet, Paris 1894, Bd. 30, S. 698.

25 Vgl. Josef de Vries: Grundbegriffe der Scholastik, Darmstadt 31993, Stichwort»Akt und Potenz«, S. 11-21, hier: S. 12.

ersch. in: Encomia-Deutsch. Sonderheft der Deutschen Sektion der ICLS, Tübingen 2002, S. 64-93.

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die Möglichkeit des Geformtwerdens durch eine äußere Kraft. DenÜbergang von der aktiven Potenz zum Akt nennt man aristotelisch Be-wegung. Bei der passiven Potenz ist das Geformtwerden vom Stand-punkt dessen, das geformt wird, ein Erleiden (passio). Da die abge-schiedenen Seelen der Geretteten aber durch ihre Vereinigung mitGott nicht mehr selbständig handeln und nicht mehr anders werdenkönnen, darf ihnen auch kein Erleiden zugeschrieben werden, das sieverändern würde, z.B. indem, was auch Petrus Lombardus verwirft,eine seelische Möglichkeit (die natürliche misericordia) in die Wirk-lichkeit einer Mitleidshandlung gegen den göttlichen Willen überführt

würde.26

Für die Konnotation und Wertschätzung der Begriffe passio/com-passio hat das durchaus Konsequenzen, wie sich an der Behandlungder misericordia bei Thomas von Aquin zeigt. Thomas entwickelt inder >Summa Theologiae< I-lI, q. 30, a. 3 und a. 4 seine Lehre über die-sen Begriff, indem er zunächst fragt, ob die misericordia eine Tugendsei, und sodann, ob sie die höchste der Tugenden sei, was bei desbejaht wird. Thomas schreibt im Corpus des 3. Artikels, dass der in-nere Schmerz über das Leid des anderen, den die misericordia enthal-te, eine Bewegung des sinnlichen Strebevermögens sei. Dieses Un-lustgefühl sei ein Erleiden (passio) und keine Tugend.

27Die Tugend-

haftigkeit der misericordia wird dagegen an die rationale Kontrollegebunden. Hier beruft sich Thomas auf Augustinus, der in >DecivitateDei< bemerkt hatte, die misericordia dürfe nur so weit reichen, wie siedie Gerechtigkeit nicht beschneide.28 Diese Bedingung wird von Tho-

26 Vgl. Wolfgang Kluxen: Thomas von Aquin. Das Seiende und seine Prinzipien, in:Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie des Altertums und des Mit-telalters, hg. v. Josef Speck, Göttingen 1972 (UTB 146), S. 177-220, hier: S. 194im Abschnitt »Akt und Potenz<<: ),Der Akt hat schlechthinnigen ontologischen

Vorrang«.27 S.th. lI-lI, q. 30, a. 3 co.: Respondeo dicendum quod misericordia importat dolo-

rem de miseria aliena. lste autem d%r potest nominare, uno quidem modo, mo-tum appetitus sensitivi. Et secundum hoc misericordia passio est, et non virtus.

28 Augustinus (wie Anm. 9), S.375: Servit autem motus iste rationi, quando itapraebetur misericordia, ut iustitia conservetur, sive cum indigenti tribuitur. sive

cum ignoscitur paenitenti.

mas auf die Notwendigkeit rationaler Kontrolle des Gefühls ausgelegt.Weil es, schließt er weiter, der Sinn menschlicher Tugend sei, dieseelischen Regungen zu steuern, falle das solchermaßen kontrollierteMitleid (misericordia) unter den Oberbegriff der Tugend.

In dieser Anwendung der Begriffe ist misericordia eine höherwer-tige, weil vernunftgesteuerte Regung, die passio, die darin enthaltenist und die dem Wortsinn nach ja eine compassio ist, eine Regung desniederen, sinnlichen Seelenteils. Das Vorläufige der compassio, dasbei Augustinus und bei Petrus Lombardus noch spontanen Umschrei-bungsversuchen der misericordia entspringen konnte, gewinnt hier ei-nen systematischen Stellenwert. Von dieser tendenziellen Abwertungmitmenschlicher compassio unberührt bleibt die Hochschätzung dercompassio mit dem leidenden Christus, die sich über die Schulgrenzenhinweg auch im 13. Jahrhundert unvermindert findet.29

Es scheint nach diesem kurzen Überblick, als würde in der Nach-wirkung des Petrus Lombardus im 13. Jahrhundert die terminologi-sche Diversifizierung zwischen misericordia und compassio, die sichin Ansätzen bei Augustinus findet, methodisch begründet und nunstärker beachtet.

Die Mitleidsterminologie des Deutschenbis ins 13. Jahrhundert

In ahd. Zeit gibt es für misericordia eine Vielzahl von Übersetzungs-wörtern: milti, miltnissa, miltida, ginada, helfa, armherzi, erbarmida,

29 Z.B. Bonaventura: Collationes in Hexaemeron, Principium, Collatio 1, par. 30. S.Bonaventurae Collationes in Hexaemeron, hg. v. Ferdinand M. Delorme, Quarac-chi 1934, S. 15: Sed si nos Christo patienti nos non compatiendo volumus con-gregare, falsificamus nomen et medii assumptionem et Christum paralogizari niti-mur; Bonaventura, Legenda minor sancti Francisci, cap. 1, par. 4, Hn. 2: Unaquippe die rum, dum sie sequestratus oraret, apparuit ei Christus lesus veluti cruciconfzxus, eidem tam efficaciter ingerens evangelicum illud: >Qui vult venire postme abneget semetipsum et tollat crucem suam et sequatur me< [Mt 16,24] ut men-tem ipsius intrinsecus et incendio dilectionis adureret et absinthio compassionisimpleret.

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irbarmida, erbarmunga, eregrehti;30 auch ginada kann für misericor-dia stehen.3! In den obd. Denkmälern finden sich armherzi, ginada(Notker) und irbarmida; der >Tatian<verwendet milti und andere milt-Bildungen; Otfried und das >Ludwigslied< haben eregrehti, aber Ot-fried verwendet auch (mit den altniederfränkischen Psalmen) ginada.

32

Zum Übersetzungswort irbarmida bemerkt Hupka in seiner Zusam-menfassung zur spätalthochdeutschen Zeit: »irbarmida ist nur alskirchliches Wort gemäß seiner Entstehung zu fassen. Noch ist es abernicht das eigentliche Wort für den misericordia-Begriff; miseratio,conpassio und auch pietas heißen seine Inhalte.«33 Milti, helfa und gi-nada dagegen haben nach seiner Darstellung gleichzeitig weltliche In-halte, welche die Auffassung von dem lateinischen Sachverhalt mit-prägen; milti und ginada nämlich das freundliche und unterstützendeVerhältnis des Gefolgsherren zu seinen Leuten, helfa weniger standes-gebundene Hilfe.

Im Mittelhochdeutschen haben sich die Zuordnungen zu Vorstel-lungskomplexen und zu lateinischen Begriffen verfestigt, nun stehterbarmen/erbermde im Zentrum eines Feldes von Mitleidswörtern,das Siegfried Grosse so aufstellt: »Gnade, hulde, milte, triuwe, helfe,klage, jamer, troesten, leit, reht, ere«.34Ein Substantiv mitelfden odereine ähnliche Form ist nicht dabei, weil es offenbar in der klassischenZeit nicht oder nicht in signifikanter Zahl vorkommt. Mitelfden gilt alsMystikerbildung und Übersetzungsg1eichung zu compati, compassio

30 Axel Lindquist: Studien über Wortbildung und Wortwahl im Althochdeutschen,in: PBB 60 (1936), S. 1-132; Herbert Hupka: Gratia und Misericordia im Mittel-hochdeutschen. Zur Geschichte religiös-ethischer Bereiche im Mittelalter, Diss.(masch.) Leipzig 1943, S. 102-105, hier: S. 17. Die Studie von Hupka beschäftigtsich hauptsächlich mit ahd. Denkmälern, der titelgebende zweite Teil ist nie er-

schienen.3! Hupka (wie Anm. 30), S. 25.32 Hupka (wie Anm. 30), S. 102, S. 106.33 Hupka (wie Anm. 30), S. 110. Herleitung von irbarmida aus got. arman und

gaarman als Lehnübersetzung zu neutestamentl. gr. EA,&&lV 'tlVa (sich jemandes er-barmen), S. 84.

34 Grosse (wie Anm. 7). S. 5. Grosse führt auch Gegensatzbegriffe auf, die das Feldabgrenzen helfen: »rache, rechen, mort, toeten, queln«.

und soll sich erst im 16. Jahrhundert verbreitet haben;35 doch fehlenhier so detaillierte Studien, wie sie für die Barmherzigkeit vorliegen.Insbesondere zum semantischen Verhältnis von erbarmen/erbermdeund mitelfden lassen sich noch keine sicheren Aussagen treffen. Aller-dings legen die Editionen der spätmittelalterlichen Wörterbücher nahezu glauben, dass der Unterschied von misericordia und compassiowiedergegeben werden sollte. Im 15. Jahrhundert scheint die Lageklar zu sein: barmherticheyt und verwandte Begriffe stehen fürmisericordia, mede lyden und mit leydun für compassio.36 Wie weitsich diese Differenzierungen ins 14., 13. und 12. Jahrhundert zurück-verfolgen lassen, geht aus den Wörterbüchern jedoch nicht hervor. Indieser unsicheren Ausgangslage können mhd. Texte, in denen nachMitleidskundgebungen und Mitleidshandeln gesucht wird, nicht gutnach bestimmten Worten abgefragt werden, sondern nur nach Kon-stellationen, die unter den nhd. Begriff Mitleid fallen; in jeder anderenVerfahrensweise, zum Beispiel bei der Suche nach Belegen für erbar-

35 Der Erstbeleg im DWB Bd. V, Sp. 2357 stammt für das Verb aus Konrad vonMegenbergs >Buch der Natur< und bezieht sich nicht auf Menschen, sondern aufTiere. Das neutrale Abstraktum soll dort den Mystikern zugehören. Nach einemGlossenabdruck aus Drucken des späten 15. und beginnenden 16. Jahrhundertsdurch Ernst Weißbrodt: Niederdeutsch-lateinische Glossen um 1500, in: Zeit-schrift für historische Wortforschung 15 (1914), S. 278-310, hier: S.293, gibtMydlyden, medelyden das lat. commiseratio wieder. Für festen Gebrauch in derÜbersetzungstradition schon vor dem 15. Jahrhundert spricht die Aufnahme inden >Vocabularius Ex quo<, wo mit /iden für conpati steht, (>Vocabularius Exquo<, gemeinsam mit Klaus Grubmüller hg. v. Bernhard Schnell u.a., Tübingen1988, Bd. 2, S. 582), ein Lemma compassio aber fehlt; misericordia heißt dortbarmherticheyt (Tübingen 1989, Bd. 4, S. 1650).

36 Im >Vocabularius optimus< (hg. v. Ernst Bremer, Tübingen 1990, Bde. 1-2,) gibtes kein Lemma misericordia, auch compassio und compati sind nicht verzeichnet.Im >Vocabularius Ex quo< (wie Anm. 35) steht mit liden für compati und eynmitlider für conpatens, Bd. 2, S. 582; barmherticheyt für misericordia, Bd. 4,S. 1650. Im >Liber ordinis rerum< (Esse-Essencia-Glossar, hg. v. Peter Schmitt,Tübingen 1983, Bd. I, S. 498, alle folgenden Belege) stehen barmherczig und er-barmherczig für misericors; barmherczikeyt und erbarmherczikeit für miseri-cordia; medeledig, mitleydund, mitlidende für compaciens (das Interpretamentmiltigung für compaciens (Esse-Essencia-Glossar, Bd. 1, S. 498) in einer Hand-schrift ist doch wohl ein Fehler).

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menlerbermde, wird man nur einen Ausschnitt erfassen. Das ist übri-gens auch der Weg, den die Studie von Grosse weist, trotz ihrer Zen-trierung auf den Begriff der erbermde.37

Die strukturell prägenden Mitleidshandlungenim höfischen RomanIn höfischen Romanen mit suchendem Helden finden sich Mitleidsta-ten der Protagonisten außerordentlich häufig. Für Schwietering

38war,

als er das feststellte, die moralische Charakteristik der Figuren wich-tig, er zielte auf das Leitbild, das sie entwerfen. Ich möchte im Fol-genden einige Mitleidshandlungen anschauen und vergleichen, um zueiner Typologie ihrer strukturellen Bedeutung zu kommen.

Lunete und die Dame von Narison retten den gefangenen oder denkranken Iwein Hartmanns von Aue, die ältere gottfriedische !soldeden kranken Tristan, Irekel bei Konrad von Würzburg den Partono-pier.39Diese Mitleidstaten richten sich auf die Bewahrung eines durchKrankheit, Wunden oder Kummer bedrohten Lebens. Sie werden of-fenbar gern von weiblichen und oft von Nebenfiguren erzählt. Struk-turbildend sind sie nur insofern, als der gerettete Held danach der Er-zählung noch zur Verfügung steht. Für die Haupthandlung, die im hö-fischen Roman immer Handlung des Helden ist, hebt eine solcheMitleidshandlung also allenfalls ein Hindernis oder eine Verzögerungauf.

Erec begnadigt Iders nach dem Sperberkampf, Guivreiz beim ers-ten Kampf, den die beiden gegeneinander ausfechten, schließlich Ma-

37 Grosse (wie Anm. 7).38 Schwietering (wie Anm. 6).39 Es ist bei Hartmann von Aue für die Anlage der Figureneinheit Erec-Enite be-

zeichnend, dass Enite Erec auf den gemeinsamen nächtlichen Zügen nicht eigent-lich rettet, sondern ihm zur Selbstrettung und -befreiung verhilft, bei der sie nachihrer eigenen Einschätzung immer auch mitgerettet wird. Demgegenüber befindensich die Retterinnen der oben angeführten Figuren dem Helden gegenüber jeweilstemporär in einer objektiv überlegenen Lage, die nicht von ihrer Wahrnehmung

abhängt.

bonagrin. Bösewichte und Riesen werden selbstverständlich nicht be-gnadigt. Dass Iwein Askalon nicht verschont, wird ihm ausdrücklichals Zuchtlosigkeit angerechnet. Parzival tötet keinen seiner Gegnermehr, nachdem er Ither getötet hat. Hier sieht man einen zweiten Ty-pus von Mitleidshandlungen: solche gegenüber dem besiegten, edlenGegner, der durch die Begnadigung gleichzeitig aufgewertet wird.Auch hier gibt es nur zwei Beteiligte, den begnadigenden Sieger undden begnadigten Besiegten. Im Gegensatz zu den Mitleidshandlungenan der Hauptfigur, die in Nebenfiguren verlegt werden können, han-deln die Hauptfiguren selbst. Nachdem sie gekämpft und gesiegt ha-ben, begnadigen sie den besiegten Gegner; sie erweisen sich also stu-fenweise zuerst durch Großtaten, dann durch Großmut als vorbildlich,und die Abweichungen von dieser Regel (der Tod des Turnus beiHeinrich von Veldeke, des Askalon bei Hartmann von Aue, des Arofelin Wolframs von Eschenbach >Willehalm<) sind selten und erzähle-risch signifikant. Die Mitleidshandlung hat regelmäßig zur Folge, dassdie begnadigte Figur in der fiktionalen Welt weiterlebt und also fürden Autor aufrufbar bleibt; sie kann den Weg des Helden also noch-mals kreuzen, die Mitleidstat kann eine erzählerische Folge haben,zum Beispiel die zweite Begegnung von Guivreiz und Erec.

In anderen Fällen eines dritten Typus, den ich breiter ausführenmöchte, bitten Notleidende um ritterliche Taten des Helden zu ihrerBefreiung, und ihre Bitte löst sein Handeln aus, das sich später imDank der Nebenfiguren und im daraus entstehenden Ruhm spiegelt.Die Vortrefflichkeit des Befreiers und Erlösers entsteht in diesemSpiegel. Insofern führen die Mitleidshandlungen episch darauf hin,den Helden dem Typus des Aventiureritters zuzuordnen, indem dieGeschichte ihn tun lässt, was jener zu tun hat. Darüber hinaus könnensolche Mitleidstaten auch mit den singulären Schwächen und Schwie-rigkeiten des Helden zusammenhängen, so dass der mitleidige Heldsich mit ihrer Hilfe stufenweise als der beste Ritter und als Überwin-der seiner selbst erweisen kann. Ich wende mich Hartmanns >Iwein<zu und unternehme einige Seitenblicke zu anderen Romanen, um zuverstehen, wann eine Mitleidstat auf den Typus führt und wann sie

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dass erden Helden durch seine besondere Geschichte unverwechselbar ma-

chen sol1.40Nach der Löwenaventiure (V. 3828-3882), die selbst schon eine

Mitleidstat ist, werden alle Bewährungsaventiuren in Hartmanns>Iwein<episch durch Erbarmen über die Not eines anderen motiviert.

41

Als Iwein auf der Burg von Gawans Schwager von der Bedrückungdurch den Riesen Harpin erfährt,42artikuliert er einen Vorwurf. Er hältes für den normalen Gang der Dinge, wenn ein Bedrückter Artus dieeigene Not klagt und ihn um einen Kämpfer bittet. Der tätige Beistandhätte nach Iweins Ansicht also abgefordert werden können:

er sprach, wie habt ir daz verlanim suachtet helfe unde ratda er iu ze suochen stat,in des künec ArtClses lande?(V. 4510-4513)

Das kann noch so verstanden werden, dass Iwein die verwandtschaft-liche Solidarität Gawans meint; Iwein selbst handelt aber, wie aus-drücklich erklärt wird, aus Mitleid: nu erbarmet diz sere / den riterder des lewen pflac (V. 4740f.).

40 Noch nicht systematisch befasst habe ich mich mit der Funktion des Mitleidshan-delns in denjenigen Romanen, in denen die Ausgangslage des Helden ein Erleidenist, also im Flore- und im Apolloniusschema. Sie scheinen grundlegend anders zufunktionieren. Matthias Meyer hat mit mir darüber diskutiert, und ich danke ihm

für seine Hinweise.41 Der Text wird im Folgenden zitiert nach Hartmann von Aue: Iwein. Text der sie-

benten Ausgabe von Georg Friedrich Benecke/Karl Lachmann/Ludwig WoIff.Übersetzung und Anmerkungen von Thomas eramer, dritte, durchgesehene undergänzte Auflage, BerlinlNew York 1981.

42 Anders als Grosse (wie Anm. 7), S. 172, beziehe ich V. 4389-4395 nicht aufIwein, sondern auf den Burgherren, der an Iwein ein Werk der Barmherzigkeit tut,indem er den Fremden, der sich nach den Kämpfen für die Dame von Narison undden Löwen im Kummer selbst eine große Wunde zugefügt hat (V. 3945-3949), alsGast ehrenvoll aufnimmt, obgleich er selbst bedrückt ist: swer ie kumber erleit /,den erbarmet des mannes arbeit / michels harter dan den man / der nie deheinenot gewan. / der wirt het selbe vii gestriten / und dicke Cl! den lip vii ge riten, / undgeloupte dem gaste vii deste baz; (V 4389-4395).

Im Einstehen für Lunete mischen sich das Bewusstsein,selbst Ursache ihres Leidens sei, und Mitleid mit ihrer Lage:

do kam ir helfeere,und was im vil sweereir laster unde ir arbeit,die SI van slnen schulden leit.(V 5163-5166)

Der Botin der jüngeren Tochter des Grafen vom Schwarzen Dorn ge-genüber unterscheidet Iwein Gnade und Hilfsbereitschaft, die in Er-zählerrede mit Mitleid motiviert wird:

er sprach >ichnhabe gnaden niht:swem mlns dienstes not geschihtund swer guater des gert,dem wirt es niemer entwert.<wand er ir daz wal an sachdaz SI nach im ungemachCl!der verte hete erliten,da begunde auch er ir heiles biten.(V. 6001-6008)

Auf der Burg zum Schlimmen Abenteuer ist das Mitleid mit den ge-fangenen Frauen ein wesentlicher Handlungsgrund für Iwein:

mir ist iuwer kumber leit:und wizzet mit der warheit,so sere erbarmet ir mich,ich beneemen iu gerne, möht ich.(V. 6413-6416)

Unter diesen Mitleidstaten ist der Gerichtskampf für Lunete dadurchherausgehoben, dass den Helden auch die Dankbarkeit und Verant-wortung für früher Geschehenes bindet. Dieses Handlungselement istalso in einer kausalen Relation in die Handlungsstruktur eingeknüpft,während die übrigen Mitleidstaten, z.B. Schlimmes Abenteuer undGerichtskampf im Erbstreit, nur durch Mitleid motiviert sind undprinzipiell austauschbar, im Handlungsablauf verschiebbar bleiben. Im

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weiteren Verlauf der Handlung ist wiederum der Ausgang des Ge-richtskampfes notwendige Voraussetzung dafür, dass Lunete Iweinhelfen kann, sich mit Laudine auszusöhnen; dagegen spielen der Erb-streit der Töchter des Grafen vom Schwarzen Dom und die Burg zumSchlimmen Abenteuer keine Rolle in der Miminallogik der Handlung.Für dieses Werk kann man schließen: Wenn eine Aventiure nur durchMitleid in die Handlung eingebunden wird und kein kausales Band zufrüher Erzähltem reicht, dann zielt die Aventiure auf das Typische undRepräsentative, auf den vorbildlichen Ritter. Wenn dagegen eine Mit-leids tat zugleich einer Verpflichtung entspringt, die früher in derHandlung begründet wurde, wenn sie also zusätzlich kausal motiviertist, dann zielt sie episch auf das Singuläre an der Figur.

Das scheint nicht nur für den >Iwein< zu gelten. Im >Erec<ist derHeld aus Liebe lange an Mitleidstaten und überhaupt jeder Tat gehin-dert, und das wird ihm übel vermerkt.43 Die ersten Aventiuren seinesAufbruchs mit Enite richten sich nur gegen wirkliche oder vermeintli-che eigene Bedrohungen, nicht gegen die Feinde anderer. Die Befrei-ung des Ritters Cadoc, die Kraß die »Urszene der höfischen Mitleids-ethik« nennt,44 ist insofern eine Umkehrszene. Sie trägt zwei Verwei-se: einen auf den Typus >Aventiureritter<, der wiederhergestellt wer-den muss, und damit auf das gattungshaft Allgemeine; einen zweitenauf das literarisch Singuläre, nämlich auf das erzählte Leben Erecs,der vom Typus in besonderer Weise abweicht, so dass er seinen Fehlerauch auf einem unverwechselbaren Bewährungsgang überwindenmuss. Die Personen der Cadoc-Episode bleiben so zufällig, wie es nursein kann. Dass sie Erecs Hilfe brauchen, hängt nicht mit seinem Le-ben zusammen, und nachdem er geholfen hat, kreuzen sie nicht wiederseinen Weg. Auf dieser Ebene ihres Inhalts bleibt die Cadoc-Episodeaustauschbar, sie wäre auf der Zeitachse der erzählten Zeit verschieb-bar und könnte auch variiert und verdoppelt oder verdreifacht werden.Der Kunstgriff Chretiens und Hartmanns besteht darin, dass sie die

43 Die Ausgangslage im >Erec< ist auch grundlegend anders: Was zunächst erzähltwird, ist ein Erleiden, und die ersten Heldentaten Erecs bleiben dadurch selbst-

bezüglich.44 Kraß, Mitleidfähigkeit (wie Anm. 7), S. 292.

Anwendung eines reihenbildenden Musters aus der Reihe nehmen undals singulär vorführen, wenn Erec den strukturellen Ablauf >Not deranderen - Hilfe des Aventiureritters< erst wieder erlernen muss. Auchdie Mitleidstat zur Befreiung Mabonagrins folgt diesem Schema undordnet den Helden also dem Typus des Aventiureritters zu. Zugleichist sie noch stärker als die Cadoc-Episode in die Kemfabel einge-strickt, denn die Personen haben in ihrer Vorgeschichte durchaus et-was mit Erecs Leben zu tun, und die achtzig Witwen werden von ihmnoch begleitet, als der kämpferische Anteil der Aventiure, die eigent-liche Hilfs- und Befreiungstat, bereits abgeschlossen ist.

Im >Daniei<des Strickers fallen bittende Frauen dem Helden gleichserienweise zu Füßen. Zuerst ist es nur eine, die Tochter des Herzogsvom Trüben Berg. Dann kommen 40, nämlich die Gräfin vom LichtenBrunnen und ihr Gefolge, die von den bauchlosen Ungeheuern terro-risiert werden. Schließlich folgt Daniel gemeinsam mit einem Gefähr-ten auch noch einer stummen Aufforderung zu Mitleid und Befreiung,und als er den Gefährten dabei verliert, ergibt sich eine Möglichkeit zudessen Befreiung. Dabei wird gleichzeitig das vom blutbadendenHypnotiseur bedrückte Land erlöst. Diese Aventiure ist zu höheremRuhm des Helden in eine Kampfpause verlegt worden. Alle angeführ-ten Mitleidshandlungen werden ohne kausale Verknüpfung zur Kern-fabel erzählt, sie bleiben wie im >Iwein<prinzipiell austauschbar. Mankönnte folgern, und das wird dem >Daniei<, falls er ernst gemeint war,nicht unrecht tun: Daniel hat im Sinne des klassischen Artusromanskeinen Charakter, keinen besonderen Werdegang, er ist kein Held miteiner eigenen Geschichte, sondern der reine, wenn auch ganz neu auf-gefasste, Typus.

Alle eben betrachteten Hilfeleistungen aus Mitleid haben drei Ak-tanten: einen Helden, einen Leidenden und einen Gegner. Das gilt so-wohl für diejenigen Mitleidshandlungen, die nicht kausal verknüpftsind und episch nur auf den Typus führen, als auch für diejenigen, diean einem kausalen Band festgeknüpft sind und besondere Schicksaledes Helden erzählen, die nicht als übertragbar angesehen werden sol-len. Wenn man in lateinischer Begrifflichkeit denkt, sind sie sämtlichAkte der misericordia, denn die Befreiungstat ist das eigentlich Wich-tige und Erzählenswerte an der Regung des Mitleids.

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Ich versuche einen systematischen Überblick. Es gibt drei Klassenvon Mitleidstaten im Roman mit suchendem Helden: Lebensrettun-gen, Begnadigungen und Befreiungstaten. Alle drei charakterisierendie handelnde Figur als barmherzig, aber nur die letzten beiden Grup-pen haben strukturelle Bedeutung für den Bau des Romans. Begna-digte Helden führen durch ihr letztes Auftreten in den Geschichtenvor, wie der Ruhm der Haupthelden entsteht, ihnen können auch as-sistierende eigene Handlungsstränge zugebilligt werden wie demGiuvreiz in Hartmanns >Erec<.Das Mitleid, das die Befreiungstat ver-ursacht, führt die Fabel in eine Aventiure, die ihrem Anlass nach epi-sodisch angelegt ist, also potenziell im Erzählen mit einer anderenvertauscht oder und auf der Zeitachse des Helden1ebens verschobenwerden könnte. Durch die gleiche Motivation und die Unabhängigkeitvon der Kernfabel können solche Aventiuren im Prinzip beliebigvermehrt oder vermindert werden. Weil sie den Helden immer gleichfunktionieren lassen, zeigen sie ihn als Typus, was mit der Kernfabelinsofern zu tun haben kann, als der Held der Geschichte zuerst einvorbildlicher Ritter sein muss, ehe er die besonderen Schwierigkeitenseines Geschicks zu meistern vermag, die ihn zu Erec, Iwein oder Da-niel machen. Nur ausnahmsweise hat eine Mitleidshandlung eine kau-sale Beziehung zur Kernfabel, z.B. der Kampf gegen Mabonagrin im>Erec<und der für Lunete im >Iwein<.Wenn Kausalität hinzutritt, dannist die freie erzählerische Verfügbarkeit der Aventiure eingeschränkt,weil die Folge nach der Ursache eintreten muss und das erzählerischeTelos eine Rolle zu spielen beginnt. Diese Abweichungen von der Re-gel weisen als Rezeptionssignale darauf hin, dass wichtige Gescheh-nisse erzählt werden, die den Helden als singulär ausweisen.

Nun stimmt das für Hartmann, es stimmt für den Stricker und, so-weit ich das überblicke, für den nachklassischen Artusroman. Esstimmt aber irritierenderweise nur zur Hälfte für Wolfram.

Mitleidshandlungen in Wolframs von Eschenbach >Parzival<

Besonders kompliziert und vielschichtig sind die Mitleidshandlungenin Wolframs >Parzivak Zwar gibt es auch hier das schemagerechte tä-tige Mitleid mit fremder Not, das den Helden zur Befreiungsaventiure

veranlasst, leitet oder diese motiviert. So erwirbt Parzival Condwira-murs und ihr Land, Gawan Schastel Marveile. Aber es gibt im >Par-zival< auch einen undankbaren Schurken, der die MitleidshandlungenGawans gleich zweimal ins Leere laufen lässt, und die zauberische Er-lösungsfrage hängt auf geheimnisvolle Weise mit dem Sprechen überMitleid zusammen.

Gawan verbindet den wunden Ritter mit triwen (521,21), und erstnachdem dieser ihm das Pferd entwendet und sich durch seine Ge-schichte zu erkennen gegeben hat, nennt Gawan ihn beim Namen:bistuz Urjans? (524,19).45 Um die gegenwärtige Undankbarkeit als un-rechtmäßig zu erklären, weist Gawan auf seine frühere Hilfe hin, dieoffenbar jedoch bei Urjans auch keine Dankbarkeit ausgelöst hat.Hatte Gawan den Vergewaltiger damals vom Todesurteil freigebeten,so hat er den Pferdedieb diesmal verbunden und ihm die Frau aufsPferd gehoben; das erste Mal in Kenntnis des Verbrechens und nichtum das Urteil aufzuheben, sondern um es zu mildern; das zweite Mal,ohne zu argwöhnen, dass dieser Mann ihm das Pferd stehlen könne.Die zweite Handlung fällt für mittelalterliches Denken unter die sechsWerke der Barmherzigkeit und kann gar nicht anders als positiv be-wertet werden. Die erste wäre für die patristische und mittelalterlicheTheologie als Tat der Barmherzigkeit strittig. Es ist immerhin die Au-torität Augustinus', die hinter der Forderung steht, die Barmherzigkeitmit dem reuigen Sünder dürfe nur so weit gehen, dass die Gerechtig-keit gewahrt bleibe.46 Ganz als wäre er der Ansicht Augustinus', stelltWolfram Gawans Mitleid mit dem Schurken als bedenklich hin, in-dem er vorführt, dass dieser Mann nicht bereut hat und nicht durchEinsicht besser geworden ist.

45 Der Text wird im Folgenden zitiert nach Wolfram von Eschenbach: Parzival. Stu-dienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Kar!Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Einführung zum Text von Bemd Schi-rok, Ber!in/Y ork 1998.

46 Augustinus (wie Anm. 9) S. 375: Servit autem motus iste rationi, quando ita prae-betur misericordia, ut iustitia conservetur, sive cum indigenti tribuitur, sive cumignoscitur paenitenti.

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der knappe unverdrozzensprach >werhIlt in erschozzen?geschahez mit eime gaby18t?mich dunket, frouwe, er lige tot.

47 Vgl. Karl Bertau: Frouwe, wie sth iwer not? Parzivals Frage vor der Frage. In:Perceval _ Parzival hier et aujourd'hui et autres essais sur la litterature allemandedu Moyen Age et de la Renaissance, FS Jean Fourquet, hg. v. Danielle Buschin-ger/Wolfgang Spiewok, Greifswald 1994 (Wodan Bd. 48), S. 11-14; Birgit Eich-holz: Kommentar zur Sigune- und lther-Szene im 3. Buch von Wolframs >Parzi-val<, Stuttgart 1987, S. 34f. Sigunes Bemerkung du bist geborn von triuwen / dazer dich sus kan riuwen gehört in die Begriffsreihe der triuwe, die im Werk derOberbegriff auch für das Mitleidshandeln ist. Gesa Bonath: Untersuchungen zurÜberlieferung des >Parzival< Wolframs von Eschenbach, LübeckiHamburg 1970/71, Bd. I, S. 124, hält diese beiden Verse, die in Hss. Dmno fehlen, für Nachträgeam Rand einer Vorlage. Das scheint mir sehr plausibel, denn das triuwe-Geflecht,das Wolframs eigentümliche und besondere Wertsetzungen des vorbildlichen Rit-ters beschreibt, erschließt sich nur innertextuell, es hat im Hinblick auf traditio-nelle Barmherzigkeitshandlungen keine Vorbilder in früheren Romanen. Es wärealso einzusehen, dass ein guter Kenner des Textes bemüht war, es konsequentüber den Text zu ziehen. Vgl. trotz einiger germanenseliger Entgleisungen in derEinleitung Hermann Hecke!: Das ethische Wortfeld in Wolframs Parzival, Würz-

burg 0.1. (Diss. Erlangen 1938), S. 35-48.

Der Inhalt von Parzivals Erlösungsfrage ist bei Wolfram sowohldurch Sigune (iuch sott iur wirt erbarmet Mn 255,17) als auch durchCundrie (sin not iuch solt erbarmet Mn 316,3) an die Barmherzigkeitgebunden. Es ist bekannt, wenn auch widersprüchlich erklärt worden,dass Parzival in seinen Begegnungen mit Sigune sehr wohl zu denspontanen Mitleidsäußerungen fähig ist, die er auf der Gralsburg ausfalsch verstandenem Regelwissen unterlassen hat.47 Sigune aber gibtihm äußerlich das Bild einer Standard situation vor: Sie ist dem Au-genschein nach eine leidende Dame, die als Frau nicht in der Lagesein kann, ihr Leid mit Waffen zu bessern oder rächen, also stellt sieeine Aufgabe für den vorbildlichen Ritter dar. Parzival, wiewohl nochunerzogen, kann schon bei der ersten Begegnung schemagerecht rea-gieren, als habe er das Rittertum ethisch im Blut (was ja HartmannsGregorius verbal behauptet): Er bietet an, den toten Ritter zu rächen,allerdings im Rahmen seines Wissens über Kampf techniken.

48 Nach dem Vorbild des Laktanz, der das Begraben der Toten zu den sechs neutes-tamentlichen Werken der Barmherzigkeit hinzufügt, vgl. vom S. 68f. und Anm.11.

49 Bei Chretien trifft Perceval seine Cousine erst nach dem Besuch auf der Grals-burg.

50 Die Rätselstruktur des Textes als mehrfach gebrochener Reflex einer Verrätse1ungder wirklichen Welt sieht Karl Bertau schon bei Chretien im Spätwerk. Karl Ber-tau: Versuch über den späten Chrestien und die Anfänge Wolframs, in: Ders.:Wolfram von Eschenbach. Neun Versuche über Subjektivität und Ursprünglich-keit in der Geschichte. München 1983, S. 24-59, hier: S. 47-57.

87Mitleid als ästhetisches Prinzip

welt ir mir da von iht sagn,wer iu den rlter habe erslagn?ob ich in müge errlten,ich wil gerne mit im stnten.<(139,1-139,8)

In der zweiten Begegnung mit Sigune, in der ihr fortgesetztes Leidenaugenfällig ist, Parzival aber schon weiß, dass Sigune auf Rache kei-nen Wert legt, macht Parzival einen Vorschlag, der für einen breitenStrom der mittelalterlichen Tradition48 unter die Werke der Barmher-zigkeit fällt, nämlich den Toten zu begraben: wir sulen disen totenman begraben. (253,8)

Er findet also einen anderen, situations gerechten Ausweg für eineTat der Barmherzigkeit, auch wenn Sigune sie nicht annehmen willund kann.49

Viel schwieriger arrangiert ist die Szene, in der Parzival nicht fragt.Weil ihre Zeichen für die Figur ebenso wie für den Leser oder Hörerbis zur Auflösung durch Trevrizent rätselhaft bleiben, gibt sie wederfür das Auge der Figur noch für das innere Auge des Lesers eine Stan-dardsituation des Erbarmens vor. 50 Vielmehr wird zunächst vor demHörer oder Leser theatralisch ein Rätselspiel um den leidenden Königaufgebaut, bei dem Parzival im Zuschauerraum sitzt - wie Gregor derGroße und Petrus Lombardus die Szene beschrieben haben, aus der sieauf die mangelnde Barmherzigkeit der Seligen schließen. Erst dieRede des Königs, der ihm ein Schwert schenkt, von dem er sagt: ichprahtz in not / in maneger stat, e daz mich got / ame libe Mt geletzet

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(239,25-27) bringt Parzival die Gewissheit, dass der König leidet - zu-vor wusste das nur der Erzähler (231,1-2). Erst jetzt kommentiert erParzivals Schweigen: owe daz er niht vragte da (240,3).51 Das thea-tralische Rätsel misszuverstehen, wäre in der fiktionalen Welt offen-bar verzeihlich gewesen; den direkten Hinweis auf das Leiden mitSchweigen zu übergehen, ist dagegen ein schwerer Fehler. Noch ein-mal erklärt der Erzähler ausdrücklich: da [mit der Schwertgabe] waser vragens mit ermant (240,6).

Für die poetische Spannung des Romans ist es offenbar entschei-dend, dass der Vorwurf Sigunes wie Cundries gegen Parzival aufmangelndes Erbarmen zielt, der Erzähler aber vom unterdrücktenFrageimpuls des Parzival berichtet: Der Hörer/Leser weiß, dass dieFrauen Recht haben, aber er weiß auch, dass sie nicht Recht haben;und beides kann er erst denken, nachdem er verstanden hat, worum esin der Frage überhaupt gehen sollte. Sigunes und Cundries überein-stimmender Vorwurf lehrt den Helden (und den Leser), dass er dasMitleid nicht nur hat empfinden, sondern es auch hätte mitteilen sol-len. Diese Pflicht muss dem Helden, vielleicht auch dem Hörer/Leser,also unklar gewesen sein weder auf den Text, noch auf eine davonunabhängige Wertehierarchie bezogen. Wichtig ist für unseren Zu-sammenhang schon die Möglichkeit des Missverständnisses. Die Fi-guren um Parzival schließen aus der fehlenden Mitleidskundgebungauf mangelndes Mitleid, sie haben folglich einen Begriff von erbar-men, der dem augustinisch dominierten terminologischen Verständnisvon misericordia in der Theologie sehr nahe kommt: Erbarmen ist nurdas, was sich in der lindernden Tat manifestiert. Dass der Sprechaktallein den leidenden König erlösen würde, kann Parzival nicht wissen,und er kann nicht hoffen, als fremder, nicht heilkundiger Gast demkranken Hausherm anders helfen zu können. Die Tat, auf die derBegriff der Barmherzigkeit zielt, unterbleibt, und zu den möglichenGründen gehört, dass sie in ihrer Art (als Sprechakt) ungewöhnlich ist

51 Überblick über die Literatur zu der reichlich diskutierten Stelle bei Christa-MariaKordt: Parzival in Munsalvaesche. Kommentar zu Buch V,I von Wolframs >Par-zival< (224,1-248,30), Heme 1997, S. 135-167.

und deshalb als Erlösungstat nicht in Betracht gezogen wird.52 Parzi-vals Aufgabe bestand nach Ansicht des Textes nicht in irgendeinemmodemen Mitleid, sondern in der mittelalterlichen Barmherzigkeit imdefinierten Sinne, in tätiger Linderung des fremden Leides. Was ihmder Text jedoch bescheinigt, ist ein Frageimpuls, der nicht einmal ein-deutig aus Mitleid entspringt, sondern dem der Hörer/Leser nur dasMotiv des Mitleids unterstellt, weil er den Helden in der ersten Begeg-nung mit Sigune teilnahmsvoll gesehen hat. Verglichen mit der Hin-wendung zur leidenden Sigune, hat Parzival aber diesmal allenfallsetwas empfunden, das im modemen Sinne Mitleid heißen könnte: mit-fühlende Teilnahme; das Mitleid ist innen geblieben und hat den Wegzur Äußerung nicht gefunden. Man könnte sagen, dass Wolfram, wasdas Mitleid anlangt, die eine, christlich geprägte und auf Handlungausgerichtete Gefühlsform (die Barmherzigkeit) gegen die andere,kontemplati ve (das innerlich gefühlte Mitleid, compassio) absetzt.Nun ist das verinnerlichte Gefühl, wie dieser Roman vorführt, abernicht das bessere, jedenfalls nicht unter Menschen. Parzival scheitertan seinem Mit-Erleiden ohne Entäußerung, das modeme Mitleid hilftdem Gralskönig nicht; dagegen hätte ein konventioneller Akt derBarmherzigkeit durchaus nützlich sein können.

Erst im IX. Buch wird Parzival und dem Hörer durch eine Figur er-klärt, was der Held hätte tun sollen. Es ist die dritte Figur, die überParzivals Frageversäumnis spricht, allerdings ist ihr Urteil durch des-sen Zustimmung herausgehoben. Der Hörer oder Leser war auf demWeg vom V. bis in dieses IX. Buch mit seiner eigenen Interpretationdessen, was Parzival auf der Gralsburg falsch gemacht hat, allein. Ineinigen wichtigen Einzelheiten bleibt er das auch, zum Beispiel hin-sichtlich der Motive, die zu Parzivals Schweigen geführt haben. Mankonnte, im Publikum eines Wolframrezitators sitzend, wohl wissen,dass Parzival sich dem Leiden des Gralskönigs gegenüber teilneh-mend hätte verhalten sollen. Aber über den genauen Grund, warum er

52 Über die schemafremde Verschiebung von der helfenden Waffengewalt zum Wortvgl. Joachim Bumke: Wolfgang von Eschenbach. 6., vollständig neu bearbeiteteAuflage, Stuttgart 1991, S. 74.

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es nicht getan hat, und also über die Schwere seiner Schuld und überdie Konsequenzen für ihn konnte sich kein Zeitgenosse im Klarensein, ehe er den ganzen Roman zu Ende gehört hatte: in der Romanli-teratur gab es kein Vorbild, und die einzige Wissenschaft, die sich mitSchuldbewandtnis beschäftigte, wäre uneins gewesen.

Zur Illustration des zeitgenössisch Denkmöglichen stelle ich, ohneetwa behaupten zu wollen, das wäre der Horizont des von Wolframantizipierten Lesers, einmal zusammen, wie eine fiktive Versammlungverschiedener vom zitierter theologischer Autoritäten über ParzivalsVerfehlung denken und worin sie sich vielleicht einigen könnte. Essäßen auch zwei Wolfram gegenüber spätere Vertreter dabei, Thomasvon Aquin, der wie Bonaventura erst 1274 gestorben ist, aber dasschadet dem Gedankenexperiment nicht.

Es säßen um den Tisch: Augustinus, Petrus Lombardus, Bernhardvon Clairvaux, Abälard (am anderen Ende), Bonaventura und, in ei-nem breiten Stuhl weit abgerückt von ihm, Thomas von Aquin. In die-ser Runde ergäbe sich ein Konsens auf der objektiven Ebene. Parzivalhat einen Kranken besucht, als sei es ein Gesunder, und es damit aneinem neutestamentlichen Werk der Barmherzigkeit fehlen lassen.Das ist der grundlegende Tatbestand, wie ihn die >Glossa ordinaria<bezeichnet, diese Auffassung muss also um die Mitte des 12. Jahrhun-derts theologisch konsensfähig gewesen sein. Ob Parzival ein Mit-Leiden empfunden hat, ohne es zu äußern, darüber wird sich die Run-de nicht einig. Dafür sprechen Thomas von Aquin und Augustinus,aber beide kommen zu dem Schluss, dass sein Mitleiden ein Erleidenwar und keine Tugend. Bernhard und Abälard schütteln die Köpfe undsagen gleichzeitig, es müsse Parzival entlasten, wenn er das Mitleidwenigstens empfunden habe; dann verstummen beide für den Rest derDebatte, denn es ist ihnen peinlich, einig zu sein. Petrus Lombardusplädiert dafür, dass er kein Mitleiden verspürt hat, es aber hätte ver-spüren müssen; er habe sich, sagt Petrus, anmaßend als Vollkomme-nen imaginiert, indem er sich als lebender Mensch dem Leidensschau-spiel des Amfortas gegenüber stellt, wie es nur den Seelen der Ge-rechten gegenüber dem Leidensschauspiel der Verdammten zukommt.Das verblüfft alle, denn schließlich ist Parzival noch nicht tot, undPetrus lehnt sich beleidigt in seinen Stuhl zurück. Da fällt Augustinus

noch etwas ein, was zwar seiner ersten Meinung widerspricht, ihn abernicht weiter irritiert, weil er weiß, dass die Nachwelt ihn für seineWidersprüche liebt. Er fragt jetzt, ob sich nicht Parzival, getäuschtdurch die theatralische Situation, einem lebenden, leidenden Men-schen gegenüber verhalten habe, wie es nur gegenüber einem Schau-spieler angemessen wäre, der das Leiden nur spielt: mit ästhetischerDistanz. Das wehren die anderen ab - das Theater sei lange tot, undAugustinus reite wieder sein griechisch-römisches Steckenpferd.Schließlich einigen sie sich, dass man im Zweifel zugunsten Parzivalsdavon ausgehen müsse, dass er das Mitleid wenigstens empfundenhabe, und weil Bernhard und Abälard das schon an sich gut finden,während Thomas und Bonaventura auf ihrer Unterscheidung zwischenpassivem Erleiden und Handeln bestehen, einigen sie sich, man wolleabwarten, ob Parzival den Weg vom Leiden zum Wirken des Mitleidsfinde, denn das schlüge ohne jeden Zweifel positiv für ihn zu Buche.

Wer sich weigert, solchen Versammlungen von theologisch-kano-nistischen Schatten ernsthaft zu folgen, der sei daran erinnert, dassmein Gedankenexperiment dem Prinzip folgt, nach dem wissenschaft-liche Wahrheitsfindung bis zum Ende des 12. Jahrhunderts betriebenwird: gegensätzliche Autoritäten zu versammeln, gegeneinander zustellen und, wenn es möglich ist, die Widersprüche zu glätten und einegemeinsame Mitte zu finden. Einen ähnlichen Prozess soll WolframsLeser offenbar auch durchlaufen. Der Roman eröffnet in der Rezep-tion einen Ideenraum, in den der Hörer geführt, dort jedoch ohne Füh-rung zurückgelassen wird. Die Figuren heben an dem offenkundigenFehler Parzivals jeweils andere Aspekte hervor, ihre Einschätzungensind so divergent wie die meiner fiktiven TheologenrundeY Erst im

53 Sigunes Bemerkung, er habe doch genug Wunderbares gesehen (255,5; 255,18),lenkt den Hörer auf eine Neugierfrage; sie bezeichnet auch die Tugend, gegen dieParzival verstoßen hat, unterschiedlich, denn neben dem erbarmen nennt sie auchdie triuwe (255,15f.). Cundrie (316,2) und Trevrizent (488,28) sprechen ebenfallsvon triuwe. Vgl. Benedikt Mockenhaupt: Die Frömmigkeit im Parzival Wolframsvon Eschenbach. Ein Beitrag zur Geschichte des religiösen Geistes in der Laien-welt des deutschen Mittelalters, Darmstadt 1968, S. 68-71; Kordt (wie Anm. 51),S. 136f.

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Laufe der Erzählung verdichten sich zwei Überzeugungen des Lesers:dass der Kern der Verfehlung ein Verstoß gegen die Barmherzigkeitsei und dass es offensichtlich mildernde Umstände für das Urteil überdie Verfehlung des Helden gegeben hat, denn es geht für Parzival mitdem Gral besser aus, als der Leser in Figurenperspektive hoffen konn-te. Für die poetische Funktion des Mitleids im >Parzival<bedeutet das:Über eine lange Strecke des Romans soll der Hörer/Leser rätseln, wieeine richtige Mitleidshandlung auf der Gralsburg ausgesehen hätte,warum parzival sie unterlassen hat und was das für ihn bedeutet. Dannwird ihm als Lösung das alte artusepische misericordia-Konzeptpräsentiert, aber mit einer Verschiebung ins Verbale, die im Ritterro-man sonst schlechterdings undenkbar wäre - Erlösung ohne Schildund Schwert, nur durch Rede. Weil aber anderseits das nur gefühlte,aber nicht ausgesprochene Mitleid, das ein Leser unterstellen konnte,nichts erlöst hat, ist alles verunklärt und sind alle Gewissheiten zer-stört. Im arturischen Ritterroman weiß man sonst, wie Mitleid funkti-oniert, und es ist immer richtig, danach zu handeln, nämlich im Sinnemittelalterlicher Barmherzigkeit durch befreiende Tat. Im >Parzival<gibt es gegenüber einem Erbarmenswürdigen nichts, das immer richtigwäre. Gawan wird bei einem schemagerechten Akt der Barmherzig-keit hereingelegt, und es zeigt sich, dass er einem Strolch geholfenhat; Parzival hat vielleicht die falsche (sozusagen moderne) Art Mit-leid und droht daran zu scheitern, aber auch das Scheitern ist nichtverlässlich. Zwar rückt eine Mitleidshandlung ins Zentrum des Ro-mans, aber dort wird sie uneinsichtig, unwiederholbar und singulär ge-macht, rückt vom Typischen ab, und damit setzt Wolfram die Barm-herzigkeits-Poetik des Artusromans außer Kraft. In seiner strukturel-len Bedeutung ist das klarer als das Fragenrätsel: das Barmherzig-keitsmuster der vorausgehenden Artusepen zielt auf den Ritter Jeder-mann, es gehört zu einer Poetik der vorbildlichen Beliebigkeit. Wolf-ram setzt einen Bewegungsablauf seiner Geschichte, eine Fallentfal-tung, Schuldeinschätzung und -bewältigung dagegen, die völlig singu-lär ist, die allein aus dieser Parzival-Geschichte und innerhalb ihresPersonals ausgehandelt wird und aus der man auch für die nächsteGeschichte oder, als zeitgenössisches Publikum, für den nächsten Fallim Leben nichts lernen könnte - weder wie die Erlösungshandlung

eines vorbildlichen Ritters funktioniert, noch wie sich der Menschüber die Schuld erheben könne. Damit lässt er den Grad von Beson-derheit und Unverwechselbarkeit eines erzählten Schicksals, der durchkausale Bezüge von Aventiuren erreichbar ist, weit hinter sich.

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