VALENTIN TOMBERG - DIE GROSSEN ARCANA DES TAROT - Band 1

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Valentin Tomberg – Die großen Arcana des Tarot – BAND-1 1

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1. Band:1. Brief – Der Gaukler – Das Arcanum der Mystik;Historische Anmerkung über die „Tabula Smaragdina“;2. Brief – Die Päpstin – Das Arcanum der Gnosis;3. Brief – Die Kaiserin – Das Arcanum der Magie;4. Brief – Der Kaiser – Das Arcanum der hermetischen Philosophie und des Gehorsams;5. Brief – Der Papst – Das Arcanum der Transzendenz und der Armut;6. Brief – Der Verliebte – Das Arcanum der Initiation und der Keuschheit;7. Brief – Der Wagen – Das Arcanum der Genesung

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DER ANONYMUS D’OUTRE-TOMBE

(VALENTIN TOMBERG)

DIE GROSSEN ARCANADES TAROT

MEDITATIONEN

MIT EINER EINFÜHRUNG

VON

HANS URS VON BALTHASAR

HERDER BASEL

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VORWORT DES HERAUSGEBERS

Die Zeit für dieses Buch scheint gekommen zu sein. Man weiß nicht, worüber mansich mehr wundern soll, über die Umwege, die diese 22 Briefe „von jenseits desGrabes“ bis zu ihrem Erscheinen im Verlag Herder haben nehmen müssen, oderüber die traumwandlerische Sicherheit, mit der sie bereits seit Jahren ohne jedeöffentliche Werbung ihre Adressaten finden – jene „Unbekannten Freunde“, an diesie gerichtet sind, Menschen aus vielen Ländern und Erdteilen, alte und junge,Anhänger eines katholisch-dogmatischen Glaubensbekenntnisses, Anhänger einestheosophischen oder anthroposophischen „freien Geisteslebens“ – beide auf derSuche nach dem, was das alte Wort „Weisheit“ meint. Um die ebenso sanfte wieunerbittliche Anziehung zu verstehen, die von diesen Meditationen ausgeht, mußman sich für eine Zeitlang in die Schule dieses Lehrers begeben. Es handelt sich indiesen Übungen, diesen „Exerzitien“ weder um Wissenschaft noch um Glauben. Eswird weder methodisch argumentiert noch autoritativ verkündet; es wird keineallgemeingültige, voraussetzungslos kontrollierbare Objektivität beansprucht, aberebensowenig bloß ein subjektives Erleben ohne Wahrheitsanspruch vorgeführt.Eine bestimmte Art des Sehens wird eingeübt und in eine bestimmte Tradition desSehens wird eingeführt, eines Sehens, das in unserer Kultur oft auf eineerschreckende Weise verkümmert ist. Es handelt sich um ein Sehen vonUrphänomenen und von wesentlichen Ähnlichkeiten. Dieses Sehen kann und sollweder die Wissenschaft noch den christlichen Glauben ersetzen. Es liegt vielmehrder Wissenschaft ebenso wie dem Glauben als deren gemeinsame Wurzelzugrunde. Mit seiner Verkümmerung müssen beide degenerieren: dieWissenschaft wird destruktiv und der Glaube blutleer. Das Sehen vonÄhnlichkeiten geht aller Wissenschaft voraus. Der Gebrauch von Begriffen ist nurmöglich, wenn wir Dinge und Ereignisse als ähnlich zu sehen imstande sind. jedersieht solche Ähnlichkeiten. Worauf es ankommt ist, wesentliche Ähnlichkeitensehen zu lernen. Wesentliche Ähnlichkeiten sehen heißt: Urphänomene sehen. Woz. B. das Phänomen des Lebendigen, der Pflanze, des Tieres oder wo dieSchönheit eines Kunstwerks nicht gesehen wird, da wird die wissenschaftlicheErklärung die Phänomene am Ende einfach wegerklären oder als bloß subjektive,unerhebliche „Ansichten“ beiseite tun. Die gegenwärtige Gestaltwissenschaftlichen Denkens ist durch einen solchen Sehverlust und eineentsprechende destruktive Tendenz gekennzeichnet. Die gegenwärtige Anämiedes Glaubens aber hängt mit dem gleichen Verlust zusammen. Der Glaube hatheute weitgehend seinen kognitiven Anspruch aufgegeben, seinen Anspruch aufeine ebenso wahre wie substantielle Deutung der Welt, des Lebens und derGeschichte. Er läßt sich vielfach die inhaltliche Seite sogar der Heilsereignissedurch eine Wissenschaft interpretieren, die doch für das Einmalige prinzipiellunzuständig ist, und reduziert sich selbst auf eine bestimmte „Haltung“, einebestimmte Form moralischer Motivation. Glaubenserkenntnis, Gnosis lebt eben,wie alle Erkenntnis, von einem ursprünglichen Sehen. „Kommt und seht!“antwortet Christus, als die ersten Jünger ihn fragen: „Meister, wo wohnst du?“(Jo 1, 38). „Wir haben seine Herrlichkeit gesehen“, damit beglaubigt dasJohannes-Evangelium seine Botschaft. Wissenschaftliche Erkenntnis lebt vomSehen horizontaler Ähnlichkeiten, das Sehen, das der Glaube voraussetzt, von

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vertikalen Analogien: „Was unten ist, ist wie das, was oben ist, und was obenist, ist wie das, was unten ist“ – die 22 Briefe sind allesamt eine Auslegungdieses Satzes der Tabula Smaragdina. Nur wenn er wahr ist, bleibt die Rede vonGott nicht eine leere, unverständliche und folgenlose Rede. „Denn Gott selbst hatnie jemand gesehen“ (Jo 1, 18). Ein solches sehendes Denken beschränkt sichnicht darauf, Gott als transzendentes Töpfchen auf dem i der Welt anzuerkennenund im übrigen die geistige Welt der invisibilia auf den Restbestand schrumpfenzu lassen, der sich ans einem anthropozentrischen Funktionalismus herleiten läßt.Die Wirklichkeit des „Himmels, der himmlischen Mächte und der seligenSeraphim“ erschließt sich nicht dem, der mit Occams Rasiermesser, d. h. mitder Frage anfängt: „Können wir nicht vielleicht ohne die Annahme ihrerExistenz auskommen?“ Diese Haltung, diese Reduktion des Reichtums derWirklichkeit auf das, „ohne das wir nicht auskommen können“, läßt unsinzwischen auf der Erde Büffel und Elefanten und bis zum Jahre 2000 einigeweitere Zehntausend natürlicher Arten ausrotten. Der Reichtum der geistigenWelt, in die uns der Verfasser dieser Meditationen Blicke tun läßt, ist zum Glückunserem Zugriff entzogen. Aber reduzieren wir durch einen entsprechendentheologischen Reduktionismus nicht vielleicht uns selbst?

Daß auch die Philosophie ohne ein solches Sehen von Transparenz undAnalogie der Phänomene zur bloßen Formalwissenschaft degeneriert, wußtendie großen Denker des Deutschen Idealismus, wenn sie – wie Schelling, Franzvon Baader, Hegel – mehr oder weniger ausdrücklich jene Traditionenaufnahmen, in denen dieses „andere Denken“ überliefert wurde: hermetische,gnostische, theosophische Traditionen. Diese erst ermöglichten es, die Inhaltedes christlichen Glaubensbekenntnisses mit dem, was wir sonst von der Weltwissen, zu vermitteln. Der Verfasser der 22 Briefe steht in dieser europäischenWeisheitstradition.

Aufgrund der erstaunlichen Gemeinsamkeit echter spiritueller Erfahrungen inallen Zeiten und allen Kulturen integriert diese Tradition auch fernöstlicheÜberlieferungen, während die heute modischen Asienimporte meist auf tieferUnkenntnis der abendländischen Geschichte meditativen Sehens beruhen undgerade deshalb auch zu keinem tieferen Verständnis solcher Importe führen. Aberdiese Unkenntnis ist ja nicht zufällig. Sie hängt mit jenem Defizit, jenem Sehverlustzusammen, von dem ich anfangs sprach. Ein Gefühl des zivilisatorischen undreligiösen Leerlaufs breitet sich aus und nagt die Seelen an. Diesem Gefühl wirkendie 22 Briefe entgegen mit jenem anderen, sehenden Denken, für das wir das Wort„Weisheit“ haben.

Was den Verfasser dieser Übungen auszeichnet, ist die Rolle, die er derhermetischen Weisheitsüberlieferung im Ganzen unseres geistigen Lebens anweist.Er holt sie heraus aus der traditionellen Ketzerrolle eines sich über Wissenschafteinerseits und Kirche andererseits erhebenden Sonderwissens. Hermetik begründetfür ihn weder eine neue Wissenschaft noch eine neue Kirche. Der Verfasser verstehtHermetik als Dienst an Wissenschaft und Glaube, als Brücke zwischen beiden. Erversteht sie als Ferment unserer geistigen Kultur. So konkurriert z.B. seineüberraschende platonische Deutung der Evolutionstheorie nicht mit diesemwissenschaftlichen Paradigma, sondern erlaubt es, die Evolutionstheorie mit derfundamentalen und evidenten Wahrheit zu versöhnen, daß das Vollkommenere nieaus dem Unvollkommeneren ableitbar ist.

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Vor allem aber liegt dem Verfasser am Herzen, die eine Kirche, die Kirche derApostel, die Kirche des menschgewordenen Gottes allen Weisheitssuchern,Hermetikern, Theosophen, Anthroposophen, als ihren wahren geistigen Lebensraumzu erschließen, als die eigentliche geistige Heimat, von der sie – ob sie wollen odernicht – täglich leben und ohne deren Gebete und Sakramente die Wirklichkeiten, umdie es ihnen geht, aus unserer Welt vollständig verschwinden müßten. SeineDankbarkeit für diesen gottgeschenkten Raum ist von ergreifender Wärme und Tiefe.Er erwartet von der katholischen Kirche keine entsprechende Dankbarkeitgegenüber dem hermetischen Weisheitssucher und Eingeweihten, sondern nur dieEinräumung eines bescheidenen letzten Platzes für ihn, der aufgrund einerbesonderen Berufungen nicht anders kann, als auf dem Weg von Analogien undEntsprechung den großen und einfachen Geheimnissen der Wirklichkeitnachzuspüren und dabei erstaunliche Entdeckungen zu machen. Ob von diesemletzten Platz, der ja nach dem Wort Christi in Wahrheit der privilegierte ist,umgekehrt auch für die Kirche ein neuer Impuls ausgehen wird, ein Impuls der auchsie zur Dankbarkeit verpflichten würde, steht nicht in menschlichem Belieben.Aber die Anzeichen mehren sich, daß es so sein wird. Christen der Zukunftwerden jene „gnostischen, reifen, erleuchteten Christen sein müssen“, auf dienach einem Wort des Mailänder Erzbischofs Carlo Kardinal Martini „die ganzeVerkündigung des Neuen Testaments abzielt“. Und wenn Papst Johannes Paul II.der französischen Nation in Paris zurief: „Frankreich, bist du noch im Bund mitder Weisheit?“ so hat er nicht von ungefähr dieses Wort und nicht etwa das Wort„Glaube“ gewählt. Der Glaube ist nach christlicher Lehre eine Gabe, die niemandsich selbst verdankt. Weisheit aber ist eine Disposition des Geistes, die durchÜbungen wie diejenigen dieser 22 Briefe erworben werden kann. In derOstkirche ruft der Diakon vor der Verlesung des Evangeliums: „Weisheit!aufrecht!“ und vor dem Beginn der eigentlichen Mysterienfeier: „Laßt uns schönstehen!“ Hinter diesen beiden Rufen steht das Wissen, daß bestimmteDispositionen des Geistes und des Körpers Bedingungen für das Hören undGegenwärtigwerden des göttlichen Logos sind. Es sind dieselben Bedingungen,die eine Zivilisation vor dem Untergang retten.

Robert Spaemann

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EINFÜHRUNG

I.Um eine Einführung zu diesem für die meisten Leser fernliegenden unddoch so bereichernden Buch gebeten, muß ich als erstes meine Inkompetenzauf dem von ihm erforschten Gebiet bekennen; weder vermag ich jedenseiner Gedankengänge billigend nachzuvollziehen noch erst recht alleskritisch zu prüfen; aber des Erwägenswerten wird hier so viel geboten, daßman daran nicht gleichgültig vorbeigehen darf.

Ein christlicher Denker und Beter von bezwingender Lauterkeit breitetSymbole der christlichen Hermetik in ihren Stufen – Mystik, Gnosis undMagie – unter Heranziehung des Kabbalismus und gewisser Elemente derAlchimie und Astrologie vor uns aus, Symbole, die in den zweiundzwanzigsogenannten „Großen Arcana“ des Tarot-Kartenspiels zusammengefaßt sindund die er meditierend in die tiefere, weil allumgreifende Weisheit deskatholischen Mysteriums heimzuführen sucht.

Als erstes kann hierzu erinnert werden, daß ein solcher Versuch in derGeschichte des katholischen, theologischen und philosophischen Denkenskeineswegs vereinzelt dasteht Wenn schon die Kirchenväter ganzallgemein die im heidnischen Denken und Phantasieren entstandenenMythen als verhüllte Vorahnungen des in Jesus Christus voll entschleiertenLogos verstanden (was Schelling in seiner Spätphilosophie nochmalsgroßräumig zu zeigen unternahm), so hat insbesondere Origenes, die Linievollendend, als Christ nicht nur die philosophische Weisheit der Heiden zurbiblischen Offenbarung hin aufzuklären unternommen, sondern auch die„Weisheit der Fürsten dieser Welt“ (1. Kor 2, 6), worunter er „etwa diesogenannte Geheimnisphilosophie der Ägypter“ verstand (er dachte dabeivor allem an die hermetischen Schriften, angeblich herstammend von„Hermes Trismegistos“, dem ägyptischen Gott Thoth), „die Astrologie derChaldäer und Inder,... welche das Wissen von den überirdischen Dingen zulehren versprechen“, nicht anders als „die vielfältigen Lehren der Griechenüber das Göttliche“. Und er hält es für möglich, daß die Weltmächte dieseihre Weisheit „den Menschen nicht beibringen, um sie zu schädigen,sondern weil sie selbst diese Dinge für wahr halten“. Ähnliches wäre beiEusebius nachzuweisen („Praeparatio evangelica“).

Man weiß, wie vielfältig im Mittelalter, zum Teil unter arabischemEinfluß, die Vorstellungen von Weltpotenzen oder „Intelligenzen“ (die teilsals Gedanken Gottes, teils als Engel aufgefaßt wurden) auf die christlicheNaturphilosophie eingewirkt haben, vor allem aber, wie in der Renaissance –bei Fortführung dieser Spekulationen – auch die Rückübersetzung derjüdischen magisch-mystischen Kabbala ins Christliche die besten Köpfebeschäftigt hat. Schon eine große Zahl Kirchenväter hatten, so bemerkt manjetzt, dem geheimnisvollen Hermes Trismegistos einen Ehrenplatz unter denheidnischen Propheten und Weisen eingeräumte, hermetische Bücher hatten

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schon im frühen und hohen Mittelalter zirkuliert’, später feierte ihn dieRenaissance als den großen Zeitgenossen Moses und Urvater dergriechischen Weisheit (man erinnert sich an sein ehrwürdiges Bild, eingelegtin den Fußboden von Sienas Kathedrale). Wenn Dichter, Künstler,Theologen in ihm und in andern heidnischen Weisheitslehren enthusiastisch-ehrfürchtig die verstreuten Strahlen göttlicher Einsicht in ihren christlichenBrennpunkt zurückholen, so wird doch die andere Heimholung nochwichtiger: die der Kabbala, deren mündliche Geheimtradition manebenfalls bis auf die Zeit des Moses zurückdatiert. Die ersten Diskussionenfür oder gegen die kabbalistischen Geheimlehren gehen auf die bekehrtenoder unbekehrten spanischen Juden des 12. Jahrhunderts zurück; dannbemüht sich in Deutschland Reuchlin, in Italien Ficino und besonders Picodella Mirandola um deren Verständnis, während der erstaunliche KardinalÄgidius von Viterbo (1469 - 1552) mit Hilfe der Kabbala die Heilige Schrift„non peregrina sed domestica methodo – mit keiner fremden, sondern einerarteigenen Methode“ erklären will. Auf Geheiß Clemens’ VII. verfaßt derreformeifrige Kirchenfürst seine turbulente Abhandlung über die„Schechina“, die Karl V. gewidmet ist. Neben diesen paar klingendenNamen wären die einer Fülle von kleineren Vorläufern und Nachahmern zunennen; wichtig ist hier nur, daß dieses Eindringen in die heidnische undjüdische Geheimwissenschaft zwar im Geist des Humanismus betriebenwurde, der durch solche Sammlung verstreuter Offenbarungslichter dieerstarrte christliche Theologie zu beleben hoffte, daß man aber auch keinenAugenblick zweifelte, alles Disparate im echten christlichen Glaubensammeln zu können. Daß zumal Pico keinen Synkretismus anstrebt, hat erselbst klar gesagt: „Ich trage an meiner Stirn den Namen Jesu Christi undsterbe gern für den Glauben an ihn. Ich bin weder Magier noch Jude, nochIsmaelit noch Häretiker; Jesus gilt mein Kult, sein Kreuz trage ich aufmeinem Leibe“. Auch unser Autor hätte diese Beteuerung unterschrieben.

Noch andere analoge „Heimholungen“ von hermetischer undkabbalistischer Weisheit in biblisches und christliches Denken habenGeschichte gemacht, so vor allem die Transpositionen auf einen modernenVerstehenshorizont des von der Kabbala tiefgeprägten Chassidismus durchMartin Buber, aber auch, an schöpferischer Umschmelzungskraft ihm nichtnachstehend, die Einverleibung der Christosophie Jakob Böhmes in einkatholisches Weltbild durch den Philosophen Franz von Baader. Auf einedritte, weniger eindeutige Übersetzung, die der alten Alchimie und Magie intiefenpsychologische Sphären durch C. G. Jung, wird noch kurz zu verweisensein. Die Meditationen unseres Autors liegen in der Linie der großenLeistungen Picos und Baaders, obschon sie von diesen nicht abhängen. Diemystischen, magischen, okkulten Zuströme, die den Fluß seinerÜberlegungen speisen, sind weit vielfältiger; dennoch vermischen sich ihreWasser bei ihm zu einer vielbewegten, innerlich einheitlichen christlichenKontemplation.

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II.

Eigentümlich ist, daß die „Meditationen“ die alten symbolischen Bilderdes Tarot-Kartenspiels zum Anlaß nehmen. Natürlich weiß der Autor um diemagisch-divinatorische Verwendung dieser Karten; aber wenn er keineHemmung verspürt, das vielschichtige Wort Magie zu verwenden, sointeressiert ihn doch in seinen Meditationen das praktische „Kartenschlagen“in keiner Weise. Für ihn sind nur die von den Karten dargestellten Symboleoder Inbegriffe – sowohl einzeln wie in ihrem Verweis aufeinander –bedeutsam; da er des öfteren C. G. Jung anführt, dürfen wir sie (mit Vorsicht)als Archetypen bezeichnen. Wir müssen uns aber hüten, sie als bloßeinnerpsychologische Daten des Kollektiv-Unbewußten zu deuten – was jaauch Jung nicht kategorisch tut –, sie können ebensowohl als Prinzipien desobjektiven Kosmos verstanden werden und rühren dann an die Sphäre dessen,was in der Bibel die „Mächte und Gewalten“ genannt wird.

Die Ursprünge des Tarot und die geistesgeschichtlichen Zusammenhängeseiner Symbole – deren Darstellung im Lauf der Zeit übrigens stark variiert hat –liegen im dunkeln. Herleitungen aus ägyptischer oder chaldäischer Weisheitbleiben phantastisch, dagegen kann Gebrauch und Verbreitung der Kartendurch die Zigeuner glaubhaft sein. Die ältesten erhaltenen Karten datierenvom Ende des 14. Jahrhunderts. Die Zusammenhänge zwischen denTarotsymbolen und der Kabbala (erstmals vermutet vom Archäologen Court deGebelin [1728 bis 1784]), dem hebräischen Alphabet und der Astrologie werdenerst spät, am Ende des 18. Jahrhunderts, hergestellt. Wiederholt wurdeversucht, Kabbalismus und Tarot der katholischen Lehre anzugleichen, dasumfangreichste Unternehmen dieser Art war das von Eliphas Lévi(Pseudonym von Abbé Alphonse-Louis Constant), dessen erstes Werk„Dogme et Rituel de la Haute Magie“ 1854 erschien. Der Autor kennt esgut und ersetzt dessen oft naive Ausführungen durch tiefere. Es gabGegenströmungen – wie die von Arthur Edward Waite vorn „HermeticOrder of the Golden Dawn“, der 1910 „The Pictorial Key of the Tarot“veröffentlichte –, teilweise um die christliche Verwertung der Symbole zuverhindern. Aus den zahlreichen Deutungsversuchen sei noch der desrussischen Theosophen P. D. Ouspensky genannt, wie der anonym bleibenwollende Autor Emigrant und einflußreicher Lehrer, vom Autor kritischerwähnt, der in seinem Werk „Ein neues Modell des Universums“ demGesamtduktus seiner Weltsicht gemäß die Tarotspiele teils im Rahmen deröstlichen Religionen, teils in dem einer erotischen Tiefenpsychologieauslegte. Unnötig weiterzufahren und die vielen okkulten, theosophischenund anthroposophischen Autoren zu kennzeichnen, mit denen sich der Autorauseinandersetzt, indem er sie entweder als unzureichend abweist oder ausihnen im Gegenteil einen wertvoll erscheinenden Gedanken aufgreift undseiner Meditation einverleibt – sei es eine Deutung der kabbalistischenSephirot oder Gedanken von Böhme, Rudolf Steiner, von Jung, vonPéladan, Encausse (Papus), Philipp von Lyon oder wem immer.

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Oft verweist er auch auf große Philosophen und Theologen, wie Thomasund Bonaventura, Leibniz, Kant, Kierkegaard, Nietzsche, Bergson,Solowjew, Teilhard de Chardin, oder Dichter wie Shakespeare undGoethe, De Coster, Cervantes, Baudelaire und viele andere.

Man erkennt die geistige Grundstruktur eines Autors auch daran, weraus der Tradition ihm nahe steht, auf wen er häufig und mit liebevollerVerehrung verweist: immer wieder tauchen die Namen der HeiligenAntonius, Albertus Magnus und Franziskus auf; ausführlich zitiert wird vorallem aus den Werken des Johannes vom Kreuz und der Teresa von Avila.

Er versenkt sich ernsthaft-liebevoll in die ihm vorliegenden Symbole;sie inspirieren ihn, er läßt sich frei von seiner in die Tiefen von Welt undSeele blickenden Imagination treiben. Wenn ihm dabei zwanglosErinnerung an früher Erkanntes und Gelesenes zufällt, so liegt dieStringenz seiner Schau doch weniger im Detail – vielfach überkreuzen sichdie Gedankenbahnen –, als, wie gesagt, in der unbeirrbaren Gewißheit, daßin der Tiefe alles analogisch zusammenhängt und aufeinander verweist, dieabgelegensten Einzeleinsichten magnetisch von einer überlegenenEinheitskraft in Bann gehalten und sich untergeordnet werden. Dieser Bannist für ihn gerade nicht die vulgäre, magische Herrschsucht des Menschen,der mittels der Weltkräfte Wissen und Geschick dominieren will, sondernetwas ganz anderes: etwas, das man „die Magie der Gnade“ nennen muß,deren Zauber aus den zentralen Mysterien des katholischen Glaubenshervorbricht. Da dieser Glaube selber weder magisch ist noch sein will,weist der Zauber zurück auf seinen Inhalt; die Unterwerfung allerkosmischen „Mächte und Gewalten“ unter die alleinige HerrschaftChristi. Das Neue Testament schildert diese Unterwerfung der Mächteunter Christus als einen Prozeß, der zwar grundsätzlich erfolgt ist, aber bisans Ende der Welt in Gang bleibt“, womit eine gefährliche Möglichkeitaufscheint: der Versuch, sich mit den kosmischen Potenzen vorzeitig inNeugier oder Machthunger abzugeben, statt sie von ihremÜberwundensein in Christus her anzugehen, was sich bestenfalls nur derwahrhaft christliche Weise zutrauen darf.

Zur rechten Einschätzung des vorliegenden, für manche sicherverwirrenden Werkes ist es entscheidend wichtig, dies letztere einzusehen.Der Verfasser kann nur deshalb so souverän auf alle Spielarten okkulterWissenschaft eingehen, weil sie für ihn zweitletzte Realitäten sind, dielediglich dann wahrhaft erkannt werden, wenn sie sich auf das absoluteMysterium der göttlichen Liebe in Christus beziehen lassen. Es istkeinesfalls so, daß bei ihm das Christliche als eine der möglichen oderwirklichen Ausprägungen der subjektiv-objektiven Archetypen aufgefaßtwird; vielmehr bilden diese nur das kosmische Material, in das hinein dasEinmalig-Christliche sich abschließend inkarniert, oder auch – da dieMenschwerdung der göttlichen Liebe das Endziel alles Kosmischen ist –den Reigen der Sinnfiguren und Schematismen, die „in Spiegel und Rätsel“darauf vordeuten.

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Zur Erläuterung läßt sich auf ein paralleles, wenn auch geistigverschieden gefärbtes Werk eines andern tiefsinnigen Christen verweisen,der ebenfalls mit der Magie der Tarotkarten und ihrem religiösenÜberstieg gerungen hat, nämlich auf „The Greater Trumps“ (d. h. die GroßenTarot-Arcana) von Charles Williams (1886-1945), dem. geheimnisvollenund gelehrten Freund von T. S. Eliot, C. S. Lewis, Tolkien, Dorothy Sayers.Wenn er in einem früheren Roman „The Place of the Lion“ (1933)platonische Ideen plötzlich als Mächte in die Erscheinungswelt einbrechenläßt, dann hängt alles davon ab, wie die Menschen darauf reagieren: dereine mit toller Angst, der andere mit verzückter Anbetung, wieder einermit rasender Besitzgier, und von der Idee aus die Welt zu beherrschen,ein letzter in der einzig angemessenen Haltung freier Hingabe an das –bei aller kosmischen Übermacht der Potenzen – in ihnen zuinnerstGnadenhafte. „The Greater Trumps“ (1950) schildern die Tarot-Weltprinzipien, die, einmal entfesselt, furchtbare weltzerstörende Kraftbesitzen, falls sich bloße Magie ihrer bedienen will, die aber zuletzt, wennvöllig selbstlose Liebe sich ihnen stellt, gebannt und ihrem obersten Herrnunterworfen werden.

Wir begegnen bei Williams wie bei unserem Autor in neuer Form deralten christlichen Weisheit, die seit den ersten Jahrhunderten scharfgegen alle Schicksalsgläubigkeit, zumal gegen die Astrologie im Namen derSouveränität und Freiheit Gottes allen Kosmosmächten gegenüber gekämpfthat, jedoch ohne die Existenz weltlicher Zweitursachen zu leugnen, derendie Vorsehung sich bedient, um den Lauf der Dinge zu lenken“. Nochmalsist an die paulinische Lehre zu erinnern, wo die „Weltelemente“ (von vielenals Engelmächte verehrt), die „Gewalten“, „Herrschaften“, „Fürsten dieserWelt“ in ihrer Realität und Wirkmächtigkeit anerkannt, aber vor demTriumphwagen Christi als Unterjochte mitgeführt werden (Kol 2, 15). Fürden Christen, der den Wirkbereich dieser Zweitursachen als einen Teil derWeltwirklichkeit erforschen möchte, wird es, wie Williams drastisch zeigt,nicht leicht sein, diese Art von Wissenschaft immer strikt innerhalb derumgreifenden theologischen Klammer zu entfalten, wesentlich schwierigerjedenfalls als bei rein begrifflichen Transpositionen vom Bereich deraußerchristlichen Philosophie in den der Theologie. Die Geschichte derAstrologie in Byzanz und durch alle Jahrhunderte des Abendlands zeigtdies deutlich genug. Viele, die hier den Zauberlehrling spielen, werden vonihren dilettantischen Künsten in ein existentielles Gespinst verstrickt, das sieder christlichen Freiheit zu Gott, um die es den Kirchenvätern vor allemging, beraubt. Der schwunghafte Handel der Boulevardpresse undsonstigen Schundliteratur mit billigen, dem Einzelnen gänzlichunangepaßten Horoskopen tut ein übriges, den wahren Glauben durchwahnhaften Aberglauben zu ersetzen, dort wo nicht allein einefachmännische Ausbildung und ernste sittliche Verantwortung, vielmehrdarüber hinaus ein gewisser sechster Sinn und auch ein Gespür für dieGrenzen des Mitteilbaren, eine ehrfürchtige Zurückhaltung gegenüber dem

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Geheimnis des religiösen Weges der Einzelperson unbedingt erfordertwären.

Das vorliegende Werk erhebt sich steil über die Sphäre der zahlreichenMißbräuche. Es ist als Ganzes nur „Meditation“ und enthält sich auch jederkonkreten Anweisung, wie unter der Führung der christlichen Weisheit die„okkulten“ Wissenschaften praktisch gehandhabt werden können.Vermutlich wäre für den Verfasser eine solche allgemeine exoterischeAnweisung überhaupt nicht möglich. Ihm kommt es nur darauf an, etwasAnaloges zu vollbringen wie das, was Bonaventura mit seiner Abhandlung„De reductione artium ad theologiam“ für alle Stufen weltlichertheoretischer und praktischer Erkenntnis voll- bracht hatte, indem er zeigte,daß sie allesamt auf die Inkarnation des göttlichen Logos und Urbildeshindrängen und daran wie an einer Kette aufgehängt bleiben. Ein anderermöglicher Vergleich wäre der mit dem großräumigen Weltbild der hl.Hildegard, worin, wie vielleicht nirgends sonst, auch die kosmischenMächte (aus damaliger Sicht freilich) einbezogen sind in das großechristozentrische Drama zwischen Schöpfung und Erlösung, zwischenHimmel und Erde, wahrlich als Weltbild, in dem „mehr Dinge Raumhaben, als eure Schulweisheit sich träumt, Horatio“.

Wieweit die christologische Synthese für die Zwischenbereiche möglichoder unmitteilbar ist, dies im einzelnen zu diagnostizieren ginge weit überden diesem Vorwort zustehenden Raum und seine Zuständigkeit hinaus.

Sicher sucht der Verfasser immer und mit großer religiöserGewissenhaftigkeit den Mittelweg christlicher Weisheit einzuhalten. Er magzuweilen von der Mitte weg einen Schritt zu weit nach links tun (wenn erzum Beispiel die Lehre von der Reinkarnation als wenigstens christlicherwägenswert hinstellt), oder einen Schritt zu weit nach rechts (wenn er oftetwas „fundamentalistisch“ kurzschlüssig katholische religiöse Ansichtenoder Praktiken zu nah an das Dogma heranrückt oder unvermittelt bei denevangelischen Räten, beim Rosenkranzgebet usf. anlangt). Die fasterdrückende Fülle echter, fruchtbarer Einsichten aber, die er heimbringt,rechtfertigt es sicher, diese Meditationen einem größeren Leserkreis nichtvorzuenthalten.

Der Autor legte Wert auf Anonymität, weil das Werk ganz aus sich heraussprechen und jedes Dazwischentreten persönlicher Elemente vermiedenwerden soll – Gründe, die wir respektieren.

Hans Urs von Balthasar

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DER VERFASSER ZU SEINEM WERK

Diese Meditationen über die Großen Arcana des Tarot sind Briefe an denUnbekannten Freund. Sie sind für jeden bestimmt, der sie alle liest und derdann, dank seiner Erfahrung beim meditativen Lesen, aus sicherer Kenntnisweiß, worum es sich in der christlichen Hermetik handelt. Er weiß dann auch,daß der Verfasser in diesen Briefen mehr von sich selbst gesagt hat, als er es aufirgendeine andere Art hätte tun können. Er lernt den Verfasser durch dieseBriefe besser kennen als aus irgendeiner anderen Quelle.

Diese Briefe wurden auf französisch geschrieben, weil in Frankreich seit dem18. Jahrhundert eine Literatur über den Tarot besteht, die bis in unsere Tagereicht, d. h. bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts – ein Phänomen, das sichsonst nirgendwo findet. Andererseits besteht in Frankreich – und erhält sichbeharrlich – eine fortlaufende Tradition der Hermetik, die in sich den Geist derfreien Forschung mit dem der Ehrfurcht vor der Tradition vereinigt. Der Inhaltdieser Briefe kann sich daher in dieser Tradition „inkarnieren“, d. h. ihrorganischer Bestandteil werden und einen Beitrag zu ihr leisten.

Da diese Briefe allein dazu bestimmt sind, der hermetischen Tradition, diesich in der geschichtlichen Ferne der legendär gewordenen Epoche des „HermesTrismegistos“ verliert, zu dienen und einen Beitrag zu ihr zu leisten, sind sie einekonkrete Kundgebung dieses jahrtausendealten Stromes von Denken, Bemühenund Offenbarung. Ihr Ziel ist nicht allein, die Tradition im 20. Jahrhundert neu zubeleben, sondern auch – und vor allem – den Leser, oder vielmehr denUnbekannten Freund, in diesen Strom hineintauchen zu lassen, sei es für einigeZeit, sei es für immer. Darum gehen die zahlreichen Zitate alter und modernerAutoren, die Sie in diesen Briefen finden, weder auf literarische Erwägungenzurück noch auf eine Zurschaustellung von Gelehrsamkeit. Es sindBeschwörungen der Meister der Tradition, damit diese mit ihren das Strebenweckenden Impulsen und mit ihrem Gedankenlicht gegenwärtig seien in demStrom des meditativen Denkens, den diese Briefe über die 22 Großen Arcana desTarot darstellen. Denn im Grunde sind es zweiundzwanzig geistige Übungen,mittels deren Sie, lieber Unbekannter Freund, in den Strom der lebendigenTradition hineintauchen und damit in jene Gemeinschaft der Geister eintreten,die ihr gedient haben und ihr dienen.

Die Zitate bezwecken nur, diese Gemeinschaft deutlicher hervortreten zulassen. Denn die Glieder der Kette der Tradition sind nicht allein Gedanken undBemühungen, sondern vor allem die lebenden Wesen, die diese Gedankengedacht und diese Anstrengungen unternommen haben. Das Wesen derTradition ist keine Lehre, sondern eine Gemeinschaft der Geister von Zeitalterzu Zeitalter.

Es bleibt in diesem Vorwort nichts weiter zu sagen, weil jede weitere Frage,die diese Meditationsbriefe über den Tarot betrifft, ihre Beantwortung in denBriefen selbst finden wird.

Ihr Freund grüßt Sie, lieber Unbekannter Freund, von jenseits des Grabes.

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INHALT

Vorwort des Herausgebers ...........................................................................…… 3

Einführung ............................................................................................... 6

Der Verfasser zu seinem Werk ...................................................................... 12

Erster Brief

DER GAUKLER, Das Arcanum der Mystik ………………………..…… 20

Arcanum, Symbol, Mysterium – Einweihung – Christliche Hermetik als Dienerin desGlaubens – Petrus und Johannes – Die Beziehung zwischen persönlicher Bemühung undspiritueller Wirklichkeit – Konzentration ohne Anstrengung – Die Zone desSchweigens – Arbeit in Spiel verwandeln – Das Joch leicht machen – Die Einheit der Welt– Die Methode der Analogie – Symbole und Mythen – Archetypen – Synthese desBewußten und Unbewußten – Pflicht und Neigung – Genialität und Scharlatanerie.

Zweiter Brief

DIE PÄPSTIN, Das Arcanum der Gnosis .................................................. 46

Widerspiegelung der mystischen Erfahrung – Offenbarung und Tradition –Wiedergeburt aus Wasser und Geist – Die Zweiheit – Einweihung vor und nach Christus– Primat des Seins oder der Liebe? – Die Gabe der Tränen – Verzauberung durchphilosophische Systeme – Das männliche und das weibliche Prinzip – Geburt vonTraditionen – Der kontemplative Sinn – Horizontale und vertikale Erinnerung – DieSchöpfung der Welt.

Dritter Brief

DIE KAISERIN, Das Arcanum der Magie .............................................. 69

Geheiligte, persönliche, böse Magie – Herrschaft des Feinen über das Dichte –Wunderheilungen – Gefahren der falschen Magie – Der Heilige Gral – Das Mysteriumdes Blutes – Besessenheit – Egregore und Dämonen – Erwecken des freien Willens –Hiob – Befreiung von Zweifel, Furcht, Haß und Verzweiflung – Die Bibel alsFormelbuch der geheiligten Magie – Mühe, Leid und Tod: Mystik, Gnosis und Magie –Der Baum des Lebens – „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ – Wunder – DasIdeal des großen Werkes und das Ideal der Wissenschaft – Das Agens des Wachstums –Der Hüter des Gartens Eden – Die Dreiheit – Magie der Kunst – Schriftgelehrte undPharisäer – Glaube, Hoffnung, Liebe – Läuterung, Erleuchtung, Vereinigung – DieZeugung.

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Vierter Brief

DER KAISER, Das Arcanum der hermetischen Philosophie und des Gehorsams …. 94

Autorität – Verzicht auf Bewegung, Handlung, intellektuelle Freiheit und persönlicheMission – Der Wille zur Macht und die Macht des Kreuzes – Zum Theodizeeproblem –Das Gleichnis vorn verlorenen Sohn – Göttliche Liebe und menschliche Freiheit – DieHierarchie der Engel – Tsimtsum, das „Sichzurückziehen Gottes“ – Existenz (Freiheit)und Essenz (Liebesfunken) – Pantheismus und Materialismus – Das Amt deseuropäischen Kaisers – Die Autorität des Eingeweihten – Der mystische Sinn desTastens, der gnostische des Hörens, der magische des Schauens, der philosophisch-hermetische des Verstehens – Hermetische Philosophie und „okkulte Wissenschaften“(Kabbala, Astrologie, Magie, Alchimie) – Zur Lehre der Wiederverkörperung – Dermetaphysische und der hermetische (einweihende) Sinn – Der Mensch als Ebenbild undGleichnis Gottes – Das Rosenkreuz. Die vier Wunden.

Fünfter Brief

DER PAPST, Das Arcanum der Transzendenz und der Armut …………. 118Segnung – „Horizontale“ und „vertikale Atmung“ – Gebet und Gnade in Vernunft, Herzund Wille – Liebe zur Natur, zum Nächsten und zu den hierarchischen Wesen –Läuterung, Erleuchtung und Vereinigung – Die Nachtseite der Geschichte und desindividuellen Lebens – Die Ämter von Kaiser und Papst – Geozentrischer undheliozentrischer Kosmos – Logik der Tatsachen und moralische Logik – Die fünfteWunde des Papstes – Der Fünfstern (das Pentagramm) – Dein Wille, mein Wille, unserWille geschehe – Macht oder Reinheit des Willens – Die Wünsche, groß zu sein, zunehmen, festzuhalten, vorwärtszukommen und sich zu behaupten – Die Gelübde desGehorsams (Kreuz), der Armut (Fünfstern) und der Keuschheit (Sechsstern) – Die„Lotosblumen“ – Wie das Gute das Böse überwindet – Stigmata – Fegefeuer,Vorhimmel, Paradies – Zur Mission des Papstes – Die „Pforten der Hölle“ – Glaube,Hoffnung, Liebe.

Sechster Brief

DER VERLIEBTE, Das Arcanum der Initiation und der Keuschheit … 144

Der Sechsstern: Die drei Versuchungen und die drei Gelübde – Mönche und Nonnen – Liebeund Sein – Die Ausbreitung der Liebe – Enstase und Ekstase – Initiation – Die dreifacheVersuchung im Paradies – Zweifel und Experimente – Werke und Gnade – Die Natur istverletzt, aber nicht zerstört – Die Formel der Einweihung – Der „Dreifache Weg“Bonaventuras – Egregore und Phantome – Der Antichrist – Die drei Versuchungen inder Wüste.

Siebter Brief

DER WAGEN, Das Arcanum der Genesung ……………………. 170

Die vierte Versuchung: Größenwahn, Hypertrophie des Selbstbewußtseins, Stolz –Verzicht und Lohn – Die Bewegungsweise der Engel – Heilige Stätten – Die siebenurbildhaften Wunder und die sieben Ich-bin-Worte – Der Individuationsprozeß –Archetypen – Bete und arbeite – Demut und die ihr zugrunde liegende Erfahrung – DieArcana des Tarot als Ideal und Warnung – „Herr der vier Elemente“ – Die

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Kardinaltugenden – Die drei Formen mystischer Erfahrungen – Die beseligende Schau– Das Bündnis des Überbewußten, Bewußten und Unbewußten – Das Gleichgewichtder sieben Kräfte.

Achter Brief

DIE GERECHTIGKEIT, Das Arcanum des Gleichgewichts ………... 197

Mikro- und makrokosmisches Gleichgewicht – Das Gesetz – Wirklichkeit Gottes undAbstraktionen von Gott – Das 1. Gebot – Intuition – Billigkeit – „Richtet nicht!“ –Berechtigtes Urteilen und Entscheiden – Quantität und Qualität – Die ewige Hölle –Die Inkarnation Christi – Griechen und Juden, Realisten und Nominalisten – Die dreiMotive des Strebens nach Wissen – Über die katholische Kirche – Hermetik undKirche – Hermetik und Wissenschaft – Jesus Christus und der Logos.

Neunter Brief

DER EREMIT, Das Arcanum des Gewissens ……………………. 225

Der dritte Vater – Die drei Erkenntnismethoden der Hermetik – Die dreiAntinomien: Idealismus und Realismus; Realismus und Nominalismus;Glaube und empirische Wissenschaft – Das „Glaubensbekenntnis der Wis-senschaft“ – Wissenschaft als Methode oder Weltanschauung – Synthesevon Religion und Wissenschaft – Die Gabe der vollkommenen Schwärze –Die Klugheit – Einsamkeit und Schweigen – Der Eingeweihte – Friede –Wissen und Wollen – Kontemplatives und aktives Leben – Das Wanderndes Eremiten – Lotosblumen – Die sieben Ich-bin-Worte.

Zehnter Brief

DAS SCHICKSALSRAD, Das Arcanum der gefallenen Natur ……… 261

Beziehungen zwischen Tierheit und Menschheit – Sündenfall und Degeneration – DieEvolution – Verdammnis und Heil – Der Mythos vom geschlossenen Kreis der Schlange– Die Idee der „ewigen Wiederkehr“ – Der kosmische Sündenfall – Einrollung undAusstrahlung – Das Gehirn – Taube und Schlange – Die Erlösung – Das „kollektiveUnbewußte“ – Schicksal, Wille und Vorsehung – Die Sphinx – Schweigen, wollen,wagen, wissen – Die Geschichte des Tarot – Die Hermetik.

Elfter Brief

DIE KRAFT, Das Arcanum der Jungfrau …………………………… 298

Die „natürliche“ Religion – Wahrnehmung und Reaktion – Erleuchtung und Fanatismus –Jungfrau und Schlange – Leben und Elektrizität – Jungfräulichkeit – Feinde in Freundeverwandeln – Die Techniken der Versuchung: Zweifel, unfruchtbarer Genuß, Macht –Sklerose – Arten zu schlafen und zu sterben – Ekstase – Ehre Vater und Mutter – DasAgens des Wachstums – Tradition und Fortschritt – Die Zehn Gebote.

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Zwölfter Brief

DER AUFGEHÄNGTE, Das Arcanum des Glaubens ……………… 335

Physikalische, seelische, geistige Gravitation – Der Sünden“fall“ – Fleisch, Seele, Geist –Die Wüstenväter – Jesu Wandeln über dem Wasser – „Ich bin“ – Ekstase und Enstase –Drei Arten der Levitation – Kundalini – Einrollung und Ausstrahlung – DieWahrnehmungsfähigkeit des Willens – Glaube und Gehorsam – Offenbarung undVerstehen – Moralische Logik – Der Teil und das Ganze – Sonnenhaftes Denken,tierkreishaftes Wollen, mondenhafte Vorstellungskraft – Zur Zahlensymbolik – Gewißheitdes Glaubens und Wahrscheinlichkeit des Beweises – Häresien und Sekten – ZurUnfehlbarkeit des Papstes – Bildhafte Vision und intellektuelle Schau – Halluzinationund Illusion – Glaube und Wissen – Hiob.

Dreizehnter Brief

DER TOD, Das Arcanum des ewigen Lebens …………………………. 372

Vergessen, Schlaf und Tod – Erinnern, Erwachen und Geburt – Vier Ar- ten vonGedächtnis – Die Auferweckung des Lazarus – Wunder und Freiheit – Tun undFunktionieren – Die Schöpfung durch das Wort – Das nachtodliche Leben der Heiligen –Schutzengel – Zwei Arten der Geburt – Kristallisation oder Ausstrahlung – Das Versprechender Schlange – Phantome und Gespenster – Zwei Arten der Unsterblichkeit –Konzentration, Meditation, Kontemplation – Glaube, Hoffnung, Liebe – Läuterung,Erleuchtung, Vereinigung – Erzengel Michael – Turmbau zu Babel und Herabkunft deshimmlischen Jerusalem – Zum Sinn des Todes.

Vierzehnter Brief

DIE MÄSSIGKEIT, Das Arcanum der Inspiration . ………………….. 409

Der Mensch als Gottes Ebenbild und Gleichnis – Die fünf Aufgaben des Schutzengels –Die Genialität der Engel – Prophetische Engel – Die „Flügel“ der Engel – BeflügelteMenschen – Das „Gebet ohne Unterlaß“ – Maria und Martha – Das rechte Maßzwischen Ebenbild und Gleichnis – Die Gabe der Tränen – Zum Judentum – Vision,Inspiration, Intuition – Demut als Vorbedingung der Inspiration – Bemühung und Gnade.

Fünfzehnter Brief

DER TEUFEL, Das Arcanum der Gegeninspiration …………………… 440

Das Erzeugen von Dämonen – Ihre Macht über den Erzeuger – Die chaotische Welt desBösen – Gefallene Engel und künstlich erzeugte Wesen – Individuell erzeugte Dämonen –Kollektiv erzeugte Egregore – Komplexe – Der Kommunismus – Schweigen – Die vierStufen der Versuchung – Zur Unterscheidung der Geister – Gibt es „gute Egregore“? –Heilige Stätten – Wie man Dämonen machtlos macht – Wie man gefallene Engelüberwindet – Hiob – Streiche des Mephistopheles – Heidnische Götter – Vier Arten desHeidentums.

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Sechzehnter Brief

DAS GOTTHAUS, Das Arcanum des Bauens . …………………… . . 470

Das menschliche Böse – Nicht im Fleisch, sondern in der Seele – Negative und positiveAskese – Der Sündenfall vor dem irdischen Leben der Menschheit – Die Ursünde –Unwissenheit oder unerlaubte Erkenntnis? – Östliche und westliche Tradition –Brudermord des Kain, Erzeugung der Riesen, Turmbau zu Babel – Der Blitz trifft denTurm – Fegefeuer – Das Magnifikat – Selbsterhöhung – Spezialisierung – Bauen oderWachsen – Das Rosenkreuz – Keine hermetische Technik – Vermählung der Gegensätze –Friede – Buße – Die Alchimie des Kreuzes – Konzentration, Meditation, Kontemplation –Zur geistigen Bedeutung der Wochentage.

Siebzehnter Brief

DER STERN, Das Arcanum des Wachstums und der Mutter .............. 504

Der Lebenssaft – Vom Ideal zur Wirklichkeit – Das „magische Agens“ und das „Agens desWachstums“ – Erschaffen und Umbilden – Feuer und Wasser – Das Gift der Schlangeund die Träne der Jungfrau – Kontemplation und Aktion – Die Überwindung desDualismus – Hoffnung – Die Mutter-Mysterien – Evolution und Heil – Poesie –Göttliche und persönliche Magie – Der geschlossene Kreis der persönlichen Magie undder Wissenschaft – Die Spirale der göttlichen Magie – Wunder – Liebe zu Gott undzum Nächsten – Die vier Elemente des göttlichen Namens – Die Vorbereitung derAnkunft Christi – Gold, Weihrauch und Myrrhe – Hoffnung, Kreativität undTradition – Zu Hermes Trismegistos.

Achtzehnter Brief

DER MOND, Das Arcanum des Inte l lekts …………………….. 537

Der Intellekt und die Intuition des Glaubens – Sonne, Mond und Sterne: schöpferisches,widergespiegeltes und offenbartes Licht – Das Postulat der Wiederholung – Das Ganzeund der Teil – Frühling und Herbst – „Im Anfang war das Wort“ – Der Instinkt. – DerSephirot-Baum – Kopf, Herz und Wille – Die Umwandlung des Intellekts in Intuition– Der Intellekt als Diener des Gewissens – Der Hüter der Schwelle – Das „sacrificium in-tellectus“ – Rhythmus – Der Rosenkranz – Das „Besserwissen“ – Reduktion undpsychologische Projektion – Die vier Antinomien – Psychologisierer und Spiritualisierer– Krebs oder Adler.

Neunzehnter Brief

DIE SONNE, Das Arcanum der Intu i t ion …………………….. 575

Zusammenarbeit und Kampf ums Dasein – Sympathie – Gespräch durch Kräfte unddurch Worte – Die Krippe – Auferstehung – Dem Stern folgen – Vereinigung vonVerstand und übermenschlicher Weisheit – Rufer in der Wüste – Scholastik: Taufe desVerstandes – Skeptiker und Mystiker – Intuitive Erfahrung des transzendenten Selbst –Intuitive Erfahrung der geistigen Welt – Maria-Sophia – Die „LeuchtendeDreifaltigkeit“ – Vater und Mutter – Marienverehrung – Novene und Rosenkranz.

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Zwanzigster Brief

DAS GERICHT, Das Arcanum der Auferstehung …………………….. . 606

Der „therapeutische“ Impuls der prophetischen Religionen – Die „fünfte Askese“ –Auferweckung und Auferstehung – Vergessen, Schlaf, ‘Tod: Erinnern, Erwachen,Geburt – Automatisches, logisches und moralisches Gedächtnis – Die dreifache Akasha-Chronik – Das „Buch des Lebens“ – Die „beste aller Welten“ – „Die Weltgeschichte istdas Weltgericht“ – Sinn für geschichtliche Verantwortlichkeit undUnerschütterlichkeit des Glaubens – Die Posaune des Engels – Werke und Gnade –Die Vereinigung von menschlichem und göttlichem Willen – Zum Vaterunser – DerAuferstehungsleib – Vererbung Lind Individualität – Zur Unsterblichkeit von Geist,Seele und Leib – Die Vorbereitung des Auferstehungsleibes – Mariä Himmelfahrt – DasJüngste Gericht.

Einundzwanzigster Brief

DER NARR, Das Arcanum der Liebe ................................................. 645

Don Quichote – Orpheus – Der ewige Jude – Don Juan – Till Eulenspiegel – Hamlet – Faust– Die Verwandlung des persönlichen in das kosmische Bewußtsein – Zwei Arten dessacrificium intellectus – Die Vereinigung menschlicher und göttlicher Weisheit – Juden,Griechen, Christen – Der „Stein der Weisen“ – Die Erwartung des Kommenden – Glaubean Gott: Glaube an den Menschen – Avatare – Die Christianisierung der Menschheit – DerBodhisattva – Mystische, gnostische, magische Gebete – Vereinigung von Gebet undMeditation.

Zweiundzwanzigster Brief

DIE WELT, Das Arcanum der Freude .................................................... 685

Die Welt als Kunstwerk – Die Schöpfung – Magie und Kunst – Freude – Zum Selbstmord –Trugbilder – Der „Lügengürtel“ oder die „Sphäre des falschen Heiligen Geistes“ –Mischungen aus Wahrheit und Lüge – Falsche Propheten und Messiasse – Marxismus –Nationalsozialismus – Keuschheit des Geistes – Kreuz, Gebet und Buße – Sakrale Kunst –Intensität ist kein Wahrheitskriterium – Das Numinosum – Gefahren des Unbewußten – Dievier heiligen Tiere – Die vier Temperamente – Die vier Elemente des göttlichen Namens – Zuden Kleinen Arcana des Tarot – Der Eingeweihte – Läuterung, Erleuchtung, Vollendung.

Glossar ……………………...……………………………………………… 723

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Erster Brief

DER GAUKLER

Das Arcanum der Mystik

Arcanum, Symbol, Mysterium – Einweihung – Christliche Hermetik alsDienerin des Glaubens – Petrus und Johannes – Die Beziehung zwischenpersönlicher Bemühung und spiritueller Wirklichkeit – Konzentration ohneAnstrengung – Die Zone des Schweigens – Arbeit in Spiel verwandeln – DasJoch leicht machen – Die Einheit der Welt – Die Methode der Analogie –Symbole und Mythen – Archetypen – Synthese des Bewußten undUnbewußten – Pflicht und Neigung – Genialität und Scharlatanerie.

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DER GAUKLER

Das Arcanum der Mystik

„Der Wind weht, wo er will,

und du hörst sein Sausen;

aber du weißt nicht, woher er kommt

noch wohin er geht.

So verhält es sich mit jedem,

der aus dem Geist geboren ist” (Jo 3, 8).

„In jener Nacht voll Glück,

Da sich kein Aug’ mir wandte,

Der Augen blöder BlickKein weisend Licht erkannteAls das, so mir im Herzen brannte.“

Lieber Unbekannter Freund,

die Worte des Meisters, die oben angeführt sind, haben mir als Schlüsselgedient, um die Tür zum Verständnis für das erste Große Arcanum des Tarot„Der Gaukler“ zu öffnen, das seinerseits wiederum der Schlüssel für alleanderen Großen Arcana ist. Darum habe ich sie als Leitspruch diesem Briefvorangestellt. Und dann habe ich eine Strophe aus dem „Lied der Seele“ deshl. Johannes vom Kreuz zitiert, weil sie die Kraft hat, die tiefen Schichten derSeele zu erwecken, die man wachrufen muß, wenn es sich um das ersteArcanum des Tarot und folglich um alle Großen Arcana des Tarot handelt.Denn die Großen Arcana des Tarot sind echte Symbole, d. h., sie sind„magische, mentale, psychische und moralische Operationen“, die neueBegriffe, Ideen, Gefühle und Bestrebungen erwecken, was bedeutet, daß sieeine tiefere Aktivität erfordern als das intellektuelle Studium und dieintellektuelle Erklärung. Man sollte sich ihnen daher im Zustand einertiefen – immer wachsenden – Sammlung nähern. Es sind die tiefsten undinnersten Schichten der Seele, welche regsam werden und Früchte tragen,wenn man über die Arcana des Tarot meditiert. Daher bedarf es jener„Nacht“, von der der hl. Johannes vom Kreuz spricht, in der, man sich imVerborgenen hält und in die man jedesmal eintauchen muß, wenn manüber die Arcana des Tarot meditiert. Es ist eine Arbeit, die in Einsamkeitzu leisten ist und die den Einsamen gemäß ist.

Die Großen Arcana des Tarot sind weder Allegorien noch Geheimnisse;Allegorien sind nämlich nur bildliche Darstellungen eines abstraktenBegriffes; Geheimnisse dagegen sind irgendwelche Tatsachen, Verfahren,Methoden oder Lehren, die man aus persönlichen Gründen für sich behält,

Valentin Tomberg – Die großen Arcana des Tarot – BAND-1

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obwohl sie von anderen verstanden und gebraucht werden könnten, denenman sie aber nicht enthüllen will. Die Großen Arcana des Tarot sind echteSymbole. Sie verbergen und enthüllen gleichzeitig ihren Sinn, je nach derTiefe der Sammlung des Meditierenden.

Was sie enthüllen, sind keine Geheimnisse, d. h. von Menschen willentlichverborgene Dinge, sondern Arcana, was durchaus etwas anderes ist. EinArcanum ist etwas, das man „wissen“ muß, um auf einem bestimmten Gebietdes geistigen Lebens produktiv sein zu können. Es muß lebendig gegenwärtigin unserem Bewußtsein sein – oder sogar in unserem Unterbewußtsein – umuns zu befähigen, Entdeckungen zu machen, neue Ideen hervorzubringen,neue künstlerische Themen zu konzipieren, mit einem Wort, um unsfruchtbar zu machen in unseren schöpferischen Bestrebungen und dies aufjedem beliebigen Gebiet des geistigen Lebens. Ein Arcanum ist ein„Ferment“ oder ein „Enzym“, dessen Anwesenheit das geistige undseelische Leben des Menschen anregt. Und Symbole sind die Träger dieser„Fermente“ oder „Enzyme“, die sie vermitteln, wenn der Empfangendegeistig und moralisch dazu fähig ist, d. h., wenn er sich als „Bettler umGeist“ fühlt und nicht an der ernstesten geistigen Krankheit leidet: derSelbstzufriedenheit.

Wie das Arcanum dem Geheimnis übergeordnet ist, so steht das Mysteriumüber dem Arcanum. Das Mysterium ist mehr als ein anregendes „Ferment“.Es ist ein geistiges Ereignis, vergleichbar der Geburt oder dem physischenTod. Es ist die Änderung der ganzen geistigen und seelischen Motivationoder der völlige Wechsel der Bewußtseinsebene. Die sieben Sakramente derKirche sind die prismatischen Farben des sich brechenden weißen Lichteseines einzigen Mysteriums oder Sakramentes, nämlich desjenigen derzweiten Geburt, welche der Meister den Nikodemus lehrte in der nächtlicheneinweihenden Unterredung die er mit ihm hatte. Das versteht die christlicheHermetik unter der „Großen Einweihung“.

Selbstredend weiht nicht ein Mensch den anderen ein, wenn man unter„Einweihung“ das Mysterium der Zweiten Geburt oder das Große Sakramentversteht. Die Einweihung wird von oben bewirkt, und sie hat den Wert und dieDauer der Ewigkeit. Der Einweihende ist oben, und hier unten begegnet manallein Mit-Schülern, und diese erkennen sich daran, daß sie sich untereinanderlieben. Es gibt auch keine Meister mehr, weil es nur einen einzigen Meister gibt,den Initiator oben. Gewiß hat es immer Meister gegeben, die in ihren Lehrenunterwiesen, und auch Einweihende, die einige ihrer Geheimnisse an andereweitergaben, welche so ihrerseits „Eingeweihte“ wurden; aber das alles hatnichts zu tun mit dem Mysterium der Großen Einweihung.

Darum weiht die christliche Hermetik als menschliche Angelegenheitniemanden ein. Unter den christlichen Hermetikern maßt sich niemand denTitel und das Amt des Initiators oder des Meisters an. Denn alle sind Mit-Schüler, und jeder ist Lehrer eines jeden in irgendeiner Hinsicht – wie jederSchüler eines jeden ist in anderer Hinsicht.

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Wir können nichts Besseres tun, als dem Beispiel des hl. Antonius des Großenzu folgen:

Er „unterwarf sich gerne den eifrigen Männern, die er besuchte, und suchtefür sich von jedem einen Vorteil im Tugendeifer und in der Askese zu lernen.Bei dem einen beobachtete er die Freundlichkeit, bei dem anderen denGebetseifer; an diesem sah er seine Ruhe, an jenem Menschlichkeit; bei demeinen merkte er auf das Wachen, bei dem anderen auf die Wißbegierde; denbewunderte er wegen seiner Standhaftigkeit, jenen wegen des Fastens und desSchlafens auf bloßer Erde; an dem einen beobachtete er die Sanftmut, andem anderen seine Hochherzigkeit; an allen zusammen aber fiel ihm auf diefromme Verehrung für Christus und ihre wechselseitige Liebe; erfüllt von alldiesem kehrte er an seinen eigenen Asketensitz zurück. Was er von einemjeden erhalten hatte, vereinigte er dann in sich und strebte danach, in sich dieTugenden aller darzustellen.“

Dieses gleiche Verfahren sollte von den christlichen Hermetikernhinsichtlich des Wissens und der Wissenschaften, und zwar ebenso derNaturwissenschaften wie der historischen, philosophischen, philologischen,theologischen, symbolischen und traditionellen Wissenschaften angewendetwerden, was darauf hinausläuft, die Kunst des Lernens zu erlernen.

Nun sind es die Arcana, die uns in der Kunst des Lernens anregen undzugleich leiten. Die Großen Arcana des Tarot sind in diesem Sinne einevollständige, ganz unschätzbare Schule der Meditation, der Studien und dergeistigen Anstrengungen, d. h. eine mustergültige Schule der Kunst desLernens.

Lieber Unbekannter Freund, die christliche Hermetik maßt sich also nichtan, mit der Religion oder mit den offiziellen Wissenschaften zu rivalisieren.Wer in ihr „die wahre Religion“, „die wahre Philosophie“ oder „die wahreWissenschaft“ sucht, hat sich in der Adresse geirrt. Die christlichenHermetiker sind keine Meister, sondern Diener. Sie haben nicht den – einwenig kindischen – Anspruch, sich über den heiligen Glauben der Gläubigenhinwegzusetzen, noch sich über die Früchte der bewundernswertenAnstrengungen der Diener der Wissenschaft oder über die Schöpfungen deskünstlerischen Genies zu erheben. Die Hermetiker hüten nicht dasGeheimnis der zukünftigen wissenschaftlichen Entdeckungen. Sie kennen z.B. nicht das wirksame Heilmittel gegen den Krebs, so wie alle Welt esgegenwärtig nicht kennt. Sie wären im übrigen Ungeheuer, wenn sie dasGeheimnis des Heilmittels gegen diese Geißel der Menschheit hüteten, ohnees mitzuteilen. Nein, sie kennen es nicht, und sie werden die ersten sein,welche die Überlegenheit des zukünftigen Wohltäters der Menschheit übersich anerkennen, der als Gelehrter dieses Mittel dereinst entdecken wird.

Ebenso anerkennen sie ohne Vorbehalt die Überlegenheit eines hl.Franz von Assisi (und vieler anderer), der ein Mann des sogenannten„exoterischen“ Glaubens war. Sie wissen auch, daß jeder aufrichtig Gläubigepotentiell ein Franz von Assisi ist. Die Leute des Glaubens, derWissenschaft und der Kunst sind ihnen in mehreren wesentlichen Punkten

Valentin Tomberg – Die großen Arcana des Tarot – BAND-1

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überlegen. Das wissen die Hermetiker, und sie schmeicheln sich nicht,besser zu sein, besser zu glauben, besser zu wissen oder besser zu können.Sie wahren weder im Geheimen eine ihnen eigene Religion, welche diebestehenden Religionen ersetzen soll, noch eine ihnen eigene Wissenschaftanstelle der gegenwärtigen Wissenschaften, noch ihnen eigene Künste, umdie schönen Künste von heute oder morgen zu ersetzen. Was sie besitzen,bringt weder spürbare Vorteile mit sich, noch eine objektive Überlegenheitim Hinblick auf Religion, Wissenschaft und Kunst; was sie besitzen, ist nurdie gemeinsame Seele der Religion, der Wissenschaft und der Kunst.

Welches ist diese Mission, die gemeinsame Seele der Religion, derWissenschaft und der Kunst zu hüten? Ich möchte darauf mit einem Beispielantworten:

Sie wissen ohne Zweifel, lieber Unbekannter Freund, daß viele Menschen,darunter mehrere Autoren in Frankreich, Deutschland, England und anderswo, dieLehre von den sogenannten „zwei Kirchen“ predigen: der Kirche des Petrusund der Kirche des Johannes; oder von zwei Zeitaltern: dem Zeitalter desPetrus und dem Zeitalter des Johannes. Sie wissen auch, daß diese Lehredas mehr oder weniger nahe Ende der Kirche Petri bzw. vor allem das desPapsttums lehrt, das deren sichtbares Symbol ist, und daß der Geist desJohannes, des vom Meister geliebten Schülers, der an seiner Brust lag unddem Schlage seines Herzens lauschte, sie ablösen werde. So werde die„exoterische“ Kirche des Petrus der „esoterischen“ Kirche des Johannesweichen, in der dann die vollkommene Freiheit herrsche.

Nun wurde aber Johannes, der sich gern dem Petrus als dem Oberhauptoder Fürsten der Apostel untergeordnet hat, nach dessen Tode nicht seinNachfolger, obwohl er Petrus um viele Jahre überlebt hat. Der vielgeliebteJünger, der des Meisters Herz hatte schlagen hören, war und ist derStellvertreter und Hüter dieses Herzens, und er wird es immer sein. Alssolcher war er aber nicht das Oberhaupt oder Haupt der Kirche, er ist es auchjetzt nicht und wird es niemals sein. Denn ebensowenig wie das Herz dazuberufen ist, das Haupt zu ersetzen, ebensowenig ist Johannes zumNachfolger des Petrus berufen. Das Herz hütet zwar das Leben und dieSeele, aber das Haupt faßt die Entschlüsse, es hat die Leitung inne, und eswählt die geeigneten Mittel zur Erfüllung der Aufgaben des ganzenOrganismus, d.h. von Haupt, Herz und Gliedern.

Die Sendung des Johannes besteht darin, das Leben und die Seele der Kirchezu hüten – zu leben bis zur zweiten Ankunft des Herrn. Darum hat Johannesniemals das Führeramt im Körper der Kirche beansprucht und wird es niemalstun. Er belebt diesen Körper, aber er leitet nicht seine Handlungen.

So hütet die Hermetik die lebendige Tradition, die gemeinsame Seelealler wahren Kultur. Ich möchte hinzufügen: Die Hermetiker lauschen auf –und vernehmen bisweilen – den Herzschlag des geistigen Lebens derMenschheit. Sie können nicht anders, denn als Wächter des Lebens und dergemeinsamen Seele von Religion, Wissenschaft und Kunst zu leben.

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Sie haben keinerlei Vorrecht auf irgendeinem dieser Gebiete; die Heiligen,die wahren Gelehrten und die genialen Künstler sind ihnen überlegen. Sieaber leben für das Mysterium des gemeinsamen Herzens, das im Innerstenaller Religionen, aller Philosophien, aller Künste und aller vergangenen,gegenwärtigen und zukünftigen Wissenschaften schlägt. Und indem sie sichvom Beispiel des Johannes, des vielgeliebten Jüngers, inspirieren lassen,beanspruchen sie weder heute noch morgen in der Religion, in derWissenschaft, in der Kunst, im sozialen und politischen Leben eineführende Rolle; aber sie wachen ständig, um keine Gelegenheit zu versäumen,der Religion, der Philosophie, der Wissenschaft, der Kunst, dem sozialen undpolitischen Leben der Menschheit zu dienen und um ihnen den Hauch desLebens der ihnen gemeinsamen Seele einzuflößen – analog dem Aus- teilendes Sakramentes der heiligen Kommunion. Die Hermetik ist – und ist nur –ein Stimulans, ein „Ferment“ oder ein „Enzym“ im Organismus des geistigenLebens der Menschheit. In diesem Sinne ist sie selbst ein Arcanum, d. h. derVorläufer des Mysteriums der Zweiten Geburt oder der Großen Initiation.Das ist der Geist der Hermetik, und in diesem Geist wollen wir jetztzurückkehren zum ersten Großen Arcanum des Tarot.

Was zeigt dieses erste Kartenbild?Ein junger Mann mit einem großen Hut in Form einer Lemniskate steht

aufrecht hinter einem kleinen Tisch, auf dem angeordnet sind: ein gelbbemaltes Gefäß, drei kleine, gelbe, runde Scheiben, vier andere rote, rundeScheiben (je zwei durch einen Strich voneinander getrennt), ein roter Bechermit zwei Würfeln, ein aus seinem Futteral gezogenes Messer und endlich eingelber Sack, um diese verschiedenen Dinge aufzunehmen. Der junge Mann –der Gaukler – hält, vom Betrachter aus gesehen, einen dünnen Stab in derrechten und eine Kugel oder ein gelbes Geldstück in der linken Hand. Er hältdiese beiden Gegenstände mit einer vollkommenen Leichtigkeit, ohne siezu pressen und ohne sonstige Anzeichen von Spannung, Verwirrung, Hastoder Anstrengung. Was er mit seinen Händen ausführt, geschieht mit völligerUnbefangenheit; es ist ein leichtes Spiel und keine Arbeit. Er verfolgt dieBewegung seiner Hände nicht einmal mit den Augen; sein Blick istanderswohin gerichtet. Soweit also die Karte.

Daß sich die Reihe der Symbole, d. h. der Enthüller der Arcana, die dasTarotspiel ausmachen, mit einem Bild eröffnet, welches einen Gauklerdarstellt, der Kunststücke vorführt, ist wirklich erstaunlich! Wie soll mandies erklären?

Das erste Arcanum, das allen anderen 21 Großen Arcana des Tarotzugrundeliegende Prinzip, ist dasjenige der Beziehung zwischen persönlicherBemühung und spiritueller Wirklichkeit. Es nimmt den ersten Platz in derReihe ein, weil, wenn man es nicht verstanden, d. h. nicht in der Praxis vonErkenntnis und Verwirklichung begriffen hat, man nicht weiß, was mit denanderen Arcana anzufangen ist. Denn der Gaukler ist berufen, die praktischeMethode, die sich auf alle anderen Arcana bezieht, zu enthüllen. Er ist „dasArcanum der Arcana“ in dem Sinne, daß er enthüllt, was man wissen und

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können muß, um in die Schule der geistigen Übungen, welche dasTarotspiel in seiner Gesamtheit darstellt, einzutreten, damit man darauseinigen Nutzen ziehen kann.

In der Tat kann das erste und grundlegende Prinzip der Esoterik, d. h.des Weges. der Erfahrung der Wirklichkeit des Geistes, wiedergegebenwerden durch die Formel:

„Lernt zuerst Konzentration ohne Anstrengung; wandelt die Arbeit umin Spiel; sorgt dafür, daß jedes Joch, das ihr angenommen habt, sanft, undjede Bürde, die ihr tragt, leicht sei!“

Dieser Rat oder dieses Gebot oder diese Warnung (wie Sie wollen) istsehr ernst und wird durch seine ursprüngliche Quelle bestätigt, nämlichdurch die Worte des Meisters:

„Denn mein Joch ist sanft, und meine Last leicht.“ (Mt 11, 30).

Prüfen wir nun nacheinander diese drei Teile der Formel, um in das Arcanumder „aktiven Entspannung“ oder der „Anstrengung ohne Anstrengung“eindringen zu können.

1. „Lernt zuerst Konzentration ohne Anstrengung.

Worin liegt der praktische und theoretische Sinn dieser Formel?Konzentration als Fähigkeit, das Höchstmaß an Aufmerksamkeit auf einMindestmaß an Raum festzulegen (Goethe sagt, wer etwas Treffliches leistenwill, „der sammle still und unerschlafft im kleinsten Punkt die größte Kraft“),ist praktisch der Schlüssel für den Erfolg auf jedem Gebiet. Die modernePädagogik und Psychotherapie, die Schulen des Gebets und der geistlichenÜbungen der Franziskaner, Karmeliter, Dominikaner und Jesuiten, dieokkultistischen Schulen aller Art und endlich der alte Yoga der Hindus – alleMethoden stimmen darin überein.

Patanjali formuliert in seinem klassischen Buch über den Yoga im erstenSatz das praktische und theoretische Wesen des Yoga – das „erste Arcanum“oder den Schlüssel zum Yoga – wie folgt:

„Yoga citta vritti nirodha – Yoga ist die Unterdrückung der Eigenregungender Denksubstanz“‘ oder mit anderen Worten: die Kunst der Konzentration.

Denn die Eigenregungen (vritti) der mentalen Substanz (citta) findenautomatisch statt. Dieser Automatismus in den Bewegungen des Denkens undder Vorstellung ist das Gegenteil von Konzentration. Nun ist dieKonzentration nur möglich um den Preis und unter der Bedingung der Ruheund des Schweigens des Automatismus im Denken und Vorstellen.

Das „Schweigen“ geht also dem „Wissen“, „Können“ und „Wagen“ voraus.Darum schreibt die pythagoräische Schule den Anfängern oder „Zuhörern“ein Schweigen von fünf Jahren vor. Man wagte erst zu sprechen, wenn manwußte und konnte, nachdem man die Kunst des Schweigens gemeistert hatte, d.h. die Kunst der Konzentration.

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Das Vorrecht des „Sprechens“ gehörte denen, die nicht mehr automatischsprachen, bewegt durch das Spiel des Intellekts und der Vorstellung, sonderndie es unterdrücken konnten dank der Praxis des inneren und äußerenSchweigens und die wußten, was sie sagten – ebenfalls dank derselben Praxis.Das von den Trappistenmönchen praktizierte und während der Zeit der„Exerzitien“ allgemein für alle Teilnehmer

vorgeschriebene „Silentium – Schweigen“ ist nur die Anwendungderselben Wahrheitsregel: „Yoga ist die Unterdrückung der Eigenregungender Denksubstanz“, oder: „Konzentration ist das gewollte Schweigen desintellektuellen und Vorstellungs-Automatismus.“

Es gilt indessen, zwei Arten von Konzentration zu unterscheiden, diewesentlich verschieden sind. Die eine ist die uneigennützige (sachbezogene)Konzentration und die andere die eigennützige (ichbezogene) Konzentration.Die erste wird einem von unterjochenden Leidenschaften, Besessenheiten undBindungen freien Willen verdankt, während die andere dagegen gerade dasErgebnis einer dominierenden Leidenschaft, Besessenheit oderGebundenheit ist. Ein Mönch in der Sammlung beim Gebet und ein rasenderStier sind, einer wie der andere, konzentriert – aber der eine ist es imFrieden der Sammlung, während der andere fortgerissen wird durch die Wut.Auch starke Leidenschaften bringen also ein hohes Maß an Konzentrationhervor. So entwickeln die Gierigen, die Geizhälse, die Hochmütigen unddie Menschen mit Wahnvorstellungen manchmal eine bemerkenswerteKonzentration. In Wahrheit ist es aber wohl kaum Konzentration, sonderneher Besessenheit, um die es sich bei ihnen handelt.

Die wahre Konzentration ist eine freie Tat im Lichte und im Frieden. Siesetzt einen uneigennützigen und leidenschaftslosen Willen voraus, dennder Zustand des Willens ist der bestimmende und entscheidende Faktor beider Konzentration. Darum fordert z. B. der Yoga die Übung des Yama –die fünf Regeln des moralischen Verhaltens – und des Niyama – die fünfRegeln der Abtötung – vor der Vorbereitung des Körpers für dieKonzentration (Atmung und Stellungen) und der Übung der drei Stufen derKonzentration selbst (dharana, dhyana und samadhi – Konzentration,Meditation und Kontemplation).

Sowohl der hl. Johannes vom Kreuz als auch die hl. Teresa von Ávilawerden nicht müde zu wiederholen, daß die für das spirituelle Gebetnotwendige Konzentration die Frucht der moralischen Läuterung desWillens ist.

Es ist also unnütz, sich Mühe zu geben, um sich zu konzentrieren, wennder Wille von etwas anderem eingenommen ist. Die „Eigenregungen derDenksubstanz“ werden niemals zur Ruhe gebracht werden können, wenn derWille ihr nicht seine eigene Ruhe mitteilt. Der schweigende Wille ist es,welcher das Schweigen des Denkens und Vorstellens in der Konzentrationbewirkt. Darum sind die großen Asketen auch die großen Meister derKonzentration.

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Das alles ist einleuchtend und selbstverständlich. Was uns indessen hierbeschäftigt, ist nicht allein die Konzentration im allgemeinen, sondern vorallem und im besonderen die „Konzentration ohne Anstrengung“. Worinbesteht sie?

Betrachten Sie den Seiltänzer. Er ist augenscheinlich völlig konzentriert, dennwenn er es nicht wäre, würde er zur Erde fallen. Sein Leben steht auf dem Spiel,und nur die vollkommene Konzentration kann es bewahren.

Glauben Sie indessen, daß sein Denken und Vorstellen mit dem beschäftigt sind,was er tut? Glauben Sie, daß er überlegt und daß er berechnet, daß er sichvorstellt und daß er plant bei jedem Schritt, den er auf dem Seil tut? – Er würdesofort herunterfallen! Er muß alle Tätigkeit des Intellekts und derVorstellungskraft ausschalten, um den Sturz zu verhüten. Er muß die„Eigenregungen der Denksubstanz“ unterdrückt haben, um seinen Beruf ausübenzu können. Die Intelligenz seines rhythmischen Systems – Atmung und Kreislauf –ersetzt während seiner akrobatischen Übungen diejenige des Gehirns. Es handeltsich vom Standpunkt des Intellekts und der Vorstellung aus in letzterKonsequenz um ein Wunder, analog dem des hl. Dionysius, des Apostels vonGallien und ersten Bischofs von Paris, den die Überlieferung mit dem hl.Dionysius dem Areopagiten, dem Schüler des hl. Paulus, gleichsetzt. Ihmwurde nämlich der Kopf mit einem Beil abgeschlagen vor dem Bild des GottesMerkur. Gleich darauf erhob sich aber der Heilige, nahm seinen Kopf in seineHände und ging unter der Führung eines Engels den langen Weg vom Hügel desMontmartre bis zu dem Ort, wo nach seiner eigenen Wahl und der göttlichenVorsehung heute seine Gebeine ruhen. Nun hat auch der Seiltänzer seinen Kopf,d. h. Intellekt und Vorstellung, abgeschnitten für die Zeit der Ausübung seinesBerufes; auch er geht von einem Punkt zum anderen, indem er seinen Kopf inden Händen trägt, unter der Führung einer anderen Intelligenz als der desKopfes, welche durch das rhythmische System des Körpers handelt.

Für den Seiltänzer, den Jongleur, den „Gaukler“ sind Kunst undGeschicklichkeit im Grunde genommen analog dem Wunder des hl.Dionysius, weil es sich bei ihnen, wie beim hl. Dionysius, um die Verlegung desleitenden Bewußtseinszentrums vom Kopf in die Brust, vom Gehirnsystem zumrhythmischen System handelt.

Nun ist auch die Konzentration ohne Anstrengung die Verlegung desleitenden Zentrums des Gehirns in das rhythmische System – von dem Bereichdes Mentalen und der Vorstellung in denjenigen der Moralität und des Willens.Der große Hut in Form der Lemniskate, welcher den Kopf des Gauklers bedeckt,zeigt ebenso wie seine Haltung der vollkommenen Leichtigkeit diese Verlegungan. Denn die Lemniskate (die horizontale Acht ) ist nicht allein das Symbolder Unendlichkeit, sondern auch das von Rhythmus, Atmung und Zirkulation; sieist das Symbol des ewigen Rhythmus, der Ewigkeit des Rhythmus.

Der „Gaukler“ repräsentiert also den Zustand der Konzentration ohneAnstrengung, d. h. den Zustand des Bewußtseins, in dem das leitende Zentrumdes Willens „herabgestiegen“ ist (in Wirklichkeit hat es sich „erhoben“) vornGehirn in das rhythmische System und in dem die „Eigenregungen der

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Denksubstanz“, weil sie zum Schweigen und zur Ruhe gebracht sind, nichtmehr die Konzentration hindern.

Die „Konzentration ohne Anstrengung“, d. h., wo es nichts zu unterdrückengibt und die Sammlung ebenso natürlich wird wie die Atmung und dasSchlagen des Herzens, ist der Zustand des Bewußtseins – des Denkens, derVorstellung, des Gefühls und des Willens – in vollkommener Ruhe, begleitetvon völliger Entspannung der Nerven und der Muskeln des Körpers. Sie istdas tiefe Schweigen der Wünsche, der Sorgen, der Vorstellungen, derErinnerung und des diskursiven Denkens. Man könnte sagen, daß der ganzeMensch wie die Oberfläche ruhiger Wasser geworden ist, welche dieGegenwart des unermeßlichen Sternenhimmels und seine unaussprechlicheHarmonie spiegelt. Und die Wasser sind tief, wie tief sie sind! Und dasSchweigen wächst, wächst immer mehr, welch ein Schweigen! SeinAnwachsen geschieht in regelmäßigen Wellen, welche eine nach der anderenIhr ganzes Wesen durchströmen: eine Welle des Schweigens, gefolgt voneiner anderen, tieferen Welle des Schweigens, dann eine noch tiefere Welle desSchweigens ... Haben. Sie schon einmal das Schweigen getrunken? Wenn ja,wissen Sie, was „Konzentration ohne Anstrengung“ ist. Im Anfang sind esAugenblicke, dann Minuten, dann Viertelstunden, die das völlige Schweigenoder die „Konzentration ohne Anstrengung“ währt. Im Laufe der Zeit wirddas Schweigen oder die „Konzentration ohne Anstrengung« zum immergegenwärtigen Grundelement im Leben der Seele. Es ist wie derununterbrochene Gottesdienst in der Kirche Sacre-Cœur von Montmartre,währenddessen man in Paris arbeitet, Handel treibt, sich vergnügt, schläft,stirbt ... So ist es, als ob ein ununterbrochener Dienst des Schweigens sich inder Seele vollzieht und sich fortsetzt, selbst wenn man tätig ist, wenn manarbeitet, und wenn man sich unterhält.

Wenn diese „Zone des Schweigens“ sich einmal hergestellt hat, können Siedaraus schöpfen sowohl für die Ruhe wie für die Arbeit. Sie besitzen dannnicht nur die „Konzentration ohne Anstrengung“, sondern auch die Tätigkeitohne Anstrengung, und das ist genau das, was der zweite Teil unserer Formelsagen will:

2. „Wandelt die Arbeit um in Spiel.“Die Veränderung der Arbeit, die von einer Fron zum Spiel wird, vollzieht

sich infolge der Anwesenheit der „Zone des Schweigens“, aus welcher mandurch eine Art intimer verborgener Atmung jene Lieblichkeit und Frischeschöpft, die der Arbeit eine Weihe gibt und sie in ein Spiel umwandelt. Denndie „Zone des Schweigens“ bedeutet nicht allein, daß die Seele sich imInnersten in einem Zustand des Wohlbehagens befindet, sondern auch und vorallem, daß sie im Kontakt mit dem Himmel, d. h. der geistigen Welt, ist, die mitihr zusammenarbeitet. Derjenige, der das Schweigen in der Einsamkeit der„Konzentration ohne Anstrengung“ findet, ist niemals allein. Er trägt niemalsallein die Lasten, die er zu tragen hat; die Kräfte des Himmels, die Kräftevon oben nehmen fortan daran teil.

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3. So wird die Wahrheit, die im dritten Teil der Formel ausgedrückt ist:

„Sorgt dafür, daß jedes Joch, das ihr angenommen habt, sanft und daßalle Last, die ihr tragt, leicht sei“,

zur Erfahrung. Denn Schweigen ist das Zeichen eines wirklichen Kontaktesmit der geistigen Welt, und dieser Kontakt erzeugt immer einen Zustrom vonKräften. Dies ist die Grundlage aller Mystik, aller Gnosis, aller Magie undaller praktischen Esoterik überhaupt.

Alle praktische Esoterik ist auf folgende Regel gegründet:Man muß in sich selbst eins sein („Konzentration ohne Anstrengung“) und

zugleich einig sein mit der geistigen Welt (die Zone des Schweigens inseiner Seele haben), damit eine offenbarende oder verwirklichende geistigeErfahrung stattfinden kann. Mit anderen Worten: wenn man irgendeineForm echter Esoterik praktizieren will, sei es Mystik, Gnosis oder Magie,muß man „Gaukler“ sein: konzentriert ohne Anstrengung, mit einerLeichtigkeit wirkend, als ob man spiele und handelnd mit vollkommenerRuhe.

Das ist die praktische Unterweisung des ersten Arcanums des Tarot. Es istder erste Rat, das erste Gebot und die erste Warnung für die ganzespirituelle Praxis; es ist das Alpha des „Alphabets” der praktischen Regelnder Esoterik. Und so wie alle Zahlen nur Bruchteile der Einheit sind, ebensosind die übrigen praktischen Regeln, die durch die anderen Arcana des Tarotgelehrt werden, nur Aspekte und Modalitäten dieser Grundregel.

Das ist die praktische Unterweisung des „Gauklers“.Welches ist die theoretische Unterweisung?Sie entspricht in jedem Punkt der praktischen Unterweisung, da die

theoretische Arbeit nur der mentale Aspekt der praktischen Arbeit ist. So wiedie letztere aus der „Konzentration ohne Anstrengung“ hervorgeht, d. h. dieEinheit in die Praxis umsetzt, ebenso besteht ihr theoretisches Gegenstück inder Grundeinheit der natürlichen Welt, der menschlichen Welt und dergöttlichen Welt. Das Dogma von der Grundeinheit der Welt spielt dieselbewesentliche Rolle für alle Theorie, wie die Konzentration für alle Praxis. Wiedie Konzentration die Grundlage für allen praktischen Erfolg ist, so ist es dasDogma von der Grundeinheit der Welt in Hinsicht auf alle Erkenntnis –ohne sie ist keine Erkenntnis denkbar.

Das Dogma der Einheit des Wesens von allem, was existiert, geht jedemErkenntnisakt voraus, und jeder Erkenntnisakt setzt das Dogma von derEinheit der Welt voraus. Das Ideal oder das letzte Ziel aller Philosophieund aller Wissenschaft ist die Wahrheit. Aber „Wahrheit“ hat keinenanderen Sinn als den der Reduktion der Vielheit der Erscheinungen auf diewesensmäßige Einheit – von den Tatsachen zu den Gesetzen, von denGesetzen zu den Prinzipien, von den Prinzipien zum Wesen oder zumSein.

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Alles mystische, gnostische, philosophische und wissenschaftlicheSuchen und Forschen nach der Wahrheit postuliert die Existenz diesesDogmas, d. h. die Grundeinheit der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen inder Welt. Ohne diese Einheit wäre nichts erkennbar. Wie könnte manfortschreiten vorn Bekannten zum Unbekannten – und genau das ist dieMethode des Fortschrittes in der Erkenntnis –, wenn das Unbekannte mitdem Bekannten nichts zu tun hätte; wenn das Unbekannte mit dem Be-kannten keinerlei Verwandtschaft hätte und wenn es ihm absolut undessentiell fremd wäre? Wenn wir sagen, daß die Welt erkennbar ist, d. h.,daß es Erkenntnis als solche gibt, erklären wir durch eben diese Tatsache dasDogma von der essentiellen Einheit der Welt oder ihre Erkennbarkeit. Wirerklären, daß die Welt kein Mosaik ist, in welchem eine Vielzahl vonWelten, die einander völlig wesensfremd sind, zusammengefügt ist, sonderndaß sie ein Organismus ist, bei dem alle Teile vom gleichen Prinzipbeherrscht werden, das sie offenbaren und auf das sie sich zurückführenlassen. Die Verwandtschaft aller Dinge und aller Wesen ist die unbedingteVoraussetzung, die „conditio sine qua non“, ihrer Erkennbarkeit.

Nun hat die uneingeschränkt anerkannte Verwandtschaft aller Dingeund aller Wesen eine Erkenntnismethode hervorgebracht, die dem genauentspricht. Sie ist allgemein bekannt als „Methode der Analogie“. DieAnalogie ist kein Dogma oder Postulat, wie es die essentielle Einheit derWelt ist, sondern sie ist die erste und grundlegende Methode (das Alpha imAlphabet der Methoden), deren Gebrauch es möglich macht, in derErkenntnis Fortschritte zu machen. Sie ist der erste aus dem Dogma deruniversalen Einheit gezogene Schluß: weil auf dem Grunde derMannigfaltigkeit der Phänomene sich ihre Einheit auf solche Weise findet,daß sie zugleich verschieden und eins sind, sind sie weder identisch nochheterogen, sondern analog, insofern sie ihre Wesensverwandtschaftbekunden.

Die traditionelle Formel, welche die Methode der Analogie zumAusdruck bringt, ist allgemein bekannt. Sie findet sich im ersten Vers der„Tabula Smaragdina“ des Hermes Trismegistos:

„Quod est inferius, est sicut quod est superius, et quod est superius, estsicut quod est inferius ad perpetranda miracula Rei Unius.”

„Was unten ist, ist wie das, was oben ist, und was oben ist, ist wie das,was unten ist, um das Wunder der Einheit zu vollbringen.“

Dies ist die klassische Formel der Analogie für alles, was im Raumexistiert: oben und unten. Die Formel der Analogie, auf die Zeit angewandt,würde lauten:

„Quod fuit est sicut quod erit et quod erit est sicut quod fuit, ad perpetrandamiracula aeternitatis“.

„Was war, ist wie das, was sein wird, und was sein wird, ist wie das, waswar, um die Wunder der Ewigkeit zu vollbringen.“

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Die Formel der Analogie, auf den Raum angewandt, ist die Grundlage destypologischen Symbolismus, d. h. der Symbole, welche die Entsprechungenzwischen den Urbildern oben und ihren Manifestationen unten ausdrücken;die Formel der Analogie, auf die Zeit angewandt, ist die Grundlage desmythologischen Symbolismus, d. h. der Symbole, welche die Entsprechungenzwischen den Archetypen in der Vergangenheit und ihren Manifestationen inder Gegenwart ausdrücken: so ist der „Gaukler“ ein typologisches Symbol.Es enthüllt uns das Urbild des Geistesmenschen. Adam und Eva, Kain und Abelund, wenn Sie wollen, auch das „Schisme d’Irschou“ von Saint-Yvesd’Alveydre dagegen sind Mythen: sie enthüllen die Archetypen, die sichimmer wieder in der Geschichte und in jeder individuellen Biographieoffenbaren – sie sind mythologische Symbole, die dem Bereich der Zeitangehören.

Diese beiden Kategorien des Symbolismus, gegründet auf die Analogie,bilden durch ihre gegenseitige Beziehung ein Kreuz:

Hans Leisegang, Verfasser des klassischen Buches über die Gnosis, schreibtüber den Mythos, d. h. nach unserer Definition über den Symbolismus der Zeitoder den historischen Symbolismus: „Jeder Mythos drückt in der Form derErzählung eines einzelnen Falles eine ewige Idee aus, die von dem, der dieHandlung mit durchlebt, hinter ihr intuitiv erkannt wird.“‘ Marc Haven sagtüber die typologischen Symbole im Kapitel über den Symbolismus in seinemnachgelassenen Werk „Le Tarot“:

„Unsere Empfindungen, Symbole äußerer Bewegungen, gleichen ihnen (d. h.den Phänomenen) nicht mehr, als die Wellen des Sandes in der Wüste dem Windegleichen, der ihn zu Hügelchen emporstaut, nicht mehr, als Flut und Ebbedes Meeres den vereinten Bewegungen von Sonne und Mond gleichen. Siesind die Symbole davon ... Die Ansicht von Kant, Hamilton und Spencer, diedie inneren Bewegungen auf einfache Symbole einer verborgenen Realitätzurückführen, ist vernünftiger und wahrer (als der naive Realismus – Anm.des Verfassers). Die Wissenschaft selbst muß sich damit begnügen, nur ein sichseiner selbst bewußter Symbolismus zu sein ... Aber die Symbolik hat eineganz andere Bedeutung. Wissenschaft der Wissenschaften, wie sie die Altennannten (Decourcelle, Traité des Symboles, Paris 1806), universale undgöttliche Sprache, verkündigt und bezeugt sie die Hierarchie der Formenvon der Welt der Archetypen an bis zur materiellen Welt, die Beziehungen, diesie vereinen; sie ist, mir einem Wort, der lebende und greifbare Beweis derSolidarität der Wesen.“’

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Das sind also zwei Definitionen der Symbole der Zeit oder der Mythenund derjenigen des Raumes oder der Entsprechung der Welten „von derWelt der Archetypen bis zur materiellen Welt“ – die eine formuliert von einemdeutschen Gelehrten in Leipzig im Jahre 1924, die andere von einemfranzösischen Hermetiker in Lyon im Jahre 1906 –, die genau die Ideen überdie beiden Arten der Symbolik – der mythologischen und der typologischen –ausdrücken, welche wir soeben vorgebracht haben.

Die „Tabula Smaragdina“ bezieht sich nur auf den typologischenSymbolismus oder den des Raumes, die Analogie zwischen dem, was„oben“ und dem, was „unten“ ist. Darum muß man ihr zur Erweiterung diekorrespondierende Formel hinzufügen, die sich auf den mythologischenSymbolismus oder den der Zeit bezieht, den wir z. B. im Buch Genesis finden.

Der Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Symbolik ist nichtganz ohne praktische Bedeutung. Ihrer Verwechslung muß man mehrereIrrtümer bei der Interpretation der alten Quellen zuschreiben, einschließlichder Bibel. So betrachten z. B. verschiedene Schriftsteller die biblischeErzählung von Kain und Abel als typologisches Symbol. Sie wollen darindie Symbole der „zentrifugalen und zentripetalen Kräfte“ usw. sehen.Indessen ist die Geschichte von Kain und Abel ein Mythos, d. h., sie drückt inder Form der Erzählung eines besonderen Falles eine „ewige“ Idee aus undbezieht sich infolgedessen auf die Zeit, die Geschichte, und nicht auf denRaum und sein Gefüge.

Sie zeigt uns, wie Brüder Todfeinde werden können aufgrund derTatsache, daß sie denselben Gott auf die gleiche Art anbeten. Damit wirdder Ursprung der Religionskriege aufgedeckt: ihre Ursache ist weder eineVerschiedenheit des Dogmas noch eine des Kultus oder Rituals, sonderneinzig und allein der Anspruch auf Gleichheit oder, wenn man so will, aufVerneinung der Hierarchie. Es ist dies auch die allererste Revolte, die es in derWelt gab, der Archetypus (das „Urphänomen“ Goethes) von allen späterenRevolutionen, die stattgefunden haben und die in der Menschheitszukunftstattfinden werden. Denn die eigentliche Ursache aller Kriege, aller Revolutionen– kurz: jeglicher Gewalttätigkeit – ist immer die gleiche: die Verneinung derHierarchie. Diese Ursache findet sich bereits keimhaft auf einem so hohen Niveauwie dem der gemeinsamen Anbetung desselben Gottes durch zwei Brüder, undgenau hierin liegt die erschütternde Offenbarung der Geschichte von Kain undAbel. Da Morde, Kriege und Revolutionen weiter stattfinden, bleibt die Geschichtevon Kain und Abel weiter gültig und aktuell; und da sie im Verlauf derJahrhunderte immer gültig und aktuell bleibt, ist sie ein Mythos, und zwar einMythos erster Ordnung.

Dasselbe gilt von den Erzählungen des Sündenfalles von Adam und Eva, vonder Sintflut und der Arche Noah, dem Turm zu Babel usw. Es sind Mythen, d. h.in erster Linie historische Symbole, die sich auf die Zeit beziehen, und keineSymbole, welche die Einheit der Welten im physischen, metaphysischen undmoralischen Raum ausdrücken. Der Sündenfall von Adam und Eva offenbartkein entsprechendes Ereignis in der göttlichen Welt im Schoße der Trinität.

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Er enthüllt auch nicht unmittelbar die metaphysische Struktur der archetypischenWelt. Er ist ein besonderes Ereignis der Geschichte der Erdenmenschheit, dessenBedeutung erst aufhören wird mit dem Ende der menschlichen Geschichte. Mitanderen Worten: er ist ein wahrer Mythos. Andererseits wäre es irrig, z. B. dieVision Ezechiels, die Merkabah, als einen Mythos anzusehen. Die Vision deshimmlischen Wagens ist eine symbolische Offenbarung der archetypischen Welt.Sie ist typologische Symbolik – was übrigens der Verfasser des Sohar sehr klargesehen hat, weswegen er die Vision des Ezechiel als zentrales Symbol derkosmischen Erkenntnis betrachtete – gemäß der Regel der Analogie, daß, was obenist, wie dasjenige ist, was unten ist. Denn der Sohar kennt diese Regel gut. Ermacht davon nicht nur einen stillschweigenden Gebrauch, sondern erwähnt sieauch ausdrücklich. So lesen wir im Sohar:

„Was oben ist, ist wie das, was unten ist: Wie die Tage des Oben erfüllt sindvon der Segnung des (himmlischen) Menschen, so sind die Tage hier untenerfüllt von der Segnung durch die Vermittlung des Menschen (des Gerechten).“

Indien hat ebenfalls seine Version der hermetischen Maxime. So spricht dieVishvasâra Tantra die Formel aus:

„Was hier ist, ist auch anderswo. Was hier nicht ist, ist nirgends.“

Der Gebrauch der Analogie beschränkt sich indessen nicht nur auf die„verfemten Wissenschaften“ – Magie, Astrologie und Alchimie – und auf diespekulative Mystik. Er ist in Wahrheit allgemein.

Denn weder Philosophie noch Theologie noch auch Naturwissenschaftkönnen ohne sie auskommen.

In der Logik, welche die Grundlage der Philosophie und der Wissenschaftenist, spielt die Analogie folgende Rolle:

1. Das Verfahren der Klassifikation der Dinge aufgrund ihrer Ähnlichkeit istder erste Schritt auf dem Weg des Forschens mittels der induktiven Methode. Essetzt die Analogie der Dinge, die zu klassifizieren sind, voraus.

2. Die Analogie (der Analogieschluß) kann die Grundlage von Hypothesenbilden. So geht die berühmte Urnebelhypothese von Laplace auf die Analogiezurück, welche er in der Richtung der kreisförmigen Bewegung der Planeten unidie Sonne, der Bewegung der Trabanten um die Planeten und der Drehung derPlaneten um ihre Achse beobachtete. Er schloß also von der sich in diesenBewegungen äußernden Analogie auf ihren gemeinsamen Ursprung.

3. John Maynard Keynes sagt: „Die wissenschaftliche Methode strebthauptsächlich nach Mitteln, uni die bekannte Analogie so weit zu steigern,daß wir die reine Induktion möglichst entbehren können.

Nun beruht die „reine Induktion“ auf einer einfachen Aufzählung; sie ist imwesentlichen nur ein Schluß auf der Grundlage von statistisch erfaßtenempirischen Daten. Danach würde man z. B. sagen: Da Johann ein Mensch istund gestorben ist, da Peter ein Mensch ist und gestorben ist, da Michael ein

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Mensch ist und gestorben ist usw., ist der Mensch sterblich. Die Stärke diesesArgumentes hängt ab von der Zahl oder Quantität der durch Erfahrungbekannten Tatsachen. Die Methode der Analogie dagegen fügt der Quantitätdas qualitative Element hinzu, das von inhaltlicher Tragweite ist.

Hier ein Beispiel für einen Analogieschluß: Andreas ist aus Materie, Energieund Bewußtsein gebildet. Da die Materie nicht mit seinem Tode verschwindet,sondern lediglich ihre Form wechselt; da die Energie nicht verschwindet,sondern nur die Art ihrer Aktivität ändert, kann auch das Bewußtsein vonAndreas nicht einfach verschwinden, sondern es muß seine Form und seine Artoder Ebene der Aktivität ändern. Also ist Andreas unsterblich.

Dieses Argument beruht auf der Formel des Hermes Trismegistos: Wasunten ist (Materie, Energie), ist wie das, was oben ist (Bewußtsein). Wenn es alsoein Gesetz von der Erhaltung der Materie und der Energie gibt (obwohl dieMaterie sich in Energie umwandelt und umgekehrt), so muß notwendigerweiseauch ein Gesetz bestehen von der Erhaltung des Bewußtseins oder von derUnsterblichkeit.

Nach Keynes ist es das Ideal der Wissenschaft, Mittel zu finden, um dieTragweite von bekannten Analogien so weit zu treiben, bis man ohne diehypothetische Methode der reinen Induktion auskommen kann, d. h., bisman in der Lage ist, die wissenschaftliche Methode in reine Analogieumzuwandeln, die auf reiner Erfahrung beruht ohne hypothetische Elemente,wie sie der reinen Induktion immanent sind. Dank der Methode derAnalogie macht die Wissenschaft ihre Entdeckungen (indem sie vomBekannten zum Unbekannten fortschreitet), bildet sie ihre fruchtbarenHypothesen und verfolgt sie ein leitendes methodisches Ziel. Die Analogie istihr Anfang und Ende, ihr Alpha und Omega.

In der spekulativen Philosophie und der Metaphysik kommt der Analogiedieselbe Rolle zu. Alle Schlußfolgerungen von metaphysischer Tragweiteberuhen einzig und allein auf der Analogie, d.h. der Entsprechung vonMensch, Natur und der intelligiblen oder metaphysischen Welt. So bedienensich die beiden Hauptautoritäten der methodischsten und diszipliniertestenPhilosophie – der mittelalterlichen Scholastik –, der hl. Thomas von Aquinund der hl. Bonaventura (der eine Repräsentant des Aristotelismus und derandere Vertreter des Platonismus in der christlichen Philosophie), nicht nur derAnalogie, sondern sie weisen ihr auch eine sehr wichtige theoretische Rollein ihren Lehren zu. Der hl. Thomas stellt die Lehre von der „Analogia entis –der Analogie des Seins“ auf, die der Hauptschlüssel seiner Philosophie ist. Derhl. Bonaventura interpretiert in seiner Lehre von der „Signatura rerum“ dieganze sichtbare Welt als Symbol der unsichtbaren Welt. Für ihn ist diesichtbare Welt nur eine andere Heilige Schrift, eine andere Offenbarung nebenderjenigen, die in der eigentlichen Heiligen Schrift enthalten ist:

„Et sic patet quod totus mundus est sicut unum speculum plenum luminibuspraesentantibus divinam sapientiam, et sicut carbo effundens lucem.

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„Und so ist offenbar, daß die ganze Welt wie ein einziger Spiegel ist, vollvon Lichtern, die die göttliche Weisheit darstellen, und wie einelichtsprühende Kohle.“

Nun sind der hl. Thomas und der hl. Bonaventura durch Sixtus V. im Jahre1588 und von neuem 1879 durch Leo XIII. feierlich erklärt worden als:

„duae olivae et duae candelabra in domo Dei lucentia – zwei Ölbäumeund zwei strahlende Leuchter im Hause Gottes“.

Sie sehen also, lieber Unbekannter Freund, daß wir, Sie und ich, stolzunseren Glauben an die Analogie bekennen und mit lauter Stimme die Formelder von der Tradition geweihten „Tabula Smaragdina“ verkünden können,ohne damit der Philosophie, der Wissenschaft und den öffentlichen Lehren derKirche gegenüber als untreu zu erscheinen. Wir können es mit gutemGewissen tun als Philosophen, als Gelehrte und als Katholiken. Es ist vondiesen drei Standpunkten aus nichts dagegen einzuwenden.

Die der Analogie erteilte Bestätigung kommt damit aber noch nicht anein Ende! Der Meister selbst hat sie ihr gegeben durch den Gebrauch, dener von ihr gemacht hat. Sowohl die Gleichnisse als auch der Schluß „afortiori“, dessen er sich in seinem Zeugnis bediente, zeigen es. DieGleichnisse, welche „Symbole ad hoc“ sind, wären ohne Sinn und Nutzen,wenn sie nicht Aussagen analoger Wahrheiten wären in der Sprache derAnalogie und wenn sie nicht an den Sinn der Analogie appellierten.

Was den Schluß „a fortiori – erst recht“ betrifft, so besteht seine ganzeKraft in der Analogie, die seine Grundlage ist. Hier ein Beispiel für einenSchluß „a fortiori“, das der Meister gebraucht:

„Wer von euch wird, wenn ihn sein Sohn um Brot bittet, ihm einen Steingeben? Oder wenn er ihn um einen Fisch bittet, wird er ihm eine Schlangegeben? Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu gebenwißt, wieviel mehr wird euer Vater im Himmel denen Gutes geben, die ihnbitten.“ (Mt 7, 9ff).

Hier haben wir die Analogie der menschlich-irdischen Elternschaft undder himmlisch-göttlichen Elternschaft, auf der die Kraft des Schlusses „afortiori“ oder des „wieviel mehr“ beruht, den Schluß von derunvollkommenen Erscheinung auf ihr ideales Urbild. Die Analogie desirdischen Vaters und des himmlischen Vaters ist dabei das Wesentliche.

An diesem Punkt kann bei dem gewissenhaften Leser ein Gefühl desUnbehagens auftauchen: es sind zwar viele Argumente und Autoritäten zurStütze der angeführten Methode der Analogie dargeboten, aber wie verhält essich mit den Argumenten gegen diese Methode, gegen ihre Schwächen undRisiken?

Ohne Umschweife und in aller Offenheit muß zugegeben werden, daßdie Methode der Analogie viele negative Seiten, viele schwerwiegendeGefahren, Irrtümer und Illusionen mit sich bringen kann. Das rührt daher,daß sie ganz auf Erfahrung beruht und jede oberflächliche, unvollständige oder

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fehlerhafte Erfahrung zu genauso oberflächlichen, unvollständigen oderfehlerhaften Analogieschlüssen führen muß. So hat man z. B., als man sichzu schwacher Teleskope bediente, auf dem Mars „Kanäle“, geradefortlaufende Linien gesehen, und man hat mittels Analogie gefolgert, daßdiese „Kanäle“ künstlich sein müßten und daß folglich der Planet vonzivilisierten Wesen bewohnt wäre. Nun hat die spätere Vervollkommnungder Teleskope und der exakten Beobachtung gezeigt, daß die „Kanäle“ garnicht fortlaufend sind, sondern daß sie Unterbrechungen aufweisen und daßsie nicht geradlinig sind, wie es zunächst den Anschein hatte. Die Folgerungmittels Analogie hatte also in diesem Fall keinen Wert wegen derfehlerhaften Erfahrung, auf der sie basierte.

Hinsichtlich der okkulten Wissenschaften hat Gérard van Rijnberk eineTabelle der „astrologischen Entsprechungen des Tarot nach verschiedenenAutoren“ veröffentlicht. Dort entspricht z. B. das siebte Kartenbild „DerWagen“ dem Zeichen der Zwillinge (nach Etteila), des Schützen (nachFomalhaut), der Zwillinge (nach Shoral), des Schützen (nach einemanonymen Verfasser), dem Planeten Mars (nach Basilides), dem PlanetenVenus (nach Volguine), der Sonne (nach Ely Star), dem Zeichen Waage(nach Snijders), dem Planeten Venus (nach Muchety), dem Zeichen Krebs(nach Crowley) und dem Zeichen Zwillinge (nach Kurtzahn). Hier fälltdie Relativität der mit dem Mittel der Methode der Analogie gewonnenenEntsprechungen besonders deutlich ins Auge.

Dagegen hat sich die durch dieselbe Methode festgestellteÜbereinstimmung der Entsprechungen zwischen den Metallen und denPlaneten bei den antiken, mittelalterlichen und modernen Autoren erhalten.Die griechischen Astrologen des 4. Jahrhunderts v. Chr. nahmen, derbabylonischen Tradition folgend, wo das Gold der Sonne und dem GottEnli l und das Silber dem Mond und dem Gott Anu, fo lgendeEntsprechungen an: Gold-Sonne, Silber-Mond, Blei-Saturn, Zinn-Jupiter,Eisen-Mars, Kupfer-Venus und Quecksilber-Merkur“. DieseEntsprechungen, die auch von den Astrologen und Alchimisten desMittelalters angenommen wurden, sind noch heute von allen Autoren derokkulten Wissenschaften und der Hermetik (einschließlich Rudolf Steinersund der anderen anthroposophischen Autoren) anerkannt.

Ich erlaube mir, zur Frage der Allgemeingültigkeit dieser analogenEntsprechungen zwischen Planeten und Metallen zu erklären, daß in den 44Jahren meiner Studien und Erfahrungen auf diesem Gebiet auch ich durchkeine von ihnen dazu geführt wurde, das Bild besagter Entsprechungen inirgendeiner Weise zu verändern; im Gegenteil haben sie zahlreiche – direkteund indirekte – Beweise zur Bestätigung ihrer Wahrheit geliefert.

Man muß also folgern, daß die Methode der Analogie nicht unfehlbar ist,daß sie aber zur Entdeckung wesentlicher Wahrheiten führen kann. IhreBrauchbarkeit und ihr Wert hängen von dem Umfang und der Exaktheit derErfahrung ab, auf welcher sie beruht.

Kehren wir nun zum Arcanum „Der Gaukler“ zurück.

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Wie die Konzentration ohne Anstrengung ihren Ausdruck sowohl imgesamten Bild wie in all seinen Einzelheiten findet und das praktischeArcanum darstellt, findet sich dort auch die Methode der Analogieausgedrückt, welche das theoretische Arcanum darstellt. Denn auf derintellektuellen Ebene betrachtet, entspricht die Praxis der Methode derAnalogie in allem der Praxis der Konzentration ohne Anstrengung. Sieerscheint dort auch nicht als „Arbeit“, sondern vielmehr als „Spiel“.

Die Praxis der Analogie auf der intellektuellen Ebene erfordert in der Tatkeinerlei Anstrengung; entweder man bemerkt, „sieht“ die analogenEntsprechungen, oder man bemerkt, „sieht“ sie nicht.

Wie der „Gaukler“ oder „Jongleur“ sich üben und lange arbeiten muß,um die Fähigkeit der „Konzentration ohne Anstrengung“ zu erreichen, so mußauch derjenige, der sich der Methode der Analogie auf der intellektuellenEbene bedient, viel gearbeitet, d. h. eine lange Erfahrung gesammelt und dieLehren, die sie mit sich bringt, gezogen haben, bevor er die Fähigkeit derunmittelbaren Wahrnehmung der analogen Entsprechungen besitzt, bevor erein „Gaukler“, ein „Jongleur“ wird, der sich der Analogie der Wesen undder Dinge spielerisch und ohne Anstrengung bedient. Diese Fähigkeit bildeteinen wesentlichen Teil der Verwirklichung der Aufgabe, die der Meisterseinen Schülern eingeschärft hat: „Wahrlich, ich sage euch: Wer das ReichGottes nicht annimmt wie ein Kind, wird nicht hineingelangen.“ (Mk 10,15).

Das kleine Kind „arbeitet“ nicht, es spielt. Aber wie ernsthaft ist es, wiekonzentriert, wenn es spielt! Seine Aufmerksamkeit ist noch ganz ungeteilt,während sie bei demjenigen, der sich dem Reiche Gottes nähert, schon ganzund ungeteilt wird. Darin liegt das Arcanum der intellektuellen Genialität: dieSchau der Einheit der Wesen und der Dinge durch die unmittelbareWahrnehmung ihrer Entsprechungen; durch ein Bewußtsein, das ohneAnstrengung konzentriert ist.

Der Meister hat nicht gewollt, daß wir kindisch würden; was er wollte,ist, daß wir jene Genialität von Herz und Verstand erreichen möchten, diedem Verhalten des Kindes analog – nicht identisch – ist, eine Genialität,die nur sanfte Lasten trägt und alle Joche leicht macht.

Der Gaukler stellt den Menschen dar, der die Harmonie und dasGleichgewicht zwischen der Spontaneität des Unbewußten (in dem Sinne,den ihm C. G. Jung gibt) und der gewollten Handlung des Bewußtseins (imSinne des bewußten „Ich“) erreicht hat.

Sein Bewußtseinszustand ist die Synthese des Bewußten und desUnbewußten, der schöpferischen Spontaneität und der gewollten,ausführenden Tätigkeit. Es ist der Bewußtseinszustand, den diepsychologische Schule von C. G. Jung „Individuation“ nennt oder „Synthesedes Bewußten und des Unbewußten“ (der beiden Elemente derPersönlichkeit) oder ... „Synthese des Selbst“.

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Diese Synthese ermöglicht die Konzentration ohne Anstrengung und dieintellektuelle Schau ohne Anstrengung, welche die praktischen undtheoretischen Aspekte jeglicher Fruchtbarkeit sowohl auf praktischem wieintellektuellem Gebiet sind.

Friedrich Schiller scheint um dieses Arcanum gewußt zu haben, als er seineLehre von der Synthese zwischen dem intellektuellen Bewußtsein, dasschwere Lasten von Pflichten und Regeln auferlegt, und ... der instinktivenNatur des Menschen im „Spieltrieb“ aufstellte. Das „Wahre“ und das„Gewünschte“ sollen nach ihm ihre Synthese im „Schönen“ finden, denn nurim „Schönen“ macht der „Spieltrieb“ die Last des „Wahren“ oder„Gerechten“ leicht und erhebt gleichzeitig die Finsternis der instinktivenKräfte auf das Niveau des Bewußtseinslichtes. Mit anderen Worten,derjenige, der die Schönheit dessen sieht, was er als wahr erkannt hat,wird nicht verfehlen, es zu lieben – und indem er es liebt, verschwindet dasElement des Zwanges in der von dem Wahren vorgeschriebenen Pflicht:Pflicht wird zur Neigung. So verwandelt sich Arbeit in Spiel, und dieKonzentration ohne Anstrengung wird möglich.

Indem das erste Arcanum, das Arcanum der praktischen und theoretischenFruchtbarkeit, aber die Wirksamkeit des ernsthaften. Spieles (was der ganzeTarot ist) verkündet, enthält es zugleich eine ernste Warnung: es gibt Spielund Spiel; es gibt Gaukler und Gaukler. Wer darum fehlende Konzentrationmit „Konzentration ohne Anstrengung“ verwechselt und den Fluß voneinfachen gedanklichen Assoziationen mit der „Schau ohne Anstrengung“von analogen Entsprechungen gleichsetzt, wird notwendigerweise einScharlatan.

Das Arcanum des „Gauklers“ ist ein doppeltes; es hat zwei Aspekte: eslädt uns ein auf den Pfad, der zur Genialität führt, und es warnt uns vor derGefahr des Pfades, der in die Scharlatanerie mündet.

Ich möchte hinzufügen, daß oft – ach, nur allzuoft! – die Lehrer desOkkultismus beiden Pfaden zugleich folgen, und was sie lehren, enthältElemente des Genialen gemischt mit Elementen der Scharlatanerie. Mögedas erste Arcanum des Tarot uns daher immer als eine Art „Hüter derSchwelle“ gegenwärtig sein; möge es uns einladen, die Schwelle der Arbeit undBemühung zu überschreiten, um in die Handlung ohne Anstrengung und indie Erkenntnis ohne Anstrengung hineinzufinden; möge es uns aberzugleich auch darauf hinweisen, daß, je mehr wir jenseits der Schwellevorangehen, um so mehr Arbeit, Bemühung und Erfahrung diesseits derSchwelle unerläßlich sind, um die wirkliche Wahrheit zu erreichen. Mögeder „Gaukler“ uns sagen und es jeden Tag wiederholen:

„Wahrnehmen und wissen, versuchen und können sind verschiedeneDinge. Es gibt Luftspiegelungen und Trugbilder oben, wie esLuftspiegelungen und Trugbilder unten gibt; du weißt nur, was sich durch dieÜbereinstimmung aller Formen der Erfahrung in ihrer Gesamtheitbewahrheitet – Erfahrung der Sinne, moralische Erfahrung, psychische

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Erfahrung, übereinstimmende Erfahrung mit anderen Suchern derWahrheit, Erfahrung endlich derjenigen, deren Wissen die BezeichnungWeisheit verdient hat und deren Wollen durch die Würde der Heiligkeitgekrönt worden ist. Akademie und Kirche stellen die methodischen undmoralischen Bedingungen für denjenigen auf, der vorwärtskommen möchte.Erfülle sie streng, vor und nach jedem Flug in die Region oberhalb desBereiches der Arbeit und der Bemühung. Wenn du das tust, wirst du zumWeisen und Magier. Tust du es nicht, wirst du nur ein Scharlatan.“

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ANHANG ZUM 1. BRIEFHistorische Anmerkung über die „Tabula Smaragdina“

Hier folgt der lateinische Text der „Tabula Smaragdina“, der seit dem hl.Albert dem Großen bekannt ist:

Versio Tabulae Smaragdinae HermetisQualis ea vulgo Latino Idiomate, e Phoenicio expressa circumferetur.

Verba. secretorum Hermetis Trismegisti

1. Verum, sine ihendacio, certum et verissimum.2. Quod est inferius, est sicut (id) quod est superius, et quod est superius, est

sicut (id) quod est inferius, ad perpetranda miracula rei unius.3. Et sicut omnes res fuerunt ab uno, meditationel9 unius: sic omnes res natae

fuerunt ab hac una re, adaptatione20.4. Pater eius est Sol, mater eius Luna; portavit illud vertus in ventre suo;

nutrix eius terra est.5. Pater omnis thelesmi totius mundi est hic.6. Vis (virtus) eius integra est, si versa fuerit in terram.7. Separabis terram ab igue, subtile a spisso, suaviter cum magno ingenio.8. Ascendit a terra in caelum, iterumque descendit in terrain, et recipit vim

superiorum et inferiorum. Sic habebis gloriam totius mundi. Ideo fugiat(fugiet) a te omnis obscuritas.

9. Hic (Haec) est totius fortitudinis fortitudo fortin: quia vincet omnem remsubtilem, omnemque solidam21 penetrabit.

10. Sic mundus creatus est.11. Hinc adaptationes erunt mirabiles, quarum modus est hic.12. Itaque vocatus sum Hermes Trismegistos, habens tres partes Philosophiae

totius mundi.13. Completum est quod dixi de operatione Solis.

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1. Wahr, ohne Lüge, sicher und vollkommen wahrhaftig.2. ‘Was unten ist, ist wie das, was oben ist, und was oben ist, ist wie das,

was unten ist, um die Wunder des Einen zu vollbringen.3. Und wie alle Dinge aus Einem gewesen und gekommen sind durch

die Meditation des Einen, so sind alle Dinge von diesem Einen durchAnpassung geboren.

4. Sein Vater ist die Sonne, seine Mutter ist der Mond; der Wind hat esin seinem Schoß getragen; seine Ernährerin ist die Erde.

5. Der Vater von allem Grundwillen der ganzen Welt ist hier.6. Seine Kraft ist vollständig, wenn sie in die Erde umgewandelt sein

wird.7. Du wirst die Erde vom Feuer trennen, das Feine vom Groben, sanft,

mit großer Geschicklichkeit.8. (Der Grundwille) steigt von der Erde auf zum Himmel, und er steigt

wieder herab zur Erde, und er empfängt die Kraft der oberen und unterenDinge. Auf diese Weise wirst du den Ruhm der ganzen Welt erlangen.Darum wird alle Dunkelheit vor dir fliehen.

9. Dies ist die starke Kraft aller Kraft: denn sie wird alles Feine besiegenund alles Feste durchdringen.

10. So ist die Welt erschaffen worden.11. Daher wird es wunderbare Angleichungen geben, deren Art und Weise

sich hier findet.12. Darum bin ich Hermes Trismegistos genannt worden, weil ich die drei

Teile der Philosophie der ganzen Welt besitze.13. Erfüllt ist, was ich von dem Wirken der Sonne gesagt habe.

(Im Zusammenhang mit Interpretationen dieses Textes im Verlauf derfolgenden Meditationen finden sich verschiedene abweichende, aus demFranzösischen übertragene Übersetzungen des Autors.)

Da der obige Text im Westen erst seit Albert dem Großen(1193/1206-1280) bekannt ist und da kein anderer Text oder ein Manuskriptfrüheren Datums durch die Jahrhunderte hindurch gefunden werden konnte,waren die Historiker am Anfang dieses Jahrhunderts der Ansicht, daßAlbert der Große der Verfasser der „Tabula Smaragdina“ sei. Man hatte sievorher für eine Apokryphe gehalten, nicht allein hinsichtlich ihrer Echtheitals ein Werk des Hermes Trismegistos, sondern auch vorn Standpunkt ihrerinhaltlichen Echtheit als eine Schrift, die es verdient, in das „CorpusHermeticum“ aufgenommen zu werden – eine Sammlung apokrypher Texteder ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung, die einem unter dem Namen(oder Pseudonym) Hermes Trismegistos bekannten Verfasser zugeschriebenwerden. Nun ist der Text der „Tabula Smaragdina“ nicht in der als amvollständigsten betrachteten Ausgabe des „Corpus Hermeticum“ von WalterScottu enthalten. Scott schreibt folgendes:

„... es gibt eine Kategorie von Schriften, die über Astrologie, Magie,Alchimie und ähnliche Formen der Pseudo-Wissenschaften handeln ... die

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auch Hermes Trismegistos zugeschrieben werden ... eine Menge Schund.“Das Kriterium, dessen Scott sich bedient, um festzustellen, ob eine dem

Hermes Trismegistos zugeschriebene Schrift in das „Corpus Hermeticum“aufzunehmen ist oder nicht, besteht darin, ob sie religiöse undphilosophische Probleme behandelt oder solche der Natur („auf pseudo-wissenschaftliche Art“). Anders gesagt, gehören die Schriften, welcheProbleme der Religion und der Philosophie behandeln, zum „CorpusHermeticum“, während die anderen nicht würdig sind, dort aufgenommenzu werden. Indessen sagt Hermes selbst:

„Ich habe wohl im Auge, daß mehrere meiner Schriften an ihn (Ammon)gerichtet sind, und auch daß mehrere meiner Abhandlungen über die Natur ...an Thot gerichtet sind.“

Wie kann man sich erlauben, alle Schriften über die Naturzurückzuweisen und allein die Kategorie „an Ammon gerichtet“ alsauthentisch zu betrachten, wenn man von der Tatsache weiß, daß derVerfasser einer Schrift („Asclepius“), die man als authentisch in das„Corpus Hermeticum“ aufgenommen hat, ausdrücklich bekanntgegebenhat, daß er der Verfasser einer anderen Kategorie von Schriften ist, nämlichderjenigen, welche die Natur behandeln?

Was die „Tabula Smaragdina” betrifft, so fällt die Verwandtschaft derIdeen mit dem besagten „Asclepius“ ins Auge. So sagt z. B. Hermes:

„Die Luft dringt in die Erde und in das Wasser ein, und das Feuerdringt in die Luft ein. Nur was nach oben tendiert, gibt Leben, und wasnach unten tendiert, ist dem untergeordnet. Außerdem ist alles, was vonoben herabsteigt, zur Zeugung fähig, und was heraufsteigt und seinenUrsprung unten hat, ist ernährend. Die Erde, die allein ihren eigenen Platzbeständig bewahrt, empfängt alles, was zeugt, und gibt alles zurück, wassie erhalten hat.“

Warum sollen diese Ideen als „mehr religiös“ und „philosophisch“betrachtet werden als die der „Tabula Smaragdina“? Auch diese sprichtvon der Bewegung von unten nach oben und von der Zeugung durch denVater Sonne und die Mutter Mond, sowie von der ernährenden Aufgabe derErde!

Vielleicht kommt es daher, daß kein Text der „Tabula Smaragdina“ vordem 13. Jahrhundert gefunden wurde?

Nun veröffentlichen die „Heidelberger Akten der Von-Portheim-Stiftung“, IV, ein Werk von Julius Ruska, Tabula Smaragdina.

Dieses Buch enthält G. Bergsträssers Beschreibung eines Manuskriptes inarabischer Sprache. Es umfaßt 97 Blätter; 25 enthalten die Geschichte vonJoseph, 40 eine chemische Abhandlung, die als Zusammenfassung den Textder „Tabula Smaragdina“ enthält (in Arabisch, wie das ganzeManuskript), dann folgen 32 anderen Gegenständen gewidmete Blätter,namentlich Berichte über den Kalender des Propheten Daniel. Diechemische Abhandlung soll von einem Priester namens Sagijus von

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Nabulus geschrieben sein, deren Inhalt von Meister Balinas dem Weisen(welches der arabische Name für Apollonius von Tyana ist), herrühren soll,der es selbst in einem unterirdischen Gemach entdeckt haben will. Hier dieÜbersetzung des arabischen Textes der „Tabula Smaragdina“, wie sie sichin dem Manuskript von G. Bergsträssern findet:

„Über das, was der Priester Sagijus aus Nabulus über sein (d. h. desBalinas) Betreten der dunklen Kammer diktiert hat.

Als ich die Kammer betreten hatte, über welcher der Talisman angebrachtwar, gelangte ich zu einem Greis, auf einem Thron von Gold sitzend, inseiner Hand eine Tafel von Smaragd. Und siehe, es war Syrisch, in derUrsprache, darauf geschrieben:

1. Darin (ist) eine wahre Erklärung, an der man nicht zweifeln kann.2. Sie besagt: Das Oberste (kommt) vom Untersten, und das Unterste

vom Obersten, das Werk der Wunder von Einem.3. Und es haben sich die Dinge aus diesem Grundstoff durch ein einziges

Verfahren (gebildet). Wie wunderbar ist doch sein Werk! Er ist das Haupt(Prinzip) der Welt und ihr Erhalter.

4. Sein Vater ist die Sonne und seine Mutter der Mond; der Wind hatihn in seinem Leib getragen, und die Erde hat ihn ernährt.

5. (Er ist) der Vater der Talismane und Bewahrer der Wunder,6. Dessen Kräfte vollkommen, dessen Lichter bestätigt sind (?),7. Ein Feuer, das zu Erde wird. Nimm die Erde vom Feuer weg, so wird

dir das Feine anhaftender als das Grobe, mit Vorsicht und Weisheit.8. Er steigt von der Erde zum Himmel auf, um die Lichter von der Höhe

an sich zu reißen, und kommt (wieder) herab zur Erde, in- dem in ihm dieKraft des Obersten und des Untersten ist, weil mit ihm das Licht derLichter (ist), so daß vor ihm die Finsternis flieht.

9. (Er ist) die Kraft der Kräfte, die jedes feine Ding überwältigt und injedes grobe eindringt.

10.Gemäß dem Bau der großen Welt ist der Bau der kleinen Welt.11.Und danach verfahren die Gelehrten.12. Und darauf hat Hermes abgezielt, der dreifach mit Weisheit Begnadete.13. Und dies ist sein letztes Buch, das er in der Kammer verbarg.“

Julius Ruska ist aber nicht der einzige, der den arabischen Text der„Tabula Smaragdina“ entdeckt hat. Der Verfasser der „Alchimie“ gibt an, daßer einen gekürzten Text der „Tabula Smaragdina“ in Arabisch gefunden hat.Dieser Text gehört zu dem „Zweiten Buch über das Grundelement“ von Jabiroder Geber (722-815). Vor dieser Entdeckung, die 1923 gemacht wurde,kannte man nur den Text in mittelalterlichem Latein. Später wurde eineandere Variante in Arabisch von Ruska in einem dem Apolloniuszugeschriebenen Buch entdeckt: „Das Geheimnis der Schöpfung“. Jabir oderGeber erklärt selbst, indem er den Text der Tabula vorbringt, daß erApollonius zitiere. Nun hat Kraus nachgewiesen, daß „Das Geheimnis derSchöpfung“ wenigstens in seiner Endausgabe während des Kaliphats von Al-

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Ma’Mun (813-833) geschrieben wurde und daß es Parallelen aufweist miteinem zur selben Zeit geschriebenen Buch von Job von Edessa; dieser war einGelehrter, dessen Übersetzungen aus dem Syrischen in das Arabische das Lobeines so strengen Kritikers wie Hunain Ibn Ishaq hervorriefen. Es ist alsowahrscheinlich, daß, selbst wenn Job nicht „Das Geheimnis der Schöpfung“geschrieben hat, sowohl er als auch der Verfasser besagter Abhandlung ausälteren und identischen Quellen geschöpft haben. Kraus hat nachgewiesen, daßeine dieser Quellen die Schriften des Nemesius waren, eines Bischofs vonEmesa (Horns) in Syrien um die 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts. Nemesiusschrieb in Griechisch, aber sein Buch „Über die Natur des Menschen“ enthältdie Tabula nicht.

Zusammenfassend kann man schließen, daß die älteste bekannte Form derTabula, nämlich die in Arabisch, wahrscheinlich eine Übersetzung aus demSyrischen war, daß sie aber auch ein griechisches Original als Grundlagehaben kann. Ob dieses Original bis auf die Zeit von Apollonius zurückgeht,ist ein unlösbares Problem.

Der gegenwärtige Stand der historischen Forschung über die „TabulaSmaragdina“ ist daher folgender: Sie war als Übersetzung aus dem Syrischenin Arabien im Anfang des 9. Jahrhunderts bekannt; es existieren von ihr zweiarabische Varianten; nichts spricht gegen die arabische Überlieferung, nachwelcher die „Tabula Smaragdina“ aus dem Syrischen übersetzt wurde, undebenso spricht auch nichts gegen die Überlieferung, daß sie von Apolloniusherrührt.

Man kann hinzufügen: Wenn nichts dagegen spricht, daß sie vonApollonius herrührt, dann spricht auch nichts gegen die Überlieferung, daßApollonius seinerseits sie auf die von dem Priester Sagijus von Nabulusbeschriebene Art gefunden hat.

Wie dem auch sei, es ist zunächst gewiß, daß die Tabula bedeutend älterenUrsprungs ist, als man bis 1923 geglaubt hatte, und folglich ist Grundvorhanden, die Meinung nochmals zu überprüfen, nach der sie unwürdig sei, indas „Corpus Hermeticum“ aufgenommen zu werden.

Was uns betrifft, so haben wir genügend Gründe – sowohl subjektive wieobjektive –, in foro interno sicher zu sein und nicht zu zweifeln, daß die„Tabula Smaragdina“ das einzige absolut authentische Stück des ganzen„Corpus Hermeticum“ ist, und dies in dem Sinne, daß ihr Verfasser weder der„dritte“ Hermes noch der „zweite“ ist, sondern der erste, d. h. der Begründerder hermetischen Tradition überhaupt, deren bedeutendste Glieder (nachFicinus 1471) Hermes Trismegistos – Orpheus – Pythagoras – Philolaus („DiviPlatonis nostri praeceptor“) – Platon – die Neopythagoräer (Apollonius) und dieNeuplatoniker (Plotin) sind.

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Zweiter Brief

DIE PÄPSTIN

Das Arcanum der Gnosis

Widerspiegelung der mystischen Erfahrung – Offenbarung und Tradition –Wiedergeburt aus Wasser und Geist – Die Zweiheit – Einweihung vor undnach Christus – Primat des Seins oder der Liebe? – Die Gabe der Tränen –Verzauberung durch philosophische Systeme – Das männliche und dasweibliche Prinzip – Geburt von Traditionen – Der kontemplative Sinn –Horizontale und vertikale Erinnerung – Die Schöpfung der Welt.

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DIE PÄPSTIN

Das Arcanum der Gnosis

„Die Weisheit hat ihr Haus gebaut,hat ihre sieben Säulen aufgerichtet“ (Spr 9, 1).

Lieber Unbekannter Freund,

wie im vorhergehenden Brief dargelegt wurde, ist „Der Gaukler“ dasArcanum der intellektuellen und Herzensgenialität – das Arcanum der wahrenSpontaneität. Die „Konzentration ohne Anstrengung“ und die „Wahrnehmungder Entsprechungen“ im Einklang mit dem Gesetz der Analogie sind diehauptsächlichen Implikationen dieses Arcanums der spirituellen Fruchtbarkeit,des Arcanums des reinen Erkenntnisaktes.

Der reine Akt ist aber wie Feuer oder Wind: er erscheint und verschwindet,und nachdem er sich erschöpft hat, macht er einem anderen Akt Platz.

„Der Wind weht, wo er will; und du hörst sein Sausen; aber du weißt nicht,woher er kommt, noch wohin er geht. So verhält es sich mit jedem, der aus deinGeist geboren ist“ (Jo 3, 8).

Der reine Akt ist in sich selbst ungreifbar; nur dessen Spiegelung macht ihnwahrnehmbar, vergleichbar und verstehbar, oder mit anderen Worten: dank derSpiegelung werden wir seiner bewußt. Die Spiegelung des reinen Akteserzeugt seine innere Vergegenwärtigung; diese wird im Gedächtnisbehalten; das Gedächtnis wird zur Quelle des Mitteilbaren durch das Mitteldes Wortes; und das mitteilbare Wort wird festgehalten durch das Mittelder Schrift, indem es das „Buch“ hervorbringt.

Das zweite Arcanum „Die Päpstin“ ist das der Spiegelung des reinen Aktesdes ersten Arcanums, bis er „Buch“ wird. Es lehrt uns, wie Feuer und Wind zuWissenschaft und Buch werden oder, mit anderen Worten, „wie die Weisheitihr Haus baut“.

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Wie wir soeben gezeigt haben, kommt man zum Bewußtsein des reinengeistigen Aktes nur durch das Mittel seiner Spiegelung. Wir benötigen eineninneren Spiegel, uni des reinen Aktes bewußt zu werden oder um zu wissen,„woher er kommt und wohin er geht“. Das Wehen des Geistes – oder die reinegeistige Handlung – ist wohl ein Ereignis, aber es genügt nicht für sich allein,damit wir seiner bewußt werden. Das Bewußtsein („conscience“) ist dieResultante von zwei Prinzipien, des aktiv handelnden und des passivwiderspiegelnden Prinzips. Um zu „wissen“, woher der Hauch kommt undwohin er geht, bedarf es jenes Wassers, das ihn widerspiegelt. Darum nennt derMeister in seiner Unterredung mit Nikodemus, auf die wir uns schon berufenhaben, die absolute Bedingung der bewußten Erfahrung des göttlichen Hauches– oder des Reiches Gottes:

„Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wer nicht aus Wasser und Geist geborenwird, kann nicht in das Reich Gottes eingehen“ (Jo 3,5).

„Wahrlich, wahrlich“ – der Meister wiederholt das Wort „wahrlich“ alsmantrische, d. h. magische Formel von der Wirklichkeit des Bewußtseins. Ersagt durch diese Worte aus, daß das volle Bewußtsein der Wahrheit aus dereingehauchten und der widergespiegelten Wahrheit resultiert. Das wieder inseinen wahren Rang eingesetzte, reintegrierte Bewußtsein, welches das ReichGottes ist, setzt zwei Erneuerungen, die in ihrer Bedeutung einer Geburtgleichkommen, in den beiden konstitutiven Elementen des Bewußtseins voraus– im aktiven Geist und im reflektierenden Wasser. Der Geist soll göttlicherHauch werden anstelle der willkürlichen persönlichen Aktivität; und dasWasser soll ein vollkommener Spiegel dieses göttlichen Hauches werden,anstatt von der Wirrnis persönlicher Phantasien, von Leidenschaften undWünschen aufgerührt und getrübt zu sein. Das reintegrierte Bewußtsein mußaus Wasser und Geist geboren werden, nachdem das Wasser wiederjungfräulich und der Geist zum göttlichen Hauch oder Heiligen Geist gewordenist. Das wieder in seinen wahren Rang eingesetzte Bewußtsein wird daher imInnern der menschlichen Seele auf eine Art und Weise geboren, die derGeburt oder der historischen Fleischwerdung des Wortes analog ist:

„Et incarnatus est de Spiritu Sancto ex Maria Virgine – Er hat Fleischangenommen durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria und istMensch geworden.“

Die Wiedergeburt aus Wasser und Geist, welche der Meister denNikodemus lehrt, ist die Wiederherstellung des Zustandes des nichtgefallenen Bewußtseins, in welchem der Geist göttlicher Hauch war undworin dieser Hauch gespiegelt wurde durch die jungfräuliche Natur. Dies istder christliche „Yoga“. Sein Ziel ist nicht die „radikale Befreiung“ (mukti),d. h. der Bewußtseinszustand ohne Hauch und ohne Spiegelung, sondernvielmehr derjenige der umfassenden und vollkommenen Reaktion auf dasgöttliche Handeln – die Taufe mit Wasser und Geist. Diese beiden Arten derTaufe bewirken die Reintegration der beiden konstitutiven Elemente des

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Bewußtseins als solchem – des aktiven und des passiven Elementes. Esgibt kein Bewußtsein ohne diese beiden Elemente, und die Unterdrückungdieser Dualität mittels irgendeiner praktischen Methode, inspiriert durch dasIdeal der Einheit („Advaita” = Nicht-Dualität), muß notwendigerweise zurAuslöschung zwar nicht des Seins, wohl aber des Bewußtseins führen. Daswäre aber nicht eine „neue Geburt“ des Bewußtseins; vielmehr wäre es dessenRückkehr zum vorgeburtlichen, embryonalen kosmischen Zustand.

Dagegen sagt Plotin über die jeder Form und jedem Grad von Bewußtseinzugrundeliegende Dualität, nämlich über das aktive Prinzip und seinenSpiegel:

„So wie in derartigen Fällen nun bei Vorhandensein eines Spiegels das Abbildzustande kommt, ist aber der Spiegel nicht vorhanden oder nicht imrichtigen Zustand, trotzdem doch das in Wirklichkeit vorhanden ist, vondem jederzeit ein Abbild entstehen könnte – gleichermaßen treten beimMenschen, wenn der seelische Bereich, an dem die Abbilder des Denkensund des Geistes sichtbar werden, in ruhigem Zustand ist, diese Bilder anihm in Erscheinung und werden in gleichsam sinnlicher Wahrnehmungerkannt, wobei die Erkenntnis vorangeht, daß es sich um Wirkungen desGeistes und Denkens handelt. Wird dagegen dieser Seelenbereichzerbrochen, weil das harmonische Gefüge des Leibes gestört wird, so denktder Gedanke und der Geist ohne solches Abbild, und dann verläuft dasDenken ohne Vorstellung.“

Dies ist die platonische Auffassung vom Bewußtsein; sie kann, wennman sie vertieft, als Einführung dienen in die nächtliche Unterhaltung desMeisters mit Nikodemus über die Reintegration des Bewußtseins oder überdas Ziel des christlichen „Yoga“. Der christliche „Yoga“ strebt nicht ohneweiteres nach der Einheit, sondern nach der Einheit der Zwei. Es ist sehrwichtig, sich Rechenschaft abzulegen über die Einstellung, die mangegenüber dem unendlich ernsten Problem der Einheit und der Zweiheiteingenommen hat. Denn dieses Problem kann die Tür zu den wahrhaftgöttlichen Mysterien öffnen; es kann sie uns aber auch verschließen ...vielleicht für immer, wer weiß? Alles hängt von seinem Verständnis ab. Wirkönnen uns für den Monismus entscheiden und uns sagen, daß es nur eineeinzige Substanz, ein einziges Sein gibt und geben kann, oder aber wirkönnen uns – angesichts der bedeutenden historischen und persönlichenErfahrung – für den Dualismus entscheiden und uns sagen, daß es zweiPrinzipien in der Welt gibt – das Gute und das Böse, den Geist und die Materie– und daß, wie unverständlich im Grunde diese Dualität auch sein mag, mansie doch anerkennen muß als eine unbestreitbare Tatsache. Wir können unsaber noch für einen dritten Standpunkt entscheiden, nämlich für die Liebe alskosmisches Prinzip, welches die Dualität voraussetzt und deren nichtsubstantielle, aber essentielle Einheit postuliert.

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Diese drei Standpunkte bilden jeweils die Grundlage von:

Vedanta („Advaita“) und Spinozismus – Monismus;Manichäismus und gewissen gnostischen Schulen – Dualismus;

judäisch-christlicher Strömung – Liebe.

Um diesem Problem mehr Klarheit und Präzision zu verleihen, sowie umeine noch größere Tiefe zu erreichen, nehmen wir als Ausgangspunkt dieAusführungen von Louis-Claude de Saint-Martin über die Zahl Zwei in seinemBuch „Über die Zahlen“:

„Wir beginnen nun, um zu zeigen, wie sie (die Zahlen) im Grunde ihrerAktivität verbunden sind, den Lauf von der Einheit und der Zahl Zwei zubetrachten. Wenn wir über eine wichtige Wahrheit nachsinnen wie etwaüber die Allmacht des Schöpfers, seine Majestät, seine Liebe, seine tiefenWeisheitsschätze oder irgendein anderes seiner Attribute, bewegen wir unsvöllig in Richtung dieses höchsten Vorbildes aller Dinge; all unsereFähigkeiten neigen sich, um uns ganz mit ihm zu erfüllen, und wir machenuns wirklich eins mit ihm. Das ist das aktive Bild der Einheit, und die ZahlEins ist in unseren Sprachen der Ausdruck dieser Einheit oder der unteilbarenVereinigung, die, innig zwischen allen Attributen dieser Einheit bestehend,gleicherweise zwischen ihr und all ihren Geschöpfen bestehen sollte.

Wenn wir aber, nachdem wir all unsere Fähigkeiten der Kontemplationzu dieser universalen Quelle emporgetragen haben, unsere Augen auf unsselbst richten und uns mit unserer eigenen Kontemplation derart erfüllen,daß wir uns als den Ursprung irgendeiner der Klarheiten oder der innerenBefriedigungen betrachten, die diese Quelle uns verschafft hat, so stellenwir von diesem Augenblick an zwei Zentren der Kontemplation auf, zweigetrennte und gegnerische Prinzipien, zwei Grundlagen, die nicht verbundensind; kurzum, wir stellen zwei Einheiten auf, mit dem Unterschied, daß dieeine wirklich und die andere scheinbar ist.“

Dann fügt er hinzu:

„Denn das Sein durch die Mitte teilen heißt es in zwei Teile teilen, wasbedeutet, daß das Ganze zur Qualität der Hälfte oder des Halben gemachtwird, und dies ist der wahre Ursprung der illegitimen Zweiheit ...“

„... Dieses Beispiel genügt, um uns die Geburt der Zahl Zwei, um uns denUrsprung des Bösen zu zeigen ...“

Die Dualität bedeutet demnach die Aufstellung von zwei Zentren derKontemplation, von zwei getrennten und gegnerischen Prinzipien – das einewirklich und das andere scheinbar; und dort soll also der Ursprung des Bösenliegen, welches nichts anderes ist als die illegitime Zweiheit.

Ist dies die einzig mögliche Interpretation der Dualität, der Zweiheit,der Zahl Zwei? Gibt es nicht eine legitime Zweiheit? – Eine Zweiheit, diekeine Minderung der Einheit, sondern ihre qualitative Bereicherung

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bedeutet?

Wenn wir auf die Vorstellung Saint-Martins von „zwei Zentren derKontemplation, die zwei getrennte und gegnerische Prinzipien“ sind,zurückkommen, können wir uns fragen, ob sie denn notwendig getrenntund gegnerisch sein müssen. Legt uns nicht schon der von Saint-Martingewählte Ausdruck „Kon-templation“ den Gedanken von zwei Zentrennahe, die wie zwei vertikal übereinander angeordnete Augen die beidenAspekte der Wirklichkeit, den phänomenalen und den numenalen Aspekt,gleichzeitig betrachten? Und daß dank dieser beiden Zentren oder „Augen“wir Bewußtsein haben – oder haben können – „von dem, was oben ist, unddem, was unten ist“? Könnte man zum Beispiel die Hauptformel der„Tabula Smaragdina“ aussprechen, wenn man nur ein „Auge“ oderBetrachtungszentrum hätte anstatt zwei?

Nun sagt das „Sepher Jetzirah – das Buch der Schöpfung“:

„Zwei, das ist der Hauch, der von dem Geist kommt: in ihm sind eingeprägtund eingemeißelt die zweiundzwanzig Buchstaben, die indessen nur eineneinzigen Hauch bilden.“

Mit anderen Worten: Zwei, das ist der Hauch und seine Spiegelung, das ist derUrsprung des „Buches der Offenbarung“, welches sowohl die Welt als auchdie Heilige Schrift ist. Zwei ist die Zahl des Bewußtseins vom Hauch undseiner „eingeprägten und eingemeißelten“ Buchstaben. Es ist die Zahl derReintegration des Bewußtseins, welche der Meister den Nikodemus lehrt,durch das jungfräuliche Wasser und durch den Hauch des Heiligen Geistes.

Zwei ist all dies, und es ist noch mehr. Nicht nur ist die Zahl Zwei nichtnotwendigerweise die von Saint-Martin beschriebene „illegitime Zweiheit“,sondern sie ist auch die Zahl der Liebe oder die grundlegende Bedingungfür die Liebe, die sie notwendigerweise voraussetzt und postuliert. DennLiebe ist unvorstellbar ohne den Liebenden und den Geliebten, ohne michund dich, ohne den einen und den anderen.

Wenn Gott nur Eins wäre und wenn er nicht die Welt geschaffen hätte,würde er nicht der vom Meister geoffenbarte Gott sein, der Gott, von demder hl. Johannes sagt:

„Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gottbleibt in ihm“ (1 Jo 4, 16).

Er würde es nicht sein, weil er niemanden lieben würde außer sichselbst. Da dieses unmöglich ist unter dem Gesichtspunkt des Gottes derLiebe, ist er dem menschlichen Bewußtsein offenbart als die ewige Trinitätdes Hebenden, der lieht, des Geliebten, der liebt, und ihrer Liebe, die sieliebt: Vater, Sohn und Heiliger Geist.

Spüren Sie nicht auch, lieber Unbekannter Freund, jedesmal ein Gefühldes Unbehagens, wenn Ihnen eine der Formeln begegnet, welche diehöchsten Attribute für die Personen der heiligen Dreifaltigkeit verkünden wie

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„Macht, Weisheit, Liebe“ oder „Sein, Bewußtsein, Seligkeit“ (Sat-Chit-Ananda)? Ich habe dieses Unbehagen immer empfunden, und erst später,viele Jahre später, habe ich die Ursache dafür verstanden. Weil Gott Liebeist, läßt er keinen Vergleich zu, übertrifft er alles, sowohl die Macht alsauch die Weisheit und sogar das Sein. Man kann, wenn man will, von der„Macht der Liebe“, der „Weisheit der Liebe“ und dem „Leben der Liebe“sprechen, um eine Unterscheidung zwischen den drei Personen der heiligenDreifaltigkeit zu machen, aber man kann nicht auf derselben Ebene dieLiebe auf die eine Seite und Weisheit, Macht und Sein auf die andere Seitesetzen. Denn Gott ist Liebe, und die Liebe ist es, die Liebe allein, die durchihre Gegenwart der Macht, der Weisheit und dem Sein ihren Wertzuerteilt. Denn Sein ohne Liebe ist ohne allen Wert. Sein ohne Liebe wäredas entsetzlichste Leid – die Hölle selbst!

Die Liebe übersteigt also das Sein? – Wie kann man daran zweifeln nach derOffenbarung dieser Wahrheit vor 19 Jahrhunderten durch das Mysteriumvon Golgatha? „Was unten ist, ist wie das, was oben ist“ – Und das vondem Fleisch gewordenen Gott aus Liebe dargebrachte Opfer seines Lebensund seines irdischen Daseins, ist es nicht der Beweis für die Überlegenheitder Liebe über das Sein? Und ist die Auferstehung nicht der Beweis für denanderen Aspekt des Primats der Liebe über das Sein, d. h., daß die Liebenicht nur dem Sein übergeordnet ist, sondern es auch erzeugt undwiederherstellt?

Das Problem des Primats des Seins oder der Liebe geht zurück bis insAltertum. Platon hat es aufgeworfen, als er sagte:

„Die Sonne, denke ich, wirst du sagen, verleihe dem Sichtbaren nicht nurdas Vermögen, gesehen zu werden, sondern auch das Werden undWachstum und Nahrung, unerachtet sie selbst nicht Werden ist.

Ebenso nun sage auch, daß dem Erkennbaren nicht nur dasErkanntwerden von dem Guten komme, sondern auch das Sein und Wesenhabe es von ihm, obwohl das Gute selbst nicht das Sein ist, sondern nochüber das Sein an Würde und Kraft hinausragt.“

Und sieben Jahrhunderte später sagt Salustios (Salustius SecundusSaturnius), der Freund des Kaisers Julian:

„Wenn die erste Ursache Seele wäre, würde alles beseelt sein; wenn sieIntelligenz wäre, würde alles intelligent sein; wenn sie Sein wäre, würdealles teilhaben am Sein. Da nun einige inne geworden sind, daß jedes Dingam Sein teilhat, haben sie auch gedacht, daß das Sein die erste Ursache sei.Wenn also die seienden Wesen nur Seiende wären und wenn sie nicht gutwären, könnte ihre Behauptung wahr sein ... Wenn aber die seiendenWesen nur wegen des Guten existieren und wenn sie teilhaben am Guten,wird es notwendig, daß das erste Prinzip dem Sein übergeordnet ist unddaß es gut durch sich selbst ist. Hier haben wir dafür den größten Beweis:

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die großmütigen Seelen verachten in der Tat um des Guten willen dieFortdauer im Dasein, wenn sie für ihr Vaterland, ihre Freunde und dieTugend bereit sind, sich der Gefahr auszusetzen.“

Der Primat des Guten (wobei das „Gute“ der philosophisch abstrakteBegriff für die Wirklichkeit der Liebe ist) vor dem Sein ist schon vonPlotin behandelt worden; ebenso von Proklus und Dionysius Areopagita.Der hl. Bonaventura hat versucht, den platonischen Primat des Guten mitdem mosaischen Primat des Seins: „Ego sum qui sum“ (Ex 3, 14), derzuerst von Johannes Damascenus und dann von Thomas von Aquinbestätigt worden ist, zu versöhnen. Dieser letztere erklärt, daß unter allengöttlichen Namen einer hervorragend Gott zu eigen ist: der Seiende, geradeweil er nichts anderes als das Sein selbst bedeutet. Etienne Gilson schreibtübereinstimmend mit dem hl. Thomas, Johannes Damascenus und Moses,„daß das Sein das Prinzip einer metaphysischen unerschöpflichenFruchtbarkeit“ ist:

„Es gibt nur einen Gott, und dieser Gott ist das Seiende; das ist der Eckstein derganzen christlichen Philosophie; nicht Platon, auch nicht Aristoteles, Moseshat ihn gesetzt.”

Welche Bedeutung hat also die Entscheidung für den Primat des Seinsoder den des Guten oder – nach dem hl. Johannes – den der Liebe?

Der Begriff des Seins ist neutral hinsichtlich des moralischen Lebens. Es istnicht nötig, eine Erfahrung des Guten und des Schönen zu besitzen, um zu ihmzu gelangen. Schon die Erfahrung des Mineralreiches allein würde genügen,um zu dem moralisch neutralen Begriff des Seins zu kommen. Denn dasMineralreich ist. Darum ist der Begriff des Seins objektiv, d. h., er fordertletztlich die allen Dingen zugrunde liegende Sache, die bleibende Substanzhinter allen Erscheinungen.

Ich möchte Sie dazu auffordern, lieber Unbekannter Freund, einmal dieAugen zu schließen und sich genau Rechenschaft abzulegen über das Bild,von dem dieser Begriff in ihrer intellektuellen Vorstellung begleitet wird.Stoßen Sie dort nicht auf das unbestimmte Bild einer farb- und formlosenSubstanz, sehr ähnlich dem Wasser des Meeres? Aber welche auch Ihresubjektive Vergegenwärtigung des Seins sein mag, der Begriff des Seins istmoralisch indifferent und folglich in seinem Wesen naturalistisch. Es istirgend etwas Passives, das er enthält, etwas Gegebenes oder eineunabänderliche Tatsache. Wenn Sie dagegen an die Liebe im johanneischenSinne denken oder an die platonische Idee des Guten, finden Sie sichessentieller Aktivität gegenübergestellt, die hinsichtlich des moralischenLebens keineswegs neutral, sondern dessen Herz ist. Das Bild, welches diesenBegriff reinen Geschehens begleitet, ist das des Feuers oder der Sonne (Platonvergleicht die Idee des Guten mit der Sonne und ihr Licht mit der Wahrheit)anstelle des Bildes eines unbestimmt Flüssigen.

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Thales und Heraklit haben diese beiden verschiedenen Auffassungenvertreten. Der eine sah im Wasser das Wesen der Dinge, der andere sah es imFeuer. Hier aber steht an erster Stelle, daß die Idee des Guten und ihr Gipfel, dieLiebe, der Auffassung der Welt als eines moralischen Prozesses verdankt wird,während die Idee des Seins und ihr Gipfel, Gott der Seiende, sich aus derAuffassung der Welt als einer natürlichen Tatsache ergibt. Die Idee des Guten(und der Liebe) ist in ihrem Wesen subjektiv. Um fähig zu sein, sie zuerfassen, muß man unbedingt die Erfahrung des psychischen und spirituellenLebens gemacht haben, während – wie wir schon sagten – die Idee des Seins, dasie in ihrem Wesen objektiv ist, nur einen gewissen Grad an äußererErfahrung, der des Mineralreichs zum Beispiel, voraussetzt.

Die Folge der Wahl zwischen diesen beiden, ich möchte nicht sagen„Standpunkten“, sondern vielmehr „Einstellungen“ der Seele besteht vorallem darin, daß der eigentliche Charakter der praktischen mystischenErfahrung verschieden ist, je nachdem, wie diese Wahl ausfällt.

Wer das Sein erwählt, wird nach dem wirklichen Sein streben; und werdie Liebe erwählt, strebt nach der Liebe. Nun findet man nur, was mansucht. Der Sucher des wahren Seins wird zu der Erfahrung der Ruhe imSein gelangen, und da nicht zwei wahre Sein existieren können (die„illegitime Zweiheit” Saint-Martins) oder zwei gleich ewige getrennteSubstanzen, sondern nur ein Sein und eine Substanz, wird man das Zentrumdes „falschen Seins“ unterdrücken, die Ahamkâra oder die Illusion dergesonderten Existenz einer für sich bestehenden Substanz des Ichs. DasCharakteristische dieses mystischen Pfades ist, daß man die Fähigkeit verliertzu weinen. Ein vorgerückter Schüler des Yoga und des Vedanta hat für immertrockene Augen, während die Meister der Kabbala nach dem Sohar viel undoft weinen. Die christliche Mystik spricht ebenfalls von der „Gabe derTränen“ als von einem köstlichen Geschenk der göttlichen Gnade. DerMeister weinte vor dem Grab des Lazarus. So ist das äußerlichCharakteristische derjenigen, die den anderen mystischen Weg wählen,den des Gottes der Liebe, daß sie die „Gabe der Tränen“ haben. Dies istdurch das Wesen ihrer mystischen Erfahrung selbst bedingt. IhreVereinigung mit dem Göttlichen ist nicht das Aufgehen ihres Seins imgöttlichen Sein, sondern vielmehr die Erfahrung des Hauches der göttlichenLiebe, der Erleuchtung durch die göttliche Liebe und der Glut dergöttlichen Liebe. Für die Seele des Empfangenden ist das ein solchwunderbares Erlebnis, daß sie ... weint. In dieser mystischen Erfahrungbegegnet das Feuer dem Feuer. Nichts erlischt dadurch in dermenschlichen Persönlichkeit, sondern im Gegenteil, alles in ihr entflammt.Das ist die Erfahrung der „legitimen Zweiheit“ oder der Vereinigung vonzwei getrennten Substanzen in der einen einzigen Essenz. Die Substanzenbleiben getrennt, damit sie nicht dessen beraubt werden, was das Köstlichstein jeder Existenz, in jedem Dasein ist: die freie Verbindung in der Liebe.

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Ich sagte soeben „zwei Substanzen“ und „eine Essenz“. Man muß gut denSinn dieser beiden Ausdrücke erfassen. Substanz (substantia) und Essenz(essentia), deren genaue Unterscheidung sich heute fast verwischt hat.Trotzdem bezeichneten diese beiden Ausdrücke früher nicht nur zweiunterschiedliche Ordnungen von Gedanken und Ideen, sondern auch zweiverschiedene Arten der Existenz und sogar des Bewußtseins.

Platon stellt den Unterschied fest zwischen einai (είναι – sein) und usia(ούσία – Wesen, Essenz). „Sein“ bedeutet bei ihm die Tatsache der Existenzals solcher, während „Essenz“ die den Ideen verdankte Existenz bezeichnet.

„Alles, was Existenz hat, hat Essenz durch seine Teilhabe an den Ideen, diedie Essenzen selbst sind. Der Ausdruck Essenz bedeutet also für uns nichtdie abstrakte Existenz, sondern die Realität der Idee.”

Essenz (essentia, usia) bezeichnet den positiven Akt, durch den das Sein ist(in der Kabbala würde man sagen: den Akt der Emanation der ersten SephiraKether – der der göttliche Name אחיה [„Eyeh – Ich bin“] entspricht – den Aktdes En-Soph, des Unbegrenzten):

„... gerade wie wenn ‚esse’ das Partizip Präsens Aktiv ,essens’ zeugen könnte,wovon sich dann „essentia“ ableiten würde.«

So kommt der Ausdruck essentia nur Gott allein zu, alles andere trittzurück in die Kategorie der Substanzen, wie der Kirchenvater Augustinus alsPlatoniker sagt:

„... manifestum est Deum abusive substantiam vocari, ut nomine usitatioreintelligetur essentia, quod vere ac proprie dicitur; ita ut fortasse solum Deumdici oporteat essentiam.“

„Es ist daher klar, daß es ein Mißbrauch ist, Gott Substanz zu nennen. Manwill dabei nur ein gebräuchlicheres Wort verwenden zur Bezeichnung dessen,was das Wort Essenz (Wesen) besagen will. Dieses kann man im wahren undeigentlichen Sinn von Gott gebrauchen. Ja, vielleicht darf Gott allein. Essenz(Wesen) genannt werden.“

Die Unterscheidung zwischen Substanz und Essenz, zwischen Realität undIdealität, zwischen Sein und Liebe (oder der Idee des Guten) oder zwischenDem, der ist und En-Soph, ist auch der Schlüssel zum Evangelium desJohannes:

„Gott hat niemand jemals gesehen. Der eingeborene Sohn, der an der Brust desVaters ruht, er hat Kunde gebracht“ (Jo 1, 18).

„Niemand hat Gott jemals gesehen“, d. h., niemand hat Gott je von Angesichtzu Angesicht geschaut und dabei seine Persönlichkeit bewahrt. Denn „sehen“bedeutet „wahrnehmen, indem man sich dem gegenüber befindet, das manwahrnimmt“. Es gab zweifellos vor Jesus Christus zahlreiche Beispiele derGotteserfahrung, sei es im „Ergriffenwerden von Gott“ (Erfahrung der

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Propheten), sei es im „Versenktsein in Gott“ (Erfahrung der alten Yogisund Mystiker), sei es im „Schauen seiner Offenbarung in seinem Werk, derWelt“ (Erfahrung der alten Weisen und Philosophen); aber niemand hat Gottje gesehen; denn weder die Inspiration der Propheten noch die Versenkungder Mystiker in Gott, noch das Betrachten Gottes im Spiegel der Schöpfungdurch die Weisen sind gleichwertig mit der neuen Erfahrung der „Schau“(visio) Gottes – der „beseligenden Schau“ (visio beatifica) der christlichenTheologie. Denn diese „Schau“ geschieht im Bereich der alle Substanztranszendierenden Essenz; da ist keine Verschmelzung, sondern eine Begegnungim Bereich der Essenz, in welcher die menschliche Persönlichkeit (dasIchbewußtsein) nicht nur unversehrt und unbehindert bleibt, sondern darüberhinaus „wird, was sie ist“, d. h. wahrhaft sie selbst wird – so wie der GedankeGottes sie gedacht von Ewigkeit her. Wenn man das Wort des hl. Johannes indieser Weise auffaßt, wird auch das Wort des Meisters im selben Evangeliumverständlich:

„Alle, die vor mir gekommen sind, sind Diebe und Räuber“ (Jo 10, 8).

Es liegt ein tiefes Mysterium in diesem Wort. In der Tat, wie soll man esverstehen neben den zahlreichen anderen Worten des Meisters, die sich aufMoses, David und die Propheten beziehen, die alle vor ihm waren? Nunhandelt es sich in diesem Ausspruch nicht um Diebstahl und Raub imwörtlichen Sinne, sondern um das Prinzip der Einweihung vor und nach JesusChristus.

Die Meister vor der Ankunft lehrten die Erfahrung Gottes auf Kosten derPersönlichkeit, die herabgedämpft sein mußte, wenn sie von Gott „ergriffen“oder in Gott „versenkt“ war. In diesem Sinne, im Sinne der Minderung oderSteigerung des den Menschen anvertrauten „goldenen Talentes“ – derPersönlichkeit, welche das „Ebenbild und Gleichnis Gottes“ ist (Goethe: „dashöchste Gut der Erdenkinder ist doch die Persönlichkeit“) – waren dieMeister vor Christus „Diebe und Räuber“. Sie zeugten wohl von Gott, aberder praktische Weg, der sie zu Zeugen (Märtyrern) Gottes machte und den sielehrten, war derjenige der Entpersönlichung. Die Größe des Bhâgavan, desBuddha, war der hohe Grad der Entpersönlichung, den er erreicht hatte. DieMeister des Yoga sind Meister der Entpersönlichung. Die alten Philosophen,die „als Philosophen“ lebten, praktizierten die Entpersönlichung, so vor allemdie Stoiker.

Darum können alle diejenigen, die den Weg der Entpersönlichung gewählthaben, nicht weinen und haben für immer trockene Augen. Denn es ist diePersönlichkeit, die weint und allein fähig ist , die „Gabe der Tränen“ zuempfangen.

„Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden“ (Mt 5, 4).

Soweit ein Aspekt (es gibt noch einen viel tieferen, aber ich weiß nicht obdarüber in einem der folgenden Briefe geschrieben werden kann), unter demdas mystische Wort von den „Dieben und Räubern“ eine Quelle strahlenden

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Lichtes werden kann: das Evangelium sagt damit, daß diejenigen, die vor JesusChristus gekommen sind (das Wort „vor“ bezeichnet nicht allein die Zeit,sondern auch den Einweihungsgrad), Diebe und Räuber sind an derPersönlichkeit, da sie die Entpersönlichung des menschlichen Wesens gelehrthaben. Dagegen sagt der Meister auch:

„Ich bin gekommen, damit sie (die Schafe) Leben haben und es in Füllehaben.“ (Jo 10, 10).

Mit anderen Worten: der Meister ist gekommen, um das Schaf, das ihmteuer und das von Gefahren bedroht ist, noch lebensvoller zu machen,nämlich das Schaf als Bild der Persönlichkeit! Das scheint unbegreiflich,wenn man sich das Ideal der Persönlichkeit bei Nietzsche mit seinemÜbermenschen vergegenwärtigt oder an andere „große historischePersönlichkeiten“ denkt, wie Alexander den Großen, Julius Cäsar,Napoleon, oder an die modernen „großen Persönlichkeiten“!

Nein, lieber Unbekannter Freund, die Besessenheit durch den Willen zurMacht oder den Willen zum Ruhm macht weder die Persönlichkeit nochihre Größe aus. Das „Schaf“ in der Sprache der Liebe des Meisters bedeutetweder „große Persönlichkeit“ noch „kleine Persönlichkeit“, sondern einfachdie individuelle Seele, die lebt und für die er wünscht, daß sie ohne Gefahrlebe und das Leben so intensiv habe, wie Gott es ihr bestimmt hat. Das„Schaf“ ist die lebendige, von Gefahren umgebene Entität, der diegöttliche Sorge gilt. Genügt das nicht? Gibt das zuwenig Ansehen undRuhm? Ist das ein zu armseliges Bild, um daraus zum Beispiel einen Magierhervorgehen zu lassen, der die guten und bösen Geister beschwört? – Andieser Stelle soll auf nichts anderes hingewiesen werden als auf eine einzigeTatsache: die Sprache des Meisters ist die der Liebe und nicht die derPsychologie, der Philosophie und der Wissenschaft. Der „mächtige“Magier, der „geniale“ Künstler, der „tiefe“ Denker, der „leuchtende“Mystiker – sie verdienen wohl alle diese Bezeichnungen ihrer Eigenschaftenund vielleicht noch erhabenere, aber sie blenden nicht Gott. In den AugenGottes sind sie von ihm geliebte Schafe, von denen er wünscht, daß siesich niemals verirren und daß sie das Leben haben, wachsend ohne Unterlaß.

Vor Beendigung der Überlegungen über das Problem der Zahl zwei, dasProblem der rechtmäßigen und unrechtmäßigen Zweiheit, möchte ich Saint-Yves d’Alveydre Anerkennung zollen, der sich dieses Problems mit seinemleidenschaftlichen Denkvermögen angenommen hat. In seinem Werk rückt er denVergleich des vollständigen göttlichen Namens JOD-HE-WAW-HE mit demunvollständigen göttlichen Namen HE-WAW-HE in den Vordergrund. 1mersten Fall betrachtet man das JOD, die Essenz, als höchstes Prinzip derHierarchie, im zweiten Fall ist es HE, die Substanz, welcher man den Primatzuschreibt. Von hier nehmen Spiritualismus und Naturalismus ihren Ausgang –mit allen Konsequenzen, die sich auf religiösem, philosophischem,wissenschaftlichem und sozialem Gebiet daraus ergeben.

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Das Problem ist also mit bewunderungswürdiger Richtigkeit und Präzisionauf eine Formel gebracht worden, und darauf möchte ich hier hinweisen, fühlemich aber gleichzeitig verpflichtet zu erklären, daß, wie zutreffend und präzisedie formale Darstellung auch sei, der materiale Inhalt, den ihm Saint-Yves gibt,viel zu wünschen übrigläßt. Er erklärt namentlich, daß das Prinzip der reinenIntellektualität des JOD ist, und er schreibt dem HE-WAW-HE alsmaterialen Inhalt das Prinzip der Liebe und der Seele oder das„leidenschaftliche Prinzip“ zu, indem er so den Primat der reinen Intellektualitätals dem spirituell-männlichen Prinzip zuteilt und ihm die Liebe als seelisch-weibliches Prinzip unterordnet.Nun lehrt der Meister aber den Vater, der Liebe ist!

Da die Intellektualität die Spiegelung – oder das Licht – des feurigen Prinzips derLiebe ist, kann es nur das weibliche Prinzip sein, die Sophia oder Weisheit, dienach dem Alten Testament dem Schöpfer bei der Schöpfung half. Auch diegnostische Tradition betrachtet die Sophia als weibliches Prinzip. ReineIntellektualität ist Liebe, die die handelnde Liebe spiegelt.

Die Tatsache, daß der Mann gewöhnlich intellektueller ist als die Frau,bedeutet nicht, daß der Intellekt ein männliches Prinzip ist. Ganz im Gegenteilist der Mann physisch männlich, aber hinsichtlich der Seele weiblich, währenddie Frau physisch weiblich, aber in ihrer Seele männlich-aktiv ist. So ist derIntellekt die weibliche Seite der Seele, während die befruchtendeVorstellungskraft darin das männliche Prinzip ist. Ein Intellekt, der nicht durchdie vom Herzen geleitete Vorstellungskraft befruchtet wird, ist steril. Er hängtvon den Impulsen ab, die er vom Herzen mittels der Vorstellungskraftempfängt.

Was nun das dritte Prinzip, den Geist, angeht, so ist dieser weder Intellektnoch Vorstellungskraft, sondern Liebe-Weisheit. Grundsätzlich müßte erzweigeschlechtlich, androgyn sein, obwohl er es in der Praxis nicht immer ist.

Das ist nun alles, was mir über das Problem der Zweiheit und seine Tragweitezu sagen nötig schien, weil die Lösung dieses Problems der Schlüssel zumzweiten Arcanum „Die Päpstin“ ist. Denn dieses ist das Arcanum der demBewußtsein zugrunde liegenden Zweiheit – der spontanen Aktivität und ihrerSpiegelung; es ist das Arcanum der Umsetzung des reinen Aktes in seineVergegenwärtigung; der Vergegenwärtigung in das Gedächtnisbild, desGedächtnisbildes in das Wort, des Wortes in die geschriebenen Buchstaben oderdas Buch.

„Die Päpstin“ trägt eine Tiara mit drei Stufen, und sie hält ein geöffnetes Buch.Die Tiara ist mit Edelsteinen besetzt, was den Gedanken nahelegt, daß dieKristallisation des reinen Aktes in drei Stufen herabsteigt durch die drei höherenund unsichtbaren Ebenen hindurch, bevor sie ihr Ziel auf der vierten Stufeerreicht – das Buch. Nun sind die Probleme, die das Symbol in sich birgt:Spiegelung, Gedächtnis, Wort und Schrift oder, mit anderen Worten,Offenbarung und mündliche oder schriftliche Tradition – oder um es in einemeinzigen Wort auszudrücken: die Gnosis“.

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Es handelt sich hier um die Gnosis und keineswegs um die Wissenschaft, weildie Gnosis genau das ist, was das Kartenbild der „Päpstin“ sowohl als Ganzeswie in seinen Einzelheiten zum Ausdruck bringt, nämlich den Herabstieg derOffenbarung (der reine Akt oder die Essenz, welche durch die Substanzwidergespiegelt wird) bis zu ihrem Ziel, der letzten Stufe oder dein „Buch“. DieWissenschaft dagegen beginnt bei den Tatsachen (den „Schriftzeichen“ desBuches der Natur), um dann von den Tatsachen zu den Gesetzen und von denGesetzen zu den Prinzipien aufzusteigen. Die Gnosis ist die Widerspiegelungdessen, was oben ist; die Wissenschaft ist die Interpretation dessen, was untenist. Die letzte Stufe der Gnosis ist die Welt der Tatsachen, wo sie selbst zurTatsache wird, d. h., wo sie Buch wird; die erste Stufe der Wissenschaft ist dieWelt der Tatsachen, die sie „liest“, um zu den Gesetzen und Prinzipien zugelangen.

Da es die Gnosis oder die sich ihrer selbst bewußtgewordene Mystik ist, diedas Kartenbild symbolisiert, stellt es nicht das Bild eines Gelehrten oder einesDoktors dar, sondern eine Hohepriesterin oder „Päpstin“ – die geheiligte Hüterindes Buches der Offenbarung.

Da die „Päpstin“ die Stufen des Herabstiegs der Offenbarung vom oberstenkleinen Reif ihrer Tiara bis zum geöffneten Buch auf ihren Knien repräsentiert,stimmt auch ihre Haltung damit überein: sie sitzt. Nun bedeutet Sitzen einVerhältnis zwischen der Vertikalen und der Horizontalen, welches der Aufgabeder Projektion nach außen (Horizontale, Buch) der herabsteigenden Offenbarung(Vertikale, Tiara) entspricht. Diese Stellung weist auf die praktische Methodeder Gnosis hin, so wie der aufrecht stehende „Gaukler“ auf die praktischeMethode der Mystik hindeutet. Der „Gaukler“ wagt – darum steht er. Die„Päpstin“ weiß – darum sitzt sie. Die Umsetzung von Wagen in Wissen bringt denWechsel der Körperhaltung des „Gauklers“ in die der „Päpstin“ mit sich.

Das Wesen der reinen Mystik ist schöpferische Tätigkeit. Man wird Mystiker,wenn man wagt, sich zu erheben – d. h. sich „aufrecht zu halten“, dann nochaufrechter und immer aufrechter – über alle Kreatur bis zur Essenz des Seins,dem göttlichen Schöpferfeuer. Die „Konzentration ohne Anstrengung“ ist dasEntflammen ohne Rauch und Prasseln. Ihr menschlicher Anteil ist der Akt, eszu wagen, nach der höchsten Wirklichkeit zu streben, und diese Haltung ist nurecht und wirksam, wenn sie mit heiterer Seele und völlig entspanntem Körperstattfindet – ohne Rauch und Prasseln.

Das Wesen der reinen Gnosis ist widergespiegelte Mystik. In ihr wird, was sichin der Mystik vollzieht, Wissen. Die Gnosis ist die ihrer selbst bewußtgewordeneMystik, sie ist die mystische Erfahrung, umgesetzt in Wissen.. Nun findet dieseUmsetzung mystischer Erfahrung in Wissen stufenweise statt. Die erste Stufe istreine Widerspiegelung oder eine Art bildlicher Wiederholung der Erfahrung. Diezweite Stufe ist ihr Eintritt in das Gedächtnis. Die dritte Stufe ist ihre Aufnahmedurch den Gedanken und das Gefühl, so daß sie eine „Botschaft“ oder eininneres Wort wird. Die vierte Stufe endlich ist erreicht, wenn sie mitteilbaresSymbol, „Schrift“ oder „Buch“ wird, d. h., wenn sie formuliert ist.

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Die reine Widerspiegelung der mystischen Erfahrung ist bild- und wortlos.Sie ist reine Bewegung. Das Bewußtsein wird dabei bewegt durch denunmittelbaren Kontakt mit dem, was es überragt, dem Transsubjektiven,Überpersönlichen. Diese Erfahrung ist ebenso sicher wie die Erfahrung, dieder Tastsinn in der physischen Welt hervorruft, und sie ist gleichzeitiggenauso form-, farb- und tonlos wie jene. Darum kann man sie mit demTastsinn vergleichen und sie als „geistiges Tasten“ oder „Intuition“bezeichnen.

Diese Bezeichnung ist nicht völlig adäquat, aber sie hat wenigstens denVorzug, den Charakter des unmittelbaren Kontaktes auszudrücken, welcher derersten Stufe der Widerspiegelung des mystischen Aktes eigentümlich ist. Hiersind mystische Erfahrung und Gnosis noch untrennbar – sie sind eins.

Wollen wir die Beziehung herstellen zwischen diesem Bewußtseinszustandund den drei Zuständen, die ihm folgen, einerseits und dem heiligen Namen desJOD-HE-WAW-HE, der die Zusammenfassung der jüdischen Gnosis oderder vollständigen Kabbala ist, andererseits, so brauchen wir nichts andereszu tun, als diesen Bewußtseinszustand dem ersten Buchstaben – JOD –zuzuweisen. Der Buchstabe JOD ist ein Punkt mit der Tendenz derangedeuteten Projektion: was erstaunlich der Erfahrung des spirituellenTastens entspricht, die ebenfalls nichts anderes ist als ein Punkt, der im Keimeine Welt von Entfaltungsmöglichkeiten in sich trägt.

Das „spirituelle Tasten“ (oder „Intuition“) erlaubt den Kontakt zwischenunserem Bewußtsein und der Welt der reinen mystischen Erfahrung. Dank ihmexistiert in der Welt und in der Geschichte der Menschheit eine wirklicheBeziehung zwischen der lebendigen Seele und dem lebendigen Gott – wasgelebte Religion ist. Die Mystik ist die Quelle und Wurzel aller Religion.Ohne sie wäre die Religion und das ganze geistige Leben der Menschheit nichtsals ein Gesetzbuch, welches das menschliche Handeln und Denken regelt. WennGott für die Menschen mehr als einen abstrakten Begriff bedeutet, so ist es dankdes „spirituellen Tastens“ oder der Mystik. Sie ist der Keim des ganzenreligiösen Lebens mit seiner Theologie, seinen Riten und seinen Praktiken. DieMystik ist auch der Keim der Gnosis, welche die esoterische Theologie ist, wiedie Magie die esoterische Kunst und der Okkultismus oder die Hermetik dieesoterische Philosophie ist.

So ist die Mystik das JOD des „Tetragrammaton“, wie die Gnosis dessenerstes HE, die Magie das WAW – oder „Kind“ der Mystik und Gnosis – und diehermetische Philosophie sein zweites HE am Ende oder die Zusammenfassung desGeoffenbarten ist. Das Schluß-HE oder die hermetische Philosophie ist das„Buch“, das die „Päpstin“ auf ihren Knien hält, während die drei Stufen ihrer Tiaradie Grade des Abstiegs der Offenbarung Vom mystischen Plan auf dengnostischen Plan, dann von diesem gnostischen Plan auf den magischen Plan undendlich vorn magischen Plan auf den philosophischen Plan darstellen – auf dieEbene des „Buches“ der „Lehre“.

Wie das „spirituelle Tasten“ der mystische Sinn ist, so gibt es auch einen„gnostischen Sinn“, einen „magischen Sinn“ und einen besonderen„philosophisch-hermetischen Sinn“. Das vollständige Bewußtsein vom heiligen

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Namen IVHV kann nur erreicht werden durch die vereinte Erfahrung der vierSinne und das Ausüben der vier verschiedenen Methoden. Denn der Grundsatzder hermetischen Erkenntnislehre oder Gnoseologie ist, daß jedesErkenntnisobjekt seine eigene Erkenntnismethode verlangt. Diese These oderRegel bedeutet, daß man niemals dieselbe Erkenntnismethode auf verschiedenenEbenen anwenden darf, sondern nur auf verschiedene Objekte derselben Ebene.Ein schreiendes Beispiel für die Unkenntnis dieses Gesetzes ist die „kybernetischePsychologie“, in welcher man den Menschen und sein psychisches Leben durchmechanische, materielle Gesetze erklären will.

Jede bis zum Ende durchgeführte Methode der Erfahrung und Erkenntniswird zu einem „Sinn“ oder bringt einen besonderen Sinn hervor. Wer es wagt,nach der Erfahrung der Essenz des Seins zu streben, wird den „mystischen Sinn“oder den „spirituellen Tastsinn“ entwickeln. Will er nicht nur erleben, sondernauch verstehen, was er erlebt, wird er den „gnostischen Sinn“ entwickeln, undwenn er in die Praxis umsetzen will, was er von der mystischen Erfahrungverstanden hat, wird er den „magischen Sinn“ entwickeln. Will er endlich, daßalles, was er erlebt, verstanden und praktiziert hat, nicht auf ihn und seine Zeitbegrenzt bleibt, sondern mitteilbar werden möge für andere und weitergegebenwerden soll an zukünftige Generationen, so wird er den „philosophisch-hermetischen Sinn“ entwickeln müssen, und indem er ihn praktiziert, wird er„sein Buch“ schreiben.

Solcherart ist das Gesetz, das JOD-HE-WAW-HE über den Vorgang derUmsetzung der mystischen Erfahrung in Tradition zum Ausdruck bringt;solcherart ist das Gesetz der Geburt von Traditionen. Ihre Quelle ist diemystische Erfahrung: man kann weder Gnostiker noch Magier nochhermetischer Philosoph (oder „Okkultist“) sein, ohne Mystiker zu sein. DieTradition ist nur lebendig, wenn sie einen vollständigen Organismus bildet, d.h.,wenn sie aus der Vereinigung von Mystik, Gnosis, Magie und hermetischerPhilosophie hervorgeht. Wenn das nicht so ist, zerfällt sie; sie stirbt. Der Todder Tradition zeigt sich in der Degeneration der sie konstituierenden, nunvoneinander getrennten Elemente. Dann wird die hermetische Philosophie,getrennt von Magie, Gnosis und Mystik, zu einem parasitären „System“„autonomen“ Denkens, das, um die Wahrheit zu sagen, ein echterpsychopathologischer „Komplex“ ist, denn es verzaubert und unterjocht dasmenschliche Bewußtsein und beraubt es seiner Freiheit. Der Mensch, welcherdas Unglück hatte, der Verzauberung durch ein philosophisches System zumOpfer zu fallen (und die Behexungen der Zauberer sind Bagatellen imVergleich zur unheilvollen Wirkung der „Verzauberung“ durch ein„philosophisches System“!) kann weder die Welt noch die Menschen nochdie historischen Ereignisse so sehen, wie sie sind; er sieht sie alle nur durchdas deformierende Prisma des „Systems“, von dem er besessen ist. So ist einMarxist unserer Tage unfähig, etwas anderes in der Geschichte der Menschheitzu sehen als den Klassenkampf. Er wird dasjenige, was ich soeben über dieMystik, die Gnosis, die Magie und die Philosophie ausgeführt habe, nur füreine weitere Hinterlist der bürgerlichen Klasse halten und darin die Absicht

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sehen, die Wirklichkeit der Ausbeutung des Proletariats durch dieBourgeoisie mit einem „mystischen und idealistischen Nebel“ zuverschleiern ... wo ich doch nichts von meinen Eltern geerbt habe undkeinen einzigen Tag gelebt habe, ohne meinen Unterhalt durch eine Arbeitzu verdienen, die von den Marxisten als eine „legitime“ anerkannt wird! Einanderes zeitgenössisches Beispiel der Besessenheit von einem System ist derFreudianismus. Ein Mensch, der von diesem System besessen ist, wird in allem,was ich geschrieben habe, den Ausdruck der „verdrängten Libido“ sehen,die auf diese Weise Ventile sucht und findet. Es wäre demnach sexuellesUnbefriedigtsein, was mich dazu getrieben hätte, mich mit dem Tarot zubefassen und darüber zu schreiben!

Sind noch andere Beispiele nötig? Muß man noch die Hegelianer zitierenmit ihrer Verzerrung der Geschichte der Menschheit, die scholastischen„Realisten“ des Mittelalters mit der Inquisition, die Rationalisten des 18.Jahrhunderts, welche das Licht ihrer eigenen autonomen Vernunft blendete?

Ja, die vom lebendigen Körper der Tradition losgelösten „autonomen“philosophischen Systeme sind parasitäre Bildungen, die das Denken, dasGefühl und schließlich den Willen der Menschen in Beschlag nehmen und inder Tat eine Rolle spielen, die mit den „psychopathologischen Komplexen“ derNeurose oder anderen psychischen Obsessionskrankheiten vergleichbar ist.Ihr physisches Analogon ist der Krebs.

Was die „autonome“ Magie betrifft, d.h. die Magie ohne Mystik und ohneGnosis, so degeneriert sie notwendigerweise zur Zauberei oder wenigstenszu einem romantischen, pathologischen Ästhetizismus. Es gibt keine„schwarze Magie“, wohl aber gibt es Magier, die im Finstern tappen. Und sietappen im Finstern, weil ihnen das Licht der Gnosis und der Mystik fehlt.

Eine Gnosis ohne mystische Erfahrung ist die Sterilität selbst. Sie ist einbloßes religiöses Gespenst ohne Leben und Bewegung. Sie ist der Kadaverder Religion, intellektuell beseelt durch Brocken, die von der Tafel dervergangenen Geschichte der Menschheit gefallen sind. „Eine gnostische,universale Kirche!“ – Was soll man dazu sagen, was muß man dazu sagen,wenn man auch nur ein wenig Kenntnis von den Gesetzen des spirituellenLebens hat, welche jede Tradition regieren?!

Wenden wir uns nun derjenigen Mystik zu, die keine Gnosis, Magie undhermetische Philosophie hervorgebracht hat. Eine solche Mystik muß früheroder später notwendigerweise zu „spirituellem Genuß“ oder „Rausch“degenerieren. Der Mystiker, der nur die Erfahrung der mystischen Zuständehaben will, ohne sie zu verstehen, ohne daraus praktische Schlüsse für dasLeben zu ziehen und ohne anderen nützlich sein zu wollen, der alles und allevergißt, uni die mystische Erfahrung zu genießen, kann einem geistigenTrunkenbold verglichen werden. –

Daher kann die Tradition – wie übrigens jeder lebendige Organismus –nur leben, wenn sie ein vollständiger mystisch-gnostischer Organismus vonmagischer Tragweite ist, der sich nach außen als hermetische Philosophie

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kundtut. Das will einfach besagen: Keine Tradition kann leben, wenn nichtder ganze Mensch durch sie, in ihr und für sie lebt. Denn der ganze Menschist zugleich Mystiker, Gnostiker, Magier und Philosoph, d. h., er ist religiös,kontemplativ, künstlerisch und intelligent. Jeder glaubt an irgend etwas,versteht etwas, kann etwas und denkt an etwas. Die menschliche Naturbestimmt, ob eine Tradition lebt oder Vergeht; und die menschliche Naturbesitzt auch die Möglichkeit, die vollständige Tradition zu gebären und sielebendig zu erhalten. Denn die vier „Sinne“ – der mystische, gnostische,magische und philosophische Sinn – existieren, sei es potentiell, sei es in ihrerVerwirklichung, in jedem menschlichen Wesen.

Nun bezieht sich die praktische Anweisung des zweiten Arcanums „DiePäpstin“ auf die Entwicklung des „gnostischen Sinnes“.

Was ist der „gnostische Sinn“?Es ist der kontemplative Sinn: eine Kontemplation, der eine konzentrierte

Meditation vorausgeht, welche im selben Augenblick beginnt, in dem dasdiskursive und logische Denken aussetzt. Das diskursive Denken istzufriedengestellt, sobald es zu einer gutbegründeten Schlußfolgerung kommt.Nun ist dieser Schluß der Ausgangspunkt für die Kontemplation. Sie ergründetdie Tiefe der Schlußfolgerung, zu welcher das diskursive Denken gelangt ist.Die Kontemplation entdeckt eine Welt im Innern dessen, was das diskursiveDenken einfach als „wahr“ feststellt. Der „gnostische Sinn“ beginnt zuarbeiten, sobald es sich um eine neue Dimension im Akt der Erkenntnishandelt, nämlich um die Tiefe. Er wird tätig, sobald es sich um etwas Tiefereshandelt als um die Frage: Ist dies wahr oder falsch? Er durchdringt zudem dieTragweite der von dem diskursiven Denken enthüllten Wahrheit und auch,„warum diese Wahrheit in sich selbst wahr ist“, d. h., er dringt bis zurmystischen und wesentlichen Quelle dieser Wahrheit vor. Wie gelangt erdorthin? – Im schweigenden Lauschen. Es ist, als wolle man sich einervergessenen Sache erinnern. Das Bewußtsein „horcht“ schweigend, so wieman innerlich lauscht, um aus der Nacht des Vergessens eine Sachehervorzurufen, die man früher gekannt hat. Doch es gibt einen wesentlichenUnterschied zwischen dein „lauschenden Schweigen“ der Kontemplation unddem Schweigen, das aus der Anstrengung des Sicherinnerns hervorgeht. Beidiesem zweiten Umstand ist die Horizontale der Zeit – Vergangenheit undGegenwart – entscheidend, während das „lauschende Schweigen“ derKontemplation sich auf die Vertikale bezieht – auf das, was oben und das,was unten ist. Wenn man sich erinnert, errichtet man in seinem Innern einenSpiegel, um darin die Vergangenheit widerzuspiegeln; wenn man „imSchweigen lauscht“ im Zustande der Kontemplation, macht man aus seinemBewußtsein ebenfalls einen Spiegel, aber dieser Spiegel hat die Aufgabe, das,was oben ist, widerzuspiegeln. Es ist der Akt des Sicherinnerns in derVertikalen.

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Es gibt tatsächlich zwei Arten von Erinnerung: die „horizontaleErinnerung“, die das Vergangene gegenwärtig macht, und die „vertikaleErinnerung“, die das, was oben ist, unten gegenwärtig macht, oder – gemäßunserer Unterscheidung zwischen den beiden Kategorien des Symbolismus, dieim ersten Brief definiert worden sind – das „mythologische“ und das„typologische“ Gedächtnis.

Henri Bergson hat vollkommen recht, wenn er von der horizontalen odermythologischen Erinnerung schreibt:

„In Wahrheit besteht das Gedächtnis durchaus nicht in dem Zurückschreitender Gegenwart zur Vergangenheit, sondern im Gegenteil in einemFortschreiten der Vergangenheit zur Gegenwart.“

Und weiter:

„... die reine Erinnerung ist aber eine geistige Manifestation. Mit deinGedächtnis sind wir recht eigentlich in das Gebiet des Geistes eingetreten.“

Es ist also die Vergangenheit, die in der Erinnerung zu uns kommt, unddarum geht dem Akt des Erinnerns ein Zustand schweigsamer Leerevoraus, welche die Rolle des Spiegels spielt, worin die Vergangenheit sichspiegeln kann, oder:

„Der Gehirnzustand setzt die Erinnerung fort; er gibt ihr Macht über dieGegenwart durch die Materialität, die er ihr verleiht.“

Dasselbe gilt für das „vertikale” oder „typologische“ Gedächtnis. Platonhat ebenfalls vollkommen recht, wenn er von dem Gedächtnis destranszendenten Selbst, welches dem empirischen Selbst die Wiedererinnerunggewähren kann, sagt:

„Weil nun die Seele unsterblich ist und oftmals geboren und, was hier ist undin der Unterwelt, alles erblickt hat: so ist auch nichts, was sie nicht inErfahrung gebracht hätte ... Suchen und Lernen ist demnach ganz und garErinnerung.“

Hier steigt gleicherweise dasjenige, was oben im Bereich des transzendentenSelbst ist, herunter auf die Ebene des empirischen Selbst, wenn dieses in sichdie schweigende Leere erzeugt, welche der Offenbarung Von oben alsSpiegel dient.

Was ist also notwendig, um die Spiegelung dessen, was oben oder immystischen Bereich ist, hier im Bereich des Wachbewußtseins zu erhalten? –Man muß „sich setzen“, d. h. einen aktiv-passiven Zustand herstellen, denZustand der Seele, die aufmerksam im Schweigen lauscht. Man muß „Frau“sein, d. h. sich im Zustand schweigender Erwartung befinden und nicht indem der Aktivität, die „redet“.

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Man muß die Zwischenebenen zwischen der Ebene, deren Widerspiegelungerwartet wird, und der Ebene des Wachzustandes, auf welcher sich dieseSpiegelung verwirklichen wird, „mit einem Schleier bedecken“. Man mußdas Haupt mit einer dreistufigen Tiara bedecken, d.h. sich mit einemProblem beschäftigen, welches so ernst ist, daß es sich auf alle drei Weltenund darüber hinaus erstreckt. Man muß „die Augen auf das geöffnete Buchauf den Knien“ gerichtet haben, d. h. die vollständige psychurgischeOperation unternehmen mit dem Ziel, ihr Ergebnis zu verobjektivieren, „dasBuch der Tradition fortzusetzen“, ihm etwas hinzuzufügen.

Nun finden sich alle diese praktischen Regeln der Gnosis auf der Karte„Die Päpstin“ klar aufgezeigt: es ist eine Frau; sie sitzt; sie trägt einedreistufige Tiara; ein hinter und über ihrem Kopf aufgehängter Schleierbedeckt die Zwischenebenen, die sie nicht wahrnehmen will; und siebetrachtet ein geöffnetes Buch auf ihren Knien.

Der „gnostische Sinn“ ist also das „spirituelle Gehör“, so wie der„mystische Sinn“ das „spirituelle Tasten“ ist. Das soll nicht heißen, daß der„gnostische Sinn“ Töne wahrnimmt, sondern nur, daß seine Wahrnehmungeneiner Bewußtseinshaltung verdankt werden, die dem Warten und derAufmerksamkeit beim Lauschen entspricht, und daß der Kontakt zwischen demWahrnehmenden und dem Wahrgenommenen nicht so unmittelbar ist, wie beidem „spirituellen Tasten« oder der mystischen Erfahrung.

Es bleibt noch, die beiden anderen, weiter oben erwähnten „Sinne“ zucharakterisieren, nämlich den „magischen Sinn“ und den „philosophisch-hermetischen Sinn“.

Der „magische Sinn“ ist der Sinn der Projektion, während der„philosophisch-hermetische Sinn“ derjenige der Synthese ist. „Projektion“bedeutet Heraussetzung ins Äußere, begleitet von der Trennung des Selbstvon den Inhalten des inneren Lebens, eine Operation, welche auf derseelischen Ebene im künstlerischen Schaffen und auf der physischen Ebenein der Geburt stattfindet.

Das Talent des Künstlers besteht darin, daß er seine Ideen und Gefühleobjektiv wiedergeben oder aus sich projizieren kann, und zwar so, daß einetiefere Wirkung auf die anderen erzielt wird als beim Ausdrücken dieserIdeen und Gefühle durch einen Nicht-Künstler. Das Kunstwerk ist mitEigenleben begabt. So wie eine Frau ein Kind gebiert, ein mit Eigenlebenbegabtes Wesen, das sich von ihrem Organismus trennt, um eineunabhängige Existenz zu beginnen. Der „magische Sinn“ besteht ebenfalls inder Fähigkeit, die Inhalte des inneren Lebens nach außen zu projizieren, diedann mit einem Eigenleben begabt bleiben. Magie, Kunst und Gebären sind inihrem Wesen analog, und sie gehören in die gleiche Kategorie der„Projektion“ oder der Gestaltwerdung des inneren Lebens. Das Dogma derKirche von der Erschaffung der Welt „ex nihilo“, d. h. der Projektion „aus demNichts“ sowohl der Formen als auch der Materie, wobei ihnen einEigenleben verliehen wurde, bedeutet die göttliche und kosmische Krönung

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dieser Reihe der Analogien. Die Lehre von der „creatio ex nihilo – derErschaffung aus dem Nichts“ ist die Apotheose der Magie. Ihre wesentlicheAussage ist in der Tat, daß die Welt ein magischer Akt ist.

Die pantheistischen, emanationistischen und demiurgischen Lehrendagegen entziehen der Schöpfung ihren magischen Sinn. Der Pantheismusverneint die unabhängige Existenz der Geschöpfe; diese leben nur alsBruchstücke des göttlichen Lebens, und die Welt ist nur der Leib Gottes.Die Emanationslehre schreibt den Geschöpfen der Welt nur einevorübergehende, mithin vergängliche Existenz zu. Der Demiurgismuserklärt: „ex nihilo nihil – aus dem Nichts entsteht nichts“, und lehrt, daß eseine gleich ewige Substanz wie Gott geben muß, die Gott als Material fürsein zu gestaltendes Werk benutzt. Gott ist also nicht der Schöpfer odermagische Urheber der Welt, sondern nur ihr Gestalter. Er formt, gruppiertum und vereinigt erneut die materiellen Elemente, die ihm gegeben sind.

Es handelt sich hier nicht darum, die Lehre Von der Schöpfung „ex nihilo“als einzige Erklärung der Welt zu betrachten, die wir um, in und über uns finden.Denn die Welt ist weit und groß; es gibt Raum, und es bestehen Ebenen für alleArten aufbauender Tätigkeit, die, im Ganzen genommen, die Welt unsererErfahrung so, wie sie ist, erklären. Worum handelt es sich also? Darum, mitsoviel Klarheit wie möglich die These zu bejahen, daß die Lehre von der„creatio ex nihilo“ der höchstmögliche Ausdruck der Magie ist, nämlich dergöttlichen und kosmischen Magie.

Wenn Sie mich aber fragen, lieber Unbekannter Freund, ob ich glaube,daß die Schöpfung der Welt nur ein magischer Akt sei, ohne daß ihm etwasvorausging und ohne daß ihm etwas folgte, so antworte ich: Nein, das glaubeich nicht. Ein mystischer und ein gnostischer Akt gehen in Ewigkeit dem Aktder Schöpfung als magischem Akt voraus; und ihm folgt die Tätigkeit desGestaltens durch den Demiurgen oder die demiurgischen Hierarchien, diesich mit der handwerklichen Ausformung befassen – ein Werk, das imhöchsten Maße das der ausführenden oder hermetisch-philosophischenIntelligenz ist.

Die klassische Kabbala liefert uns ein wundervolles Beispiel für denmöglichen Frieden zwischen diesen scheinbar gegensätzlichen Lehren. Inihrer Lehre der zehn Sephiroth lehrt sie uns zuerst das Mysterium von derewigen Mystik – En-Soph, dem Unbegrenzten. Dann legt sie die gnostischeLehre dar von den ewigen Emanationen im Schoße der Gottheit, die, in ordinecognoscendi, dem Schöpfungsakt vorausgehen. Sie sind die Ideen von Gott inGott, die der Schöpfung vorausgehen, da diese ein bewußter, keinimpulsiver oder instinktiver Akt ist. Dann spricht sie von der reinenSchöpfung oder der Schöpfung „ex nihilo“ – dem Akt der magischenProjektion der Ideen aus der Ebene der Schöpfung oder der Sephiroth. Diesemmagisch-schöpferischen Akt folgt – ebenfalls in ordine cognoscendi – dieTätigkeit des Gestaltens, an der die Wesen der geistigen Hierarchien –

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einschließlich der Menschen – teilhaben.

Auf diese Weise geschieht es nach der Kabbala, daß die Welt zur Tatsachewird und daß die Welt der Tatsachen oder Handlungen, die uns ausErfahrung bekannt sind, zu dem wird, was sie ist.

Nun geht der „’Olam ha’asiah – der Welt der Tatsachen“ die „’Olam hajetzirah – die Welt der Gestaltung“ oder die demiurgische Welt voraus; diesewiederum ist das Resultat der „‘0lam ha beriah – der Welt der Schöpfung“ oderder magischen Welt, die ihrerseits die Verwirklichung der „’Olam ha aziluth– der Welt der Emanationen“ oder der gnostischen Welt ist, welcheungetrennt und untrennbar ist von Gott, der in seinem eigentlichen Wesen dasMysterium der höchsten Mystik ist: En-Soph, das Unbegrenzte.

Es ist also möglich – und für uns besteht hier kein Zweifel –, dieverschiedenen Lehren über die Schöpfung zu versöhnen: man muß jede an denihr zukommenden Platz stellen oder sie auf der Ebene verwenden, die ihreigen ist. Die Kabbala liefert uns mit ihrer Lehre der Sephiroth dafür einenbewunderungswürdigen Beweis.

Der Pantheismus ist wahr für die „‘Olam ha aziluth – die Welt derEmanationen“, in der es nur Ideen in Gott und untrennbar von ihm gibt;aber der Theismus ist wahr, sobald man den Bereich der ungeschaffenenEwigkeit verläßt, um zur Schöpfung überzugehen, verstanden alsErschaffung der „Urahnen“ oder „Archetypen“ jener Phänomene, die wiraus der Erfahrung kennen. Der Demiurgismus ist wahr, wenn wir die Weltoder die Ebene der Gestaltung betrachten – die Evolution der Wesen mitihrem Ziel, ihren geschaffenen Urbildern gleichförmig zu werden.

Man kann sich aber, abgesehen von den Welten oder Ebenen des Gestaltens,der Schöpfung, der Emanation und des mystisch-göttlichen Wesens, auchauf die alleinige Ebene der Tatsachen beschränken. Dann wird auch derNaturalismus, für sich allein innerhalb der Grenzen dieser Ebene betrachtet,wahr.

Die Aufstellung der hierarchischen Ordnung dieser scheinbargegensätzlichen Schöpfungslehren hat uns mitten in den Wirkungsbereichdes „philosophisch-hermetischen Sinnes“ oder des „Synthese-Sinnes“geführt. Dieser Sinn, der dem zweiten HE des göttlichen Namens IHVHentspricht, ist im wesentlichen die abschließende Zusammenfassung oderdie Schau des Ganzen. Er unterscheidet sich vom „gnostischen Sinn“,welcher dem ersten HE des göttlichen Namens entspricht, dadurch, daß erdie Synthese des Ganzen in gegliederter Form zusammenfaßt bzw.hervorbringt, während der „gnostische Sinn“ die Spiegelung des Ganzen imKeimzustand ermöglicht.

Der „gnostische Sinn“ bringt die erste Synthese oder die Synthese vor derAnalyse hervor. Der „philosophisch-hermetische Sinn“ dagegen vollziehtdie zweite Synthese oder die Synthese nach der Analyse. Die Arbeit, diemittels dieses Sinnes geleistet wird, ist nicht ganz und gar schöpferisch. Sie

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ist vielmehr „demiurgisch“ – eine handwerkliche Arbeit, wobei man an dieGestaltung eines vorgegebenen Materials herangeht mit dem Ziel, ihm seineendgültige Form zu geben.

Da man in der „Tabula Smaragdina“ die Formeln findet, welche die „drei Teileder Philosophie der ganzen Welt“ („tres partes philosophiae totius mundi“)zusammenfassen, und da diese gleichzeitig die Welten der magischen Erfahrung,der gnostischen Offenbarung und der mystischen Erfahrung resümiert, habenwir diesem Sinn den Namen „philosophisch-hermetischer Sinn“ gegeben, d.h. Sinn der Synthese der drei Welten oder höheren Ebenen in einer vierten Weltoder Ebene. Es ist der Sinn einer „hermetischen” Synthese, d. h. einer Synthese,die in der Vertikalen der übereinander liegenden Ebenen wirkt. Denn dieHermetik ist wesentlich die Philosophie, die, auf Magie, Gnosis und Mystikberuhend, nach der Synthese der verschiedenen Ebenen des Makro- undMikrokosmos strebt. Wenn man die Tatsachen einer einzelnen Ebenezusammenfaßt – zum Beispiel die der Biologie –, benutzt man den„wissenschaftlichen Sinn“ und nicht den „philosophisch-hermetischen“. Derwissenschaftliche Sinn, der allgemein bekannt und anerkannt ist, faßt dieTatsachen der Erfahrung in einer einzigen Ebene, in der Horizontalen,zusammen. Die Hermetik ist keine Wissenschaft und wird es niemals sein. Siekann sich der Wissenschaft und ihrer Ergebnisse bedienen, aber sie wirddadurch nicht selbst zu einer Wissenschaft.

Die nicht-hermetische zeitgenössische Philosophie faßt dieEinzelwissenschaften zusammen mit dem Ziel, die Aufgabe der „Wissenschaftder Wissenschaften“ zu erfüllen, und sie hat dies gemeinsam mit derHermetik. Gerade darin unterscheidet sie sich aber auch von der Hermetik,die danach strebt, die Erfahrung auf allen Ebenen zusammenzufassen, unddie sich verschiedenartig gestaltet je nach der Ebene, auf welcher dieErfahrung stattfindet. Das ist der Grund, warum wir den Ausdruck„philosophisch-hermetisch“ gewählt haben, um damit den vierten Sinn oder„Synthese-Sinn“ zu bezeichnen.

Selbstverständlich konnte die Charakterisierung der vier Sinne, derenZusammenarbeit nötig ist, damit eine Tradition lebt und nicht degeneriert,hier nur auf sehr unvollkommene Weise skizziert werden. Die beidenfolgenden Arcana „Die Kaiserin“ und „Der Kaiser“ sind jedoch geeignet,dem, was wir soeben über den „magischen Sinn“ und besonders den„philosophisch-hermetischen Sinn“ gesagt haben, mehr Tiefe und Gehalt zuverleihen.

Denn das dritte Arcanum des Tarot „Die Kaiserin“ ist das Arcanum derMagie, und das vierte Arcanum „Der Kaiser“ ist das der hermetischen Philosophie.

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Dritter Brief

DIE KAISERIN

Das Arcanum der Magie

Geheiligte, persönliche, böse Magie – Herrschaft des Feinen über dasDichte – Wunderheilungen – Gefahren der falschen Magie – Der Heilige Gral– Das Mysterium des Blutes – Besessenheit – Egregore und Dämonen –Erwecken des freien Willens – Hiob – Befreiung von Zweifel, Furcht, Haßund Verzweiflung – Die Bibel als Formelbuch der geheiligten Magie – Mühe,Leid und Tod: Mystik, Gnosis und Magie – Der Baum des Lebens – „Ich binder Weg, die Wahrheit und das Leben“ – Wunder – Das Ideal des großenWerkes und das Ideal der Wissenschaft – Das Agens

des Wachstums – Der Hüter des Gartens Eden – Die Dreiheit – Magie derKunst – Schriftgelehrte und Pharisäer – Glaube, Hoffnung, Liebe –Läuterung, Erleuchtung, Vereinigung – Die Zeugung.

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DIE KAISERIN

Das Arcanum der Magie

„Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mirgeschehe nach deinem Wort“ (Lk 1, 38).

Lieber Unbekannter Freund,

das dritte Arcanum „Die Kaiserin“ ist das der geheiligten Magie. Nun gibt esdrei Arten von Magie:

Die Magie, in welcher der Magier das Werkzeug der göttlichen Macht ist –das ist die geheiligte Magie.

Die Magie, in welcher der Magier selbst die Quelle der magischen Operationist – das ist die persönliche Magie.

Die Magie endlich, in welcher der Magier das Werkzeug elementarer oderanderer Kräfte des Unbewußten ist – das ist die Hexerei.

Die Unterweisung des dritten Arcanums bezieht sich – in Anbetracht derAnordnung des Kartenbildes und seines Platzes zwischen dem zweiten und demvierten Arcanum – auf die geheiligte oder göttliche Magie.

Alle Magie, einschließlich der Hexerei, besteht in der Anwendung derRegel, daß das Feine über das Dichte herrscht: die Kraft über die Materie,das Bewußtsein über die Kraft und das Überbewußte oder Göttliche überdas Bewußtsein. Diese letztere Herrschaft symbolisiert die „Kaiserin“. IhreKrone, ihr Zepter und ihr Schild sind die drei Werkzeuge der Ausübungdieser Macht des Göttlichen über das Bewußtsein: der rechte Arm (vomBetrachter aus gesehen), welcher das Zepter hält, das in der goldenen, vomKreuz überragten Weltkugel endigt, stellt die Macht des Bewußtseins überdie Kraft dar; der linke Arm, welcher den Schild mit dem Adler hält,bedeutet die Macht der Energie über die Masse oder des Beflügelten überdas Schwere. Die Krone ist die göttliche Ermächtigung zur Magie. Nur dievon oben gekrönte Magie ist nicht eigenmächtig.

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Die Krone verleiht ihr Legitimität.Das Zepter ist die magische Macht. Dank dem Zepter ist die Kaiserin nicht

machtlos. Der Schild, der den Adler trägt, ist das Ziel der magischenMacht; er ist ihr Wappen und ihr Wahlspruch. Dieser lautet: „Befreiungfür den Aufstieg!“

Der feste Thronsessel, auf dem die „Kaiserin“ sitzt, symbolisiert denunanfechtbaren und unveräußerlichen Platz, welcher der Magie imgeistigen, seelischen und natürlichen Leben zukommt dank der göttlichenErmächtigung oder der Krone, der Wirklichkeit ihrer Macht oder demZepter und demjenigen, was sie zum Gegenstand hat oder dem Schild. Dasist die Rolle der Magie in der Welt.

Vertiefen wir uns nun noch mehr in die Betrachtung von Krone, Zepter,Wappenschild und Thronsessel der „Kaiserin“, in der wir die Symbole fürgöttliche Legitimität, Macht, Gegenstand und Rolle der Magie sehen.

Die Krone der „Kaiserin“ unterscheidet sich von der Tiara der„Päpstin“ des zweiten Arcanums zunächst dadurch, daß sie zwei Stufenhat anstatt drei. Die Würde oder das Amt, das sie bedeutet bzw. –verleiht, erstreckt sich also auf zwei Ebenen. Die Gnosis hat eine Tiara,weil sie die Aufgabe hat, die Offenbarung durch die drei Ebenen bis zum„Buch“ oder zur Tradition zu tragen. Die Magie ist gekrönt, weil ihreAufgabe die Vergeistigung der Natur ist, was der Wappenschild mit demfliegenden Adler anzeigt, den die „Kaiserin“ anstelle des Buches der„Päpstin“ hält.

Joséphin Péladan hat die Magie als „Kunst der Vergeistigung desMenschen“ („Part de la sublimation de l’homme“) bezeichnet. Genau dies ist derWappenschild oder das Ziel der Magie, wenn man unter „Vergeistigungdes Menschen“ diejenige der menschlichen Natur versteht. Péladan besaß einsehr tiefes Verständnis für das Wappen der Magie: den Schild mit demfliegenden Adler. Hiervon zeugen alle seine Werke. Sie stellen einen einzigenherrlichen Höhenflug dar und richten sich als Ganzes und jedes für sich auf dasIdeal der Vergeistigung der menschlichen Natur. Das war möglich, weilPeladan das Wappen der Magie trug: den fliegenden Adler. Heißt es nicht,den Wappenschild der Magie vor Augen zu haben, wenn man denMenschen auffordert, „die Adlerkräfte seiner Wünsche in die Wolken zuwerfen“, weil das Glück, „gesteigert bis zu einem Ideal, der Verneinung desMenschen und der Dinge entgeht; und nur darin liegt der einzige Triumphüber diese Welt“?

Und es ist dasselbe Wappen – der Schild mit dem Adler –, das Papus vorAugen hatte, als er die Magie beschrieb:

„Die Magie ist: Anwendung des erkrafteten menschlichen Willens auf dieschnell voranschreitende Evolution der lebendigen Kräfte der Natur“)

und als er dieser Definition die folgende:

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„Die Magie ist die Wissenschaft der Liebe“ vorangehen ließ?

Denn es ist genau die „schnell voranschreitende Evolution derlebendigen Kräfte der Natur“, welche der Adler auf dem Schild der„Kaiserin“ darstellt. Die „Wissenschaft“ der Liebe ist das Zepter der„Kaiserin“, welches das Mittel darstellt, wodurch das Ziel der Magie erreichtwird.

Wenn nun der Schild das „Was“ und das Zepter das „Wie“ der Magiebedeutet, so repräsentiert die Krone das „Mit welchem Recht“. Obwohl dieMagie aus den heutigen Strafgesetzbüchern verschwunden ist, besteht dochdie Frage nach ihrer Legitimität weiter als moralische, theologische undsogar medizinische Frage. Man fragt sich heute genauso wie in derVergangenheit, ob es moralisch gerechtfertigt ist, nach eineraußergewöhnlichen Macht zu streben oder sie sogar anzuwenden, welche unsGewalt verleiht über unseren Nächsten; man fragt sich, ob ein solchesTrachten nicht letztlich dem Hochmut entspringt und ob es mit der Rollevereinbar ist, die jeder aufrichtige, gläubige Christ der göttlichen Gnadevorbehält, sei es in ihrer unmittelbaren Wirkung, sei es in ihrer Vermittlungdurch die heiligen Engel und die Heiligen Gottes. Es fragt sich schließlich,ob ein solches Bestreben nicht ungesund ist und wider die menschlicheNatur, die Religion und die Metaphysik, weil es Grenzen gibt, wieweit manungestraft in Richtung auf das Unsichtbare vordringen kann.

Für alle diese Zweifel und Einwände gibt es gute Gründe. Es kann sichhier also nicht darum handeln, sie zu widerlegen, sondern zu erfahren, ob eseine Form von Magie gibt, die von diesen Zweifeln und Einwänden nichtberührt wird; oder mit anderen Worten: ob es in moralischer, religiöserund medizinischer Hinsicht eine legitime Magie gibt.

Als Ausgangspunkt sollen uns folgende Worte aus dem Neuen Testamentdienen:

„Es begab sich aber, daß Petrus überall umherzog und auch zu denHeiligen kam, die in Lydda wohnten. Dort traf er einen Mann, Äneas, derschon acht Jahre gelähmt zu Bett lag. Petrus sprach zu ihm: ,Äneas, JesusChristus macht dich gesund. Steh auf und richte selbst dein Bett her!’Sofort erhob er sich“ (Apg 9, 32 ff).

Hier liegt eine spirituelle Heilungshandlung vor, deren Berechtigungaußer Zweifel steht: vom moralischen Standpunkt aus ist sie ein Akt reinerBarmherzigkeit; vom Standpunkt der Religion aus ist sie im Namen JesuChristi gewirkt und nicht im Namen Petri; in medizinischer Hinsicht ist sieeine perfekte Heilung, unbeschadet der leiblichen und seelischenGesundheit, auf welche sie beim Heilenden schließen läßt. Was dieunbestreitbare Legitimität der Heilung des Äneas begründet, ist erstens derZweck der Handlung des Petrus: dem Gelähmten, unbeweglich Gewordenen,die Beweglichkeit wiederzugeben; zweitens ist es das Mittel, durch welches

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die Heilung erreicht wurde: das menschliche Wort, gegründet auf dasWesen Jesu Christi; und drittens ist es die Quelle der Handlung: „JesusChristus macht dich gesund!“

Das sind die drei Elemente der geheiligten Magie, die ihr Legitimitätverleihen und in denen man leicht die drei Insignien der „Kaiserin“wiedererkennen kann: Krone, Zepter und Schild. Denn dem unbeweglichGewordenen die Beweglichkeit zurückzugeben ist die befreiende Tat, welchedurch den Adler auf dem Schild versinnbildlicht wird; die Heilung alleindurch das Wort hervorzurufen bedeutet die Anwendung des vom Kreuzüberragten Zepters; und sie im Namen Jesu Christi zu vollziehen heißt, diegöttliche Krone auf dem Haupt zu tragen.

Aber, so könnte man einwenden, die Heilung des Äneas hat nichts mitMagie zu tun. Sie ist ein Wunder, d. h. eine Handlung Gottes, und derMensch gilt dabei nichts.

Der Apostel Petrus hätte also damit nichts zu tun? – Wenn das wahrwäre, warum hat er sich dann zu Äneas begeben? Warum wurde dergöttliche Heilungsakt nicht direkt vollzogen, ohne Vermittlung von Petrus?

Nein, Petrus hatte durchaus etwas damit zu tun. Seine Anwesenheit undseine Stimme waren notwendig, damit die Heilung stattfinden konnte.Warum? Dieses Problem verdient eine tiefe Meditation, denn es schließt daszentrale Mysterium der christlichen Religion, das der Inkarnation, mit ein. Inder Tat, warum mußte der LOGOS, der Sohn des Vaters, sich inkarnieren,Gott-Mensch werden, um das höchste Werk der göttlichen Magie zuvollbringen, das Werk der Erlösung?

Um sich zu demütigen? – Aber da er Gott war, war er die Demut selbst.

Um am menschlichen Schicksal teilzunehmen – menschliche Geburt,menschliches Leben, menschlicher Tod? – Aber Gott, der die Liebe ist, nahmteil, nimmt teil und wird immer teilnehmen am menschlichen Schicksal. Erfriert mit all denen, die frieren; er leidet mit allen, die leiden; und er gehtdurch die Todesqualen mit allen, die sterben. Wissen Sie, daß man in denKlöstern des Nahen Ostens zu der Zeit, als die Herzen noch imGleichklang mit Gott, der gegenwärtig war, schlugen, als wunderbaresHilfsmittel bei jeder Betrübnis und jedem Leiden die folgenden Worteauszusprechen lehrte: „Gepriesen sei deine Langmut, Herr!“?

Nein, da das Werk der Erlösung das der Liebe ist, erfordert es dievollkommene Vereinigung in der Liebe von zwei unterschiedlichen undfreien Willen, dem göttlichen und dem menschlichen Willen. Das Mysteriumdes Gott-Menschen ist der Schlüssel zur göttlichen Magie: da es dieGrundbedingung für die Erlösung war, ist diese ein Werk der göttlichenMagie, welches nur vergleichbar ist mit der Erschaffung der Welt.

Wunder erfordern also zwei vereinigte Willen! Sie sind keineManifestationen der befehlenden Allmacht, sondern sie werden einer neuenKraft verdankt, die jedesmal geboren. wird, wenn eine Einheit zwischen demgöttlichen und dem menschlichen Willen besteht.

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Petrus hat also durchaus etwas zu tun mit der Heilung des Äneas inLydda. Der göttliche Wille hatte seinen Willen nötig zur Erzeugung derKraft, welche den gelähmten Äneas sein Bett verlassen ließ. Eine solchegleichzeitige und übereinstimmende Handlung des göttlichen Willens mitdem menschlichen Willen ist genau das, was wir unter „geheiligter“ oder„göttlicher Magie“ verstehen.

Muß man von Magie sprechen, wenn es sich um ein Wunder handelt? –Ja, denn es gibt einen Magier, und die Teilnahme seines Willens istwesentlich für das Zustandekommen des Wunders. Petrus hat sich zu Äneasbegeben, und er hat die Worte ausgesprochen, welche die Heilung bewirkthaben. Die Teilnahme Petri ist nicht zu bestreiten; es gab also einenmenschlichen Magier. Daher ist der Gebrauch des Wortes „Magie“berechtigt, wenn man unter „Magie“ die Macht des Unsichtbaren undSpirituellen über das Sichtbare und Materielle versteht.

Es war aber keine „persönliche Magie“, sondern „göttliche Magie“, aufdie die Heilung des Äneas zurückging. Denn Petrus hätte nichts vermocht, wennsein Wille nicht mit dem göttlichen Willen vereint gewesen wäre. Er war sichdessen völlig bewußt, und darum sagte er zu Äneas: „Jesus Christus macht dichgesund.“ Was bedeutet: „Jesus Christus will dich gesund machen. JesusChristus hat mich zu dir geschickt, damit ich tue, was er mir gesagt hat.Was mich betrifft, so bin ich doppelt glücklich, gleichzeitig meinem Meisterdienen zu können und dich gesund zu machen, mein lieber Bruder Äneas.“

Das ist der Sinn der zweistufigen Krone, welche die Kaiserin trägt. Siebedeutet das doppelte Glück, dienen zu können dem, was oben ist, und dem,was unten ist. Denn die Krone repräsentiert ganz wie die Tiara die Machtdes Dienens. Der erwiesene Dienst an dem, was oben ist, und der erwieseneDienst an dein, was unten ist, verleihen der geheiligten Magie ihreLegitimität. Der Magier spielt in der geheiligten Magie die Rolle des letztenKettengliedes der magischen Kette, die von oben herabsteigt, das heißt, erdient auf Erden als Kontaktstelle und Knotenpunkt für die oben geplante,gewollte und in die Tat gerufene magische Operation. Tatsächlich trägt man,wenn man dieses letzte Kettenglied ist, die Krone der Berechtigung zurMagie. Wiederholen wir es: jede nicht auf diese Art gekrönte Magie istunrechtmäßig.

Ist folglich die Ausübung der geheiligten Magie allein der Priesterschaftvorbehalten? – Darauf antworte ich mit einer Gegenfrage: Ist die Liebe zuGott und zum Nächsten nur der Priesterschaft vorbehalten? – Die geheiligteMagie ist die Macht der Liebe, geboren aus der Vereinigung des göttlichenWillens mit dem menschlichen Willen in der Liebe. Nun war Philipp vonLyon kein Priester und noch nicht einmal Arzt; aber er heilte Kranke durchgeistige Macht, von welcher er sagte, daß sie nicht die seine sei, sonderndie des „Freundes von oben“.

Die Priesterschaft weist zahlreiche Wundertäter auf, wie den hl.Gregorius, den hl. Nikolaus und den hl. Patrick, was genügt, um uns zuüberzeugen, daß die geheiligte Magie in der Priesterschaft ganz zu Hause

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ist. Wie könnte es auch anders sein, da das Spenden der heiligenSakramente, dieser Operationen der universalen geheiligten Magie, dieHauptaufgabe der Geistlichkeit bildet und da die „oben beschlossenen“ undbestimmten individuellen Operationen vor allem denen anvertraut sind, dieim Umgang mit den universalen heiligen Sakramenten leben? – Ist es nichtnur natürlich, daß derjenige, der jeden Tag teilhat am Mysterium derTranssubstantiation, an erster Stelle zur geheiligten Magie berufen ist? –Leben und Werk des hl. Pfarrers von Ars lassen daran keinen Zweifel. SeinLeben und sein Werk zeigen uns die Erhabenheit und den Glanz derindividuellen geheiligten Magie, wie sie sich – neben dem Spenden deruniversalen heiligen Sakramente – im Leben und Werk eines einfachenLandpfarrers offenbaren können! Auf der anderen Seite zeigen uns aberLeben und Werk des Philipp von Lyon die Erhabenheit und den Glanz derindividuellen geheiligten Magie, wie sie sich – ohne die heiligen Sakramente –im Leben und Werk eines Laien, der auf dem Lande geboren undaufgewachsen ist, offenbaren können!

Die Liebe wirkt überall, wo sie gegenwärtig ist. Sie ist die innereBerufung eines jeden; sie ist niemandes Vorrecht.

Aus dem Vorhergehenden wird klar, daß die Gnosis, die der mystischenErfahrung verdankt wird, der geheiligten Magie vorangehen muß. Das istder Sinn der Krone, welche die „Kaiserin“ trägt. Die geheiligte Magie ist dasKind von Mystik und Gnosis.

Wäre dem nicht so, dann wäre die Magie die praktische Anwendungder okkulten Theorie. Diese geschieht aber nur in der persönlichen oderwiderrechtlichen Magie. Die geheiligte oder göttliche Magie ist diepraktische Umsetzung der mystischen Offenbarung in Praxis. Der Meisterhat Petrus offenbart, was er zu tun habe – innerlich und äußerlich –, umÄneas in Lydda zu heilen. Darin besteht die Reihenfolge der Dinge in dergeheiligten Magie: zuerst die wirkliche Berührung mit dem Göttlichen(Mystik), dann die Aufnahme dieses Kontaktes in das Bewußtsein (Gnosis)und schließlich das Inswerksetzen oder die Ausführung dessen, was diemystische Offenbarung als zu erfüllende Aufgabe und zu befolgendeMethode erkennen ließ.

Die persönliche oder unrechtmäßige Magie folgt dagegen einer ent-gegengesetzten Ordnung. Hier studiert der Magier selbst die okkulte Theorieund entscheidet, wann und wie sie in die Praxis umzusetzen ist. Auch wenner dabei dem Rate eines Meisters in der Magie folgt – jemandem, der in derMagie erfahrener ist als er –, so bleibt es doch grundsätzlich der gleicheSachverhalt: immer ist es die menschliche Persönlichkeit, die über das„Was“ und „Wie“ entscheidet. So sagt Papus:

„Was die Magie von der okkulten Wissenschaft im allgemeinenunterscheidet, ist, daß erstere eine praktische Wissenschaft ist, während diezweite vor allem theoretisch ist. Aber die Magie ausüben zu wollen, ohneden Okkultismus zu kennen, heißt, eine Lokomotive führen zu wollen, ohne

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eine theoretische Spezialschulung durchgemacht zu haben. Das Ergebnis istabsehbar.“

Und dann:

„Da die Magie eine praktische Wissenschaft ist, verlangt sie, wie allepraktischen Wissenschaften, theoretische Vorkenntnisse.“

Und endlich:

„Die Magie, wenn man sie als angewandte Wissenschaft betrachtet,beschränkt ihre Tätigkeit fast allein auf die Entwicklung der Beziehungen,die zwischen dem Menschen und der Natur bestehen. Die Erforschung derBeziehungen, die zwischen dem Menschen und der höheren, göttlichenEbene bestehen mit all ihren Modalitäten, bezieht sich mehr auf dieTheurgie als auf die Magie.“

Da haben wir eine charakteristische Definition, die nichts zu wünschenübrigläßt in bezug auf das, was wir als „persönliche“ oder „willkürlicheMagie“ bezeichnet haben. Die Magie dieser Art schließt nicht dieübermenschliche, die göttliche Ebene ein. Der Mensch ist hier der einzigeMeister – wie er es übrigens bei allen angewandten Wissenschaften ist.

„In der Regel ist das leitende Prinzip in jeder Handlung der menschlicheWille; das Mittel der Handlung, das benutzte Handwerkszeug, ist dasmenschliche oder natürliche astrale Fluidum; und das zu erreichende Zielist die Verwirklichung (gewöhnlich auf dem physischen Plan) derunternommenen Operation.“

Aber:

„Was zeremonielle Magie und Beschwörung der Naturkräfte anbelangt,so können wir sie nur verurteilen, sowohl wegen ihrer Überflüssigkeit alsauch wegen der furchtbaren Gefahren, die sie mitbringen, und wegen desSeelenzustands, den sie zur Voraussetzung haben... Unter dieser letzterenBezeichnung (zeremonielle Magie) versteht man in Wirklichkeit dieOperation, bei der der menschliche Wille und der menschliche Intellekt alleinin Ausübung sind, sogar ohne die Mitwirkung des Göttlichen.“

Die „erheblichen Gefahren“ der persönlichen oder willkürlichen Magiesind von jenen beschrieben worden, die darin direkte oder indirekte Erfahrunghatten. Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim“, Eliphas Levi und Papushaben genügend Beweismaterial dafür beigebracht, daß die persönliche oderwillkürliche Magie äußerst gefährlich ist.

Bei der geheiligten oder göttlichen Magie läuft man höchstens Gefahr,daß sie infolge eines Irrtums unwirksam ist, was betrüben kann, aberungefährlich ist.

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Bevor ich die Betrachtung über die Gefahren der falschen Magieabschließe, möchte ich noch auf diejenigen hinweisen, welche Jean Herbertaufzählt, indem er den Leser vor der Versuchung warnt, die Ausübung dertantrischen Methode zu probieren und die „Schlangenkraft“ oder„Kundalini“ zu erwecken, um sie zum Haupt aufsteigen zu lassen, demZentrum Sahasrâra:

„Wer sich auf ein solches Abenteuer einläßt, ohne von einem authentischenMeister geführt zu werden – was im Westen fast sicher unmöglich ist –,befindet sich in einer Lage, die analog der eines Kindes ist, das man mit allden Drogen spielen läßt, mit denen eine Apotheke ausgestattet ist, oder dasman mit einer Pechfackel in einem Munitionslager herumlaufen läßt.Unheilbare Herzschäden, langsame Zerstörung des Rückenmarks, sexuelleStörungen und Wahnsinn erwarten diejenigen, die sich in eine solche Gefahrbegeben ...“

Das ist der Strauß der „Blumen des Bösen“, welcher dem Anfänger ohneGuru oder mit einem nichtauthentischen Guru geboten wird!

Kehren wir nun zur geheiligten Magie zurück. Nachdem wir ihre„Krone“ oder göttliche Legitimation charakterisiert haben, müssen wir jetztihr „Zepter“ oder ihre Macht betrachten. Das Zepter der „Kaiserin“ setztsich aus drei Teilen zusammen:

einem Kreuz, einer Weltkugel und einem Stab, der in einer kleinenKugel oder in einer Eichel endigt. Der Stab ist unten an der Stelle, wo die„Kaiserin“ ihn hält, schmaler als oben, wo er die vorn Kreuz überragteWeltkugel trägt. Der Globus ist durch einen Gürtel oder eine„Äquatorialzone“ in zwei Hälften geteilt. So kann man sagen, daß er auszwei Schalen gebildet ist; die eine umgekehrte, das Kreuz tragende, istnach unten geöffnet; die andere nach oben gewandte und vorn Stabgestützte ist nach oben geöffnet. Nun ist die Vereinigung der einen, vomKreuz überragten Schale mit der anderen, vorn Stab getragenen, diezusammen das Zepter der „Kaiserin“ bilden, der symbolische Ausdruck derMethode der Verwirklichung der durch die Krone repräsentiertenWirkungsmöglichkeit. Die Vereinigung von zwei potentiellen Willen inder Krone ist im Zepter wirklich geworden. Die vorn Kreuz überragte undnach unten gerichtete Schale ist der göttliche Wille, während die vom Stabgestützte und nach oben geöffnete Schale der menschliche Wille ist. Ihreaktive Verbindung ist das Zepter oder die Macht der geheiligten Magie.

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Diese Macht rührt vom Einfluß des Kreuzes her, der von der oberen in dieuntere leere Schale fließt und von dort in den Stab herabsteigt, um sich andessen Ende wie in einer Eichel oder in einem Tropfen zu konzentrieren,oder anders ausgedrückt: das heilige Blut von oben konzentriert sich undwird durch das menschliche Wort und die Menschliche Handlung einmenschlicher „Blutstropfen“.

Sie werden jetzt vielleicht sagen: Wovon Sie sprechen, ist der Heilige Gral, istdie mystische Eucharistie!

Ja, worum es sich handelt, ist genau der Heilige Gral oder die mystischeEucharistie. Denn dort, und nur dort, hat die Macht der geheiligten Magieihren Sitz. Diese Macht ist letztlich die der zweifachen Aufrichtigkeit – dergöttlichen und der menschlichen – vereint im menschlichen Wort oderder menschlichen Handlung. Denn kein Wort und keine Handlung sindwahrhaft aufrichtig, wenn sie nur an das Gehirn gebunden und nicht zuLebensblut geworden sind. Je mehr Aufrichtigkeit im Wort und in dermenschlichen Handlung ist, desto mehr ist darin von der lebendigen Essenzdes Blutes enthalten. Immer wenn es geschieht – und die Engel knien inAnbetung nieder, wenn es geschieht –, daß das menschliche Wollen inÜbereinstimmung ist mit dem göttlichen Wollen, vereinigt sich alsbald dasheilige Blut mit der lebendigen Essenz des menschlichen Blutes, und dasMysterium des Gott-Menschen wiederholt sich, wie auch die wunderwirkendeMacht des Gott-Menschen sich erneuert. Das ist die Macht der geheiligtenMagie – oder ihr Zepter.

Lieber Unbekannter Freund, glauben Sie nicht, daß ich diese Dinge aufintellektuelle Weise zusammengestellt habe nach der Lektüre von Büchernüber den Heiligen Gral und von Abhandlungen der mystischen Theologieüber das Sakrament der Eucharistie! – Nein, ich hätte niemals über dasMysterium des Blutes als Quelle der geheiligten Magie geschrieben – selbstwenn ich diese Dinge „wüßte“ –, wenn ich nicht zu wiederholten Malen dieKapelle des Heiligen Blutes in Brügge besucht hätte. Dort habe ich dieerschütternde Erfahrung von der Wirklichkeit des heiligen Blutes desGott-Menschen gemacht. Diese Erfahrung von der seelenverjüngendenWirkung – was sage ich! – nicht allein die Seele verjüngend, sondern sieauch wieder aufrichtend im Sinne der vom hl. Petrus bewirkten Heilung desÄneas: „Stehe auf und richte selbst dein Bett her!“ – diese Erfahrung, sageich, hat mir das Mysterium des heiligen Blutes und der Quelle der Macht dergeheiligten Magie geoffenbart.

Stoßen Sie sich nicht an dem persönlichen Charakter dieser Mitteilung.Ich bin ein anonymer Autor, und ich bleibe es, um freier und aufrichtigersein zu können, als es sonst einem Verfasser möglich ist.

Der Zweck der geheiligten Magie wird, wie wir bereits sagten, durch denSchild dargestellt, den die „Kaiserin“ trägt anstelle des Buches, das die„Päpstin“ hält. Die geheiligte Gnosis hat den mittelbaren Ausdruck (oder das

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Buch) der mystischen Offenbarung zum Zweck, während das Ziel dergeheiligten Magie die befreiende Handlung oder die Wiederherstellung derFreiheit für die Wesen ist, welche sie teilweise oder völlig verloren haben.Der im Fluge dargestellte Adler auf dem Schild versinnbildlicht diesenWahlspruch der geheiligten Magie, den man auch folgendermaßenformulieren könnte: Jedwedem Sklaven die Freiheit zurückgeben!“ Erumfaßt alle bei Lukas erwähnten Werke:

„In jener Stunde heilte er viele von Krankheiten und Qualen und bösenGeistern, und vielen Blinden schenkte er das Augenlicht. Da antwortete erihnen: ,Geht hin und berichtet dem Johannes, was ihr gesehen und gehörthabt: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören,Tote stehen auf, Armen wird frohe Botschaft Verkündet.“ (Lk 7, 21 f).

Das ist das Ziel der geheiligten Magie; sie hat kein anderes als dieWiederherstellung der Freiheit, zu sehen, zu hören, zu gehen, zu leben,nach dem Ideal zu streben und wahrhaft man selbst zu sein – das heißt denBlinden das Augenlicht wieder zu geben, den Tauben das Gehör, denLahmen das rechte Gehen, den Toten das Leben, den Armen die froheBotschaft oder das Ideal und denen, die besessen sind von bösen Geistern,den freien Willen. Sie beeinträchtigt niemals die Freiheit, derenWiederherstellung ihr einziges Ziel ist.

Das Bestreben der geheiligten Magie richtet sich nicht einfach auf bloßeHeilung, sondern es zielt auf die Wiederherstellung der Freiheit, auch aufBefreiung von den Fesseln des Zweifels, der Furcht, des Hasses, der Apathieund der Verzweiflung.

Die „bösen Geister“, die den Menschen seiner Freiheit berauben, sindkeineswegs Wesenheiten der sogenannten Hierarchien des Bösen oder der„gefallenen“ Hierarchien. Weder Satan noch Belial, noch Luzifer, nochMephistopheles haben jemals irgend jemanden, wer immer es sei, seinerFreiheit beraubt. Ihre einzige Waffe ist die Versuchung, und diese setzt dieFreiheit desjenigen voraus, der versucht wird. Die Besessenheit durch einen„bösen Geist“ hat nichts mit Versuchung zu tun. Es ist stets der gleicheSachverhalt wie mit Frankensteins Ungeheuer: man erzeugt ein Elementarwesenund wird dann Sklave seiner eigenen Schöpfung. Die „Dämonen“ und „bösenGeister“ des Neuen Testaments heißen heute in der Psychotherapie„Zwangsneurosen“, „Angstneurosen“, „fixe Ideen“ usw. Sie sind von denzeitgenössischen Psychiatern entdeckt und als Realitäten anerkanntworden, d. h. als „parasitäre psychische Organismen“, die unabhängig vombewußten menschlichen Willen sind und die Neigung haben, diesen zuunterwerfen. Der Teufel hat damit nichts zu tun, wenigstens nicht im Sinne einerdirekten Beteiligung. Er gehorcht dem Gesetz, das die menschliche Freiheitschützt und welches das unverletzliche Abkommen ist zwischen denHierarchien zur „Rechten“ und zur „Linken“. Er übertritt es niemals, wie es

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zum Beispiel aus der Geschichte von Hiob hervorgeht. Man fürchte daher nichtden Teufel, vielmehr fürchte man die perversen Neigungen in sich selbst!Denn diese perversen menschlichen Neigungen sind es, die uns unsererFreiheit berauben und uns knechten können. Schlimmer noch: sie könnensich unserer Vorstellungskraft oder unserer Erfindungsgabe bemächtigenund uns zu Schöpfungen veranlassen, die zur Geißel der Menschheit werden.Die Atombomben und die Wasserstoffbomben sind schlagende Beweisedafür.

Der Mensch mit der möglichen Perversität seiner fehlgeleitetenVorstellungskraft ist viel gefährlicher als der Teufel und seine Legionen.Denn der Mensch ist nicht an die Abmachung zwischen Himmel und Höllegebunden; er kann sich über die Schranken des Gesetzes hinwegsetzen undwillkürlich üble Kräfte erzeugen, deren Natur und Wirksamkeit außerhalbdes Rahmens des Gesetzes sind. Solcherart waren die Moloche und andere„Götter“ von Kanaan, Phönizien, Karthago, dem alten Mexiko und anderenLändern, die Menschenopfer forderten. Man muß sich hüten, zu Unrechtdie Wesen der Hierarchien des Bösen anzuklagen, die Rolle der Molochegespielt zu haben, da diese nur Geschöpfe der perversen kollektivenVorstellungskraft und des fehlgeleiteten kollektiven Willens der Menschenwaren. Sie sind Egregore der kollektiven Perversität, so wie es „Dämonen“oder „böse Geister“ gibt, die von einzelnen Menschen erzeugt werden.

Doch genug von Dämonen; das Problem der „bösen Geister“ wirdeingehender und tiefer im 15. Brief behandelt werden, welcher demfünfzehnten Arcanum „Der Teufel“ gewidmet ist.

Der Thronsessel, auf welchem die „Kaiserin“ sitzt, stellt, wie wir bereitssagten, die Rolle der geheiligten Magie in der Welt dar. Er ist ihr Platz inder Welt und in der Weltgeschichte – ihr Fundament. Mit anderen Worten: erist das sie Erwartende und Ersehnende, immer bereit, sie zu empfangen.Was aber ist dies?

Im Hinblick auf die befreiende Wirkung der geheiligten Magie ist esalles, was der Freiheit entbehrt und dem Zwang der Notwendigkeitunterworfen ist. Es handelt sich um das, wovon der hl. Paulus sagt:

„Denn die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerdender Söhne Gottes. Die Schöpfung ist der Vergänglichkeit unterworfen, nichtaus eigenem Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat; aberzugleich gab er ihr Hoffnung: Auch die Schöpfung soll von der Sklavereiund Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der KinderGottes. Denn wir wissen, daß die gesamte Schöpfung bis zum heutigenTag seufzt und in Geburtswehen liegt. Aber auch wir, obwohl wir alsErstlingsgabe den Geist haben, seufzen in unserem Herzen und wartendarauf, daß wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden“(Röm 8, 19-23).

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Das Mineral-, Pflanzen-, Tier- und Menschenreich der Natur – mit einemWort: die ganze Natur – bildet also den Bereich der geheiligten Magie. DieUrsache ihres Daseins rührt her vom Sündenfall in seinem ganzen Umfangmit der gefallenen Natur, dem gefallenen Menschen und den gefallenenHierarchien. Alle Wesen gehören ihr an, die mit „ungeduldiger Sehnsucht“darauf hoffen, befreit zu werden „von der Knechtschaft der Vergänglichkeit“,um wieder integriert zu werden in die „Freiheit und Herrlichkeit der KinderGottes“.

Wie handelt die geheiligte Magie, um dieses Ziel zu erreichen?Wie befreit sie zum Beispiel den Menschen?Der Thronsessel der „Kaiserin“ hat eine Lehne. Diese erinnert sehr an zwei

Flügel, so daß einige Interpreten des Tarot bei der „Kaiserin“ auch Flügelerkennen wollten. Andere hingegen haben nur eine Lehne gesehen. Wenn mandas Kartenbild in seinem Zusammenhang sieht – die Bedeutung des Schildes mitdem Adler, des vom Kreuz überragten Zepters und der zweistufigen Krone –,könnte man dann nicht in der Lehne zwei versteinerte, unbeweglich gewordeneFlügel sehen, die früher einmal wirkliche Flügel waren und es heute nochpotentiell sind?

Wenn diese Auslegung akzeptiert würde, brächte sie nicht nur die beidenscheinbar entgegengesetzten Auffassungen in Einklang, sondern sie stimmte auchmit allem überein, was die Karte über das Gebiet, das Ziel, die Macht und dieLegitimität der geheiligten Magie lehrt: den versteinerten Flügeln dieBeweglichkeit zurückzugeben. Würde das nicht mit der befreienden Aufgabeder geheiligten Magie und mit den Worten des hl. Paulus übereinstimmen?

Wie dem auch sei, diese Auslegung enthält jedenfalls die Antwort auf dieFrage nach der konkreten Art und Weise der befreienden Wirkung dergeheiligten Magie. Sie ist in allen Punkten der zwingenden Wirkung derfalschen oder persönlichen Magie entgegengesetzt. Sie stellt der Hypnose dasErwecken des freien Willens gegenüber; der Suggestion die Befreiung vonfixen Ideen und psychopathologischen Komplexen; der Beschwörung desNekromanten das Sicherheben zum Verstorbenen durch die Kraft der Liebe; denZwangsmitteln, welche von der zeremoniellen Magie hinsichtlich derElementarwesen (Gnomen, Undinen, Sylphen und Salamander) angewandtwerden, das Gewinnen ihres Vertrauens und ihrer Freundschaft durchentsprechende Handlungen; den Methoden der praktischen Kabbala, welche dieUnterjochung der „bösen Geister“ (der Wesen der gefallenen Hierarchien) zumZiel haben, ihre Umwandlung zu freiwilligen Dienern durch Standhaftigkeitgegenüber den verschiedenen Versuchungen eines jeden von ihnen. Denn auch siewarten darauf, daß „die Kinder Gottes offenbar werden“, und dieseOffenbarwerdung bedeutet für sie vor allem Unzugänglichkeit gegenüber ihrenVersuchungen.

Widersteht dem Teufel, und der Teufel wird euer Freund werden!Ein Teufel ist kein Atheist; er zweifelt nicht an Gott. Der Glaube, der ihm

fehlt, ist der Glaube an den Menschen. Und die Tat der geheiligten Magie imHinblick auf einen solchen Teufel ist die Wiederherstellung seines Glaubens

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an den Menschen. Der Zweck der Prüfungen Hiobs war nicht etwa, dieZweifel Gottes zu zerstreuen, sondern vielmehr diejenigen des Teufels. Werwar es, der, nachdem diese Zweifel erst einmal zerstreut waren, alles dafür tat,daß Hiob zurückbekam, was er verloren hatte, wenn nicht dasselbe Wesen,das ihn vorher beraubt hatte? Der Feind Hiobs wurde aus freiem Antrieb zuseinem Diener, und „Diener aus freiem Antrieb“ heißt Freund.

Schließlich setzt die geheiligte Magie der Praxis des Magnetismus(Übertragung von fluidischen Kräften) die Bereitschaft entgegen, dieKrankheiten und Gebrechen des anderen auf sich zu nehmen, entsprechendder Vorschrift des hl. Paulus:

„Einer trage des anderen Last und erfülle so das Gesetz Christi“ (Gal 6,2).

So praktizierten die Heiligen die geheiligte Magie. Sie übertrugen nichtihre Kräfte, ihre Vitalität oder ihr Fluidum auf den anderen, sondern nahmenim Gegenteil auf sich, was ihn krank machte. Die hl. Lidwina zum Beispiel,die während langer Jahre niemals ihr Bett und ihr Zimmer verließ, roch einesTages stark nach Alkohol. Zur gleichen Zeit Vollzog sich die Heilung einesAlkoholikers in der Stadt Schiedem.

Ich habe diese Liste der Gegensätze nicht vorgebracht, um Hypnose,Suggestion, alle Arten von Beschwörungen, die zeremonielle Magie, welchesich auf die Natur richtet, die praktische Kabbala, welche die Unterwerfungder „bösen Geister“ erstrebt, und den Magnetismus zu kritisieren und erstrecht nicht, um sie zu Verurteilen. Mein einziges Ziel war hervorzuheben,worin sich die geheiligte Magie von diesen Praktiken unterscheidet. Auchsie können dem Guten dienen, aber die geheiligte Magie kann nicht anders,als nur dem Guten zu dienen.

Gibt es „Zauberbücher“ der geheiligten Magie? – Ja, wenn man unter„Zauberbüchern“ ein Arsenal von Waffen oder Handwerkszeug versteht,dessen man sich dort bedient. Dieses Arsenal wird durch Formeln, Gesten unddurch von den Gesten wiedergegebene Figuren gebildet. Man darf sieallerdings nicht willkürlich wählen. Die Wahl soll entweder aufgrund derdurch Offenbarung bekräftigten tiefen Wissenschaft getroffen werden oderaber direkt der Offenbarung vorbehalten bleiben, welche später durch die aufErfahrung beruhende Wissenschaft bestätigt wird.

Was das Arsenal der Formeln anbelangt, so ist es beinahe ganz fürjedermann zugänglich. Denn das Hauptformelbuch der geheiligten Magie istdie Heilige Schrift – die das Alte und Neue Testament umfassende Bibel. DasEvangelium nach Johannes nimmt darin einen hervorragenden Platz ein,denn es ist fast ganz aus magischen Formeln gebildet. Dann kommen diedrei anderen Evangelien und die Apokalypse. Auch in den Episteln und inder Apostelgeschichte findet man magische Formeln.

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Im Alten Testament befinden sie sich vor allem in den Psalmen, im BuchGenesis (Bereshith), bei Ezechiel und den anderen Propheten. Imliturgischen Ritual der Kirche und in der geschriebenen oder mündlichenÜberlieferung, welche auf die Heiligen und die großen Mystiker zurückgehen,gibt es ebenfalls magische Formeln. Der Text der „Tabula Smaragdina“ gehörtgleicherweise zum Arsenal der Formeln der geheiligten Magie. Was den„stummen Teil“ der geheiligten Magie betrifft, d. h. die Gesten und diedurch die Gesten wiedergegebenen Figuren, so soll ihre Wahl ebenfallsentweder aufgrund der Offenbarung erfolgen oder durch sie bestätigtwerden. Sie bestehen in der Regel in den im Ritus der traditionellen Kirche(der römischen oder der griechisch-orthodoxen) gebrauchten Gesten und indenjenigen Gesten, welche eine begrenzte Anzahl geometrischer Figurenwiedergeben. So muß man manchmal knien, manchmal stehen, manchmalsich niederwerfen; manchmal muß man die Geste der Segnung, manchmaldie des Schutzes, manchmal die der Befreiung vollziehen usw. DieseFormeln und Gesten sind nicht geheim, aber man darf sie nicht verraten.Verraten bedeutet nicht, sie zu verbreiten, sie andere wissen zu lassen; manverrät nicht eine magische Formel, die fast aller Welt bekannt ist, durch dieTatsache, sie anderen zur Kenntnis zu bringen. Man verrät sie aber, wennman sie aus ihrem geheiligten Eigenbereich und dem geheiligtenZusammenhang der magischen Operation, deren Teil sie ist, herausreißt undsie auf eine niedrigere Ebene herunterzieht, d. h. sie mißbraucht. Es istgenau wie bei den Formeln, durch welche sich die Konsekration in derMesse vollzieht. Alle Welt kennt sie, aber sie wirken nur, wenn sie imgeheiligten Zusammenhang der Messe durch eine Person ausgesprochenwerden, die allein berechtigt und bevollmächtigt ist, sie anzuwenden. Es istnicht ihre Geheimhaltung, die sie wirksam macht; es ist der Zusammenhangund das Niveau der Operation ebenso wie die Legitimation desAusführenden oder Zelebranten.

Man verrät also nicht die Formeln der Konsekration, wenn man sie in denMeßbüchern druckt; aber man würde sie wohl verraten, wenn man sich ihrerals Laie in einer willkürlich improvisierten oder erfundenen „Messe“bediente. Das Mysterium ist auf andere Art geschützt als das Geheimnis. SeinSchutz ist das Licht, während der Schutz des Geheimgehaltenen dieDunkelheit ist. Das Arcanum nun, welches die Zwischenstufe zwischen demMysterium und dem Geheimnis darstellt, wird vom Licht der Dämmerunggeschützt. Denn es offenbart sich und verbirgt sich gleichzeitig durch dasMittel des Symbolismus. Der Symbolismus ist das Zwielicht der Arcana. Sosind die Arcana des Tarot sichtbar gewordene und jedermann zugänglicheFormeln. Sie dienten in der Vergangenheit Tausenden von Personen zurUnterhaltung; Hunderte bedienten sich ihrer, um wahrzusagen; einigeerfuhren ihre offenbarende Wirkung. Court de Gébelin war über sie erstaunt;Eliphas Lévi wurde davon ergriffen; Papus wurde von ihnen inspiriert.Andere folgten ihnen und erfuhren die seltsame und fast unwiderstehlicheAnziehungskraft des Tarot. Sie studierten, meditierten, kommentierten und

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interpretierten ihn, weil sie angeregt, inspiriert und erleuchtet wurden durch„irgend etwas“ im Tarot, das sich zugleich offenbart und verbirgt imZwielicht seiner Symbole. Und wir? Wie ergeht es uns mit dem Tarot? – Wirwerden es aus sicherer Kenntnis wissen nach dem 22. Brief, der den KleinenArcana des Tarot gewidmet ist. –

Der Thronsessel, auf dem die „Kaiserin“ sitzt, repräsentiert das zweiteHE des „Tetragrammaton“ der geheiligten Magie, das heißt ihre manifestgewordene Gesamtheit; ihre Krone entspricht dem JOD, das Zepter demersten HE und der Schild dem WAW des Tetragrammaton.

Darum haben wir den Thronsessel als „Rolle der geheiligten Magie in derWelt und in der Geschichte“ definiert. Man könnte ebensogut sagen, daß esdas Phänomen der gesamten geheiligten Magie ist, wie es sich in derMenschheitsgeschichte geäußert hat, äußert und äußern wird. Es ist ihrhistorischer Leib, der ihre Seele und ihren Geist offenbart. Unter „Leib“verstehe ich, was die direkte Tätigkeit in der Welt der Tatsachen möglichmacht. So ist das „Arsenal“ oder Depot der magischen Formeln und Gesten,deren man sich bei der praktischen Ausübung der geheiligten Magie bedient,Teil ihres „Leibes“. Das Ritual ihrer universalen Operationen, welche dazubestimmt sind, der ganzen Menschheit zu dienen, und die über Raum undZeit erhaben sind, d. h. die sieben heiligen Sakramente der universalen Kirche,bilden, insofern sie Ritual sind, gleicherweise einen Bestandteil ihres„Leibes“. Auch die Persönlichkeiten, die den Auftrag oder die Gabe haben,für den Fortbestand der Tradition der geheiligten Magie Sorge zu tragen,gehören dazu. Dieser Leib ist wie ein Baum, der eine bestimmte Anzahl vonÄsten hat, die viele Blätter tragen, und dessen Wurzeln im Himmel sind,während sein Wipfel nach unten ragt. Er hat nur einen Stamm und einenSaft, der alle seine Äste mit ihren unzähligen Blättern ernährt und belebt.

Ist es der „Baum der Sephiroth“ der Kabbala? – Oder der „Baum derErkenntnis des Guten und des Bösen?“ – Oder der „Baum des Lebens“?

Die Frucht des Baumes der Erkenntnis des Guten und des Bösen hatteeine dreifache Wirkung: Mühe, Leid und Tod. Die Mühe oder Arbeit nahmden Platz der mystischen Vereinigung mit Gott ein; dieselbe Vereinigung ohneMühe und Anstrengung ist die Unterweisung des ersten Arcanums des Tarot„Der Gaukler“. Das Leiden ersetzte die direkt gespiegelte Offenbarung oderGnosis; deren direkte Offenbarung ist die Unterweisung des zweiten Arcanumsdes Tarot „Die Päpstin“. Der Tod trat in den Bereich des Lebens oder derschöpferischen geheiligten Magie ein, welche die Unterweisung des drittenArcanums des Tarot „Die Kaiserin“ ist. Nun ist die geheiligte Magie dasLeben, wie es vor dem

Sündenfall war. Die Gnosis des zweiten Arcanums ist das Bewußtsein,wie es vor dem Fall war. Die mystische Unmittelbarkeit bzw. Spontaneitätdes ersten Arcanums ist die Beziehung zwischen Mensch und Gott, wie sievor dem Fall war. Diese ursprüngliche Spontaneität gab der Evolution oderder Entwicklung des menschlichen Wesens Anstoß und Richtung. Nicht der

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Kampf ums Dasein, wie ihn Charles Darwin vor einem Jahrhundertbeschrieben hat, war der richtunggebende Grundimpuls zum Ideal oder zumZiel der Evolution vor dein Sündenfall, sondern jener Zustand des Seins, denwir heute mit dein Ausdruck „mystische Vereinigung“ bezeichnen. DasPrinzip des Kampfes oder der Mühe wurde erst nach dem Fall ins Spielgebracht. Ebenso spielte das Leiden vor dem Fall nicht diebewußtseinerweckende Rolle; diese Rolle war damals der direkt gespiegeltenOffenbarung oder der Gnosis vorbehalten. Der Tod spielte damals nochnicht die Rolle der Befreiung des Bewußtseins durch die Zerstörung derFormen, die es einsperren, welche er seit dem Sündenfall spielt. Anstelle derZerstörung der Formen fand ihre ständige Umwandlung statt. Dies wurdebewirkt durch die andauernde Tätigkeit des Lebens, das die Metamorphoseder Formen ausführte gemäß dem Wechsel des Bewußtseins, das sich ihrerbediente. Diese dauernde befreiende und aufbauende Tätigkeit des Lebenswar – und ist es noch immer – die Aufgabe und Wirkung der geheiligten odergöttlichen Magie. Diese umwandelnde Tätigkeit – im Gegensatz zurzerstörerischen Wirkung des Todes – bezeichnet die Genesis des Moses durchdas Symbol: „Baum des Lebens“.

Nun hatte der Sündenfall das Schicksal der Menschheit insoweitverändert, als die mystische Vereinigung durch den Kampf oder die Müheersetzt wurde, die Gnosis durch das Leiden und die geheiligte Magie durchden Tod. Darum hat die Formel, welche die frohe Botschaft verkündet, daß dieAuswirkungen des Sündenfalles überwunden werden können, daß nämlichder Weg der menschlichen Evolution wieder derjenige der mystischenVereinigung werden kann anstelle des Kampfes; daß die unmittelbargespiegelte Offenbarung oder die Gnosis wieder das Lehren der Wahrheitdurch das Leid ersetzen kann und daß die geheiligte Magie oder dasumwandelnde Leben den Platz des zerstörerischen Todes einnehmen kann –aus diesem Grund, sage ich, hat diese Formel den Wortlaut:

„Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Jo 14, 6).

Diese Formel ist gleichzeitig die Zusammenfassung der drei erstenArcana des Tarot, das heißt des Arcanums des wahren Weges oder dermystischen Unmittelbarkeit bzw. Spontaneität, des Arcanums der offenbartenWahrheit oder der Gnosis und des Arcanums des umwandelnden Lebens oderder geheiligten Magie.

Die geheiligte Magie ist also der Lebensbaum, der unerreichbar ist fürwillkürliche Vermessenheit, der sich aber in der gesamten menschlichenGeschichte offenbart durch Vermittlung derjenigen, die zu sagen wissen:

„Ecce ancilla Domini, mihi fiat secundum verbum tuum – Siehe, ich bin dieMagd des Herrn; mir geschehe nach deinem Wort“,

oder auch: „Ecce servus Domini, faciam secundum verbum tuum – Siehe ichbin der Knecht des Herrn; mir geschehe nach deinem Wort.“

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Sie offenbart sich durch das Wunder der menschlichen Geschichte, daß dasüberbiologische menschliche Leben sich fortsetzt von Jahrhundert zuJahrhundert, von Jahrtausend zu Jahrtausend und daß seine Quelle nichtversiegt; daß das geheiligte Feuer auf den Altären der Herzen und den Altärenvon Stein nicht erlischt von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Jahrtausend zuJahrtausend; daß Güte, Wahrheit und Schönheit ihre Anziehungskraft nichtverlieren von Jahrhundert zu Jahrhundert; daß es Glaube, Hoffnung undbarmherzige Liebe in der Welt gibt; daß es Heilige, Weise, Genies, Wohltäterund Heiler gibt; daß das reine Denken, die Poesie, die Musik, das Gebet nichtverschlungen werden vom Nichts; daß es dieses alles umfassende Wunder dermenschlichen Geschichte gibt und daß das Wunderbare existiert. Ja, dasWunderbare existiert; denn das Leben ist eine einzige Reihe von Wundern,wenn wir unter „Wunder“ nicht die Abwesenheit einer Ursache verstehen (d.h.,daß es von niemandem und nichts verursacht ist – was eher die Auffassung vom„reinen Zufall“ sein würde), sondern die sichtbare Wirkung einer unsichtbarenUrsache oder die Wirkung auf niedrigerer Ebene einer Ursache auf höhererEbene. Unbegreiflichkeit ist durchaus nicht die entscheidende Eigenschaft desWunders. Im Gegenteil: das Wunder ist oft wesentlich begreiflicher als einsogenanntes „natürliches“ oder „erklärtes“ Phänomen. Es ist zum Beispielbegreiflicher, daß Therese Neumann in Konnersreuth (Bayern) durch Jahrzehntehindurch von keiner anderen Nahrung lebte als der Hostie – wenn man dieTatsache bedenkt, daß Materie nur verdichtete Energie und Energie nurverdichtetes Bewußtsein ist – als es die gut „erklärte“ Tatsache ist, daß eineeinzige Zelle, welche sich durch Teilung vermehrt, die völlig verschiedenenZellen des Gehirns, der Muskeln, der Knochen, der Haare usw. hervorbringt,die sich derart anordnen, daß daraus der ganze menschliche oder tierischeOrganismus hervorgeht. Wenn man mir erklärt, daß dies alles auf Vererbungzurückzuführen ist, daß die „Gene“, die schon in der ersten Zelle vorhandensind, so beschaffen sind, daß ein solcher Organismus daraus folgen muß, soverneige ich mich zwar, bin aber bloß geblendet.

Der Baum des Lebens ist die Quelle der Wunder der Zeugung, derUmwandlung, der Verjüngung, der Heilung und der Befreiung. BewußteTeilhabe an ihm „ad perpetranda miracula rei unius – um die Wunder desEinen zu vollbringen“, wie die „Tabula Smaragdina“ sagt, ist das „GroßeWerk“ der geheiligten Magie. –

Man kann das Ideal des Großen Werkes verstehen, wenn man es mit demIdeal der modernen exakten Wissenschaften vergleicht. Nun ist das Ideal derWissenschaft die Macht – die praktisch-technische Macht und die intellektuell-technische Macht. Der intellektuelle Aspekt des Wissenschaftsideals ist, dieMannigfaltigkeit der Phänomene auf eine begrenzte Anzahl von Gesetzenzurückzuführen und sie sodann auf eine einzige einfache Formel zu bringen. Eshandelt sich letztlich darum, den Intellekt auf solche Art zu mechanisieren, daß erdie Welt berechnet, anstatt sie zu verstehen; auf diese Weise erreicht mantechnisch-intellektuelle Macht.

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Der praktische Aspekt des Wissenschaftsideals offenbart sich im Fortschrittder modernen Wissenschaft seit dem 17. Jahrhundert bis in unsere Zeit. Seinewesentlichen Etappen waren die nacheinander erfolgende Entdeckung derDampfkraft, der Elektrizität und der Atomkraft im Dienst des Menschen. Soverschieden diese Entdeckungen aber auch zu sein scheinen, sie sind doch nurauf ein einziges Prinzip gegründet, nämlich auf die Zertrümmerung der Materie,durch welche die Energie befreit wird, um vom Menschen erneut eingefangenund in seinen Dienst gestellt zu werden. Kleine regulierte Explosionen desTreibstoffes sind es, welche die Energie erzeugen, die ein Auto fahren läßt. DieAtomzertrümmerung mittels technisch gesteuerten elektronischen Beschusseserzeugt die Atomenergie. Ob es sich um Kohle, Benzin oder umWasserstoffatome handelt, immer geschieht die Erzeugung von Energie alsFolge der Zerstörung von Materie. So ist der praktische Aspekt des Ideals derNaturwissenschaft die Beherrschung der Natur durch die Anwendung desPrinzips der Zerstörung oder des Todes.

Stellen Sie sich nun, lieber Unbekannter Freund, Bemühungen undEntdeckungen in entgegengesetzter Richtung vor – in der Richtung des Aufbausoder des Lebens. Stellen Sie sich nicht die Explosion, sondern das Aufblüheneiner konstruktiven „Atombombe“ vor. Dies ist nicht allzu schwierig, denn jedekleine Eichel ist eine solche „konstruktive Bombe“, und die Eiche ist nur dassichtbare Ergebnis einer solchen langsamen „Explosion“ – oder des Aufblühens– dieser „Bombe“. Stellen Sie es sich vor, und Sie werden das Ideal des GroßenWerkes oder die Idee des Baumes des Lebens vor sich haben. Die bloßeVorstellung „Baum“ bringt schon die Verneinung des technischen undmechanischen Elements mit sich. Der Baum ist die lebendige Synthese deshimmlischen Lichtes und der Elemente der Erde. Und er ist die Synthese vonHimmel und Erde, er verbindet und synthetisiert auch ständig, was von obenherab- und von unten heraufsteigt, zu einer neuen Einheit.

So steht das Ideal der Hermetik im Gegensatz zu dem der Wissenschaft.Anstatt nach der Macht über die Kräfte der Natur durch Zerstörung der Materiezu trachten, strebt die Hermetik nach der bewußten Teilhabe an den aufbauendenKräften der Welt auf der Grundlage einer

Verbindung und innigen Vereinigung mit ihnen. Die Naturwissenschaftwill die Natur zum Gehorsam gegenüber dem Willen des Menschen, so wie erist, zwingen; die Hermetik (die Philosophie der geheiligten Magie) dagegenmöchte den menschlichen Willen und das Wesen des Menschen so reinigen,erleuchten und verändern, daß sie sich der „natura naturans“ angleichen unddaß sie dadurch für die aus freien Stücken gewährte Offenbarung der Naturaufnahmefähig werden.

Das Große Werk als Ideal ist also der Zustand des menschlichen Wesens,das in Frieden, Eintracht, Harmonie und Zusammenarbeit mit dem Lebenist. Darin besteht die „Frucht vom ‚Baume des Lebens’“.

Doch sagt nicht die Bibel, daß die Annäherung an den „Baum des Lebens“verboten ist und daß Gott „an den Osten des Gartens Eden den Cherub mitdem flammenden Schwert gesetzt hat, um den Weg zum Baume des Lebens

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zu bewachen“?Ja, sie ist verboten, aber das Verbot ist nicht absolut und allgemein; es ist

spezifiziert. Lesen wir, was die Bibel darüber sagt:

„Dann sprach Jahwe Gott: ,Siehe, der Mensch ist geworden wie einer vonuns, so daß er Gutes und Böses erkennt. Daß er nun aber nicht seine Handausstrecke und auch von dem ,Baum des Lebens’ nehme und esse und ewiglebe!“ (Gen 3, 22).

Es handelt sich also bei dem Verbot um das Ausstrecken der Hand und dasNehmen vom ‚Baume des Lebens’. Das und nur das verhindert das flammendeSchwert des Hüters vom Garten Eden.

„Die Hand ausstrecken und nehmen“, das ist der Beweggrund, dieMethode und das Ideal der Naturwissenschaft. Es ist der demnaturwissenschaftlichen Verhalten zugrunde liegende Wille zur Macht, derdurch das flammende Schwert des Hüters vom Garten Eden daran gehindertwird, die am Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen begangene Tat zuwiederholen. Beweggrund, Methode und Ideal der Hermetik aber sinddenen der Naturwissenschaft entgegengesetzt. Der Wille zum Dienen liegt derhermetischen Einstellung zugrunde.

Statt die Hand zum Nehmen auszustrecken, öffnet der Mensch Intellekt,Herz und Willen zum Empfangen dessen, was ihm durch Gnade frei gewährtwird. Inspiration, Erleuchtung und Intuition, die er sucht, sind nicht vonseinem Willen errungene Eroberungen, sondern vielmehr Gaben von oben,denen Bemühungen des menschlichen Willens, ihrer würdig zu werden,vorausgehen.

Das flammende Schwert des Hüters vom Garten Eden ist eine Waffe dergöttlichen Magie. Das bedeutet: sie ist im höchsten Maße ein „Ja“ und kein„Nein“. Sie ist in ihrem Wesen aufbauend und nicht zerstörend. Mit anderenWorten, sie lädt ein, ermutigt und führt alle diejenigen, die würdig sind, undalles, was im Innern eines jeden würdig ist, zu den Segnungen des Baumes desLebens und weist ab, entmutigt und vertreibt alle diejenigen, die ihrerunwürdig sind, ebenso wie alles, was im Innern eines jeden unwürdig ist. Dasflammende Schwert ist die Segnung derjenigen, die den Baum der EwigenLiebe suchen, welcher der Baum des Lebens ist, und es ist zugleich durch dieTatsache, daß es segnet, die flammende Kraft des Verbotes für die, welche denBaum des Lebens suchen, um sich seiner Früchte zu bemächtigen. DasSchwert des heiligen Hüters des Gartens Eden ist im geistigen Leben derMenschheit immer wirksam. Es ruft die Sucher und stößt die Diebe zurück.Ihm ist es zu verdanken, daß die Hermetik, die jahrtausendealte Tradition desununterbrochenen Verfolgens des Ideals des Großen Werkes, besteht – trotzaller Hirngespinste, aller Illusionen und aller Formen bewußter undunbewußter Scharlatanerie, die diesen Weg begleiten.

Das Schwert des heiligen Hüters des Gartens Eden bewirkt ohne jedesAnsehen der Person die magische Offenbarung des Baumes des Lebens. Esist das flammende magische Wort, das in den menschlichen Seelen den

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glühenden Wunsch nach dem Großen Werk, nach dem wundertätigen Lebenerweckt. Es wird „das geknickte Rohr... nicht zerbrechen und denglimmenden Docht nicht auslöschen“, denn seine Aufgabe ist eine göttliche,und es ist dem Göttlichen eigen, nicht allein jedes Tröpfchen Aufrichtigkeitund jedes Fünkchen Liebe schonend zu behandeln, sondern auch es wachsenund sich ausbreiten zu lassen. Denn trotz aller Verderbnis, die diegeschichtliche Erfahrung zutage fördert, gibt es nichts ganz und garKorrumpiertes. Die Lehre der traditionellen Kirche: die „Natur ist verwundet,aber nicht zerstört – natura vulnerata, non deleta“, ist absolut wahr.

Der Baum des Lebens ist die Einheit oder Synthese von Bewußtsein,Kraft und Materie. Seine Zahl ist drei, denn er spiegelt die Einheit derheiligen Dreifaltigkeit. Er ist zugleich die Einheit von Mystik, Gnosis undMagie. Darum soll man diese nicht trennen. Die „Kaiserin“ als Symbol dergeheiligten Magie enthält in sich die Gnosis und die Mystik – „Päpstin“ und„Gaukler“. Diese Arcana sind nicht verständlich, wenn man sie getrenntnimmt. Ganz allgemein gilt, daß die Arcana des Tarot nur in ihrerGesamtheit verständlich sind.

Doch es geschieht oft, daß man im menschlichen Bewußtsein das Untrennbaretrennt, indem man die Einheit vergißt. Man nimmt einen Ast vorn Baume desLebens und pflegt ihn, als ob er ohne Stamm bestehen könnte. Der Ast kannein langes Leben haben, aber er degeneriert. So geschah es, daß man Gnosisund Mystik vergaß und die Magie für sich allein nahm, die, ein vom Stammgetrennter Ast, aufhörte, geheiligte Magie zu sein, und zur willkürlichen oderpersönlichen Magie wurde. Diese mechanisierte sich bis zu einembestimmten Grade und wurde das, was man unter „zeremonieller Magie“versteht, die ihre Blütezeit von der Renaissance bis zum 17. Jahrhunderthatte. Sie war die Magie der Humanisten im wahrsten Sinne des Wortes, d.h., sie war nicht mehr göttliche, sondern menschliche Magie. Sie diente nichtmehr Gott, sondern dem Menschen. Ihr Ideal wurde die menschliche Macht überdie unsichtbare und sichtbare Natur. Später vergaß man auch noch dieunsichtbare Natur. Man konzentrierte sich ganz allein auf die sichtbare Naturmit der Absicht, sie dem menschlichen Willen zu unterwerfen. So nahm dietechnische und industrielle Wissenschaft ihren Anfang. Sie ist die Fortsetzungder zeremoniellen Magie der Humanisten, ihres okkulten Elementes beraubt,ganz wie die erstere die Fortsetzung der geheiligten Magie ist, aber ihresgnostischen und mystischen Elementes beraubt.

Was ich soeben sagte, ist völlig im Einklang mit dem, was Papus denkt(wie übrigens auch Eliphas Lévi), dem man nicht nachsagen kann, daß er ohneSachkenntnis davon spricht. So sagt er:

„Die zeremonielle Magie ist ein Vorhaben, durch das der Mensch eben mitdem Spiel der Naturkräfte die unsichtbaren Gewalten der verschiedenenKategorien zu zwingen sucht, so zu handeln, wie er es von ihnen heischt. Zudiesem Zweck packt, überrumpelt er sie sozusagen, wobei er durch die Wirkungder Korrespondenzen., die die Einheit der Schöpfung voraussetzt, Kräfte

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projiziert, deren er zwar nicht Meister ist, denen er aber außergewöhnlicheBahnen öffnen kann ...

Die zeremonielle Magie gehört in genau die gleiche Gruppe wie unseretechnische Wissenschaft. Unsere Gewalt ist nahezu Null vor der des Dampfes,der Elektrizität, des Dynamits, und doch konzentrieren wir sie, indem wirihnen durch geeignete Kombinationen gleich mächtige Naturkräfteentgegenstellen. Wir speichern sie auf, wir zwingen sie, Massen, vor denen wirein Nichts sind, vom Fleck zu bewegen oder zu zerschmettern ...“

Was kann man dem noch hinzufügen? – Vielleicht einen anderen Ausspruch vonPapus, der die Beziehung zwischen dein „wissenschaftlichen Magier“ oderOkkultisten und dem Zauberer definiert, nämlich:

„Der Zauberer verhält sich zum Okkultisten wie der Arbeiter zum Ingenieur.“

Der Zauberer ist also nur ein Amateur-Okkultist.Wie die zeitgenössische technische Wissenschaft die direkte Fortführung der

zeremoniellen Magie ist, so ist die zeitgenössische profane Kunst nur dieFortführung von Gnosis und Magie, welche die Mystik aus dem Auge verlorenhaben und von ihr getrennt wurden. Die Kunst sucht zu offenbaren und bemühtsich, es auf magische Weise zu tun.

Die Mysterien des Altertums waren nichts anderes als geheiligte Kunst,welche als bewußten Hintergrund Mystik und Gnosis hatte. Doch nach demVergessen dieses Hintergrundes oder nachdem sozusagen dieser Hintergrundhistorisch zu weit zurück lag, blieb eine Gnosis (oder ein „Revelationismus“)übrig, die ihrer Grundlage, der mystischen Zucht und Erfahrung, beraubtwar. Das war der Anfang der „schöpferischen Kunst“, und die Mysterienwurden Theater, die offenbarenden Mantren Verse, die Hymnen Lieder unddie offenbarenden Gebärden-Spiele Tänze, während die kosmischen Mythenihren Platz der Belletristik abtraten.

Wenn die Kunst erst einmal vom lebendigen Organismus der Einheit desTetragrammaton abgetrennt ist, entfernt sie sich notwendigerweise sowohlvon der Gnosis als auch von der geheiligten Magie, aus denen siehervorgegangen ist und denen sie ihre Substanz und ihren Lebenssaft verdankt.Die reine Offenbarung der Gnosis wird mehr und mehr Spiel derEinbildungskraft, und die magische Kraft degeneriert mehr und mehr zurÄsthetik. Das hatte Richard Wagner verstanden, und dem wollte erabhelfen. Das Werk Wagners verfolgt das Ziel der Reintegration der Kunst,indem er sie mit der Gnosis und der Mystik wiedervereinigt, damit die Kunstwieder geheiligte Magie werde.

Josephin Péladan bemühte sich, dasselbe in Frankreich zu tun. Er hattedamit sogar erstaunlichen Erfolg, aber nur für kurze Zeit – aus Gründen, dieer später gut begriff. Stille ist die unentbehrliche Atmosphäre für jedeOffenbarung; Lärm macht sie absolut unmöglich.

Das religiöse Leben ist bekanntlich nicht gegen Verfall gefeit, wenn esnicht mehr in der Mystik, verwurzelt, von der Gnosis erleuchtet und von der

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geheiligten Magie bewegt ist. Ohne das Feuer der Mystik erkaltet es, ohnedas Licht der Gnosis verdunkelt es sich und ohne die Macht der geheiligtenMagie wird es kraftlos. Es bleibt ihm schließlich nur noch ein theologischerLegalismus, der von einem moralischen Legalismus unterstützt wird. Hierliegt die Wurzel für die Religion der Schriftgelehrten und Pharisäer zur Zeitdes Neuen Testaments. Das ist die Abenddämmerung, die ihrer Nachtvorausgeht – ihrem Tod.

Der Glaube ist die Erfahrung des göttlichen Hauches; die Hoffnung istdie Erfahrung des göttlichen Lichtes; und die Liebe ist die Erfahrung desgöttlichen Feuers. Es gibt kein echtes und aufrichtiges religiöses Leben ohneGlaube, Hoffnung und Liebe; aber es gibt weder Glaube, Hoffnung nochLiebe ohne mystische Erfahrung oder, was dasselbe ist, ohne Gnade. Keinintellektuelles Argument kann Glauben erwecken; es kann höchstensHindernisse, Mißverständnisse und Vorurteile beseitigen und dadurchhelfen, den Zustand inneren Schweigens herbeizuführen, dieGrundbedingung für die Erfahrung des göttlichen Hauches. Der Glaubeselbst ist dieser göttliche Hauch, dessen Ursprung sich weder in derlogischen Überlegung noch in der ästhetischen Impression noch in dermenschlichen moralischen Handlung findet.

Das flammende göttliche Wort leuchtet in die Welt des Schweigens derSeele und bewegt sie. Diese Bewegung ist der lebendige Glaube, also derwirkliche und echte Glaube, und dieses Licht ist die Hoffnung oderErleuchtung, während alles dem göttlichen Feuer entstammt, das die Liebeoder die Vereinigung mit Gott ist. Die drei „Wege“ oder traditionellenmystischen Stufen – Läuterung, Erleuchtung, Vereinigung – sind diejenigen derErfahrung des göttlichen Hauches oder des Glaubens, des göttlichenLichtes oder der Hoffnung und des göttlichen Feuers oder der Liebe. Diesedrei Grunderfahrungen der Offenbarung des Göttlichen bilden das Dreieckdes Lebens; denn kein Geist, keine Seele und nicht einmal ein Leib könntenleben, wenn sie völlig aller Liebe, aller Hoffnung und allen Glaubens beraubtwären. Sie wären dann bar jeden Lebenselans. Denn der Lebenselan, vonHenri Bergson als allgemeiner Antrieb der Evolution bezeichnet, was ist eranderes als Liebe, Hoffnung und Glaube, die in irgendeiner Form imInnersten des ganzen Lebens wirksam sind? Nur dadurch, daß im Anfangdas WORT war und alle Dinge ihm ihre Existenz verdanken (Jo 1), unddadurch, daß das ursprüngliche WORT noch immer in allem, was lebt,schwingt, kommt es, daß die Welt noch lebt und daß es einenLebensschwung gibt, welcher nichts anderes ist als die Liebe, die Hoffnungund der Glaube, die einstmals vom Schöpferwort eingehaucht wurden.

In diesem Sinne hatte Browning recht, wenn er sagte: „Die Natur istübernatürlich.“

Denn ihr übernatürlicher Ursprung bekundet sich noch immer in ihremLebensschwung. Der Wille zu leben! Oh, welch ein Bekenntnis desGlaubens, welche Bekundung der Hoffnung, welche Glut der Liebe!

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Liebe, Hoffnung und Glaube sind zugleich die Essenz der Mystik, derGnosis und der geheiligten Magie. Der Glaube ist die Quelle der magischenMacht, und ihm werden alle Wunder, von denen das Evangelium berichtet,zugeschrieben.

Die Offenbarung – alle Offenbarungen der Gnosis haben nur ein Ziel:Hoffnung zu geben, zu bewahren und zu mehren. Das Buch, das die„Päpstin“ auf den Knien hält, wird geschrieben, damit die Hoffnung nichtaufhöre. Denn jede Offenbarung, die nicht Hoffnung gibt, ist unnütz undüberflüssig. Die Mystik ist Feuer ohne Widerschein; sie ist die Vereinigung mitdem Göttlichen in der Liebe. Sie ist der Urquell allen Lebens, einschließlichdes religiösen, künstlerischen und intellektuellen Lebens. Ohne sie wird allesbloße Technik. Die Religion wird zu einem System von Techniken, dessenIngenieure die Schriftgelehrten und Pharisäer sind. Sie wird legalistisch. DieKunst wird zu einer Ansammlung von Techniken, seien sie traditionell oderneu – ein Feld der Nachahmung oder der Versuche. Die Naturwissenschaftwird zu einem System von Techniken der Macht über die Natur.

Das Arcanum der geheiligten Magie „Die Kaiserin“ aber ruft uns auf einenanderen Weg. Es ruft uns auf den Weg der Regeneration anstelle derDegeneration. Es fordert uns auf, alles zu entmechanisieren, was bloßtechnisch, intellektuell, ästhetisch oder moralisch geworden ist. Man mußsich entmechanisieren, um Magier zu werden. Denn die geheiligte Magie istganz und gar Leben – Leben, wie es sich im Mysterium des Blutes offenbart.Daß doch jedes unserer Probleme ein Schrei des Blutes werde, daß dochunsere Worte vom Blute getragen und unsere Taten Hingabe unseres Blutessein mögen! Dann wird man Magier. Man wird es, indem man wesentlichwird, wie es das Blut ist.

Eliphas Levi setzte unter das dein dritten Arcanum des Tarot gewidmeteKapitel seines Werkes den Titel „Plenitudo vocis“.

Seine Wahl ist mehr als glücklich, sie ist genial! In der Tat: „Fülle derStimme“ könnte man das Wesen der geheiligten Magie besser beschreiben?Ja, die Fülle der Stimme ist es, um die es sich in der geheiligten Magiehandelt; es ist die blutvolle Stimme; es ist das Blut, das Stimme wird. Es istdas Sein, in dem es nichts Mechanisches gibt und das ganz und gar lebendigist.

Da das dritte Arcanum des Tarot das Arcanum der geheiligten Magie ist,ist es schon durch diese Tatsache das Arcanum der Zeugung. Denn dieZeugung ist nichts anderes als ein Aspekt der geheiligten Magie. Wie diegeheiligte Magie die Vereinigung von zwei Willen – dem menschlichen unddem göttlichen Willen – ist, aus der das Wunder hervorgeht, so setzt auch dieZeugung die Dreiheit des Erzeugers, der Erzeugenden und des Erzeugtenvoraus. Nun ist das Erzeugte das Wunder, das aus der Vereinigung desErzeugers und der Erzeugenden hervorgeht. Es macht keinen Unterschied,ob es sich um eine neue Idee, um ein Kunstwerk oder um die Geburt einesKindes handelt. Immer waltet dasselbe Gesetz der Zeugung, immer ist esdasselbe Arcanum der Fruchtbarkeit, das im Spiel ist, und immer ist es dasselbe

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Mysterium der Inkarnation des WORTES, das dabei das göttliche Urbild ist.Wir haben weiter oben gesagt: „Die geheiligte Magie ist das Leben, wie

es vor dem Sündenfall war.“ Da das Leben immer erzeugend ist, ist dasArcanum der geheiligten Magie gleichzeitig das der Zeugung vor demSündenfall der vertikalen Zeugung von der höheren Ebene aus auf die tiefere,anstatt der horizontalen Zeugung, die sich nur auf einer Ebene vollzieht.Die Formel für dieses Mysterium ist wohlbekannt:

„Et incarnatus est de Spiritu Sancto ex Maria Virgine – Er hat Fleischangenommen durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria.“

Sie enthält die Dreifaltigkeit des Erzeugers oben, der Erzeugenden untenund des Erzeugten – oder: Heiliger Geist, Heilige Jungfrau und Gott-Mensch. Sie ist gleichzeitig die Formel der geheiligten Magie überhaupt,weil sie das Mysterium der Vereinigung des göttlichen Willens mit demmenschlichen Willen im Element des Blutes ausdrückt. Das Blut – in seinemdreifachen Sinne, dem mystischen, gnostischen und magischen – ist das„Zepter“ oder die Macht der geheiligten Magie.

An diesem Punkt ziehe ich mich zurück, lieber Unbekannter Freund, undlasse Sie allein mit Ihrem Engel. Es ziemt sich nicht, daß meine menschlicheStimme sich das Recht anmaßt, die Dinge auszusprechen, die die tiefereFortsetzung dessen sind, was im Vorhergehenden skizziert wurde.

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Vierter Brief

DER KAISER

Das Arcanum der hermetischen Philosophie und des Gehorsams

Autorität – Verzicht auf Bewegung, Handlung, intellektuelle Freiheit undpersönliche Mission – Der Wille zur Macht und die Macht des Kreuzes – ZumTheodizeeproblem – Das Gleichnis vorn verlorenen Sohn – Göttliche Liebeund menschliche Freiheit – Die Hierarchie der Engel – Tsimtsum, das„Sichzurückziehen Gottes“ – Existenz (Freiheit) und Essenz (Liebesfunken) –Pantheismus und Materialismus – Das Amt des europäischen Kaisers – DieAutorität des Eingeweihten – Der mystische Sinn des Tastens, der gnostischedes Hörens, der magische des Schauens, der philosophisch-hermetische desVerstehens – Hermetische Philosophie und „okkulte Wissenschaften“(Kabbala, Astrologie, Magie, Alchimie) – Zur Lehre der Wiederverkörperung– Der metaphysische und der hermetische (einweihende) Sinn – Der Menschals Ebenbild und Gleichnis Gottes – Das Rosenkreuz. Die vier Wunden.

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DER KAISER

Das Arcanum der hermetischen Philosophie und des Gehorsams

„Benedictus qui venitin nomine Domini –Hochgelobt sei, der da kommtim Namen des Herrn.”

Lieber Unbekannter Freund,

ein Mensch hat soviel Autorität, wie er Tiefe besitzt, wie er weiß und wie erkann. Etwas sein, etwas wissen und etwas können. verleiht einem MenschenAutorität. Man kann auch sagen: Ein Mensch hat Autorität in dem Maße, wieer die Tiefe der Mystik, die unmittelbare Weisheit der Gnosis und dieausführende Macht der Magie in sich vereint. Wer diese in einem gewissenGrade besitzt, macht Schule. Wer sie in höherem Maße besitzt, wirdmaßgebend.

Autorität allein ist die wahre und einzige Macht des Gesetzes. Zwang istnur ein Notbehelf, zu dem man Zuflucht nimmt, um dem Mangel an Autoritätabzuhelfen. Dort, wo es Autorität gibt, d. h., wo der Hauch der geheiligtenMagie gegenwärtig ist, erfüllt von den Strahlen des Lichts der Gnosis, das ausdem tiefen Feuer der Mystik hervorgeht, dort ist Zwang überflüssig.

„Der Kaiser” des vierten Arcanums des Tarot hat kein Schwert oderirgendwelche anderen Waffen. Er regiert durch das Zepter, und durch dasZepter allein. Darum ist der erste Gedanke, den das Kartenbildnatürlicherweise wachruft, der an die dem Gesetz zugrunde liegende Autorität.Die These, welche aus den Meditationen über die drei vorangehenden Arcanahervorgeht, ist, daß alle Autorität ihren Ursprung in dem unaussprechlichengöttlichen Namen JHVH hat und daß jedes Gesetz sich daraus ableitet. DieseThese impliziert, daß der menschliche Träger echter Autorität nicht diegöttliche Autorität ersetzt, sondern ihr im Gegenteil seinen Platz abtritt. Dafürmuß er auf etwas verzichten.

Nun lehrt uns die Karte zuallererst, daß der „Kaiser“ auf Zwang undGewalt verzichtet hat. Er hat keine Waffen. Seine rechte Hand hält dasZepter, auf dem sein Blick ruht, und seine linke Hand hält den

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zusammengeschnürten Gürtel. Er steht nicht, und er sitzt nicht. Er lehnt sicheinfach an einen schmalen Thron und setzt nur einen Fuß auf die Erde. SeineBeine sind gekreuzt. Der Schild mit dem Adler bleibt ihm zur Seite auf derErde. Er trägt eine massive, schwere Krone.

Das Bild drückt in allen seinen Einzelheiten aus, daß die Entsagungen überden Verzicht auf Zwang hinausgehen. Der „Kaiser“ hat auf Ruhe verzichtet, daer nicht sitzt. Er hat auf Gehen verzichtet, da er sich anlehnt und die Beinegekreuzt hat. Er darf weder vorwärts gehen zum Angriff noch weichen zumRückzug. Er hat Posten bezogen auf seinem Thron und neben seinemWappenschild. Er steht auf der Wacht, und daher hat er keineBewegungsfreiheit. Er ist ein an sein Amt gebundener Hüter.

Was er behütet, ist im Grunde das Zepter. Nun ist das Zepter kein Werkzeug,mit dem man irgend etwas machen könnte. Es ist ein Symbol, das unterpraktischen Gesichtspunkten zu nichts dient. Der „Kaiser“ hat also auf jedeHandlung verzichtet, indem er seine rechte Hand ganz an das Zepterhingegeben hat, das er vor sich hält, während seine Linke den festzusammengeschnürten Gürtel hält. Sie ist also ebenfalls nicht frei. IhreAufgabe ist es, die impulsive und instinktive Natur des „Kaisers“ in Schach zuhalten, damit diese sich nicht einmischt und ihn von seiner Pflicht als Hüterablenkt.

Der „Kaiser“ hat also auf die Bewegung mittels der Beine und auf dieHandlung mittels der Hände verzichtet. Gleichzeitig trägt er eine massive,schwere Krone. Jede Krone – und wir haben über die Bedeutung der Kronebereits bei der „Kaiserin“ meditiert – hat einen doppelten Sinn. Sie isteinerseits das Zeichen für die Legitimität, aber sie ist auch das Zeichen füreine Aufgabe oder Mission, mit welcher der Gekrönte von oben betraut ist. Soist jede Krone im wesentlichen eine Dornenkrone. Nicht nur weil sie schwerist, sondern auch weil sie eine schmerzhafte Beschränkung des freien undwillkürlichen Denkens und Vorstellens der Persönlichkeit mit sich bringt. Siesendet wohl Strahlen nach außen, aber diese Strahlen werden für diePersönlichkeit Dornen im Innern. Sie spielen dort die Rolle der Nägel, die jedenpersönlichen Gedanken oder jedes persönliche Vorstellungsbild durchbohren undkreuzigen. Der wahre Gedanke erfährt dabei Bestätigung und letztlichErleuchtung; der falsche oder unzutreffende Gedanke wird dadurch gefesseltund zur Ohnmacht verurteilt. Die Krone des „Kaisers“ bedeutet den Verzichtauf die intellektuelle Bewegungsfreiheit, ganz wie seine Arme und Beine denVerzicht auf die Freiheit des Handelns und der Bewegung anzeigen. Die dreisogenannten „natürlichen“ Freiheiten des Menschen – der persönlichenMeinung, des Wortes und der Freizügigkeit – sind ihm versagt. Autoritätverpflichtet.

Doch ist dies nicht alles. Der Schild mit dem Adler bleibt auf der Erde anseiner Seite. Der „Kaiser“ hält ihn nicht in der Hand, wie es die »Kaiserin“tut. Der Schild ist wohl da, aber er gehört mehr zum Thron als zur Person des„Kaisers“. Das bedeutet, daß der Zweck, zu dem der „Kaiser“ Wache steht,nicht in ihm, sondern im Thron liegt. Der „Kaiser“ hat keine persönliche

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Mission; er hat auf sie zugunsten des Thrones verzichtet oder, esoterischausgedrückt, er hat keinen Namen, er ist anonym; denn der Name – dieMission – gehört dem Thron. Er ist nicht in seinem eigenen Namen da,sondern im Namen des Thrones. Das ist der vierte Verzicht des „Kaisers“ – derVerzicht auf eine persönliche Mission oder auf den Namen im esoterischenSinne des Wortes.

Man sagt, die Natur habe „Schrecken vor der Leere“ (horror vacui). Diespirituelle Gegenwahrheit dazu ist, daß der Geist „Schrecken vor dem Vollen“hat. Man muß eine natürliche Leere schaffen – und das leistet der Verzicht –,damit sich das Spirituelle manifestieren kann. Die Seligpreisungen derBergpredigt (Mt 5, 1-12) drücken diese Grundwahrheit aus. DieSeligpreisung:

„Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich“

will sagen, daß diejenigen, die reich an Geist sind, die erfüllt sind von dem„geistigen Königreich des Menschen“, keinen Platz haben für das Königreich derHimmel. Die Offenbarung setzt Leere voraus – einen Raum, der ihr zurVerfügung steht – um sich zu manifestieren. Darum muß man auf persönlicheMeinung verzichten, um die Offenbarung der Wahrheit zu empfangen; aufpersönliches Handeln, um Vertreter der geheiligten Magie zu werden; auf denWeg (oder die Methode) der persönlichen Entwicklung, um sich führen zulassen von dem Meister der Wege; auf eine persönlich gewählte Aufgabe, ummit einer Mission von oben betraut zu werden.

Der „Kaiser“ hat in sich diese vierfache Leere hergestellt. Darum ist er„Kaiser“, darum ist er Autorität. Er hat in sich Platz gemacht für dengöttlichen Namen JHVH, welcher die Quelle der Autorität ist. Er hat auf diepersönliche intellektuelle Initiative verzichtet, und die daraus entstandeneLeere erfüllt sich mit göttlicher Initiative oder dem JOD des geheiligtenNamens. Er hat auf Handeln und Bewegung verzichtet, und die Leere, diedaraufhin entsteht, füllt sich mit der offenbarenden Handlung und der magischenBewegung von oben, d.h. mit dem HE und WAW des göttlichen Namens. Under hat auf seine persönliche Mission verzichtet, er ist anonym geworden – und diedaraus entstehende Leere erfüllt sich mit der Autorität (oder dem zweiten HE)des göttlichen Namens, d. h., sie wird zur Quelle des Gesetzes und der Ordnung.

Lao Tse enthüllt in seinem „Tao te king“ das Arcanum der Autorität. Ersagt:

„Dreißig zusammenlaufende Speichen, in der Mitte vereint, bilden ein Rad;aber das Loch in seiner Mitte erlaubt die Benutzung des Wagens. Die Gefäßesind aus Ton gebildet; aber dank ihrer Leere kann man sich ihrer bedienen. EinHaus ist Von Türen und Fenstern durchbrochen; und seine Leere macht esbewohnbar. So bringt das Sein das Nützliche hervor; aber das Nicht-Sein machtes brauchbar“ (XI).

und weiter:

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„Das Unvollständige wird vervollständigt, das Gebogene gerichtet, das Leeregefüllt, das Gebrauchte erneuert, das Ungenügende vermehrt, das Übermaßzerstreut. Darum ist der Heilige, der die Einheit liebend umfängt, das Muster fürdie Welt. Weil er sich nicht hervorhebt, glänzt er; weil er nicht persönlichist, gebietet er Ehrfurcht; weil er sich nicht rühmt, hat er Verdienst; weil ernicht stolz ist, hört er nicht auf zu wachsen; weil er nicht kämpft, kannniemand in der Welt sich ihm widersetzen ...“ (XXII).

Denn er hat Autorität.Gott regiert die Welt durch Autorität und nicht durch Gewalt. Wenn es

nicht so wäre, gäbe es weder Freiheit noch Gesetz in der Welt, und die dreiersten Bitten des Vaterunsers:

„Sanctificetur Nomen tuum. Adveniat Regnum tuum. Et fiat Voluntas tuasicut in coelo et in terra – Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. DeinWille geschehe wie im Himmel so auf Erden“

hätten keinen Sinn. Wer diese Bitten ausspricht, tut es einzig mit dem Ziel, diegöttliche Autorität, nicht aber die göttliche Macht zu bestätigen und zu vermehren.Gott, der allmächtig ist, und zwar nicht potentiell, sondern der Wirklichkeitnach, hat gar nicht nötig, darum gebeten zu werden, daß sein Reich kommeund sein Wille geschehe. Der Sinn dieser Bitte ist, daß Gott nur insoweitMacht hat, wie seine Autorität frei anerkannt und angenommen wird. DasGebet ist die Tat einer solchen Anerkennung und Annahme. Man ist frei,gläubig oder ungläubig zu sein. Nichts und niemand kann uns zumGlauben zwingen – keine wissenschaftliche Entdeckung, kein logischesArgument, keine physische Marter können uns zum Glauben zwingen, d. h.dazu, frei die Autorität anzuerkennen und anzunehmen. Andererseits aber,wenn diese Autorität einmal anerkannt und angenommen ist, wird derMachtlose mächtig. Die göttliche Macht kann sich dann offenbaren – unddarum heißt es, daß ein Körnchen Glaube genügt, um Berge zu versetzen.

Nun ist das Problem der Autorität von zugleich mystischer, gnostischer,magischer und hermetischer Tragweite. Es umfaßt das Mysterium derchristlichen Kreuzigung wie das Mysterium des „Sichzurückziehens – Sodha tsimtsum“ der lurianischen Kabbala. Folgende Betrachtungen könnenuns vielleicht zu einer vertieften Meditation über dieses Mysteriumverhelfen.

Die christliche Welt verehrt das Kruzifix, d. h. das Bild, welches dasParadox des allmächtigen Gottes ausdrückt, der der äußerstenMachtlosigkeit ausgesetzt ist. Genau in diesem Paradox sieht man diehöchste Offenbarung des Göttlichen in der ganzen Geschichte derMenschheit. Man sieht darin die vollkommene Offenbarung Gottes, derLiebe ist.

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„Crucifixus etiam pro nobis sub Pontio Pilato, passus et sepultus est – Erwurde für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus, hat gelitten und ist begrabenworden.“

So sagt das christliche Glaubensbekenntnis. Der einige Sohn desewigen Vaters, für uns ans Kreuz geschlagen – das ist, was jedeempfängliche Seele zutiefst rührt, einschließlich der des gekreuzigtenRäubers zu seiner Rechten. Der Eindruck dieser Rührung ist unvergeßlichund unaussprechlich. Er ist der unmittelbare Hauch des Göttlichen, derTausende von Märtyrern, Bekennern, Jungfrauen und Eremiten begeisterthat und noch immer begeistert.

Es ist jedoch nicht so, daß sich jedes menschliche Wesen angesichts desGekreuzigten so göttlich ergriffen fühlt. Es gibt auch Menschen, die aufeine entgegengesetzte Art reagieren. So war es zur Zeit von Golgatha, soist es noch heute.

„Die Vorübergehenden aber lästerten ihn, schüttelten ihre Köpfe undsagten: ,Rette dich selbst, wenn du der Sohn Gottes bist, und steig herabvom Kreuz.’ Ähnlich spotteten auch die Hohenpriester zusammen mit denSchriftgelehrten und Ältesten und sagten: ,Anderen hat er geholfen, sichselbst kann er nicht helfen. Er ist der König von Israel? Da steige er jetztherab vom Kreuz, dann wollen wir an ihn glauben! Er hat auf Gottvertraut, der soll ihn jetzt retten, wenn er Wohlgefallen an ihm hat.“ (Mt27, 39-43).

Das ist die andere Reaktion. Wir begegnen ihr ganz genauso z. B. imsowjetischen Rundfunk in Moskau. Das Argument Moskaus ist immer dasgleiche: „Wenn Gott existiert, muß er wissen, daß wir, die Kommunisten,ihn entthronen. Warum gibt er kein sichtbares Zeichen, wenn nicht seinerMacht, so doch wenigstens seiner Existenz? Warum verteidigt er nicht seineeigenen Interessen?“ – Das ist mit etwas anderen Worten das alte Argument:„Steig herab vom Kreuz, und wir werden an dich glauben.“

Ich zitiere diese wohlbekannten Dinge, weil sie ein gewisses, ihnenzugrunde liegendes Dogma aufdecken. Es ist das Dogma oder dasphilosophische Prinzip, das aussagt: Wahrheit und Macht seien identisch;was mächtig sei, sei wahr; was machtlos sei, sei falsch. Nach diesem Dogmaoder philosophischen Prinzip (welches das der modernen technologischenWissenschaft geworden ist) ist die Macht sowohl das absolute Kriterium alsauch das höchste Ideal der Wahrheit. Göttlich sei allein, was mächtig ist.

Nun gibt es öffentliche und geheime Anbeter des Götzen der Macht – dennsie ist ein Götze und die Quelle aller Götzenanbetung – auch im christlichenLager und im religiösen und spiritualistischen Lager ganz allgemein. Ichspreche nicht etwa von christlichen oder spiritualistischen Fürsten undPolitikern, die machtlüstern waren, sondern ich spreche von den Anhängernder Lehren, die den Primat der Macht behaupten. Es gibt davon zwei Arten:solche, die das Ideal des „Übermenschen“ anstreben, und solche, die aneinen in jedem Augenblick allmächtigen, also für alles, was geschieht,

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verantwortlichen Gott glauben. Viele unter den Esoterikern, Okkultisten undMagiern streben, sei es offen oder insgeheim, das Ideal des „Übermenschen“an. Unterdessen geben sie sich oft als Meister oder Hohepriester aufKredit und Würde des künftigen Übermenschen aus. Sie sind sich gleichzeitigseltsam einig darin, daß sie Gott weit, sehr weit in die Höhen des Absolut-Abstrakten versetzen, damit er sie nicht durch seine zu konkrete Gegenwartstöre und damit sie einen Platz für sich haben, wo sie ihre eigene Größeentfalten können, ohne daß die Rivalität der göttlichen Größe sie beunruhigt.Sie bauen individuelle „Türme zu Babel“, die unter das Gesetz aller „Türmezu Babel“ fallen, und sie erleiden früher oder später einen heilsamen Sturz,wie es das sechzehnte Kartenbild des Tarot lehrt. Sie stürzen nicht von einerwirklichen Höhe in einen wirklichen Abgrund; es handelt sich lediglich umeine imaginäre Höhe, von der sie fallen, und sie fallen nur auf die Erde, d. h.,sie lernen nur die Lektion die wir Menschen alle entweder schon gelerntoder noch zu lernen haben.

Die Anbetung des Götzen der Macht, aufgefaßt als „Übermensch“, istvor allem, wenn man sich mit ihm identifiziert, verhältnismäßig harmlos, dasie im Grunde kindisch ist. Dem ist aber nicht so bei der anderen Kategorieder Anbeter der Macht, nämlich bei denen, die dieses Ideal auf Gott selbstübertragen. Ihr Glaube hängt einzig und allein an der Macht Gottes; wennGott machtlos wäre, glaubten sie nicht an ihn. Sie sind es, die lehren, daßGott Seelen geschaffen habe, die für die ewige Verdammnis, und andere,die für das Heil vorherbestimmt seien; sie sind es, die Gott verantwortlichmachen für die ganze Geschichte des Menschengeschlechtes, einschließlichall ihrer Abscheulichkeiten. Gott, sagen sie, „züchtigt“ seineungehorsamen Kinder durch Kriege, Revolutionen, Tyranneien unddergleichen. Wie sollte es anders sein? Gott ist ja allmächtig, also kann alles,was geschieht, nur durch sein Handeln oder mit seiner Einwilligunggeschehen.

Der Götze der Macht hat einen solchen Einfluß auf das menschlicheBewußtsein, daß dieses einen Gott, der eine Mischung von Gut und Böseist, wenn er nur mächtig ist, dem Gott der Liebe vorzieht, der nur durch dieinnere Autorität des Göttlichen herrscht, d. h. durch Wahrheit, Schönheit undGüte. Anders gesagt, man zieht den seine Allmacht tatsächlich ausübenden„allmächtigen“ Gott dem gekreuzigten Gott vor.

Indessen hat der Vater im Gleichnis vom Verlorenen Sohn weder seinenSohn vom väterlichen Hause fortgeschickt, damit er ein Leben in derAusschweifung führe, noch hat er ihn gehindert, das Haus zu verlassen, undihn gezwungen, ein Leben zu führen, das ihm wohlgefällig gewesen wäre. Ertat nichts, als daß er seine Rückkehr erwartete und ihm entgegenging, als derverlorene Sohn sich dem väterlichen Hause näherte. Alles, was sich in derGeschichte des Verlorenen Sohnes begibt außer seiner Rückkehr zum Vater,war genau das Gegenteil von dem, was der Vater wollte.

Nun ist die Geschichte des Menschengeschlechtes nach dem Sündenfalldiejenige des verlorenen Sohnes. Sie ist nicht das „Gesetz der Involution und

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der Evolution gemäß dem göttlichen Plan“ der modernen Theosophen,sondern es handelt sich um einen Mißbrauch der Freiheit, ähnlich wie beimverlorenen Sohn. Und die Schlüssel-Formel der Geschichte der Menschheitfindet sich weder im Fortschritt der Zivilisation noch im Vorgang derEvolution oder in irgendeinem anderen „Prozeß“, sondern vielmehr in denWorten des verlorenen Sohnes:

„Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich binnicht mehr wert, dein Sohn zu heißen; halte mich wie einen von deinenTagelöhnern“ (Lk 15, 18, 19).

Die Menschheit ist also allein verantwortlich für ihre Geschichte? –Zweifellos – denn Gott hat sie nicht so gewollt. Gott ist in ihr gekreuzigt.

Das versteht man, wenn man sich Rechenschaft ablegt über die Bedeutungder Tatsache der menschlichen Freiheit, wie auch die der Freiheit derWesen der geistigen Hierarchien, der Engel, Erzengel, Fürstentümer, Mächte,Kräfte, Herrschaften, Throne, Cherubim und Seraphim. Alle diese Wesen –einschließlich der Menschen, der „Ischim“ – haben entweder eine wirklicheoder eine illusorische Existenz. Wenn sie eine wirkliche Existenz haben, wennsie keine Phantasiegebilde sind, dann sind sie unabhängige Wesenheiten,begabt nicht allein mit einer phänomenalen, sondern auch mit einer numenalenUnabhängigkeit. Nun ist die numenale Unabhängigkeit das, was wir unterFreiheit Verstehen. Freiheit ist tatsächlich nichts anderes als die wirklicheund vollständige Existenz eines von Gott geschaffenen Wesens. Frei sein undexistieren sind Synonyme unter moralischem und geistigem Gesichtspunkt.So existiert auch die Moral nicht ohne Freiheit, und so könnte eine spirituelleWesenheit – Seele oder Geist –, die unfrei ist, nicht existieren, sondern siewäre Teil einer anderen geistigen Wesenheit, die frei ist, d. h., die wirklichexistiert. Freiheit ist die geistige Existenz der Wesen.

Wenn wir nun in der Schrift lesen, daß Gott alle Wesen geschaffen hat, soliegt der wesentliche Sinn darin, daß Gott allen Wesen die Freiheit oder dieExistenz gegeben hat. Eine einmal gegebene Freiheit aber nimmt Gott nichtwieder zurück. Darum sind die Wesen der zehn obengenanntenHierarchien unsterblich. Der Tod – nicht die Trennung vom Körper, sondernder wirkliche Tod – würde die absolute Beraubung der Freiheit sein, d. h. dervöllige Verlust der von Gott gegebenen Existenz. Wer oder was aber kanneinem Wesen die göttliche Gabe der Freiheit, das göttliche Geschenk derExistenz nehmen? – Freiheit, Existenz ist unveräußerlich, und die Wesen derzehn Hierarchien sind unsterblich. Die Aussage: Freiheit oder Existenz istunveräußerlich, kann entweder als höchste Gabe verstanden werden, alsgrößter vorstellbarer Wert – dies würde der Vorgeschmack des Paradieses sein –oder als Verdammung zu „immerwährender Existenz“ – und dies wäre derVorgeschmack der Hölle. Denn niemand „schickt“ uns irgendwohin, da dieFreiheit wirklich und keine Theaterfreiheit ist. Wir selbst treffen die Wahl.Lieben Sie die Existenz, und Sie haben den Himmel gewählt, hassen Sie sie,und Sie haben die Hölle gewählt.

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Nun ist Gott im Hinblick auf die freien Wesen entweder der herrschendeKönig (im Sinne der Autorität, wie sie das vierte Arcanum des Tarot lehrt) oderder Gekreuzigte. Er ist König für alle diejenigen seiner Wesen, die aus freiemWillen seine Autorität annehmen (die „glauben“);er ist Gekreuzigter imHinblick auf diejenigen, die ihre Freiheit mißbrauchen und „Götzen anbeten“,d. h. seine göttliche Autorität durch ein Surrogat ersetzen.

König und Gekreuzigter zugleich – das ist das Mysterium der Inschrift desPilatus über dem Kreuz auf dem Kalvarienberg:

„Jesus Nazarenus, Rex Iudaeorum – Jesus der Nazoräer, der König derJuden.“ (Jo 19, 19).

Allmächtig und machtlos zugleich – darum konnten sich die Wunder derHeilung in der menschlichen Geschichte durch die Heiligen vollziehen,während blutige Kriege und Katastrophen um sie herum wüteten!

Die Freiheit ist der wahrhaftige Thron Gottes und zugleich sein Kreuz. DieFreiheit ist der Schlüssel zum Verständnis der Rolle Gottes in der Geschichte –zum Verständnis des Gottes der Liebe und des Gott-Königs, ohne den Frevel,einen Tyrannen aus ihm zu machen, und ohne die Gotteslästerung desZweifels an seiner Macht oder sogar an seiner Existenz ... Gott ist allmächtigin der Geschichte, soweit es Glauben gibt, und er ist gekreuzigt, soweit mansich von ihm abwendet.

So rührt die Kreuzigung Gottes von der Tatsache der Freiheit oder derwirklichen Existenz der Wesen der zehn Hierarchien her, da es sich nuneinmal um eine Welt handelt, die von der göttlichen Autorität regiert wird undnicht durch Zwang.

Wenden wir uns nun der Idee des Tsimtsum zu, des „SichzurückziehensGottes“ der Kabbala aus der Schule von Luria. Die Lehre des Tsimtsumenthüllt eines der „drei Mysterien” der Kabbala: „Sod hajichud – dasMysterium der Vereinigung“; „Sod hatsimtsum – das Mysterium derKonzentration oder des göttlichen Rückzuges“; „Sod ha gilgul – das Mysteriumdes Kreislaufes der Seelen oder der Wiederverkörperung“. Die beiden anderen„Mysterien“ – das der Vereinigung und das des Kreislaufes der Seelen –werden weiter unten behandelt werden (in anderen Briefen, z. B. dem zehntenBrief). Was das Mysterium des göttlichen Sichzurückziehens (oder derKonzentration) betrifft, das uns hier interessiert, so handelt es sich um dieThese, daß die Existenz des Universums möglich geworden ist durch die Tatder Zusammenziehung Gottes in sich selbst. Gott räumt einen „Platz“ für dieWelt ein, indem er auf eine Region im Innern seiner selbst verzichtet.

„Der erste aller Akte des unendlichen Wesens, des En-Soph, war also ...nicht ein Schritt nach außen, sondern ein Schritt nach innen, ein Wandern in sichselbst hinein, eine, wenn ich den kühnen Ausdruck gebrauchen darf,Selbstverschränkung Gottes ,aus sich selbst in sich selbst’. Statt also eine ersteEmanation seines Wesens oder seiner Kraft aus sich hervorzubringen, steigtEn-Soph im Gegenteil in sein Selbst hinab, konzentriert sein Selbst in seinSelbst ...“

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„Der erste aller Akte ist also kein Akt der Offenbarung, sondern ein Aktder Verhüllung und Einschränkung. Erst im zweiten Akt tritt nun Gott miteinem Strahl seiner Wesenheit aus sich hinaus und beginnt seineOffenbarung oder seine Entfaltung als Schöpfergott in jenem Urraum, dener in sich selbst geschaffen.

Ja, nicht nur dies, vielmehr findet auch vor jedem weiteren Akt derEmanation und Manifestation Gottes ein neuer Akt der Konzentration undVerhüllung statt.“

Mit anderen Worten: Um die Welt aus dem Nichts zu schaffen, mußteGott vorher dieses Nichts erscheinen lassen. Er mußte sich zurückziehen, umeinen mystischen Raum zu schaffen, wo es seine Gegenwart nicht gab – dasNichts.

Im Denken dieses Gedankens nehmen wir teil an der Geburt derFreiheit. Denn wie Berdjajew es formuliert hat:

„Freiheit ist nicht durch Gott-Schöpfer determiniert; sie entstammtdem Nichts, aus dem Gott-Schöpfer die Welt geschaffen hat.

Das Nichts – der mystische Raum, aus dem Gott sich zurückgezogen hatdurch seine Tat des Tsimtsum – ist der Ort des Ursprunges der Freiheit,d.h. des Ursprunges der Existenz der Wesen, welche die absolute, in keinerWeise determinierte Potentialität ist. Alle Wesen der zehn geschaffenenHierarchien sind Kinder Gottes und der Freiheit, der göttlichen Fülle unddes Nichts; sie tragen in sich einen „Tropfen“ des Nichts und einen„Funken“ Gottes. Ihre Existenz, ihre Freiheit ist das Nichts in ihnen. IhreEssenz, ihr Liebesfunken ist das göttliche „Blut“ in ihnen. Sie sindunsterblich; denn das Nichts ist unzerstörbar, und die Monade, welche ausGott hervorgeht, ist ebenfalls unzerstörbar. Noch dazu sind diese beidenunzerstörbaren Elemente – das meontische Element (μή όν = Nichts) unddas pleromische Element (πλήρωμα = Fülle) unauflöslich eins mit demanderen verbunden.

Nun stimmt die Idee des Tsimtsum, des Rückzuges Gottes, um dieFreiheit zu erschaffen, mit derjenigen der göttlichen Kreuzigung um derFreiheit willen in allem überein. Denn der Rückzug Gottes, um für dieFreiheit Platz zu schaffen, und sein Verzicht auf den Gebrauch derMacht gegen den Mißbrauch der Freiheit (innerhalb bestimmter Grenzen)sind nur zwei Gesichtspunkte derselben Idee.

Es versteht sich von selbst, daß die Idee des Tsimtsum und der göttlichenKreuzigung keinerlei Anwendung finden kann, wenn Gott im Sinne desPantheismus aufgefaßt wird. Der Pantheismus schließt, wie derMaterialismus, die wirkliche Existenz individueller Wesen, also eine nichtnur scheinbare Freiheit aus. Für den Pantheismus wie für denMaterialismus ist nicht die Rede von einer göttlichen Zurückziehung undeiner göttlichen Kreuzigung und kann es nicht sein. Andererseits ist diekabbalistische Lehre des Tsimtsum die einzige mir bekannte

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ernstzunehmende Erklärung für die Erschaffung der Welt aus dem Nichts,die ein wirksames Gegengewicht zum reinen Pantheismus darstellt.Außerdem stellt sie eine tiefe Beziehung her zwischen dem Alten und demNeuen Testament, indem sie die kosmische Bedeutung der Idee des Opfersins Licht rückt.

Nun findet sich der Widerschein der Idee des göttlichen Rückzugs undder göttlichen Kreuzigung, wie wir gesehen haben, im vierten Arcanum desTarot „Der Kaiser“ angedeutet. Der „Kaiser“ herrscht durch reineAutorität; er herrscht über die freien Wesen, d. h. nicht mittels desSchwertes, sondern mittels des Zepters. Das Zepter trägt eine Kugel miteinem Kreuz darüber. Es drückt also so klar wie nur möglich die zentraleIdee des Arcanums aus: wie die Welt (die Kugel) durch das Kreuz regiertwird, so ist die Macht des „Kaisers“ auf dem Erdkreis dem Zeichen desKreuzes unterworfen. Die Macht des „Kaisers“ spiegelt die göttliche Machtwider. Und wie dieses sich durch göttliche Zusammenziehung, dasTsimtsum, und durch freiwillige göttliche Machtlosigkeit, die Kreuzigung,verwirklicht, ebenso verwirklicht sich die Macht des „Kaisers“ durch dieZusammenziehung seiner persönlichen Kräfte (der enggeschnürte Gürteldes „Kaisers“) und durch freiwillige Unbeweglichkeit (die gekreuzten Beinedes „Kaisers“) in seinem Amt (dem Sitz oder Thron).

Das Amt des „Kaisers“... Welche Fülle an Ideen über das Amt desKaisers der Christenheit, seine historische Mission, seine Obliegenheiten imLichte des Naturrechts und seine Rolle im Lichte des göttlichen Rechts findetman bei den mittelalterlichen Schriftstellern:

„Wie aber die Gründung einer Stadt oder eines Reiches in angemessenerWeise nach der Erschaffung der Welt bestimmt werden kann, so ist auch derGrundsatz ihrer Regierung von der Art, in der die Welt regiert wird,abzuleiten.“

So lautet die Grundthese über diesen Gegenstand, die wir bei Thomasvon Aquin finden. Darum konnten sich die Schriftsteller des Mittelalterskeine Christenheit ohne Kaiser vorstellen, ebensowenig wie sie sich dieuniversale Kirche ohne Papst vorstellen konnten. Denn wenn die Welthierarchisch regiert wird, kann es in der Christenheit oder im SanctumImperium nicht anders sein. Die Hierarchie ist eine Pyramide, die nurexistiert, wenn sie vollständig ist. Es ist der Kaiser, der an ihrer Spitze steht.Dann kommen die Könige, die Herzöge, der Adel, die Bürger und dieBauern. Es ist die Krone des Kaisers, die den königlichen Kronen dieKönigswürde verleiht, von denen die herzoglichen und alle anderen Kronenihrerseits ihre Autorität herleiten.

Das Amt des Kaisers ist indessen nicht nur die letzte (oder vielmehr dieerste) Instanz der Legitimität. Es war zugleich magisch, wenn wir unterMagie die Wirkung der Entsprechungen zwischen dem, was unten ist, unddem, was oben ist, verstehen. Es war das Prinzip der Autorität, von der allekleineren Autoritäten nicht allein ihre Legitimität, sondern auch ihren

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Einfluß auf das Bewußtsein der Menschen herleiteten. Darum verloren dieköniglichen Kronen eine nach der anderen ihren Glanz und verschwanden,nachdem die kaiserliche Krone verschwunden war. Die Monarchien könnennicht längere Zeit ohne die Monarchie existieren; die Könige können nichtunter sich Krone und Zepter des Kaisers teilen und sich als Kaiser in ihrenverschiedenen Ländern gebärden, denn der Schatten des abwesendenKaisers ist immer gegenwärtig; und wenn es früher der Kaiser war, der denköniglichen Kronen Glanz verlieh, so war es später der Schatten desKaisers, der die Kronen verdunkelte – die königlichen und dann auch alleanderen Kronen: die herzoglichen, fürstlichen, gräflichen usw. Die Pyramideist nicht vollständig ohne ihre Spitze; die Hierarchie existiert nicht, wennsie unvollständig ist. Wenn es keinen Kaiser gibt, wird es früher oder späterauch keine Könige mehr geben. Wenn es keine Könige mehr gibt, wird esfrüher oder später keinen Adel mehr geben. Wenn es keinen Adel mehrgibt, wird es früher oder später auch keine Bürger und keine Bauern mehrgeben. Auf diese Weise gelangt man schließlich zur Diktatur des Proletariats– jener Klasse, die dem hierarchischen Prinzip feindlich gesinnt ist, das dieSpiegelung der göttlichen Ordnung ist. Darum bekennt sich das Proletariatzum Atheismus.

Europa wird vom Schatten des Kaisers heimgesucht. Man fühlt seineAbwesenheit so lebhaft, wie man früher seine Gegenwart fühlte. Denn dieLeere der Wunde spricht. Was uns fehlt, weiß sich uns fühlbar zu machen.

Napoleon, Augenzeuge der Französischen Revolution, verstand dieRichtung, die Europa genommen hatte: die Richtung auf die völligeZerstörung der Hierarchie. Und er fühlte den Schatten des Kaisers. Er wußte,daß man in Europa nicht den königlichen Thron Frankreichswiederherstellen mußte – denn die Könige können nicht lange ohne Kaiserbestehen –, sondern den europäischen Kaiserthron. So entschloß er sich,die Lücke selbst zu schließen. Er machte sich zum Kaiser und seine Brüderzu Königen. Er vertraute auf das Schwert. Statt durch das Zepter zuherrschen – die Kugel, die das Kreuz trägt –, ergriff er die Partei derer, diedurch das Schwert herrschen. Doch:

„... alle, die zum Schwerte greifen, werden durch das Schwertumkommen.“ (Mt 26, 52)

Auch Hitler Verfiel dem wahnwitzigen Wunsch, den leeren Platz desKaisers einzunehmen. Er glaubte, mit Hilfe des Schwertes das„tausendjährige Reich“ der Tyrannei herbeiführen zu können. Doch auchda galt:

„... alle, die zum Schwerte greifen, werden durch das Schwertumkommen.“

Nein, das Amt des Kaisers gehört weder denen, die es begehren, nochunterliegt es der Wahl der Völker. Der Wahl des Himmels allein ist esvorbehalten. Es ist okkult geworden, und Krone, Zepter, Thron und Schild

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des Kaisers finden sich „in den Katakomben“. „In den Katakomben“bedeutet: unter absolutem Schutz.

Nun ist der „Kaiser“ auf der vierten Karte ganz allein, ohne Hof nochGefolge. Sein Thron befindet sich nicht in einem Saal des kaiserlichenPalastes, sondern ganz unter freiem Himmel. Im Freien auf unbebautem Feld– nicht auf dem Platz in einer Stadt. Ein armseliges Grasbüschel nebenseinem Fuß steht da statt des ganzen kaiserlichen Hofes, statt aller Zeugenseiner kaiserlichen Größe. Über ihm breitet sich der klare Himmel aus. Der„Kaiser“ ist eine Silhouette vor dem Hintergrund des Himmels. Allein inder Gegenwart des Himmels – das ist der „Kaiser“.

Man kann sich fragen: Warum ist die erstaunliche Tatsache, daß der„Kaiser“ mitsamt seinem Throne sich draußen unter freiem Himmelbefindet, von so vielen Autoren über den Tarot außer acht gelassenworden? Warum hat man versäumt, darauf aufmerksam zu machen, daßder „Kaiser“ allein ist, ohne Hof und Gefolge? – Ich denke, weil es seltenvorkommt, daß man das Symbol, die Abbildung des Symbols als solche,alles sagen läßt, was es durch seinen inneren Zusammenhang auszusagenhat. Man begnügt sich damit, es ein wenig sagen zu lassen – und interessiertsich sogleich mehr für seine eigenen Gedanken, d. h. für das, was manselbst sagen möchte, als für das, was das Symbol zu sagen hat.

Indessen ist das Kartenbild deutlich: Der „Kaiser“ ist allein; er ist unter freiemHimmel auf einem unbebauten Feld und mit einem Grasbüschel als einzigerGesellschaft – außer Himmel und Erde. Das Bild lehrt uns das Arcanum derAutorität des „Kaisers“, auch wenn diese nicht anerkannt, sondern okkult,unbekannt und verkannt ist. Es handelt sich dabei um Krone, Zepter, Thronund Schild, die – ohne andere Zeugen als Himmel und Erde – gehütetwerden durch einen einsamen Menschen, der sich an den Thron lehnt, dieBeine kreuzt, die Krone trägt, das Zepter hält und seinen Gürtel im Griffhat. Es ist die Autorität als solche, und es ist das Amt der Autorität alssolches, um das es hier geht. Nun ist die Autorität die Magie der spirituellenTiefe voller Weisheit oder, anders gesagt, Autorität ist das Ergebnis derMagie, welche sich auf die Gnosis stützt, die der mystischen Erfahrungverdankt wird. Die Autorität ist das zweite HE des göttlichen Namens JHVH.Auf keinen Fall ist sie aber das zweite HE, für sich genommen; sie ist es erst,wenn der ganze göttliche Name sich bekundet. Darum ist es richtiger zusagen, daß die Autorität der voll zum Ausdruck gebrachte göttliche Nameist. Der voll zum Ausdruck gebrachte göttliche Name bedeutet zugleich einAmt, das Amt des „Kaisers“, oder den Bewußtseinszustand der völligenSynthese von Mystik, Gnosis und geheiligter Magie. DieserBewußtseinszustand der vollkommenen Synthese ist die Einweihung.Einweihung weder verstanden im Sinne des Rituals oder des Besitzes vongeheimgehaltener Information, sondern im Sinne des Bewußtseinszustandes,in welchem Ewigkeit und Augenblick eins sind. Es ist die gleichzeitige Schaudes Zeitlichen und des Ewigen, dessen, was unten ist, und dessen, was oben ist.

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Die Formel der Einweihung bleibt immer dieselbe:

„Verum, sine mendacio, certum et verissimum: Quod est inferius, est sicutquod est superius, et quod est superius, est sicut quod est inferius ad perpetrandamiracula rei unius.“

„Wahr, ohne Lüge, sicher und vollkommen wahrhaftig: Was unten ist,ist wie das, was oben ist, und was oben ist, ist wie das, was unten ist, um dieWunder des Einen zu vollbringen.“

Wenn diese Einheit gelebt, kontemplativ erfaßt, in Anwendung gebrachtund voll verstanden wird, so ist das die Einweihung oder die „Heiligungdes göttlichen Namens im Menschen“; und das ist auch der tiefe Sinn derersten Bitte des Vaterunsers:

„SANCTIFICETUR NOMEN TUUM – geheiligt werde dein Name.“

Es bedeutet somit der „Kaiser“ die Autorität der Einweihung oder desEingeweihten. Sie wird nach kabbalistischer Sicht dem vollständigengöttlichen Namen verdankt, nach magischer Sicht „dem großen magischenArcanum“ und nach alchimistischer Sicht dem „Stein der Weisen“. Sie ist, mitanderen Worten, die Einheit und Synthese von Mystik, Gnosis und geheiligterMagie. Diese Einheit oder Synthese haben wir im zweiten Brief als„hermetische Philosophie“ bezeichnet, verbunden mit dem „philosophisch-hermetischen Sinn“. Diese „hermetische Philosophie“ bedeutet nicht – manmuß es wiederholen – eine Philosophie, die hergeleitet oder herausgelöst istaus dem einheitlichen Organismus aus Mystik, Gnosis und Magie. Sie istselbst diese Einheit in ihrer Offenbarwerdung. Die hermetische Philosophieist ebenso untrennbar von der Einheit Mystik-Gnosis-Magie, wie das zweiteHE vom göttlichen Namen. Sie ist die Autorität oder die Manifestation derEinheit Mystik- Gnosis-Magie.

Die hermetische Philosophie entspricht der Stufe des „verissimum“ dessen, was„verum sine mendacio et certum“ in der „erkenntnistheoretischen“ Formel der„Tabula Smaragdina“ ist. Denn sie ist es, die alle mystische Erfahrung,gnostische Offenbarung und magische Praxis zusammenfaßt. Die unmittelbaremystische Erfahrung, die in der Gnosis „wahr“ – oder im Bewußtseinwidergespiegelt – und dann durch ihre magische Realisation „gewiß“ wird,spiegelt sich ein zweites Mal (als zweites HE oder „zweite Gnosis“ desgöttlichen Namens) im Bereich des reinen Denkens, welches auf die reineErfahrung gestützt ist, wird dort geprüft und schließlich zusammengefaßt undwird so „vollkommen wahrhaftig“.

Die Formel: „Verum, sine mendacio, certum et verissimum – Wahr, ohneLüge, sicher und vollkommen wahrhaftig“ drückt also das Prinzip derErkenntnislehre (oder der Gnoseologie) der hermetischen Philosophie aus mitihrem dreifachen Prüfstein. Dieses Prinzip kann auf verschiedene Weiseformuliert werden. Eine davon ist: „Was völlig subjektiv ist (die reine mystischeErfahrung), muß sich im Bewußtsein objektivieren und hier als wahr anerkannt

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werden (gnostische Offenbarung), dann sich als gewiß erweisen durch seineobjektiven Früchte (die geheiligte Magie) und schließlich sich als vollkommenwahrhaftig erweisen im Lichte des reinen Denkens, gegründet auf reine subjektiveund objektive Erfahrung (hermetische Philosophie).“

Es handelt sich also um den Zusammenklang vier verschiedener „Sinne“:des mystischen Sinnes oder des geistigen Tastens, des gnostischen Sinnes oderdes geistigen Hörens, des magischen Sinnes oder des geistigen Schauens undendlich des philosophisch-hermetischen Sinnes oder des geistigen Verstehens.Der dreifache Prüfstein der hermetischen Philosophie ist also der innere Werteiner Offenbarung (verum, sine mendacio), ihre konstruktive Fruchtbarkeit(certum) und ihre Übereinstimmung mit früheren Offenbarungen, mit denGesetzen des Denkens und mit jeder verfügbaren Erfahrung (verissimum). In derhermetischen Philosophie ist also etwas nur dann absolut wahr, wenn es göttlichenUrsprungs ist, wenn es Früchte trägt, die mit seinem Ursprung übereinstimmen,und wenn es in Einklang ist mit den kategorialen Anforderungen des Denkens undder Erfahrung.

Der Hermetiker ist also ein Mensch, der zugleich Mystiker, Gnostiker,Magier und realistisch-idealistischer Philosoph ist. Er ist realistisch-idealistischer Philosoph, weil er sich ebenso auf die Erfahrung wie auf dasspekulative Denken stützt, ebenso auf die Tatsachen wie auf die Ideen. DennTatsachen und Ideen sind für ihn nur zwei Aspekte derselben Realität-Idealität,d. h. derselben Wahrheit.

Da die hermetische Philosophie die Zusammenfassung und Synthese ist vonMystik, Gnosis und geheiligter Magie, ist sie nicht eine Philosophie unteranderen Philosophien oder ein besonderes philosophisches System unter anderenbesonderen philosophischen Systemen.

Ebenso wie die katholische Kirche, da sie katholisch oder universal ist,sich nicht als besondere Kirche neben anderen Kirchen betrachten und ihreDogmen nicht als religiöse Meinungen unter anderen religiösen Meinungenoder „Konfessionen“ ansehen kann, ebenso kann die hermetische Philosophie,da sie die Synthese ist von allem, was im geistigen Leben der Menschheitwesentlich ist, sich nicht als eine Philosophie unter mehreren betrachten.Anmaßung? – Es wäre ohne Zweifel eine ungeheure Anmaßung, wenn es sichum menschliche Erfindung statt um Offenbarung von oben handelte. In der Tat,wenn Sie eine von oben offenbarte Wahrheit haben, wenn die Annahme dieserWahrheit Wunder der Heilung, des Friedens, der Belebung mit sich bringt, wennsie Ihnen tausend ungeklärte und ohne sie unerklärbare Dinge erklärt – könnenSie sie dann als Meinung unter anderen Meinungen betrachten?

Dogmatismus? – Ja, wenn man unter „Dogma“ die Gewißheit versteht,welche aus einer Offenbarung von göttlichem Wert herrührt, aus ihrerkonstruktiven Fruchtbarkeit und aus der Bestätigung, die sie von dervereinigten Vernunft und Erfahrung erhalten hat. Wenn man die Gewißheithat, die auf der Übereinstimmung des sich offenbarenden Göttlichen, deswirkenden Göttlich-Menschlichen und des verstehenden Menschlichen beruht,wie kann man dann handeln, als ob man sie nicht hätte? – Soll man sie wirklich

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dreimal verleugnen bis zum Hahnenschrei, damit man akzeptiert werde inder guten Gesellschaft der „freien“ und „undogmatischen“ Geister, um sich mitihnen am Feuer der relativen Dinge zu wärmen, der Gebilde allein vonMenschenhand?

Häresie? – Ja, wenn man unter Häresie den Vorrang der universalenOffenbarung, der Werke des Guten, die allgemein als solche anerkannt werden,und des Ideals der Universalität in der Philosophie versteht.

Die hermetische Philosophie ist also keine besondere Philosophie unter anderenbestehenden Philosophien. Sie ist es schon deswegen nicht, weil sie nicht miteindeutigen Begriffen und ihnen entsprechenden Definitionen arbeitet, wie es diePhilosophen tun, sondern mit Arcana und ihren symbolischen Ausdrücken.Vergleichen Sie die „Tabula Smaragdina“ mit der „Kritik der reinen Vernunft“von Kant, und Sie werden den Unterschied sehen. Die „Tabula Smaragdina“bringt die grundlegenden Arcana des mystisch-gnostisch-magisch-philosophischen Werkes zum Ausdruck; die „Kritik der reinen Vernunft“arbeitet ein Gebäude aus, das sich aus eindeutigen Begriffen zusammensetzt(wie den Kategorien der Quantität, der Qualität, der Relation und derModalität) und das in seiner Gesamtheit die transzendentale Methode Kantsklarmacht, d. h. die Methode zu „denken über den Akt des Denkens“ oder dieReflexion der Reflexion. Diese Methode ist allerdings, wie wir sehen werden, einAspekt des achtzehnten Arcanums des Tarot („Der Mond“), und diesessymbolisch auf der Karte „Der Mond“ dargestellte Arcanum lehrt inhermetischer Art und Weise das Wesentliche von dem, was Kant inphilosophischer Art und Weise über die transzendentale Methode lehrte.

Ist also die hermetische Philosophie nur bloßer Symbolismus, und hat sienichts zu tun mit den Methoden der philosophischen undnaturwissenschaftlichen Schlußfolgerung?

Ja und nein. Ja, insofern die hermetische Philosophie esoterischer Art ist,d. h., soweit sie aus Arcana besteht, die am Mysterium orientiert sind und inSymbolen ausgedrückt werden. Nein, insofern sie eine anregende Wirkung aufdie philosophische und naturwissenschaftliche Urteilskraft ihrer Verfechterausübt. Sie ist sozusagen von einem intellektuellen philosophischen undnaturwissenschaftlichen Halbschatten umgeben, den sie der Aktivität ihrerVerfechter verdankt, welche das Ziel verfolgen, die Arcana und Symbole derhermetischen Philosophie – soweit man es kann – in eindeutige Begriffe undverbale Definitionen zu übersetzen. Das ist ein Kristallisationsprozeß; denndie Übersetzung der vieldeutigen Begriffe oder Arcana in eindeutigeBegriffe ist dem Übergang aus dem Zustand des organischen Lebens in dendes Minerals vergleichbar. Auf diese Weise gehen die „okkultenWissenschaften“, wie die Kabbala, die Astrologie und die Alchimie, aus derhermetischen Philosophie hervor. Diese Wissenschaften können ihre eigenenGeheimnisse besitzen, aber die Arcana, die sich in diesen Wissenschaftenspiegeln, gehören dem Bereich der hermetischen Philosophie an. Insofern dieIntellektualisierung der hermetischen Philosophie eine Art Auslegung undFolgeerscheinung darstellt, ist sie gerechtfertigt und sogar unentbehrlich.

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Denn in diesem Fall übersetzt man jedes Arcanum in mehrere eindeutigeBegriffe, z. B. drei, und durch eben diese Tatsache verhilft man dem Intellektdazu, sich daran zu gewöhnen, hermetisch zu denken, d. h. inmehrdeutigen Begriffen oder Arcana. Wenn aber die Intellektualisierung derhermetischen Philosophie das Ziel der Erstellung eines autonomen Systems voneindeutigen Begriffen verfolgte, die sich formal nicht widersprechen,bedeutete dies einen Mißbrauch. Denn anstatt der menschlichen Vernunftzu helfen, sich über sich selbst zu erheben, würde sie ihr ein weiteresHindernis in den Weg legen. Sie würde sie fesseln statt befreien.

Die „okkulten Wissenschaften“ sind also von der hermetischen Philosophieabgeleitet auf dem Wege der Intellektualisierung. Darum sollte man die Symbole,z. B. die großen Arcana des Tarot, nicht als allegorische Ausdrücke derTheorien oder Begriffe dieser Wissenschaften betrachten. Denn das Gegenteilist wahr: Es sind die Lehren der okkulten Wissenschaften, die von Symbolen –des Tarot oder auch anderen Symbolen – hergeleitet sind, und diese sollte manals intellektuelle „allegorische“ Ausdrücke der Symbole und Arcana derhermetischen Esoterik betrachten. So sollte man nicht sagen: „Das vierteKartenbild ,Der Kaiser’ ist das ‚Symbol’ der astrologischen Lehre über denJupiter.“ Vielmehr sollte man sagen: „Das Arcanum des vierten Bildes, derKaiser enthüllt sich auch in der astrologischen Lehre über den Jupiter.“ DieEntsprechung als solche bleibt unberührt; aber es liegt eine Welt vonUnterschieden zwischen diesen beiden Aussagen. Denn bei der erstenAussage bleibt man „Astrologe“ und nichts als Astrologe, während man beider zweiten Aussage hermetisch denkt und gleichzeitig Astrologe bleibt,wenn man es ist.

Die hermetische Philosophie setzt sich nicht aus Kabbala, Astrologie, Magieund Alchimie zusammen. Diese vier aus einem Stamm hervorgewachsenenZweige bilden nicht den Stamm, obwohl sie durch den Stamm leben. DerStamm ist die sichtbar gewordene Einheit von Mystik, Gnosis undgeheiligter Magie. Es gibt dort keine Theorien, es gibt nur Erfahrung, dieintellektuelle Erfahrung der Arcana und Symbole inbegriffen. Die mystischeErfahrung ist ihre Wurzel, die gnostische Erfahrung der Offenbarung ist derSaft, und die Erfahrung oder Praxis der geheiligten Magie ist das Holz.Darum besteht die Lehre der hermetischen Philosophie – oder der „Leib“ ihrerTradition – in spirituellen Übungen, und alle Arcana (darin einbegriffen dieArcana des Tarot) sind geistig-praktische Übungen, deren Ziel es ist, immertiefere Schichten des Bewußtseins zu erwecken. Die notwendigenAuslegungen und Schlußfolgerungen, welche diese Praxis begleiten, bildendie „Rinde“ des Stammes. So findet sich der „Schlüssel“ zur Apokalypse deshl. Johannes nirgends. Denn es handelt sich gar nicht darum, sie zuinterpretieren im Hinblick darauf, daraus ein philosophisch-metaphysisches oder historisches System zu entwickeln. Der Schlüssel zurApokalypse ist, sie anzuwenden, d. h., sie als ein Buch geistiger Übungen zugebrauchen, die immer tiefere Schichten des Bewußtseins erwecken. Diesieben Briefe an die Gemeinden, die sieben Siegel des versiegelten Buches, die

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sieben Posaunenstöße und die sieben Zornesschalen bedeuten alle zusammeneinen „Lehrgang“ geistiger Übungen, der aus 28 Einzelübungen besteht.Denn da die Apokalypse eine aufgeschriebene Offenbarung ist, muß man, umsie zu verstehen, in sich einen Bewußtseinszustand herstellen, der geeignetist, Offenbarungen zu empfangen. Es ist der Zustand der Konzentration ohneAnstrengung (wie ihn das erste Arcanum lehrt), gefolgt durch ein wachsamesinneres Schweigen (welches das zweite Arcanum lehrt), das zur inspiriertenTätigkeit von Vorstellungskraft und Denken wird, wo das bewußte ich mitdem Überbewußten zusammenwirkt (Lehre des dritten Arcanums); undschließlich stellt das bewußte Ich seine schöpferische Aktivität ein undverharrt in Betrachtung, indem es alles, was vorherging, an sich vorüberziehenläßt, um es zusammenzufassen (die praktische Unterweisung des viertenArcanums). Die Beherrschung dieser vier psychurgischen Operationen, welchedurch den „Gaukler“, die „Päpstin“, die „Kaiserin“ und den „Kaiser“symbolisiert werden, bildet den Schlüssel zur Apokalypse. Vergebens würdeman einen anderen suchen.

Die Evangelien sind ebenfalls spirituelle Exerzitien, d. h., daß man sie nichtnur lesen und wiederlesen, sondern ganz in ihr Element eintauchen, ihre Luftatmen und gewissermaßen als Augenzeuge an den dort beschriebenenEreignissen teilnehmen soll – und all dies nicht als Forscher, sondern alsBewunderer mit stetig wachsender Bewunderung.

Das Alte Testament enthält ebenfalls Teile, welche spirituelle Übungensind. Die jüdischen Kabbalisten – der oder die Verfasser des Sohar zumBeispiel – haben einen solchen Gebrauch davon gemacht, und daraus hat dieKabbala ihren Ursprung genommen, und daraus lebt sie. Der Unterschiedzwischen den Kabbalisten und den anderen Gläubigen liegt nur in derTatsache, daß die ersteren aus der Schrift geistige Übungen schöpften,während die letzteren sie studierten und daran glaubten.

Das Ziel der geistigen Übungen ist Tiefe. Man muß tiefgründig werden,um die Erfahrung und Kenntnis tiefer Dinge erreichen zu können. Es ist derSymbolismus, welcher die Sprache der Tiefe ist, ebenso wie es die durchSymbole ausgedrückten Arcana sind, welche sowohl Mittel wie Ziel dergeistigen Übungen darstellen, aus denen die lebendige Tradition derhermetischen „Philosophie“ besteht.

Die gemeinsamen geistigen Übungen bilden das gemeinsame Band, dasdie Hermetiker vereint. Nicht das gemeinsame Wissen vereint sie, sondern diegeistigen Übungen und die Erfahrungen, die diese mit sich bringen. Wenndrei Personen aus verschiedenen Ländern, die das Buch der Genesis desMoses, die Vision des Ezechiel und das Evangelium des hl. Johanneswährend mehrerer Jahre zum Gegenstand geistiger Übungen gemacht haben,sich begegneten, würden sie es als Brüder tun, obwohl der eine vielleicht umdie Geschichte der Menschheit weiß, der andere das Wissen der Heilungbesitzt, und der dritte ein tiefer Kabbalist ist. Was man weiß, ist das Ergebnisder persönlichen Erfahrung und Orientierung, während die Tiefe und dasNiveau, welches man erreicht hat – ohne Rücksicht auf die Blickrichtung und

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das Ausmaß des gewonnenen Wissens – das ist, was man gemeinsam hat. DieHermetik, die hermetische Tradition, ist zuallererst und vor allem einbestimmter Grad an Tiefe, ein gewisses Niveau des Bewußtseins, und diegeistigen Übungen sind es, die es sichern.

Was das Wissen der einzelnen Hermetiker betrifft – und das bezieht sichauch auf die Eingeweihten –, so hängt es von der individuellen Berufung einesjeden von ihnen ab. Die Aufgabe, die man verfolgt, bestimmt Natur undUmfang nicht allein des Wissens, sondern auch der persönlichen Erfahrung,auf welche sich dieses Wissen gründet. Man macht die Erfahrung undgewinnt die Kenntnis dessen, was notwendig ist zur Erfüllung der Aufgabe,die sich aus der individuellen Berufung ergibt. Mit anderen Worten: manweiß, was notwendig ist, um informiert zu sein und um sich orientieren zukönnen in dem Bereich, der sich auf die individuelle Berufung bezieht. Sowird ein Hermetiker, dessen Berufung das Heilen ist, etwas über dieZusammenhänge zwischen dem Bewußtsein, dem System der „Lotosblumen“(Chakras), dem Nervensystem und dem System der endokrinen Drüsen wissen,während ein anderer Hermetiker, dessen Berufung die Geistesgeschichte derMenschheit ist, darüber nichts weiß. Der letztere kennt seinerseits jedoch dieTatsachen der Vergangenheit und Gegenwart hinsichtlich der Beziehungenzwischen den geistigen Hierarchien und der Menschheit – zwischen dem, wasoben stattfand oder stattfindet, und dem, was unten stattfand oder stattfindet,von dem wiederum der Heiler nichts weiß.

Dieses Wissen, soweit es sich nicht um Arcana handelt, besteht in Tatsachen –obwohl oft von rein spiritueller Natur – und nicht in Theorien. So ist zumBeispiel die „Reinkarnation“ keineswegs eine Theorie, die man zu glauben odernicht zu glauben hat. In der Hermetik beabsichtigt niemand, die Leute von derWahrheit der „Wiederverkörperungstheorie“ zu überzeugen oder sie davonabzubringen. Für den Hermetiker ist sie eine Tatsache, die entweder ausErfahrung bekannt oder unbekannt ist. Ebenso wie man keine Propagandamacht für oder gegen die Tatsache, daß wir nachts schlafen und am Morgen vonneuem aufwachen – denn es ist eine Angelegenheit der Erfahrung –, ebenso istdie Tatsache, daß wir sterben und von neuem geboren werden, eine Angelegenheitder Erfahrung, d. h., man hat entweder Gewißheit darüber, oder aber man hatsie nicht. Diejenigen, welche darüber Gewißheit haben, sollten erkennen, daßdas Nichtwissen um die Wiederverkörperung oft sehr tiefe und sogar erhabeneGründe hat in bezug auf die Aufgabe der betreffenden Person. Wenn z. B.jemand eine Aufgabe hat, die ein Höchstmaß an Konzentration in der Gegenwartverlangt, kann er auf jede geistige Erinnerung der Vergangenheit verzichten.Denn die erweckte Erinnerung ist nicht immer ein Segen; sie ist oft sogar eineLast. Sie ist es vor allem, wenn es sich um eine Aufgabe handelt, die eine vonjedem Vorurteil freie Einstellung erfordert, wie es bei der Berufung zumPriester, Arzt und Richter der Fall ist. Der Priester, der Arzt und der Richtermüssen sich so auf die Aufgabe der Gegenwart konzentrieren, daß sie nichtabgelenkt sein dürfen durch die Erinnerung an frühere Existenzen.

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Man kann Wunder tun ohne die Erinnerung an frühere Leben, wie es beimhl. Pfarrer von Ars der Fall war, und man kann auch Wunder tun, wenn man imvollen Besitz dieser Erinnerung ist, wie es der Fall war bei Philipp von Lyon.Denn die Wiederverkörperung ist weder ein Dogma, d. h. eine für das Heilnotwendige Wahrheit, noch eine Häresie, d.h. im Widerspruch zu einer für dasHeil notwendigen Wahrheit. Sie ist lediglich eine Erfahrungstatsache, ganz wieder Schlaf und die Vererbung. Als solche ist sie neutral. Alles hängt von ihrerInterpretation ab.

Man kann sie so auffassen, daß daraus ein Hymnus zum Ruhme Gotteswird, und man kann sie so verstehen, daß daraus eine Gotteslästerung wird.Wenn man sagt: Verzeihen ist das Gewähren der Chance, wieder neuanzufangen, oder: Gott verzeiht mehr als siebenmal siebzigmal, um uns immervon neuem Chancen zu gewähren – welch unendliche Güte Gottes! Das istdie Interpretation zum Ruhme Gottes.

Wenn man sagt: Es gibt einen Mechanismus der unendlichen Evolution,und man ist darin moralisch durch frühere Leben vorherbestimmt; es gibtkeine Gnade, es gibt nur das Gesetz von Ursache und Wirkung – dann ist daseine gotteslästerliche Interpretation. Sie reduziert Gott auf die Tätigkeit desIngenieurs einer moralischen Maschine.

Daß man die Reinkarnation auf zwei Arten deuten kann, ist keineBesonderheit. Gleiches gilt vielmehr für jede derartige Tatsache. So kann zumBeispiel die Erblichkeit im Sinne eines vollständigen Determinismusinterpretiert werden, der die Freiheit, also auch die Moral ausschließt, oderaber sie kann als eine Möglichkeit schrittweiser Läuterung des Organismusgedeutet werden, welche das Ziel hat, aus ihm ein vollkommeneres Instrumentfür die Aufgaben der Nachkommenschaft zu machen. Hat Abraham nicht dasVersprechen erhalten, daß der Messias aus seinem Stamme kommen würde?Und wurde nicht David das gleiche Versprechen gegeben?

Wie auch immer die persönliche Deutung einer Tatsache ausfällt,Tatsache bleibt Tatsache, und man muß sie kennen, wenn man sich in demBereich orientieren will, dem sie angehört. So haben die HermetikerKenntnis von verschiedenen Tatsachen, gemäß ihrer persönlichen Berufung;die hermetische Philosophie jedoch bildet nicht die Summe, die sich aus denvon den einzelnen Individualitäten erworbenen Kenntnissen zusammensetzt.Sie ist ein Organismus von in Symbolen ausgedrückten Arcana, welchegleichzeitig sowohl geistige Übungen sind als auch Fähigkeiten, die ausihnen hervorgehen. Ein Arcanum, das während eines genügenden Zeitraumsals geistige Übung praktiziert wurde, entwickelt sich zur Fähigkeit. Es gibtdem Schüler nicht das Wissen um neue Tatsachen, sondern macht ihn fähig,solches Wissen zu erwerben, wenn er es braucht. Einweihung ist dieFähigkeit, sich in jedem Bereich zu orientieren und die Kenntnis der zurSache gehörigen Tatsachen – der „Schlüssel-Tatsachen“ – zu erwerben.

Eingeweihter ist derjenige, der weiß, wie das Wissen zu erlangen ist, d. h. derzu fragen, die Antwort zu suchen und die richtigen Mittel anzuwenden weiß, umdorthin zu kommen. Die geistigen Übungen allein haben es ihn gelehrt – keine

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einzige Theorie oder Lehre, so lichtvoll sie auch sei, hätte ihn fähig gemachtzum „Wissen um das Wissen“. Denn die geistigen Übungen haben ihm denpraktischen Sinn beigebracht (und in der hermetischen „Philosophie“ gibt eskeinen anderen Sinn als den praktischen) und ihn die unfehlbare Wirksamkeit desArcanums der drei vereinten Bemühungen gelehrt, das die Grundlage bildet fürjede geistige Übung und für jedes Arcanum:

„Bittet, und es wird euch gegeben werden,Suchet, und ihr werdet finden,Klopfet an, und es wird euch aufgetan werden“ (Lk 11, 9).

Daher lehrt die hermetische Philosophie nicht, was von Gott, demMenschen und der Natur zu glauben ist, wohl aber lehrt sie, wie zu bitten, zusuchen und anzuklopfen ist, um zur mystischen Erfahrung, zu gnostischenEingebungen und zur magischen Wirkung dessen zu kommen, was man vonGott, dem Menschen und der Natur zu wissen sucht. Und nachdem mangebeten, gesucht und angeklopft hat, und nachdem man empfangen,gefunden und Zugang gewonnen hat, weiß man. Diese Art des Wissens – dieGewißheit des synthetischen Verstehens von mystischer Erfahrung,gnostischer Offenbarung und magischer Wirkung – das symbolisiert „DerKaiser“, das ist die praktische Belehrung der vierten Karte des Tarot.

Es handelt sich dabei um die Entwicklung und den Gebrauch des„vierten geistigen Sinnes“, der auf die Entwicklung und den Gebrauch derdrei vorhergehenden Sinne (des mystischen, gnostischen und magischen)folgt: des „philosophisch-hermetischen Sinnes“. Die Fähigkeit zu „wissen,wie zu wissen ist“, ist der wesentliche charakteristische Zug dieses Sinnes.Wir haben ihn weiter oben (im zweiten Brief) als „Synthese-Sinn“ definiert.Jetzt können wir weitergehen, und zwar auf eine vertieftere Weise, indemwir ihn als „einweihenden Sinn“ definieren oder als Sinn der Orientierung unddes Erwerbs der Erkenntnis der wesentlichen Tatsachen auf jeglichem Gebiet.

Wie arbeitet dieser Sinn? – Es besteht Grund, von vornherein daraufhinzuweisen, daß er nicht identisch ist mit dem, was man als „metaphysischenSinn“ zu bezeichnen gewohnt ist. Denn der „metaphysische Sinn“, der Sinnder Metaphysiker, ist die Vorliebe und Fähigkeit, in abstrakten Theorien zuleben, der Hang zum Abstrakten also, während im Gegensatz dazu der„philosophisch-hermetische Sinn“ aus der Hinwendung zum konkretSpirituellen, Seelischen und Physischen hin folgt. Während der „metaphysischeSinn“ mit dem „Gottesbegriff“ arbeitet, richtet sich der „philosophisch-hermetische Sinn“ auf den lebendigen Gott, auf die konkrete spirituelleTatsache, daß es Gott gibt. Der himmlische Vater der Christen und der Alteder Tage der Kabbalisten ist keine abstrakte Vorstellung. Er ist keinBegriff, sondern ein Wesen.

Der „metaphysische Sinn“ arbeitet so, daß er auf dem Wege derAbstraktion von den Tatsachen die Gesetze herleitet und von den Gesetzendie Prinzipien. Der einweihende oder der „philosophisch-hermetische“ Sinndagegen nimmt durch die Tatsachen hindurch die Wesenheiten der geistigen

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Hierarchien wahr und durch diese hindurch – den lebendigen Gott. Für deneinweihenden Sinn ist der Raum zwischen dem „höchsten Prinzip“ und demBereich der Tatsachen nicht von „Gesetzen“ und „Prinzipien“ bevölkert,sondern von lebenden geistigen Wesenheiten, die mit Miene, Blick, Stimmeund Sprache begabt sind und die einen Namen haben. Für den einweihendenSinn ist der Erzengel Michael kein „Gesetz“ oder „Prinzip“. Er ist einlebendes Wesen, dessen Antlitz unsichtbar ist, weil es dem Antlitz Gottesseinen Platz überlassen hat. Aus diesem Grunde hat es den Namen MI-CHA-EL, d. h. Wer (MI) ist wie (CHA) Gott (EL). Niemand könnte den Anblick desAntlitzes Michaels ertragen, weil es „CHA EL.“, d. h. wie dasjenige Gottesist.

Der einweihende oder „philosophisch-hermetische“ Sinn ist derjenige derkonkreten geistigen Realitäten. Der Hermetiker „erklärt“ die Tatsachenweder durch „Gesetze“, die durch Abstraktion, noch durch „Prinzipien“,die durch noch weitergehende Abstraktion gewonnen sind, sondern erschreitet von den „abstrakten Tatsachen“ vor zu den konkreteren Wesen, umschließlich bei dem anzukommen, was das Konkreteste ist, das einzigeabsolut Konkrete, das es gibt: Gott. Denn für den einweihenden Sinn ist Gottdas Wirklichste, also das Konkreteste – in der Tat das einzige absolut Wirklicheund Konkrete – von allem Existierenden, während die Wesen nur relativwirklich und konkret sind, und das, was wir als „konkrete Tatsache“bezeichnen, ist in Wirklichkeit nur eine Abstraktion von der göttlichenWirklichkeit.

Das soll nicht heißen, daß der Hermetiker unfähig zur Abstraktion ist unddaß er notwendigerweise die Gesetze und Prinzipien vernachlässigt. Er ist einmenschliches Wesen und als solches besitzt darum auch er den„metaphysischen Sinn“. Da er ihn besitzt, macht er Gebrauch von ihm wiejedermann. Was ihn jedoch zum Hermetiker macht – im Sinne des „Kaisers“des Tarot –, ist der „philosophisch-hermetische Sinn“. Er ist insoweitHermetiker, wie er mit dem „philosophisch-hermetischen Sinn“ begabt istund wie er sich seiner bedient, während der „metaphysische Sinn“ alleinniemals einen Hermetiker im eigentlichen Sinne des Wortes aus ihm machenwürde.

Ist es nicht die Tragödie von René Guénon, daß er, der mit einementwickelten „metaphysischen Sinn“ begabt war, aber des „philosophisch-hermetischen Sinnes“ entbehrte, immer und überall das konkrete Geistigesuchte? Und endlich, der Welt der Abstraktionen überdrüssig, die Befreiungvom Intellektualismus zu finden hoffte, indem er eintauchte in das Elementder Inbrunst der in der Moschee von Kairo betenden moslemischen Menge?Letzte Hoffnung einer nach mystischer Erfahrung dürstenden Seele, die inder Gefangenschaft des Intellekts verschmachtete? – Wenn es so ist, mögedie göttliche Barmherzigkeit ihm gewähren, was er so sehr gesucht hat.

Hier ist zu bemerken, daß die letzte Hinwendung von Réne Guénon zudem Glauben des einfachsten Volkes mit der einfachsten Religion nichtunbegründet ist. Denn der „philosophisch-hermetische Sinn“ hat mehr

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Gemeinsames mit dem einfachen und aufrichtigen Glauben des einfachenVolkes als der abstrakte Metaphysizismus. Für den Gläubigen im Volke lebtGott ebenso wie für den Hermetiker. Der Gläubige wendet sich an dieHeiligen und an die Engel; für den Hermetiker sind sie wirklich. DerGläubige glaubt an Wunder; der Hermetiker lebt in der Gegenwart desWunders. Der Gläubige betet für die Lebenden und die Toten; derHermetiker weiht alle seine Anstrengungen in dem Bereich der geheiligtenMagie dem Wohl der Lebenden und der Toten. Der Gläubige bringt allemTraditionellen seine Achtung entgegen; der Hermetiker ebenfalls. Was sollman noch mehr sagen? Vielleicht, daß der „Kaiser“ seine Autorität nichtseiner sichtbaren oder unsichtbaren Macht über die Menschen verdankt,sondern der Tatsache, daß er die Menschen dem Himmel gegenüber vertritt.Er hat Autorität, nicht, weil er übermenschlich ist, sondern gerade weil ersehr menschlich ist, weil er alles, was menschlich ist, repräsentiert. KönigDavid war menschlicher als alle Menschen seiner Zeit. Darum eben wurde erauf göttliches Geheiß durch den Propheten Samuel gesalbt, und darum hatihm der ewige Gott das feierliche Versprechen gegeben, daß sein Thron fürimmer und ewig begründet sei. Der Thron, das Amt des Repräsentantender Menschheit, wird also niemals zugrunde gehen. Und das ist das Amt des„Kaisers“, das ist die wahre Autorität.

Auch die hermetische Philosophie hat ein menschliches Ideal vor Augen,das sie anstrebt. Ihre geistigen Übungen, ihre Arcana, verfolgen daspraktische Ziel der Verwirklichung des Menschen der Autorität, des Vater-Menschen. Das ist jener Mensch, der menschlicher ist als die anderen, einMensch, der des „Thrones Davids“ würdig ist.

Der Idealtypus der praktischen Hermetik ist daher weder der ÜbermenschNietzsches noch der in der Kontemplation der Ewigkeit versunkeneÜbermensch Indiens, noch der Übermensch-Hierophant von Gurdjieff,noch der Übermensch-Philosoph der stoischen und vedantischenPhilosophien. Nein, ihr Ideal ist ein Mensch, welcher so sehr Mensch ist,daß er alles Menschliche in sich birgt und trägt; daß er der Hüter des ThronesDavids ist.

Und das Göttliche?– Wie steht es um die Manifestation des Göttlichen?Die praktische Hermetik ist die Alchimie. Das Ideal der Hermetik ist

wesentlich und von Grund auf das alchimistische Ideal. Das bedeutet: Je mehrman wahrhaft Mensch wird, um so mehr manifestiert sich das Göttliche, dasder menschlichen Natur zugrunde liegt und welches das „Ebenbild undGleichnis Gottes“ ist. Das Ideal der Abstraktion hingegen führt die Menschendazu, sich ihrer menschlichen Natur zu begeben, d. h., sich zuentmenschlichen.

Das Ideal der alchimistischen Umwandlung in der Hermetik hingegen eröffnetden Menschen den Weg zur Verwirklichung der wahren menschlichenNatur, die das „Ebenbild und Gleichnis Gottes“ ist. Die Hermetik ist demnachdie Rehumanisierung aller Elemente der menschlichen Natur; sie bedeutetderen Rückkehr zu ihrem wirklichen Wesen. Ebenso wie alles unedle Metall

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umgewandelt werden kann in Silber oder Gold, so sind gleicherweise alleFähigkeiten der menschlichen Natur empfänglich für die Umwandlung in„Silber“ und „Gold“, d. h. in das, was sie sind, wenn sie zum Ebenbild undGleichnis Gottes gehören.

Um aber das wieder zu werden, was sie in ihrem eigentlichen Wesen sind,müssen sie der Operation der Sublimierung unterzogen werden.

Nun bedeutet diese Operation die „Kreuzigung“ des Niedrigen in diesenKräften und zugleich das Aufblühen dessen, was ihr wahres Wesen ist. DasKreuz und die Rose, das Rosenkreuz ist das Symbol dieser Operation derVerwirklichung des Menschen, der wahrhaft menschlich ist. So kann mansagen, daß der „Kaiser“ des Tarot, auf vier dem Belieben anheimgegebeneFreiheiten der menschlichen Natur verzichtet hat. Er ist in diesem Sinne„gekreuzigt“. Und da das wirkliche Symbol der Leere, die sich infolge desVerzichts einstellt, die Wunde ist, kann man auch sagen, daß der „Kaiser“derjenige ist, der vier Wunden hat.

Durch diese vier Wunden erfüllt sich in ihm die Manifestation desgöttlichen Ebenbildes und Gleichnisses der menschlichen Natur.

Das Göttliche der menschlichen Natur ... und das GÖTTLICHE, dasdiese Natur übersteigt? –

Um es offenbaren zu können, muß man eine Wunde mehr haben, mußman fünf Wunden haben. Nun lehrt uns die folgende Karte „Der Papst“ dasArcanum der Manifestation des die menschliche Natur transzendierendenGöttlichen mittels der fünf Wunden.

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Fünfter Brief

DER PAPST

Das Arcanum der Transzendenz und der Armut

Segnung – „Horizontale“ und „vertikale Atmung“ – Gebet und Gnade inVernunft, Herz und Wille – Liebe zur Natur, zum Nächsten und zu denhierarchischen Wesen – Läuterung, Erleuchtung und Vereinigung – DieNachtseite der Geschichte und des individuellen Lebens – Die Ämter vonKaiser und Papst – Geozentrischer und heliozentrischer Kosmos – Logik derTatsachen und moralische Logik – Die fünfte Wunde des Papstes – DerFünfstern (das Pentagramm) – Dein Wille, mein Wille, unser Wille geschehe– Macht oder Reinheit des Willens – Die Wünsche, groß zu sein, zunehmen, festzuhalten, vorwärtszukommen und sich zu behaupten – DieGelübde des Gehorsams (Kreuz), der Armut (Fünfstern) und derKeuschheit (Sechsstern) – Die „Lotosblumen“ – Wie das Gute das Böseüberwindet – Stigmata – Fegefeuer, Vorhimmel, Paradies – Zur Mission desPapstes – Die „Pforten der Hölle“ – Glaube, Hoffnung, Liebe.

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DER PAPST

Das Arcanum der Transzendenz und der Armut

„Melchisedek aber,der König von Salem,brachte Brot und Wein heraus,er war nämlich ein Priesterdes höchsten Gottes.Er segnete ihn und sprach:Gesegnet sei Abramvon dem höchsten Gott . ..Und gesegnet sei der höchste Gott ...” (Gen 14, 18).

„Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben:Niemand kommt zum Vater außer durch mich“ (Jo 14, 6).

„Künftig möge mir niemand lästig fallen:denn ich trage die Malzeichen Jesu an meinem Leibe“(Gal 6, 17).

Lieber Unbekannter Freund,das Kartenbild „Der Papst“ vergegenwärtigt uns den Akt des Segnens. Esist unerläßlich, dies vor Augen zu haben, wenn man sich an die Interpretationsowohl des Aufbaus des ganzen Bildes als auch jedes seiner einzelnenElemente begibt. Wer auch immer der „Papst“ sein mag, wer die bei ihmknienden Meßdiener sind, was die beiden Säulen hinter dem „Papst“bedeuten, was seine ‘Tiara und das dreifache Kreuz auch symbolisierenmögen – man sollte niemals aus den Augen verlieren, daß es sich in ersterLinie um die Segnung handelt und um die mit ihr verbundenen Probleme.Was ist Segnung? Welches ist ihr Ursprung und ihre Wirkung? Wer besitztdie Autorität zum Segnen? Welche Rolle spielt sie im geistigen Leben derMenschheit?

Nun, die Segnung ist mehr, als daß man dem anderen einfach etwasGutes wünscht: sie ist auch mehr, als daß ihm auf magischem Wege derStempel eines persönlichen Denkens und Wollens aufgedrückt wird; sie istdie Betätigung der göttlichen Macht, die das individuelle Denken und Wollenübersteigt – sowohl beim Segnenden als auch beim Gesegneten. Mit anderenWorten: sie ist eine im höchsten Grade priesterliche Handlung.

Die Kabbala vergleicht die Rolle des Gebets und der Segnung mit einerdoppelten, aufsteigenden und absteigenden Bewegung, ähnlich demBlutkreislauf. Die Gebete der Menschheit steigen zu Gott empor, und nachdemsie dort göttlich „oxydiert“ worden sind, wandeln sie sich um in Segnungen,die von oben nach unten herabsteigen. Darum hat einer der beiden „Meßdiener“auf der Karte seine linke Hand erhoben und der andere seine rechte Handgesenkt. Die beiden blauen Säulen hinter dem „Papst“ symbolisieren in erster

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Linie diesen doppelten aufsteigenden und niedersteigenden Strom der Gebeteund Segnungen. Zu gleicher Zeit hält der „Papst“ das dreifache Kreuz an derSeite der „Säule des Gebets“ und des betenden Meßdieners hoch, währendseine rechte Hand an der Seite der „Säule der Segnung“ und. des Meßdieners, derdie Segnung empfängt (oder „einatmet“), die Geste der Segnung ausführt.

Die beiden „Seiten“ der Kabbala – die „rechte“ und die „linke“ Seite – unddie beiden „Säulen“ des Sephiroth-Baumes, die Säule der Barmherzigkeit und dieSäule der Strenge, ebenso wie die beiden Säulen im Salomonischen Tempel,Jakin und Boas, entsprechen in allem den Säulen des Gebets und der Segnung desKartenbildes. Denn die Strenge spornt an zum Gebet, und das Erbarmen segnet.Das „blaue“ venöse Blut von Boas steigt herauf, und das „rote“ arterielle, mitSauerstoff durchsetzte von Jakin steigt herab. Das „rote“ Blut trägt diebelebende Segnung des Sauerstoffs; das „blaue“ Blut befreit den Organismusvon der Strenge der Kohlensäure. Genauso ist es im geistigen Leben. GeistigeErstickung droht dem, der nicht in irgendeiner Form das Gebet praktiziert; weres hingegen übt, empfängt in irgendeiner Form die belebende Segnung. Diebeiden „Säulen“ haben also eine im höchsten Maße praktische Bedeutung, d.h., sie sind in spiritueller Hinsicht von gleicher praktischer Wichtigkeit, wie esdie Atmung für das Leben des Organismus ist.

Nun bezieht sich die erste praktische Unterweisung des fünften Arcanums –denn die großen Arcana des Tarot sind geistige Exerzitien – auf die geistigeAtmung.

Es gibt zwei Arten von Atmung: die horizontale Atmung, die zwischen„draußen“ und „drinnen“ stattfindet, und die vertikale Atmung, die sichzwischen „oben“ und „unten“ vollzieht. Der „Stachel des To- des“ oder dieGrundkrisis der Agonie in der Todesstunde ist der plötzliche Übergang vonder horizontalen in die vertikale Atmung.

Wer jedoch bei Lebzeiten die vertikale Atmung gelernt hat, ist vondiesem „Stachel des Todes“ frei. Bei ihm ist der Übergang von einer Weiseder Atmung in die andere nicht der Art eines rechten Winkels, sondernvielmehr der eines Kreisausschnittes: der Übergang geschieht nichtplötzlich, sondern graduell und in Form einer Kurve anstelle einergeknickten Linie.

Nun ist das Wesen der vertikalen Atmung das Abwechseln von Gebetund Segnung oder Gnade. Diese beiden Elemente der vertikalen Atmungbekunden sich in allen Bereichen des inneren Lebens – in der Vernunft, demHerzen und dein Wollen. So ist eine zum Bereich der Vernunft gehörendeFragestellung, welche nicht der Neugierde oder dem intellektuellenSammeltrieb entspringt, sondern dem Durst nach Wahrheit, im Grundegenommen ein Gebet, und die Erleuchtung, die dann eintreten kann, ist dieSegnung oder die entsprechende Gnade. Wirkliches Leiden ist ebenfalls imGrunde immer ein Gebet, und Trost, Frieden und Freude, die ihm folgenkönnen, sind die ihm entsprechenden Auswirkungen der Segnung oderGnade.

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Die wirkliche Anstrengung des Willens, d. h. die hundertprozentigeBemühung, die wahre Arbeit, ist auch ein Gebet. Wenn es sich um eineintellektuelle Arbeit handelt, so lautet das Gebet: „Dein Name werdegeheiligt.“ Handelt es sich um eine schöpferische Anstrengung, so lautetdas Gebet: „Dein Reich komme.“ Ist es eine Arbeit zur Befriedigung dermateriellen Lebensbedürfnisse, so lautet das Gebet: „Unser täglichesBrot gib uns heute.“ Und alle diese Formen des Gebets in der Sprache derArbeit haben ihre entsprechenden Segnungen oder Gnaden.

Das Gesetz der Entsprechung zwischen der Säule des Gebets (oder derFragen, Leiden und Bemühungen) und jener der Segnung (der Erleuchtung,des Trosts, der Früchte) findet sich in den Seligpreisungen der Bergpredigtdes Meisters ausgedrückt. Die neun Seligpreisungen (denn es sind neun undnicht acht) können daher als Formel des vertikalen Atmens verstandenwerden. Diese Atmung lehrt sie uns.

Die Atmung ist der Zustand der Seele, den der Apostel Paulus als„Freiheit in Gott“ bezeichnet. Dies ist eine neue Art zu atmen. Man atmetfrei den göttlichen Hauch, welcher die Freiheit ist.

„Der Herr ist der Geist: wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“

(2 Kor 3, 17).

Das geistige Gegenstück zu der horizontalen Atmung ist der Wechselzwischen „Extraversion“ und „Introversion“ oder zwischen derAufmerksamkeit auf das äußere objektive Leben und auf das inneresubjektive Leben. Das Gesetz der horizontalen Atmung lautet:

„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mk 12, 31).Darin besteht das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Richtungen der

Aufmerksamkeit. Was die vertikale Atmung betrifft, so ist ihr Gesetz:

... „du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzenund aus deiner ganzen Seele und aus deinem ganzen Denken und aus deinerganzen Kraft“ (Mk 12, 30).

Darin besteht der Zusammenhang zwischen dem Gebet und der Segnungoder Gnade.

Es gibt drei Ebenen der horizontalen Atmung, wie es drei Stufen dervertikalen Atmung gibt. Die drei Ebenen der horizontalen Atmung sind:

Liebe zur Natur.Liebe zum Nächsten.Liebe zu den geistigen hierarchischen Wesen (Engel usw.)

Die drei Stufen der vertikalen Atmung sind:

Läuterung (durch den göttlichen Hauch).

Erleuchtung (durch das göttliche Licht).

Mystische Vereinigung (im göttlichen Feuer).

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Darum hält der „Papst“ das dreifache Kreuz hoch. Das dreifache Kreuzhat drei Querbalken, welche die vertikale Linie in drei Teile teilen. Es istdas Kreuz der vollständigen und vollkommenen geistigen Atmung, horizontalund vertikal. Es ist das Kreuz der dreifachen Liebe zum Nächsten (zumuntergeordneten Nächsten – der Natur; zum gleichgeordneten Nächsten –dem Mitmenschen; zum übergeordneten Nächsten – dem hierarchischenWesen) und der dreifachen Liebe zu Gott (Hauch oder Glaube; Licht oderHoffnung; Feuer oder Liebe).

Das Kreuz ist das „Zepter“ der Autorität des „Papstes“ auf der Karte,so wie die aus dem doppelten Kelch gebildete und vom Kreuz überragteKugel das Zepter des „Kaisers“ ist. Wie der „Kaiser“, der Hüter des„Thrones Davids“, das Menschliche, d. h. das Ebenbild und Gleichnis Gottesim Menschen, gegenüber dem Himmel vertritt, ebenso repräsentiert der„Papst“, der Hüter der Pforte zu den Säulen der Segnung und des Gebets,das transzendente Göttliche gegenüber der Menschheit. Die beiden Ämter,das des „Kaisers“ und das des „Papstes“, sind zwei geistige Realitäten.Sie sind so wirklich wie „Kopf“ und „Herz“ es sind im Leben desIndividuums. Das Herz ist das Zentrum der Atmung und desBlutkreislaufs; der Kopf ist das Zentrum des Nervensystems und der Sitzdes Denkens. Und ebenso wie kein Parlament die geistige Realität des Amtesdes „Kaisers“ zu ersetzen vermag, da der „Thron Davids“ sich nicht durchein Kollektiv ersetzen läßt, ebensowenig vermag ein ökumenisches Konzildie geistige Realität des Amtes des „Papstes“ zu ersetzen oder „den Throndes Melchisedek, des Königs der Fülle (Salem)“. Ob der in den „esoterischenKreisen des Westens“ vorausgesagte Kanonenschuß abgefeuert wird odernicht, ob der päpstliche Thron sichtbar bleibt oder ob er in denKatakomben aufgestellt wird, er wird, auch wenn es den Propheten seinerZerstörung mißfallen sollte, in der zukünftigen Geschichte der Menschheitimmer gegenwärtig bleiben.

Denn die Geschichte – wie übrigens auch das Leben des Individuums –hat einen Rhythmus von Tag und Nacht. Sie hat einen Tagesaspekt undeinen Nachtaspekt. Der eine ist exoterisch, der andere esoterisch. DasSchweigen und die Dunkelheit der Nacht – und alles, was „unbewußt“ oder„überbewußt“ ist im menschlichen Wesen, gehört zum Bereich der Nacht –ist immer trächtig von sich vorbereitenden Ereignissen. Das ist die magischeSeite der Geschichte, die Seite der magischen Tatsachen und Werke, welchehinter der Fassade der „Tagesgeschichte“ wirkt. So geschah es, daß, als dasEvangelium am hellichten Tage in den Ländern rings um das Mittelmeergepredigt wurde, die nächtlichen Strahlen des Evangeliums eine tiefeWandlung des Buddhismus bewirkten. Da trat an die Stelle des Ideals derindividuellen Befreiung durch den Eintritt in den Zustand des Nirwana dasIdeal des Verzichtes auf das Nirwana aus Erbarmen mit der leidendenMenschheit. Das Ideal des Mahayana, des Großen Fahrzeuges, erlebtedamals seinen strahlenden Aufgang am Himmel der moralischen WerteAsiens.

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„Der Tag gibt weiter das Wort einem andern Tag אמד) –‘Omer)die Nacht zeigt einer anderen Nacht die Einsicht ( -דצת – Da’ath)“ (Psalm 19

der hebräischen Bibel).„Dies diei eructat verbum et nox nocti indicat scientiam“ (Psalm 18 der

Vulgata).

Dies ist die Formel der doppelten Unterweisung durch das Wort desTages und durch die Einsicht der Nacht; der doppelten Tradition durchmündliche Belehrung und durch direkte Inspiration; der doppelten Magiedurch das ausgesprochene Wort und durch die schweigende Ausstrahlung;der doppelten Geschichte endlich – der „sichtbaren“ täglichen Geschichteund der „unsichtbaren“ nächtlichen Geschichte.

Nun sind die Ämter des „Kaisers“ und des „Papstes“ Realitäten sowohldiesseits wie jenseits der Schwelle, welche „Tag“ und „Nacht“ trennt. Undder „Papst“ der fünften Karte ist der Hüter dieser Schwelle. Er hatseinen Sitz zwischen den beiden Säulen – der Säule des Tages oder desGebets und der Säule der Nacht oder der Segnung.

Der „Kaiser“ der vierten Karte ist der Gebieter des Tages und der Hüter desBlutes oder der Quintessenz der Nachtseite des. Tages. Der „Papst“ ist derHüter der Atmung oder der Realität der Beziehung zwischen Tag und Nacht. Erhütet das Gleichgewicht zwischen Tag und Nacht, zwischen menschlicherBemühung und göttlicher Gnade. Sein Amt gründet sich auf uranfänglichekosmische Gegebenheiten.

„Gott schied zwischen dem Licht und der Finsternis. Gott nannte das LichtTag, und die Finsternis nannte er Nacht“ (Gen 1, 4 5).

So sagt das erste Buch Moses. lind der Akt der Trennung des Intelligiblenvom Mysterium bedeutet gleichzeitig die Einsetzung der kosmischen Atmung,welche die Analogie ist des „Geistes Gottes, der über den Wassern schwebt“.Denn der göttliche Hauch (ruah ‘elohim) über der Tiefe des Friedens (den„Wassern“ – das ist die sowohl kosmische wie psychologische Realität desNirwana) ist das göttliche Urbild der Atmung. Demnach erhebt sich das„Große Fahrzeug“ des „Mahayana“ des Buddhismus zum göttlichen Hauch –dem Erbarmen, welches über den Wassern des vorkosmischen Friedens desNirwana schwebt, während das „Kleine Fahrzeug“, das „Hinayana“, nach demEnde der Atmung strebt; sein Ziel ist, unterzutauchen in den Wassern desFriedens – einzutreten in das Nirwana, wo es weder Bewegung noch Wechselnoch Atmung gibt.

Der göttliche Hauch (ruab ‘elohim) ist über dem Ozean des nirwanischenFriedens; er bewegt ihn. Und verzichten auf das Nirwana, nachdem man seineSchwelle erreicht hat, heißt sich erheben über das Nirwana und teilhaben amgöttlichen Hauch, der es transzendiert.

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Nun ist das ursprüngliche, vom göttlichen Hauch durchdrungene Urwasserdie Essenz des Blutes; der vom Wasser widergespiegelte Hauch ist das Licht;der rhythmische Wechsel zwischen Aufnahme des Hauches durch das Wasserund seiner Widerspiegelung durch das Wasser ist die Atmung. Das Licht ist derTag, das Blut ist die Nacht, und die Atmung ist die Fülle (Salem).

Melchisedek, König von Salem, Priester des Höchsten Gottes – (kohenle’el `elyon) ist also über die Fülle gesetzt, über die Atmung, während derGesalbte König, der „Hüter des Thrones Davids“ oder der „Kaiser“, über den Taggesetzt ist. Obwohl er über den Tag gesetzt ist, ist er durch die Nacht gesalbt, under verdankt seine Autorität der Nacht. Er ist der Hüter der geheimnisvollenGegenwart der Nacht – dem Blut – am Tage.

Lieber Unbekannter Freund, wahrscheinlich fragen Sie, ob es noch eindrittes Amt gibt, das Amt desjenigen, der über die Nacht gesetzt ist.

Ja, das Amt des Meisters der Nacht (er heißt auch „Herr der Nacht“)existiert. Wir werden uns den Gedankengängen, die mit diesem Amtzusammenhängen, im neunten Brief nähern, der dem neunten Arcanumdes Tarot gewidmet ist. Hier genügt es, darauf hinzuweisen, daß es inIsrael drei höchste Ämter gab: das Amt des Königs, das des Hohenpriestersund das des Propheten. Es ist noch zu bemerken, daß es sich um .Ämterund nicht um Personen handelt. Eine einzige Person kann manchmal zweioder sogar drei Ämter innehaben.

Kehren wir nun zum Amt des „Papstes“ zurück, und damit zum fünftenArcanum des Tarot. Dieses Amt bezieht sich, wie wir gesehen haben, aufdie geistige Atmung. Darum repräsentiert der Papst eine andere Ordnungder Wahrheit und ein anderes Wahrheitskriterium als dienaturwissenschaftliche Wahrheit und ihr Kriterium. „Wahr“ ist für ihn, wasdie harmonische Atmung gestattet; „falsch“ ist, was die Harmonie dergeistigen Atmung in Unordnung bringt. So ist das heliozentrische System dermodernen astronomischen Wissenschaft „wahr“ unter dem Gesichtspunktder Wissenschaft der Phänomene; aber es ist zugleich grund“falsch” unterdem Gesichtspunkt der geistigen Atmung. Das von Christus auf die Erdevergossene Blut ist derart kostbar, daß es der Erde die zentrale Stellung imRaume der numenalen Werte gegeben hat. Der geozentrische Kosmos ist alsowahr unter dem Gesichtspunkt der Atmung, d. h. unter dem Aspekt desLebens von Gebet und Segnung. Und der heliozentrische Kosmos, obwohl ihnalle Tatsachen der Welt der Erscheinungen stützen, ist falsch, weil erverkennt, was wirklich zentral ist – die Inkarnation des WORTES –und esdurch ein Zentrum ersetzt, das mehr an der Peripherie des zentralen Wertesliegt. Es ist nur ein Zentrum des phänomenalen Raumes, und man begehtdie Sünde des Götzendienstes, wenn man ihm die zentrale Rolle zuschreibt,welche der Erde gehört, die geheiligt, also zentral geworden ist durch dieInkarnation des WORTES.

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Nehmen wir ein anderes Beispiel, diesmal aus dem Bereich deresoterischen Erfahrung: Wie wir gezeigt haben, ist die Wiederverkörperung– die aufeinanderfolgenden Leben derselben menschlichen Individualität –eine Tatsache der Erfahrung, ganz wie die aufeinanderfolgenden Zeiten desWachens am Tage unterbrochen werden vom Schlaf in der Nacht.Buddha anerkannte diese Tatsache als solche, aber er fand sie bedauerlich.Darum ist das Ziel des achtgliedrigen Pfades, den er lehrte, derWiederverkörperung ein Ende zu setzen. Denn Nirwana ist das Ende deraufeinanderfolgenden Erdenleben.

So erkennt und verneint Buddha zugleich die Tatsache derWiederverkörperung. Er anerkennt sie als Tatsache, und er verneint sie alsIdeal. Denn die Tatsachen sind vorübergehend; sie kommen und gehen. Esgab eine Zeit ohne Wiederverkörperung, und es wird eine Zeit kommen, woes keine mehr geben wird. Die Reinkarnation (Wiederverkörperung) haterst nach dem Sündenfall begonnen, und sie wird mit der Reintegration(Wiedervereinigung) aufhören. Folglich ist sie nicht ewig und daher kein Ideal.

Es gibt also zwei Wahrheiten: eine ist aktuell oder zeitlich, die andere istideal oder ewig. Die erste gründet sich auf die Logik der Tatsachen, dieandere auf die moralische Logik. Nun bezeichnet der 84. Psalm (der 85. derhebräischen Bibel) die aktuelle Wahrheit (emeth) als Wahrheit (veritas) und dieauf der moralischen Logik gründende Wahrheit (hesed) als Barmherzigkeit(misericordia). Der Psalm sagt:

„Begegnen werden sich Erbarmen (hesed) und Wahrheit (emeth).Gerechtigkeit (tsedek) und Friede (schalom) werden sich küssen. Aus derErde (eretz) sprießet die Wahrheit (emeth), Gerechtigkeit (tsedek) blickthernieder vom Himmel (mischamaim)“ (Ps 85 [84], 11, 12).

Da haben wir das ganze Problem der „doppelten Wahrheit“ – und zugleichauch die ergreifende Prophezeiung, daß beide ‘Wahrheiten, die faktische unddie moralische, sich einmal begegnen und ihre Offenbarungen im Menschen– Gerechtigkeit (tsedek) und Frieden (schalom) – sich umarmen werden.Aber sie gehen nur langsam aufeinander zu, und beim gegebenen Stand derDinge widersprechen sie sich noch oft, wenigstens dem Anschein nach.Darum mußte Paulus sagen:

„Ist doch die Weisheit dieser Welt Torheit bei Gott“ (1 Kor 3, 19).

Und darum ist auch die göttliche Weisheit oft eine Torheit vor dieserWelt ...

Nun ist der „Papst“, da er der Hüter der geistigen Atmung ist (und derBuchstaben, HE, der fünfte Buchstabe des hebräischen Alphabetes, ist dasursprüngliche Wortzeichen für den Atem!) der Repräsentant dermoralischen Logik.

Segnung und Gebet sind die beiden Säulen, zwischen denen er sitzt. Fürihn ist nur das wahr, was dem Ideal entspricht. Aus diesem Grunde ist für ihndie Ehe unauflöslich, auch wenn es Tausende von Ehekatastrophen gibt; aus

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diesem Grunde löschen Schuldbekenntnis und Reue jegliche Sünde aus,wenngleich Tausende Gerichtshöfe die Schuldigen bestrafen, gleichgültig obsie bereuen oder nicht; aus diesem Grunde ist die Kirche vom HeiligenGeist geführt, obwohl sie die Praxis der Inquisition durch Jahrhundertehindurch geübt und geduldet hat; und aus diesem Grunde genügt ein einzigesErdenleben für das ewige Heil, auch wenn die Seelen sich wiederverkörpern.

So befindet sich der „Papst“ immer inmitten eines Konfliktes zwischenidealer und aktueller Wahrheit, zwischen Barmherzigkeit (hesed) undWahrheit (emeth). Und dieser Konflikt ist eine Wunde – nämlich die fünfteWunde, die Wunde des Herzens. Denn während der „Kaiser“ vier Wundenhat, hat der „Papst“ fünf.

Wenn Sie, lieber Unbekannter Freund, mit der Symbolik der Kabbalavertraut sind, wird es Ihnen deutlich sein, daß die Wunde, um die es hiergeht, durch die Gegensätzlichkeit zwischen der vierten Sephirah Hesed(Barmherzigkeit) und der fünften Sephirah Geburah (Strenge) verursachtwird. Und ebenfalls, daß diese Wunde sich auf die sechste Sephirah desSephiroth-Baumes: Tiphereth (Schönheit oder Harmonie) bezieht, welche dieSynthese der beiden vorhergehenden Sephiroth ist.

Falls Sie sich außerdem mit der christlichen Esoterik beschäftigen,werden Sie verstehen, daß diese Wunde die des heiligen Herzens ist,äußerlich verursacht von:

„... einer von den Soldaten stieß ihm seine Lanze in die Seite, und sofortkamen Blut und Wasser heraus“ (Jo 19, 34).

Und Sie werden auch verstehen, daß es die Barmherzigkeit und dieWahrheit (hesed und emeth) waren, die als Blut und Wasser heraustraten.Darum unterstreicht der Evangelist die symbolische Wirklichkeit oder denwirklichen Symbolismus der Tatsache, daß Blut und Wasser, welche aus derWunde flossen, nicht vermischt waren, und daß sich in eben dieser Tatsachedie geistige Bedeutung der Wunde ausgedrückt findet. Die Wunde wirdgeistig verursacht durch den Konflikt zwischen Barmherzigkeit undWahrheit, zwischen der idealen und der tatsächlichen Wahrheit, die sich nichtvereinigt haben ...

Und der Evangelist sagt darüber:

„Und der es gesehen hat, hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr; under weiß, daß er die Wahrheit sagt, damit auch ihr glaubet“ (Jo 19, 35).

Er hat also die Tatsache gesehen, und er weiß, was sie als Symbol für diegeistige Realität der Wunde bedeutet.

Nun befinden wir uns schon inmitten der Esoterik der fünf Wunden, desflammenden Sternes, des Pentagramms, der Fünfheit oder der Zahl fünf ...

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Louis-Claude de Saint-Martin sagt:

„Soweit die Zahlen mit der Dekade vereinigt oder verbunden sind, gibtes unter ihnen keine, die das Bild der Verderbnis oder der Mißgestaltdarstellt. Nur wenn man sie trennt, manifestieren sich diese Zeichen. Unterdiesen so vereinzelten Zahlen sind einige absolut böse, wie 2 und 5. Diesesind sogar die einzigen, die die Zehnheit teilen.“

Nach Saint-Martin ist also die Fünfheit, (bezüglich der Zweiheitverweisen wir auf den zweiten Brief, wo Sie eine Richtigstellung derAussage Saint-Martins über die böse Natur der Zahl Zwei finden)

absolut böse, wenn sie nicht vereinigt und verbunden ist mit der Dekade.Daher, so sagt er,

„... muß die Form der Tiere auch so sein, daß sie als Schlupfwinkeldient bei den Verfolgungen durch die Fünfheiten, Verfolgungen, die wirselbst gegen sie ausüben in Nachahmung dieser Fünfheiten.“

Dagegen sagt Eliphas Lévi:

„Das Pentagramm drückt die Beherrschung der (4) Elemente durch denGeist aus, und mittels dieses Zeichens fesselt man Dämonen der Luft,Feuer- und Wassergeister, den Spuk der Erde.

Ausgerüstet mit diesem Zeichen und in günstiger Stimmung kann manmittels jener Fähigkeit, sozusagen dem Auge der Seele, die Unendlichkeitsehen; man kann über Legionen von Engeln und Scharen von Dämonengebieten.“

Weiter:

„Die Herrschaft des Willens über das Astrallicht, die physische Seele dervier Elemente, wird in der Magie durch das Pentagramm versinnbildlicht,dessen Bild wir unserem Kapitel voransetzten.“

Und weiter:

„Es war am 24. Juli 1854, als der Verfasser dieses Buches, Eliphas Léviin London, den Versuch einer Beschwörung durch das Pentagramm machte,nachdem er sich durch alle im Ritual (Kap. 13) angegebenen Zeremoniendarauf vorbereitet hatte.“

Und endlich:

„Wir wollen noch bemerken, daß die Anwendung des Pentagramms sehrgefährlich für den Ausführenden sein kann, der nicht im Besitz dervollkommensten Kenntnis über dessen Gebrauch ist. Die Richtung derStrahlen des Sternes ist nicht willkürlich und vermag den Charakter derganzen Ausführung zu verändern, wie wir im Ritual erklären werden.»

Im „Ritual“ finden wir die Zusammenfassung der Lehre von Eliphas Léviüber das Pentagramm wie folgt:

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„Das Pentagramm, das man in den gnostischen Schulen den flammendenStern nennt, ist das Zeichen der Allmacht und der geistigen. Selbstherrschaft.“

Später sagt Eliphas Lévi:

„Die Fünf ist die religiöse Zahl, denn sie ist die Zahl Gottes, vereinigt mitjener der Frau.“

Noch später, in seinem postumen Werk, schreibt Eliphas Lévi:

„Die alten Riten haben ihre Wirksamkeit verloren, seit das Christentum inder Welt erschienen ist. Die christliche und katholische Religion ist in der Tatdie legitime Tochter von Jesus, dem König der Magier ... Ein einfachesSkapulier mit dem Bild eines Heiligen, von einer wirklich christlichenPersönlichkeit getragen, ist ein viel unüberwindlicherer Talisman als der Ringund das Pentakel des Salomo …

Die Messe ist die gewaltigste der Beschwörungen. Die Geisterbeschwörerrufen die Verstorbenen wach, der Zauberer beschwört den Teufel und erzittert,aber der katholische Priester zittert nicht, wenn er den lebendigen Gottbeschwört! Die Katholiken allein haben Priester, weil sie allein Altar undOpfer haben, d. h. die ganze Religion.

Die hohe Magie ausüben heißt dem katholischen Priester Konkurrenzmachen, heißt ein abgefallener Priester sein. Rom ist das große Theben derneuen Einweihung. ... Es hat als Krypten seine Katakomben, als Talismaneseine Rosenkränze und seine Medaillen, als magische Kette seineKongregationen, als magnetischen Brennpunkt seine Klöster, als Zentren derAnziehung seine Beichtstühle, als Mittel der Ausbreitung seine Kanzeln und dieHirtenbriefe seiner Bischöfe; endlich hat es seinen Papst, den sichtbargemachten Gott-Menschen.”

Schließen wir mit einem Zitat von Joséphin Peladan, der im Einklang mitdem Vorangehenden erklärt:

„Die Eucharistie ist das ganze Christentum; und durch sie ist dasChristentum lebendige Magie geworden.

Seit Jesus gibt es noch Zauberer, aber keine Magier mehr.“

Wo stehen wir nun nach all diesen Zitaten? – Wir sind bei einem sehr ernstenProblem angelangt, nämlich dem des Pentagramms der bösen Fünfheit und desPentagramms der guten Fünfheit.

Nach Saint-Martin – dessen klare Darstellung des Problems sich besser als alleanderen als Ausgangspunkt eignet – ist die Fünfheit gut, solange sie mit derDekade vereinigt und verbunden ist; und sie ist „absolut böse“, wenn sie von ihrgetrennt und abgesondert ist. Mit anderen Worten: Das Pentagramm als Zeichender intellektuellen Autorität, d.h. der mündig gewordenen menschlichenPersönlichkeit, ist gut, wenn es Ausdruck der Persönlichkeit ist, deren Willevereint und verbunden ist mit der Fülle der Manifestation der Einheit, d.h. mitder Dekade; und es ist böse, wenn es den von dieser Einheit getrennten Willen derPersönlichkeit ausdrückt. Oder mit noch anderen Worten:

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Das Zeichen ist gut, wenn es die Formel ausdrückt:

„Fiat voluntas tua – dein Wille geschehe.“

Es ist böse, wenn die Formel des zugrunde liegenden Willens ist:

„Fiat voluntas mea – mein Wille geschehe.“

Das ist der moralische und praktische Sinn der Aussage Saint-Martins.

Die Aussagen von Eliphas Lévi und Joséphin Péladan, die wir soebenzitierten, fügen dem die Überzeugung hinzu, daß die universale oderkatholische Kirche für die Menschheit die Dekade oder die Fülle dersichtbar gewordenen Einheit repräsentiert. Für sie drückt sich der mit demWesen der Kirche vereinte und verbundene Wille durch das gutePentagramm aus, verstanden im Sinne von Saint-Martin, und der bloßpersönliche Wille durch das böse Pentagramm. Das ist der Grund, weshalbMadame Blavatsky den Eliphas Lévi einer jesuitischen Politik beschuldigteund warum die alten okkultistischen Freunde von Joséphin Péladan seinen„Rückfall in das römische Sektierertum“ bedauerten.

Stellen wir uns jetzt die Frage: Worum geht es? – Hierbei handelt es sichnicht um Parteinahme im „Krieg der zwei Rosen“, weder um Anschuldigungnoch um Bedauern; denn worum es geht, ist einerseits das Problem derpersönlichen oder willkürlichen Magie (der von der Dekade getrenntenFünfheit) und andererseits die persönliche geheiligte Magie (der mit derDekade vereinten und verbundenen Fünfheit). Und hier die These, die ichim Hinblick auf dieses Problem aufstelle als Frucht von 43 JahrenErfahrung im esoterischen Bereich:

Nur das Pentagramm der fünf Wunden ist das wirksame Zeichen derpersönlichen geheiligten Magie, während das Pentagramm der fünf Strömedes persönlichen Willens, gleichgültig, wohin die Spitzen dieses Pentagrammsgerichtet sind, nur das wirksame Zeichen ist für die Auferlegung despersönlichen Willens des die Handlung Vollziehenden auf schwächere Wesenals er – es ist immer ein von Grund auf tyrannischer Akt.

So die These, die wir begründen müssen. Ein magischer Akt setzt eineWirkung voraus, welche die normale Macht des magisch Handelndenüberschreitet. Dieser Überschuß an Macht wird entweder durch Kräftebereitgestellt, die dem magisch Handelnden gehorchen, oder durch Kräfte,die er entliehen hat, oder aber durch Kräfte, die durch ihn wirken unddenen er gehorcht.

Im Falle von Kräften, die sich der Operierende dienstbar macht, um seineeigenen Kräfte zu ergänzen, handelt es sich um eine Operation der Magie, diewir (im dritten Brief) als „persönliche oder willkürliche“ bezeichnet haben, d.h. eine Operation, deren Handlungsursprung, Mittel und Ziel sichausschließlich im Wollen und Wissen der Persönlichkeit des magischHandelnden finden. Eine solche Operation kann sich nur solcher Kräfte

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bedienen, die auf niedrigerer Stufe stehen als der Operierende. Denn Engelnbefiehlt man nicht. Der Operierende ist dabei allein und handelt alsmagischer Techniker unter eigener Verantwortung und auf eigenes Risikound eigene Gefahr. Man könnte diese Art Magie auch als „faustisch“bezeichnen.

Im Falle der vom Operierenden entliehenen Kräfte handelt es sich umeinen Akt kollektiver Magie. Die „magische Kette“ macht den magischHandelnden mächtiger; sie „leiht“ ihm die Kräfte, deren er sich bei derOperation bedient. In diesem Falle wird dem Operierenden durch Kräftegeholfen, die ihm gleich sind, also nicht mehr niedriger, wie es bei der„faustischen Magie“ der Fall ist. Macht und Wirkung hängen dabei von derAnzahl der zur „Kette“ gehörenden Personen ab. Man könnte diese ArtMagie auch als „kollektive“ bezeichnen.

Im Falle schließlich der Kräfte, die durch die Vermittlung desOperierenden wirksam werden und denen er gehorcht, handelt es sichebenso um eine „Kette“, aber um eine vertikale und qualitative(hierarchische) Kette statt einer horizontalen und quantitativen wie bei der„kollektiven Magie“. Der Operierende ist dabei in der Horizontalen allein,nicht aber in der Vertikalen: Über ihm handeln höhere Wesen als er mit ihmund durch ihn. Diese Art der Magie setzt die Tatsache voraus, daß man inbewußter Verbindung steht mit höheren geistigen Wesenheiten, d. h.vorausgehende mystische und gnostische Erfahrung hat. Wir haben dieseArt der Magie im dritten Brief als „geheiligte Magie“ bezeichnet, denn diehandelnden Kräfte bei ihren Operationen sind dem Operierendenübergeordnet. Ihre historische Bezeichnung ist „Theurgie“.

Die Formeln, welche die dem persönlichen Willen zugrunde liegendeHaltung ausdrücken und den drei oben geschilderten Arten der Magieentsprechen, wären demnach:

Fiat voluntas mea – mein Wille geschehe (faustische Magie).

Fiat voluntas nostra – unser Wille geschehe (kollektive Magie).

Fiat voluntas tua – dein Wille geschehe (geheiligte Magie).

Die beiden ersten Formen der Magie – die faustische und die kollektive –bedienen sich derjenigen Methode, deren Zeichen das Pentagramm der fünfStröme des persönlichen und des kollektiven Willens ist. Sie stützen sich aufdas Prinzip, daß das Starke über das Schwache herrscht. Es handelt sichdabei um die Macht des Zwanges.

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Die dritte Form der Magie hingegen, die geheiligte Magie, bedient sichin ihrer Methode nicht der Macht des Willens, sondern seiner Reinheit. Da aberder Wille als solcher niemals völlig rein ist – denn nicht das Fleisch trägt dieStigmata der Erbsünde noch das Denken als solches, sondern vielmehr derWille –, müssen die dem menschlichen Willen anhaftenden fünf dunklenStrömungen, d. h. die Wünsche, groß zu sein, zu nehmen, festzuhalten, aufKosten anderer vorwärtszukommen und sich zu behaupten, gelähmt oder„angenagelt“ werden.

Die fünf Wunden sind also die fünffache Leere, die sich in den fünfWillensströmungen einstellt, und diese fünffache Leere füllt sich mit demWillen von oben, d. h. mit dem völlig reinen Willen. Das ist das Prinzip derMagie des Pentagramms der fünf Wunden.

Bevor wir an die Frage herangehen, auf welche Art und Weise sich die fünfWunden des Willens bilden und welches die konkrete praktische Methode derMagie des Pentagramms der fünf Wunden ist, müssen wir uns über denBegriff der „Wunde“ gründlich klarwerden.

Die „Wunde“ ist ein Tor, durch welches die äußere objektive Welt in dasInnere des geschlossenen Systems der inneren subjektiven Welt eindringt.Biologisch gesprochen, ist sie eine Bresche in den Mauern der Festung desOrganismus, durch welche die Kräfte von außerhalb des Organismus in seinInneres eindringen. Eine einfache Verletzung der Haut z. B. bedeutet einesolche Bresche. Sie gewährt während einer gewissen Zeit der Luft und allem,was diese mit sich führt, Zutritt zu einem inneren Bereich des Organismus,der ihr verwehrt wäre bei unversehrter Haut.

Nun ist das Gesichtsorgan, das Auge, im Vergleich mit der von Hautbedeckten Oberfläche des menschlichen Körpers eine Wunde, die durch diebewegliche Haut, die Lider, bedeckt werden kann. Durch diese Wundedringt die äußere objektive Welt in unser inneres Leben mit soviel größererIntensität ein, wie das Sehen mehr von der äußeren Welt offenbart als dasTasten. Sind die Augenlider geschlossen, so vermittelt die Körperstelle, wojene Welterfahrung stattgefunden hat, die wir als „Sehen“ bezeichnen,wieder nur jene herabgeminderte Welterfahrung – normal für die Oberflächedes ganzen Körpers – die wir als „Tasten“ bezeichnen.

Die Augen sind offene Wunden, die derart sensibel sind, daß sie leiden(d. h. reagieren) bei jedem feinen Unterschied des Lichts, bei jeder Farbe.Entsprechend ist es bei den anderen Sinnesorganen. Sie sind Wunden, d. h.,sie sind es, die uns die objektive Wirklichkeit der äußeren Welt aufzwingen.Wo ich schöne Blumen erblicken möchte, läßt mich mein Auge einenMisthaufen sehen. Ich bin gezwungen zu sehen, was die objektive Welt mirauf dem Weg über meine Augen zeigt. Es ist, als ob ein Nagel von außenmeinen Willen festnagelt.

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Die Sinne – vorausgesetzt, sie sind gesund und funktionieren normal –sind also Wunden, durch welche die objektive Welt sich uns ohne Rücksichtauf unseren Willen aufdrängt.

Die Sinne sind Organe der Wahrnehmung, nicht der Handlung. StellenSie sich nun vor, die fünf Organe der Handlung – die Glieder einschließlichdes Kopfes in seiner Funktion als Glied – hätten analoge Wunden. Das heißtdie fünf Willensströmungen, die sie ausdrücken, würden einem objektivenWillen Zutritt geben, der für die persönlichen Wünsche das wäre, was dieSinneswahrnehmungen für das Spiel der Phantasie sind.

Das ist die esoterische Vorstellung von der Wunde. Diese Vorstellung kannWirklichkeit werden, geistig, seelisch und schließlich bei einzelnen sogarphysisch. Die Stigmatisierten – vom hl. Franz von Assisi bis in unsere Zeit zuPater Pio in Italien und Therese Neumann in Deutschland – sindPersönlichkeiten, bei denen die Realität der fünf Wunden den physischen Planerreicht hat. Es sind künftige Willensorgane, die in Bildung begriffen sind –Organe der Handlung, deren Gesamtheit das geheiligte Pentagramm als Zeichenhat, die mit der Fülle der Dekade vereinte und verbundene Fünfheit, nachSaint-Martin.

Es muß noch genauer ausgeführt werden, daß die fünf Wunden, welche denfünf dunklen Strömungen des Willens entsprechen – dem Wunsch nachpersönlicher Größe, den Wünschen, zu nehmen, festzuhalten,vorwärtszukommen und sich auf Kosten anderer zu behaupten –, die ihrerseitsden fünf Gliedern entsprechen (darunter auch der Kopf, insofern er Glied ist),sich nicht alle an den entsprechenden Gliedern befinden. Wohl ist der Wunsch,zu nehmen oder sich einer Sache zu bemächtigen, wirklich an die rechte Handgenagelt und ebenso das Begehren, zu bewahren oder festzuhalten, an die linkeHand; genauso verhält es sich mit den Wünschen, auf Kosten anderervorwärtszukommen und sich zu behaupten, welche dem rechten bzw. linken Fußentsprechen; aber dies ist nicht so im Falle des Wunsches nach persönlicher Größeund des Kopfes. Der Kopf ist nämlich nicht der Träger der fünften Wunde, unddies aus zwei Gründen:

Der erste Grund dafür ist, daß der Kopf die „Dornenkrone“ trägt (die wirim vierten Brief zu erklären versuchten), welche, im Grunde genommen, von jedemMenschen getragen wird, der eines objektiven Denkens fähig ist, da dieDornenkrone seit Anfang der Menschheitsgeschichte dem Menschenwesengegeben ist. Sie ist das subtile Organ, das man bei uns im Westen als„achtblättrige Lotosblume“ bezeichnet und in Indien als „tausendblättrigeLotosblume“ oder Sahasrâra (Kronenzentrum). Diese Krone ist ein sozusagennatürliches Geschenk an jedes menschliche Wesen, und jeder normale Menschbesitzt sie. Die „Dornen“ dieser Krone funktionieren wie „Nägel“ derObjektivität, die das Gewissen des Denkens bilden. Ihnen ist es zu verdanken,daß das Denken sich nicht völlig emanzipiert hat und genauso eigenmächtigwurde wie z. B. die Vorstellungskraft. Das Denken als solches ist trotz allem dasOrgan der Wahrheit und nicht der Illusion.

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Es ist also nicht das Denken an sich, welches das Verlangen nach persönlicherGröße oder die Neigung zum Größenwahn mit sich bringt, sondern vielmehr derWille, der sich des Kopfes bedient und der sich des Denkens bemächtigen und eszu seinem Instrument machen kann.

Dies ist der zweite Grund, warum die fünfte Wunde – diejenige derorganischen Demut, welche den Strom des Verlangens nach Größe ersetzt –sich nicht am Kopfe befindet, sondern am Herzen (d.h., sie berührt das Herz vonder rechten Seite). Denn dort entspringt das Verlangen nach Größe, und vondort aus bemächtigt es sich des Kopfes und macht ihn zu seinem Instrument.Aus diesem Grunde wollen manche Denker und Gelehrte „ohne Herz“ denken,um objektiv zu sein – was eine Illusion ist, denn man kann gar nicht denkenohne Herz, weil das Herz das bewegende Prinzip des Denkens ist; man kannnur entweder mit einem demütigen und warmen Herzen oder aber mit einemanmaßenden und kalten Herzen denken.

So ist die fünfte Wunde (die erste, was ihre Wichtigkeit anbelangt) diejenigedes Herzens anstelle des Kopfes, da der Kopf hinsichtlich des aktiven Willensein Werkzeug oder „Glied“ des Herzens ist.

Wenden wir uns nun der Frage nach dem Ursprung der fünf Wunden zu, d. h.danach, wie sie sich bilden, und fragen wir uns zugleich nach der konkretenpraktischen Methode der Magie des geheiligten Pentagramms der fünfWunden.

Wie erwirbt man die fünf Wunden?Es gibt nur eine einzige Methode, nur ein einziges Mittel, um dahin zu

gelangen. Jeder Esoteriker, jeder Mystiker, jeder Idealist, jeder Spiritualist, jederMensch guten Willens in Europa wie in Asien benützt sie heute wie vor zwanzigJahrhunderten – sei es in voller Kenntnis der Sache, sei es instinktiv. Dieseuniversale Methode aller Zeitalter und aller hohen Kulturen ist nichts anderes alsdie Praxis der drei traditionellen Gelübde, nämlich des Gehorsams, der Armutund der Keuschheit.

Der Gehorsam nagelt das Verlangen des Herzens nach Größe fest.Die Armut nagelt die Begierden zu nehmen und festzuhalten der rech- ten und

der linken Hand fest.Die Keuschheit nagelt die Wünsche des nimrodischen Jägers,

vorwärtszukommen und sich auf Kosten anderer zu behaupten – oder, mit anderenWorten, das Wild zu jagen und zu fangen –, des rechten und des linken Fußesfest.

Das Gelübde des Gehorsams ist die Übung des Schweigens der persönlichenWünsche, Emotionen und Vorstellungen gegenüber Gewissen und Vernunft;es ist der Vorrang des Ideals vor der Erscheinung, der Nation vor demPersönlichen, der Menschheit vor der Nation, Gottes vor der Menschheit; es istdas Leben nach der hierarchisch-kosmisch-menschlichen Ordnung; es ist Sinnund Rechtfertigung der Tatsache, daß es Seraphim, Cherubim, Throne –Herrschaften, Kräfte, Mächte – Fürstentümer, Erzengel und Engel – Priester,Ritter und Handarbeiter gibt. Gehorsam ist Ordnung, ist internationales Gesetz,ist Staat, Kirche der universale Friede.

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Wahrer Gehorsam ist das Gegenteil von Tyrannei und Versklavung, da seineWurzel Liebe ist, von der Glaube und Vertrauen ausgehen. Was oben ist, dientdem, was unten ist, und was unten ist, gehorcht dem, was oben ist. Gehorsam istdie praktische Schlußfolgerung aus der Tatsache, daß man die Existenz von etwaseinem selbst Übergeordneten anerkennt. Wer Gott anerkennt, gehorcht.

Der Gehorsam, wie er in den katholischen religiösen Orden und Ritterordengeübt wird, ist eine (übrigens sehr wirksame) Form der Willenserziehungmit dem Ziel, den Willen zur Größe anzunageln. Der Gehorsam, den der Cheladem Guru (der Schüler dem spirituellen Meister) in Indien und in Tibetschuldet, verfolgt im Prinzip das gleiche Ziel. Dies gilt auch für denabsoluten Gehorsam, den die Chassidim ihren Tzadekin in den jüdischenchassidischen Gemeinschaften schulden; ebenso ist es mit dem vorbehaltlosenGehorsam seitens der Schüler der Starezen (der spirituellen Meister) imorthodoxen, vorbolschewistischen Rußland.

Die universale Formel des Gehorsams lautet:

„Fiat voluntas tua – dein Wille geschehe.“

Das Gelübde der Armut ist die Übung der inneren Leere, die sich als Folgedes Schweigens der persönlichen Wünsche, Emotionen und Vorstellungeneinstellt, damit die Seele fähig wird, die Offenbarung des Wortes, des Lebensund des Lichts von oben zu empfangen. Armut ist ständiges aktives Wachenund Erwarten angesichts der ewigen Quellen des Schöpferischen; es ist dieSeele, die für das Neue und Unerwartete bereit ist; es ist die Fähigkeit, immerund überall zu lernen; es ist die unbedingte Voraussetzung, die „conditio sinequa non“, aller Erleuchtung, aller Offenbarung und aller Einweihung.

Aus einer kleinen Erzählung geht wunderbar der praktische geistige Sinnder Armut hervor:

Vier Brüder machten sich einmal auf den Weg, um den größten Schatzzu suchen. Nach einer Reisewoche kamen sie an einen Eisenberg. „Einganzer Berg aus Eisen!“ rief einer der vier. „Nun haben wir den Schatzgefunden!“ Aber die drei anderen sagten: „Das ist nicht der größte Schatz!“,und setzten ihren Weg fort, während ihr Bruder bei dem Berg aus Eisenblieb. Jetzt war er reich, und die anderen so arm wie vorher. Einen Monatspäter kamen sie an ein Feld, übersät mit grünlichen und gelbbraunenSteinen. „Das ist Kupfer!“ rief einer der drei Brüder, „das ist der Schatz, denwir suchen!“ Aber die beiden anderen Brüder waren nicht seiner Meinung.So blieb er da, wurde reicher Eigentümer einer Kupfermine, während diebeiden anderen ihren Weg fortsetzten, arm wie sie waren. Nach einem Jahrkamen sie an ein Tal voll von Steinen, die ein weißliches Licht ausstrahlten.„Silber!“ rief einer der beiden Brüder. „Endlich der Schatz, den wir suchen!“Aber der vierte Bruder schüttelte den Kopf und setzte seinen Weg fort,während sein Bruder dort blieb als reicher Eigentümer einer Silbermine.

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Sieben Jahre später kam er an einen steinigen Platz in einer ausgedörrtenWüste. Er setzte sich, halbtot vor Erschöpfung. Da bemerkte er, daß dieKiesel zu seinen Füßen glänzten. Es war Gold. –

Das Gelübde der Keuschheit bedeutet die Ausführung des Entschlusses,nach dem Sonnengesetz zu leben, ohne Begierde und ohne Gleichgültigkeit. DennTugend ist langweilig und Laster abstoßend. Weder langweilig nochabstoßend ist aber, was vom Grunde des Herzens kommt. Der Grund desHerzens ist Liebe. Das Herz lebt nur, wenn es liebt. Es gleicht dann derSonne. Keuschheit ist der Zustand des menschlichen Wesens, bei dem dassonnenhaft gewordene Herz das Zentrum der Schwerkraft ist.

Mit anderen Worten, Keuschheit ist der Zustand des menschlichenWesens, wo das Zentrum erwacht ist, das in der westlichen Esoterik „derzwölfblättrige Lotos“ genannt wird (Anahata in Indien), und zur Sonne desmikrokosmischen „Planetensystems“ geworden ist. Die drei unterhalb vonihm gelegenen Lotosblumen, die zehnblättrige, sechsblättrige undvierblättrige, beginnen dann im Einklang mit dem Leben des Herzens (derzwölfblättrigen Lotosblume) zu arbeiten, d. h. „nach dem Sonnengesetz“.Wenn sie es tun, ist die Persönlichkeit keusch, gleichgültig, ob siealleinstehend oder verheiratet ist. So gibt es Jungfrauen, die verheiratet undMütter von Kindern sind, und es gibt physische Jungfrauen, die es inWirklichkeit nicht sind. Das Ideal der Jungfrau-Mutter, das die traditionelleKirche, die katholische und die orthodoxe, hinstellt, ist wirklichanbetungswürdig. Das Ideal der Keuschheit triumphiert überUnfruchtbarkeit und Gleichgültigkeit.

Die Übung der Keuschheit betrifft nicht den Bereich des Geschlechtlichenallein. Sie bezieht sich gleicherweise auf alle anderen Bereiche, wo es dieWahl zwischen dem Sonnengesetz und allen Arten vonbewußtseinstrübendem Rausch gibt. So verstößt z.B. aller Fanatismus gegendie Keuschheit, denn man wird dabei mitgerissen von einem finsteren Strom.Die Französische Revolution war eine Orgie perversen, kollektiven Rausches,ganz wie die Revolution in Rußland. Der Nationalismus – wie in Deutschlandunter Hitler – ist ebenfalls eine Form von Rausch, welcher das Gewissen desHerzens überschwemmt und daher unvereinbar ist mit dem Ideal derKeuschheit.

Es gibt auch Formen des praktischen Okkultismus, die sich zum Strebennach einem ungesunden Rausch hergeben. So gesteht Joséphin Péladan:

„Ich verheimliche es nicht: Wir sind alle zunächst verleitet wordendurch das Ästhetische des Okkulten; und begeistert vom Malerischen undFremden hat man dem Zeitvertreib einer nervenschwachen Frau zugestimmt;man hat das Gruseln gesucht – den Schauder des Unsichtbaren und desJenseits – man hat nach einer Sensation am Unkörperlichen verlangt.“

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Die Übung der Keuschheit bindet die Jagdleidenschaft im menschlichen Wesen,dessen männliche Seite dazu neigt, das Wild zu verfolgen, und dessen weiblicheSeite sucht, ihm Fallen zu stellen. Die Übung der Armut bindet die Anlagezum Diebe im menschlichen Wesen, dessen männliche Seite geneigt ist zuergreifen, und dessen weibliche Seite, unbegrenzt zu behalten, anstatt auf einfreimütiges Geschenk oder die verdiente Frucht der Arbeit zu warten. DieÜbung des Gehorsams bindet den Willen nach Größe oder den Hang zumUsurpator in der menschlichen Natur, deren männliche Seite geneigt ist, sichselbst groß einzuschätzen, und deren weibliche Seite, sich von anderen soeinschätzen zu lassen.

Diese drei „Gelübde“ stellen daher die einzige bekannte undunentbehrliche Methode dar, die zu den „fünf Wunden“ führt, d. h. zumwirksamen Pentagramm der geheiligten Magie. Man muß allerdingsverdeutlichen, daß es sich dabei nicht um die voll verwirklichten Tugendender Demut, Armut und Keuschheit handelt – denn kein Mensch im Fleischekann diese Tugenden vollständig besitzen –, sondern um ihre Übung, d. h. umaufrichtige Bemühungen, welche auf ihre Verwirklichung zielen. DieBemühungen sind es, die zählen.

Das ist die Antwort auf die Frage: Wie erwirkt man die fünf Wunden? Nunnoch die Antwort auf die andere Frage: Wie operiert die Magie des geheiligtenPentagramms der fünf Wunden?

Wie wir weiter oben angedeutet haben, ist es die Reinheit des Willens undnicht seine Kraft, welche die Grundlage der Magie des geheiligtenPentagramms der fünf Wunden bildet. Darin stimmt sie mit der göttlichenMagie überein, die nicht zwingt, sondern die Freiheit der Wahl durch dieGegenwart des Wahren, des Schönen und des Guten herstellt (bzw.wiederherstellt). Nun handelt es sich bei der Magie des geheiligtenPentagramms der fünf Wunden darum, die lebendige Gegenwart des Gutenneben dem Bewußtsein des Ausführenden der Operation zu verwirklichen.Denn das Gute bekämpft nicht das Böse. Es kämpft nicht dagegen – es ist nurgegenwärtig, oder aber es ist abwesend. Sein Sieg besteht darin, daß es ihmgelingt, gegenwärtig zu sein, seine Niederlage darin, daß es gezwungen ist,abwesend zu sein. Die fünf Wunden sichern die Gegenwart des Guten – d.h. des reinen. Willens von oben.

Eine kleine Episode, die in den „Betrachtungen über die Stigmata des hl.Franz“ (5. Betrachtung) aufgezeichnet ist, eignet sich gut als Schlüssel fürdas Problem, das uns beschäftigt:

Ein Franziskanerbruder betete nach dem Tode des hl. Franziskus acht Jahrelang, daß ihm die geheimen Worte, die der Seraph zum hl. Franziskussprach, als er ihm die Stigmata beibrachte, offenbart werden möchten. Nunerschien ihm und sieben anderen Brüdern eines Tages der hl. Franziskusund sagte, indem er sich an diesen Bruder wendete: „Wisse, mein sehrgeliebter Bruder, daß, als ich auf dem Berg Alverno war, ganz vertieft in dasGedenken der Passion Christi, ich bei jener Erscheinung des Seraphs durch

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Christus so an meinem Körper stigmatisiert wurde und daß Christus zu mirsprach: ,Weißt du, was ich dir getan habe? Ich habe dir die Abdrücke meinerPassion gegeben, damit du mein Bannerträger seiest. Und wie ich am Tagemeines Todes zu den Vorhimmeln herabstieg und alle Seelen, die ich dortfand, herauszog kraft meiner Stigmata und sie ins Paradies führte, sobewillige ich dir von heute an, damit du mir im Tode gleich seiest, wie du esim Leben warst, daß du, nachdem du dieses Leben verlassen hast, jedes Jahr andeinem Todestag zum Purgatorium gehst und alle Seelen deiner drei Orden, d.h. der Minderbrüder, der Schwestern und der Enthaltsamen, und darüber hinausdeiner Anhänger, die du dort finden wirst, daraus herausziehen mögest kraft derStigmata, die ich dir gewährt habe, und sie ins Paradies führen mögest.’ Unddiese Worte habe ich niemals ausgesprochen, solange ich in der Welt lebte.“

Als er dies gesagt hatte, verschwand der hl. Franziskus plötzlich.Zahlreiche Brüder hörten darauf den Bericht aus dem Munde der acht Brüder,die bei dieser Erscheinung und diesen Worten des hl. Franziskus anwesendwaren. Und: „Frater Jacobus Blancus lector Romanus praedicavit hoc et dixitse audisse ab uno fratre de supradictis octo“ (Bruder Jacobus Blancus, derrömische Vorleser, hat dies verkündet und gesagt, er habe es von einem derobengenannten acht Brüder gehört“), fügt das Manuskript des hl. Isidor,beschrieben von Paul Sabatier, am Ende des Berichts hinzu.

Untersuchen wir jetzt diesen Bericht unter dem Gesichtspunkt der Magiedes geheiligten Pentagramms der fünf Wunden.

Es ist zunächst festzuhalten, daß die dem hl. Franziskus beigebrachtenStigmata sowohl körperlicher wie geistiger Natur sind, denn ihre Wirksamkeit(d. h. ihre magische Macht) setzt sich nach seinem Tode fort. Sodann bestehtAnlaß, darauf hinzuweisen, daß die Kraft der Stigmata sowohl bei Christusselbst als auch beim hl. Franziskus sich darin offenbart, daß sie Seelen aus demVorhimmel und dem Purgatorium herausziehen und sie ins Paradies führenkann. Weisen wir schließlich darauf hin, daß der Bericht sehr ausdrücklich sagt,daß nur durch die Wirksamkeit seiner Stigmata Jesus Christus vor seinerAuferstehung die Seelen aus dem Vorhimmel herauszog und sie ins Paradiesführte und daß ebenso nur durch die Wirksamkeit seiner Stigmata auch der hl.Franziskus jedes Jahr an seinem Todestag alle Seelen, die durch ein geistigesBand mit ihm verbunden sind, aus dem „Purgatorium – Fegefeuer“ herauszieht,und sie ins Paradies führt.

Nehmen Sie jetzt die Bezeichnungen „Vorhimmel“, „Purgatorium“ und„Paradies“ in ihrem analog erweiterten Sinn, und Sie haben die klare undpräzise Formel für die Operation der Magie des geheiligten Pentagramms derfünf Wunden. Sie bewirkt den Wechsel aus dem natürlichen Zustand(„Vorhimmel“) und dem menschlichen Zustand des Leidens („Purgatorium –Fegefeuer“) in denjenigen der Seligkeit des göttlichen Zustandes („Paradies“).Die Operation der Magie des geheiligten Pentagramms der fünf Wundenbesteht also im Umformen des natürlichen Zustandes in den menschlichen unddieses letzteren in den göttlichen Zustand. Das ist das Werk der spirituellen

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Alchimie der Umwandlung oder Transmutation des Natürlichen („Vorhimmel“)und Menschlichen („Purgatorium“) in das Göttliche („Paradies“), gemäß dertraditionellen trinitarischen Teilung: Natur, Mensch und Gott.

Betrachten wir jetzt näher die praktische Bedeutung der Bezeichnungen„Vorhimmel“, „Fegefeuer“ und „Paradies“ als Stationen des Werkes derTransmutation oder Befreiung der Magie des geheiligten Pentagramms der fünfWunden.

Ihre praktische Bedeutung ist nicht eine räumliche – von „Orten” –, sonderndie des Zustandes der körperlichen, seelischen und geistigen menschlichenWesenheit. Wenn wir es so verstehen, werden wir leicht entdecken, daß die dreiZustände uns aus der Erfahrung bekannt sind und daß diese Erfahrung uns dieAnalogieschlüssel liefert, um die Ideen des „Vorhimmels“, „Purgatoriums“ und„Paradieses“ als solche verstehen zu können, d. h. auf allen Ebenen und auf allenpsychologischen, metaphysischen und theologischen Stufen ihrer Anwendung.

Jeder von uns kennt aus Erfahrung den harmonischen Zustand einer gutenGesundheit, begleitet von Unbekümmertheit der Seele und Ruhe des Geistes.Man nennt ihn schlicht und einfach „Lebensfreude“. Gäbe es nicht allerhandUnwohlsein, Kümmernisse und schwere Probleme, so würde dies unser dauerndernatürlicher Zustand sein. Die Natur bietet ihn uns dar, soweit sie jungfräulichund nicht gefallen ist, und wir könnten uns ständig seiner erfreuen, wenn es nichtauch gefallene Elemente in der Natur gäbe, Krankheiten und Sünden,Kümmernisse, Ängste und Gewissensbisse in uns selbst – und wenn vor allemdas ganze Leben nicht das Feld wäre, auf dem der Tod unaufhörlich erntet.Trotzdem kennen wir aber dann und wann Momente, Stunden, vielleicht sogarganze Tage natürlicher Lebensfreude ohne Kummer und Sorgen. Diese Erfahrungliefert uns den Analogieschlüssel, um die Bedeutung des „Vorhimmels“ zuverstehen. Der Vorhimmel ist der natürliche Zustand physischer und seelischerGesundheit, den uns die Natur selbst – außerhalb und innerhalb unser – darbietenkann ohne Mitwirkung der übernatürlichen oder göttlichen Gnade. DerVorhimmel ist der jungfräuliche Teil der Natur – der äußeren und der menschlichen– entsprechend der traditionellen Lehre: „Natura vulnerata non deleta – Die Naturist verwundet, aber nicht zerstört.”

Diejenigen, die die Bhagavadgita kennen oder sich ganz allgemein mit derhinduistischen Tradition beschäftigt haben, werden leicht in dem als„Vorhimmel“ bezeichneten Zustand denjenigen Zustand oder „guna” der Natur(prakriti) wiedererkennen, den man in Indien sattva nennt, während die beidenanderen Zustände tamas bzw. rajas heißen.

Die Erfahrung des „Fegefeuers“ andererseits kommt durch jedes läuterndeLeiden – physischer, seelischer und geistiger Natur – zustande.

Es ist das körperliche, moralische und intellektuelle Leiden, das in unsden Übergangszustand bildet zwischen der Erfahrung der natürlichenUnschuld des Vorhimmels und den Augenblicken himmlischer Freude, inwelchen uns die Strahlen des Paradieses erreichen.

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Wir haben hier unten bereits den Vorgeschmack von Fegefeuer undParadies. Wir leiden, und Tröstungen des Himmels werden uns gewährt.Die unschuldige und natürliche Freude – das ist das menschliche Leben; undihr Verlust kommt durch die Sünde; was darauf folgt, ist das Leiden unddie Strahlen der Segnung des Himmels, die uns trösten. So ist unser Leben.Es besteht aus dem Erproben der Wirklichkeit von Vorhimmel, Fegefeuer undParadies.

Nun „zieht“ die Magie des geheiligten Pentagramms der fünf Wunden„die Seelen aus dem Vorhimmel und dem Fegefeuer und führt sie in dasParadies“. Das bedeutet, sie macht den Himmel gegenwärtig in Vorhimmel undFegefeuer, sie bringt ihn herab in den Bereich der unschuldigen und derleidenden Natur. Was wiederum bedeutet, daß sie das Übernatürliche in dasNatürliche einführt, die Krankheiten heilt, das Bewußtsein erleuchtet und esam geistigen Leben teilhaben läßt. Das „Purgatorium“ umfaßt jedeKrankheit und jedes Leiden. „Daraus herausziehen“ bedeutet davon befreien,d. h. heilen, erleuchten, vereinigen.

Die Magie der fünf Wunden operiert durch die Gegenwart derWirklichkeit der übermenschlichen geistigen Welt mittels der Wunden undvollzieht die Transmutation der Zustände des „Vorhimmels“ und des„Purgatoriums“ in den Zustand der Vereinigung mit dem Göttlichen oderdes „Paradieses“.

Was die rituelle oder „technische“ Seite der Magie des geheiligtenPentagrammes der fünf Wunden betrifft, so findet sie sich im dritten Briefüber das Arcanum „Die Kaiserin“ skizziert.

Die „mit der Dekade vereinte und verbundene“ Fünfheit, von welcherSaint-Martin spricht, ist also die Fünfheit oder das Pentagramm der fünfWunden. Die andere Fünfheit, die Saint-Martin als „absolut böse“ ansieht, istgetrennt von der Dekade, d.h. von den fünf Strömungen (oder „Gliedern“)des menschlichen Willens, versehen mit den fünf Wunden des göttlichenWillens (oder den Buchstaben des Namens יהשוה – Ihschuh, Jesus – wie essymbolisch angenommen wird von Kunrath, Kircher, Saint-Martin undanderen, obwohl sich im Hebräischen der Name Jesus: יהושוצ schreibt).

Aber ich würde nicht so radikal wie Louis-Claude de Saint-Martin sagen,daß die von der Dekade getrennte Fünfheit absolut böse ist. Sie ist vielmehrwillkürlich und ist nur insoweit böse, wie die vom Göttlichen undNatürlichen emanzipierte menschliche Persönlichkeit böse ist.

Jedenfalls ist das andere Pentagramm als das der fünf Wunden nicht dasZeichen der „schwarzen Magie“, wohl aber der willkürlichen oder „grauen“Magie, wenn Sie so wollen.

Denn es ist das Zeichen der Macht der Persönlichkeit als solcher, dieunvermeidlich eine Mischung von Gut und Böse ist, selbst wenn sie mit denallerbesten Absichten handelt.

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Oswald Wirth sagt zu diesem Gegenstand:

»Die gewöhnliche Magie täuscht sich über die Macht dieses Zeichens, dasaus sich selbst keine Kraft verleiht. Der individuelle Wille ist nur in dem Maßemächtig, wie er übereinstimmt mit einer allgemeineren Kraft ... Suchen wirnicht, den Willen künstlich zu entwickeln und aus uns Willensathleten zumachen …“

Die beiden Formen des Pentagramms – Spitze nach oben oder Spitze nachunten – entsprechen durchaus nicht der Teilung in „schwarze“ und „weiße“Magie (obwohl die traditionellen Magier, wie z. B. Eliphas Lévi, es lehren).Sie können wohl einen Bockskopf in das „umgekehrte Pentagramm“hineinzeichnen (wie Eliphas Lévi), es wird dadurch doch nicht zum Zeichen der„schwarzen“ Magie. Die beiden Formen des Pentagramms haben Bezug zurmenschlichen Elektrizität (d. h. der Elektrizität des menschlichen Organismus,welche die Bewegungen des Willens begleitet) des Kopfes oder der Beine, dienichts mit Hörnern zu tun haben. In beiden Fällen ist es dieselbe Elektrizität mitdem einzigen Unterschied, daß bei dem Pentagramm mit nach oben gerichteterSpitze es der Wille des Intellekts ist, der die elektrischen Ströme bewegt,während bei dem Pentagramm mit nach ‘unten gerichteter Spitze der Intellekt desWillens diese Ströme in Bewegung versetzt. Die beiden Pole des Willens könnengleicherweise dem Guten wie dem Bösen dienen, obwohl tatsächlich beide eineMischung der zwei Prinzipien darstellen. Trotzdem ist es wahr, daß bei demPentagramm mit nach oben gerichteter Spitze mehr Chance besteht für Vernunftund Gewissen, sich bei der Operation zur Geltung zu bringen, als beimumgekehrten Pentagramm; aber alles hängt hier vom geistigen und moralischenZustand des Operierenden ab. Ein perverser Intellekt wird sicherlich einenschlimmeren Gebrauch von dem aufrechten Pentagramm machen, als eingesunder, von guten Absichten bewegter Wille vom umgekehrtenPentagramm. Fürchten wir uns also nicht vor dem umgekehrten Pentagramm,und zählen wir nicht zu sehr auf das aufrecht stehende Pentagramm.

Kehren wir zur Fünfheit zurück, die mit der Dekade verbunden und vereintist, d h. zu dem geheiligten Pentagramm der fünf Wunden. Betrachten wir es jetztnicht als eine individuelle Angelegenheit, sondern als die der ganzenMenschheit.

Nun ist die Menschheitsgeschichte, von ihrer „nächtlichen“ Seite ausbetrachtet, im Grunde die Operation einer begrenzten Anzahl von magischenFormeln und Zeichen. Was auch immer Sie tun mögen, sie ordnen sich demSchutz einer solchen Formel oder eines solchen Zeichens unter. Kreuz,Pentagramm und Hexagramm sind Zeichen und Formeln, die in der Geschichteder Menschheit wirken. Das Kreuz ist das Gelöbnis und die Tugend desGehorsams, d. h. das Zeichen und die Formel für den Glauben alsmiteinander vereinte horizontale menschliche und vertikale göttlicheAtmung.

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Das Pentagramm ist Initiative, Anstrengung und Arbeit, d. h. das Gelöbnisund die Tugend der Armut oder das Zeichen und die Formel für dieHoffnung als Auswirkung der Gegenwart des göttlichen Lichtes hier unten.

Das Hexagramm ist das Gelöbnis und die Tugend der Keuschheit, d. h.das Zeichen und die Formel für die Liebe als Einheit von Vater, Sohn undHeiligem Geist und von Mutter, Tochter und heiliger Seele.

Die geistliche Geschichte der Menschheit ist ihr Weg vom Kreuz zumPentagramm und vom Pentagramm zum Hexagramm, d. h., sie ist die Schuledes Gehorsams, der Armut und der Keuschheit; und sie ist gleichzeitig diegöttlich-magische Operation, in der die Liebe erreicht wird durch denGlauben mit Hilfe der Hoffnung.

Das Mittelalter hat über Europas Nationen, Gesellschaften, Bestrebungenund Gedanken das Kreuz aufgerichtet. Es war die Epoche des Gehorsamsund des Glaubens – begleitet von allen erdenklichen menschlichenIrrtümern. Ihr folgte eine Epoche, in der die Morgenröte der Hoffnung sichfühlbar machte. Der Humanismus mit seiner Blüte der wiederauflebendenKunst, Philosophie und Wissenschaft wurde unter dem Zeichen der Hoffnunggeboren. Das Zeichen des Pentagramms begann seinen Aufstieg. Damalsnahm der Gegensatz des geheiligten Pentagramms der fünf Wunden und desPentagramms der emanzipierten Persönlichkeit seinen Anfang. Reinhumanistische Kunst, Wissenschaft und Magie begannen ihre Entwicklungunter dem Zeichen des Pentagramms der Hoffnung auf den Menschen, demgegenübergestellt war das Zeichen der Hoffnung auf Gott, das geheiligtePentagramm der fünf Wunden, unter welchem Zeichen sich die Entwicklungder christlichen Esoterik – Mystik, Gnosis, geheiligte Magie und Hermetik –vollzog.

Der Impuls zur Freiheit – die Hoffnung auf den emanzipierten Menschen –hat vieles zustande gebracht und vieles zerstört. Er hat eine materielleZivilisation ohnegleichen geschaffen; aber er hat zu gleicher Zeit diehierarchische Ordnung zerstört, die Ordnung des geistigen Gehorsams. EineReihe von religiösen, politischen und sozialen Revolutionen war die Folge.

Die hierarchische Ordnung jedoch ist ewig und der Gehorsam unerläßlich.Nun begibt man sich daran, neue hierarchische Ordnungen zu errichten undden Gehorsam durch Zwangsherrschaften und Diktaturen zu ersetzen.

„Wind säen sie, Sturm sollen sie ernten“ (Hosea 8, 7).

Dies ist eine Wahrheit, die wir heute unter soviel Leiden erlernen. DasPentagramm der Hoffnung auf den emanzipierten Menschen hatte früher denWind gesät, und wir heutigen Menschen ernten jetzt den Sturm.

Nun ist das Amt des „Papstes“ in der geistlichen Geschichte derMenschheit das des Hüters des geheiligten Pentagramms der fünf Wunden,welches der einzig legitime Weg des Überganges vom Kreuz zumPentagramm und vom Pentagramm zum Hexagramm ist.

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Die Aufgabe des geistlichen Amtes des „Papstes“ ist, darüber zu wachen,daß erst nach der Annahme des Kreuzes das Pentagramm aufsteigt und daßerst nach der Annahme des geheiligten Pentagramms der fünf Wunden derAufgang des Hexagramms stattfindet. Die Mission des Papstamtes ist,darüber zu wachen, daß die freien, heiligen Gelübde, geistiger Gehorsam,geistige Armut und geistige Keuschheit nicht aus der Welt verschwinden unddaß es in der Welt immer Menschen geben wird, die sie erwählen undvertreten.

Denn die Praxis dieser drei Gelübde bildet die vorbereitende Bedingungfür den lebendigen Glauben, die leuchtende Hoffnung und die glühendeLiebe, d. h. für die spirituelle Atmung der Menschheit. Die Menschheit würdegeistig ersticken ohne Glaube, Hoffnung und Liebe oder Barmherzigkeit, undsie würde ihrer beraubt, wenn die freien und heiligen Gelübde des geistigenGehorsams, der geistigen Armut und der geistigen Keuschheit nicht mehrgelebt würden.

Das Amt des Papstes oder der Heilige Stuhl ist eine Formel der göttlichenMagie in der Geschichte der Menschheit, ganz wie es auch das Amt desKaisers ist. Das will der esoterische Ausdruck „Petrus – Fels“ sagen. Der„Fels“ bezeichnet im Alten und im Neuen Testament die unwandelbaregöttliche Satzung oder Formel der göttlichen Magie. Darum wurde dasAmt des Papstes eingesetzt in seiner Eigenschaft als „Petrus“, d. h. „Fels“:

„Und ich sage dir: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meineKirche bauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen“ (Mt16, 18).

Die fünf „Pforten der Hölle“ – der Wille nach Größe, die Wünsche zunehmen und zu behalten, die Wünsche, auf Kosten anderer vorwärtszukommenund sich zu behaupten – als Gegenformel werden den Sieg nicht davontragenüber die Formel der fünf Wunden, und diese Wunden sind „die Schlüsselzum Reiche der Himmel“.

Die göttlich-magische Macht dieser Schlüssel ist derart, daß, was durchihre Wirksamkeit auf Erden gebunden wird, in den Himmeln gebunden seinwird, und was durch ihre Wirksamkeit auf Erden gelöst wird, in denHimmeln gelöst sein wird. Denn was oben ist, ist wie das, was unten ist, undwas unten ist, ist wie das, was oben ist.

Wenn dies nicht mehr so ist, wenn Ungehorsam, Habgier und Unkeuschheitauf Erden die Oberhand gewinnen, dann wird die Kraft der Schlüssel oder dergeheiligten Wunden die Einheit wiederherstellen können von dem, was oben,und dem, was unten ist, d. h. sie wird „binden“ und „lösen“ durch einen Akt, derin Worten ausgedrückt etwa so lauten könnte:

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Was oben ist, sei wie das, was unten ist,und was unten ist, sei wie das, was oben ist!

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Sechster Brief

DER VERLIEBTE

Das Arcanum der Initiation und der Keuschheit

Der Sechsstern: Die drei Versuchungen und die drei Gelübde – Mönche undNonnen – Liebe und Sein – Die Ausbreitung der Liebe – Enstase und Ekstase– Initiation – Die dreifache Versuchung im Paradies – Zweifel undExperimente – Werke und Gnade – Die Natur ist verletzt, aber nicht zerstört– Die Formel der Einweihung – Der „Dreifache Weg“ Bonaventuras –Egregore und Phantome – Der Antichrist – Die drei Versuchungen in derWüste.

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DER VERLIEBTE

Das Arcanum der Initiation und der Keuschheit

„Da hielt sie ihn fest,und schon hatte sie ihn geküßtund sagte zu ihm mit frechem Gesicht:,Ich war noch Opfer schuldig,habe heute mein Gelübde erfüllt.Deshalb ging ich aus, um dir zu begegnen,um dich zu treffen; nun habe ich dich gefunden`”(Spr. 7, 13 ff).

„Ich, die Weisheit, habe die Klugheit inne;auch Erkenntnis guter Pläne findet sich bei mir ...Die mich lieben, die liebe ich wieder;wer mich sucht, findet mich“ (Spr 8, 12 u. 17).

„Tue mich wie ein Siegel auf dein Herz,wie ein Siegel an deinen Arm!Ja, stark wie der Tod ist die Liebe ...Ihre Pfeile sind Feuerpfeile,sind Flammen Jahwes“ (Hld 8, 6).

Lieber Unbekannter Freund,

in den vorangestellten Zitaten finden Sie die ganze Komposition des sechstenKartenbildes, übersetzt aus der sichtbaren Sprache des Tarot in die Sprache derPoesie Salomos. Denn auf diesem Kartenbild ergreift eine schwarzhaarige Frauin rotem Gewand mit frecher Miene einen Jüngling an der Schulter, währendeine andere Frau, blond und in blauem Mantel, sich mit einer züchtigenGebärde ihrer linken Hand an sein Herz wendet; gleichzeitig ist über ihnen eingeflügelter kindlicher Bogenschütze, der sich vom Hintergrund einer weißenKugel mit hervorzüngelnden roten, gelben und blauen Flammen abhebt, imBegriff, einen Pfeil auf die andere Schulter des Jünglings abzuschießen. Hörtman nicht, wenn man das sechste Kartenbild kontemplativ betrachtet, eineStimme sagen: „Ich habe dich gefunden“, und eine andere, die spricht: „Wermich sucht, der findet mich“? Erkennt man nicht die Stimme derSinnlichkeit und die Stimme des Herzens ebenso wie den Feuerpfeil vonoben, von dem König Salomo spricht?

Das zentrale Thema des sechsten Arcanums ist also die Erfüllung desGelübdes der Keuschheit, wie das fünfte Arcanum die Armut und das vierteden Gehorsam zum grundlegenden Thema hatte. Das sechste Arcanum istzugleich die Zusammenfassung der beiden vorhergehenden Arcana, daKeuschheit die Frucht von Gehorsam und Armut ist. Es faßt die drei„Gelübde“ oder Methoden der spirituellen Erziehung zusammen, indem esihnen die diesen Gelübden entgegengesetzten Prüfungen oder Versuchungengegenüberstellt. Die Wahl, vor die sich der Jüngling des sechsten

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Arcanums gestellt sieht, ist von größerer Tragweite als die zwischen Lasterund Tugend. Es handelt sich hier um die Wahl zwischen dem Weg desGehorsams, der Armut und der Keuschheit einerseits und dem Weg derMacht, des Reichtums und der Unkeuschheit andererseits. Die praktischeUnterweisung des Arcanums „Der Verliebte“ erstreckt sich auf die dreiGelübde und die drei entsprechenden Versuchungen. Denn dies ist diepraktische Lehre des Hexagramms oder Sechssterns.

Die drei Gelübde sind ihrem Wesen nach Erinnerungen an das Paradies,wo der Mensch mit Gott vereinigt war (Gehorsam), wo er alles zugleich besaß(Armut), und wo seine Gefährtin zugleich seine Frau, seine Freundin, seineSchwester und seine Mutter war (Keuschheit). Denn die wirklicheGegenwart Gottes zieht notwendig nach sich, daß man sich anbetendniederwirft vor dem Angesicht dessen, „der mehr ich ist als ich selbst“ –und dort liegen die Wurzel und der Ursprung für das Gelübde desGehorsams; die Schau der Kräfte, Substanzen und Essenzen der Welt alsGarten der göttlichen Symbole oder Garten Eden bedeutet den Besitz desGanzen, ohne daß man eine besondere, vom Ganzen abgetrennte Sacheerwählt, ergreift und sich aneignet – und dort liegen Wurzel und Quelle fürdas Gelübde der Armut; die völlige Vereinigung endlich zwischen demEinzigen und der Einzigen, welche die ganze Stufenleiter möglicherBeziehungen von Geist, Seele und Leib zwischen zwei polaren Wesenumfaßt, bringt notwendigerweise die absolute uneingeschränkte Ganzheitdes geistigen, seelischen und körperlichen Seins in der Liebe mit sich – unddort liegen Wurzel und Ursprung für das Gelübde der Keuschheit.

Man ist nur keusch, wenn man mit der Gesamtheit seines Wesens liebt.Keuschheit ist nicht Ganzheit des Seins in Gleichgültigkeit, sondernvielmehr in Liebe, die „stark ist wie der Tod und deren Pfeile Feuerpfeilesind, Flammen des Ewigen“. Sie ist gelebte Einheit. Sie ist drei – Geist, Seeleund Leib –, die eins sind, und eine zweite drei – Geist, Seele und Leib –, dieeins sind; und drei und drei ergibt sechs, und sechs ist zwei, und zwei ist eins.Das ist die Formel der Keuschheit in der Liebe. Es ist die Formel VonADAM-EVA, und diese Formel ist das Prinzip der Keuschheit, derlebendigen Erinnerung an das Paradies.

Und das Zölibat des Mönches und der Nonne? Wie verhält sich dazudie Formel der Keuschheit ADAM-EVA?

Die Liebe ist stark wie der Tod, d. h., der Tod zerstört sie nicht. Er kannweder bewirken, daß man vergißt, noch daß man zu hoffen aufhört.Diejenigen unter uns Menschenseelen, die in sich die Flamme derparadiesischen Erinnerung tragen, können sie weder vergessen nochaufhören, auf sie zu hoffen. Und wenn sie auf die Welt kommen mit demAbdruck dieser paradiesischen Erinnerung und noch dazu mit dem Abdruckdes Wissens, daß in diesem Leben hier unten die Begegnung mit demanderen für sie nicht stattfinden wird, dann werden sie dieses Leben hier alsWitwen leben, soweit sie sich erinnern, und als Verlobte, soweit sie hoffen.

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Nun sind alle wahren Mönche Witwer und Bräutigame und alle wahrenNonnen Witwen und Bräute im Grunde ihres Herzens. Das wahre Zölibatlegt Zeugnis ab für die Ewigkeit der Liebe, ganz wie das Wunder der wahrenEhe für ihre Wirklichkeit.

Ja, lieber Unbekannter Freund, das Leben ist tief; und die Tiefe darinist wie ein bodenloser Abgrund. Nietzsche hat es gefühlt und wußte esauszudrücken in seinem „Nachtlied“ („Also sprach Zarathustra“):

„O Mensch, gib acht,was spricht die tiefe Mitternacht –Ich schlief, ich schlief –

aus tiefen Traum bin ich erwacht –

Die Welt ist tief,

noch tiefer als der Tag gedacht;

tief ist ihr Weh,

Lust, tiefer noch als Herzeleid –

Weh spricht – vergeh,doch alle Lust will Ewigkeit,

will tiefe, tiefe Ewigkeit.”

Es ist der gleiche Pfeil – „der feurige Pfeil der Flamme des Ewigen“ –,der ebenso die wahre Ehe wie die wahre Ehelosigkeit verursacht. Von ihm istdas Herz des Mönches durchbohrt – darum ist er Mönch geworden – undebensosehr das Herz des Bräutigams am Vorabend der Hochzeit. Wo istmehr Wahrheit oder mehr Schönheit? – Wer vermag es zu sagen?

Und die Barmherzigkeit, die Liebe zum Nächsten? Welcherart ist da dieBeziehung zu der Liebe, deren Urbild in der Formel ADAM-EVA gegebenist?

Wir sind umgeben von unzähligen lebenden und bewußten Wesen, sichtbaren undunsichtbaren. Obwohl wir aber wissen, daß sie wirklich existieren und solebendig sind wie wir selbst, scheint es uns trotzdem so, als ob sie wenigerwirklich existierten und als ob sie weniger lebendig wären als wir selbst. Wirsind für uns lebendig nach dem Maß der Intensität der Wirklichkeit, währenddie anderen Wesen uns im Vergleich mit uns selbst weniger wirklich zu seinscheinen und ihr Dasein mehr die Natur eines Schattens hat als die völligerWirklichkeit. Unser Denken will uns zwar einreden, daß das Einbildung ist,daß die Wesen außer uns genauso wirklich sind und genauso intensiv lebenwie wir selbst, aber es hat gut reden – wir empfinden uns dennoch imMittelpunkt und die anderen Wesen von diesem Mittelpunkt entfernt. Obman diese Einbildung als „Egozentrik“, als „Egoismus“, als„Ahamkara“ (Täuschung des Ich) oder als „Auswirkung des Sündenfalls“bezeichnet, spielt keine Rolle; sie hört deswegen nicht auf zu bewirken, daßwir uns selbst für wirklicher halten als die anderen.

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Nun – etwas als wirklich im Sinn seiner vollen Realität empfinden heißtlieben. Es ist die Liebe, die uns aufwachen läßt für unsere eigeneWirklichkeit, für die Wirklichkeit des anderen, für die Wirklichkeit derWelt und für die Wirklichkeit Gottes. Wir lieben also uns selbst, indem wiruns als wirklich empfinden. Und die anderen Wesen, die uns weniger„wirklich“ zu sein scheinen, lieben wir nicht – oder doch nicht so sehr wieuns selbst.

Nun gibt es zwei Wege, zwei sehr verschiedene Methoden, die uns von derIllusion „Ich lebendig – Du schattenhaft“ befreien können, und wir habendie Wahl. Der eine Weg besteht darin, die Liebe zu sich selbstauszulöschen und selbst ein „Schatten unter Schatten“ zu werden. Das ist dieGleichheit der Gleichgültigkeit. Indien bietet uns diese Methode derBefreiung vom Ahamkara, der Täuschung des Ich. Diese Täuschung wirdzerstört, wenn man die Gleichgültigkeit, die man für die anderen hat, auf sichselbst ausdehnt. Man reduziert sich dabei auf den Zustand eines Schattensgleich den anderen Schatten, die einen umgeben. Maya, die große Illusion,bedeutet zu glauben, die individuellen Wesen, ich und du, seien mehr alsSchatten, als äußerer Schein ohne Wirklichkeit. Die zu realisierende Formelist also: „Ich Schatten – Du Schatten“.

Der andere Weg oder die andere Methode ist, die Liebe, welche man fürsich selbst hat, auf die anderen auszudehnen, damit man zur Verwirklichung derFormel gelangt: „Ich lebendig – Du lebendig“.

Da handelt es sich darum, die anderen ebenso wirklich werden zu lassen wiesich selbst, d. h., sie zu lieben wie sich selbst. Um das erreichen zu können,muß man zuerst den Nächsten. lieben wie sich selbst. Denn Liebe ist keinabstraktes Programm, sondern Substanz und Intensität. Sie muß sich alssolche an einem individuellen Wesen entzünden, um dann in alleRichtungen ausstrahlen zu können. „Um Gold zu machen, muß man Goldhaben“, sagen die Alchimisten. Das geistige Gegenstück zu dieser Maximeist, daß man, um alle lieben zu können, zuerst einen geliebt haben muß.Dieser eine ist der Nächste.

Wer ist der Nächste im hermetischen, d. h. im zugleich mystischen,gnostischen, magischen und metaphysischen Sinn? – Es ist das nächste Wesenseit Urbeginn; die Schwesterseele von Ewigkeit her, die Zwillingsseele, mitwelcher zusammen meine Seele die Morgenröte der Menschheit geschauthat.

Die Bibel beschreibt die Morgenröte der Menschheit als Paradies. Indiesem Stadium des Seins sagte Gott:

„Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei“ (Gen 2, 18).

Sein bedeutet lieben. Alleinsein heißt sich selbst lieben. Nun besagt „esist nicht gut, daß der Mensch allein sei“: Es ist nicht gut, daß der Mensch nursich selbst liebt. Darum sagte JHVH Elohim:

„Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht (‘ezer kenegedo – ihmentsprechende Gehilfin)“ (Gen 2, 18).

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Da Eva ein Teil von ihm selbst war, liebte Adam sie wie sich selbst. Evawurde also der „Nächste“, das nächste Wesen für Adam („Bein vonmeinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch” Gen 2, 23).

Das ist der Ursprung der Liebe, und er gilt ebenso für die Liebe, dieMann und Frau vereint, wie für die Liebe zum Nächsten. Im Anfang warnur eine Liebe, und ihre Quelle war eine, wie ihr Prinzip eines war.

Alle Formen der Liebe – Barmherzigkeit, Freundschaft, Vaterliebe,Mutterliebe, Kindesliebe und Geschwisterliebe – stammen aus derselbeneinzigen, ursprünglichen Wurzel der Tatsache des Paares Adam-Eva. Denndamals Sproß die Liebe – die Wirklichkeit des anderen – hervor und konntesich dann verzweigen und verschiedenartig werden. Die Glut der Liebe desersten Paares (und es ist gleichgültig, ob es nur ein einziges Paar gab oderderen Tausende – es handelt sich um die qualitative Tatsache des erstenHervorsprießens der Liebe und nicht um die Quantität gleichzeitiger oderaufeinanderfolgender Fälle dieses Hervorsprießens) spiegelt sich in der Liebeder Eltern zu ihren Kindern, ihrerseits gespiegelt in der Liebe der Kinder zuihren Eltern, weitergespiegelt in der Liebe der Kinder untereinander undschließlich gespiegelt in der Liebe der ganzen Familie der Menschheit undüber die unmittelbare Verwandtschaft hinaus – durch Analogie – zu allem,was lebt und atmet ... Wenn die Liebe einmal geboren ist als Substanz undIntensität, strebt sie dahin, sich auszubreiten, indem sie sich verzweigt undverschiedenartig wird, je nach Art der menschlichen Beziehung, in welche sieeintritt. Es ist ein Strom in Kaskaden, der dahin tendiert, alles auszufüllenund zu überfluten. Darum werden die Kinder, wenn wirkliche Liebezwischen den Eltern waltet, in Analogie die Eltern lieben und sichuntereinander lieben. Sie werden – in Analogie – ebenso, wie sie ihre Brüderund Schwestern lieben, durch psychologische „Adoption“ ihre Freunde inder Schule und in der Nachbarschaft lieben; sie werden – immer in Analogie– ihre Meister, Erzieher, Priester usw. lieben mit dem Abglanz der Liebe,welche sie für ihre Eltern haben; und später einmal werden sie ihre Gattenund Gattinnen lieben, wie ihre Eltern vormals geliebt haben.

Alles dies ist unverkennbar das Gegenteil der pansexuellen Lehre vonSigmund Freud. Denn bei Freud ist es die „Libido“ oder der Sexualtrieb,der die Grundlage aller menschlichen psychologischen Aktivität ist, undder in dieser die treibende Kraft ist, welche sodann – durch den Prozeßder „Sublimierung“ oder indem er durch andere Kanäle als denen derBefriedigung des Sexualtriebes gelenkt wird – zur schöpferischen,sozialen, künstlerischen, wissenschaftlichen und religiösen Kraft wird.Indessen verhält sich die ganze Liebe, aufgefaßt im Sinne der FormelADAM-EVA, zum Sexualtrieb, wie das weiße Licht, das die sieben Farbenenthält, sich zur Farbe Rot verhält. Die Liebe ADAM-EVA umfaßt dieganze Skala der nicht differenzierten Farben, während die Freudsche„Libido“ nur eine einzige isolierte und von allein getrennte Farbe ist.

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Diese Trennung vom Ganzen – und das Ganze ist das Prinzip derKeuschheit – ist die genaue Umkehrung der Keuschheit, ist das Prinzip derUnkeuschheit selbst. Denn Unkeuschheit ist nichts anderes als dasVorherrschen des fleischlichen Begehrens, so daß die Ganzheit desgeistigen, seelischen und leiblichen menschlichen Wesens zugrundegerichtet wird. Das sexuelle Begehren ist nur ein Aspekt der Liebe – jenerAspekt, der durch denjenigen Teil des physischen und psychischenOrganismus gespiegelt wird, welcher der besondere Bereich des„vierblättrigen Lotos“ ist und der nur den siebenten Teil des psycho-physischen menschlichen Organismus bildet. Es gibt also sechs Aspekte mehrvon nicht geringerer Wichtigkeit, deren . Existenz die Freudsche Lehre nichtkennt oder leugnet.

Wie Karl Marx, beeindruckt von der auf ihre einfache Grundlagezurückgeführten Teilwahrheit, daß man zunächst essen muß, um denken zukönnen, das ökonomische Interesse zum Prinzip des Menschen und dermenschlichen Geschichte erhoben hat, so hat Sigmund Freud, beeindrucktvon der Teilwahrheit, daß man zuerst geboren werden muß, um essen unddenken zu können, und daß zum Geborenwerden das sexuelle Begehrennötig ist, dies letztere zum Prinzip des Menschen und aller menschlichenKultur erhoben. Wie Marx die Grundlage für den „homo sapiens“ im„homo oeconomicus“ sah, erblickte Freud die Grundlage für den „homosapiens“ im „homo sexualis“, im sexuellen Menschen.

Alfred Adler konnte seinem Lehrer nicht darin folgen, den absoluten Vorrangdem Sexus zuzuschreiben, da die Erfahrung des öfteren dieser Lehre widersprach.So wurde dieser Begründer einer anderen Schule der Tiefenpsychologie zu derEntdeckung geführt, daß es der Wille zur Macht sei, welcher die entscheidendeRolle in den Tiefen des menschlichen Wesens spielt. Adler stellte also die Lehrevorn „homo potestatis“ auf – Vom Menschen, der vom Willen zur Macht bewegtwird, statt des „homo sapiens“ der Wissenschaft des 18. Jahrhunderts, des „homooeconomicus“ von Marx und des „homo sexualis“ von Freud.

Carl Gustav Jung jedoch, der die Teilwahrheiten der Lehren von Freud undAdler voll und ganz zugab, wurde durch klinische Erfahrung zur Entdeckungeiner tieferen psychologischen Schicht geführt als die von Freud und Adleruntersuchten Schichten. Er mußte die Tatsache einer religiösen Schichtzugeben, die tiefer liegt als die Schichten des Sexus und des Willens zurMacht. So steht es dank der Arbeit von Jung fest, daß der Mensch im Grundeein „homo religiosus“, ein religiöses Wesen ist, obwohl er auch eineökonomische, sexuelle und nach Macht strebende Wesenheit ist.

So hat Carl Gustav Jung das Prinzip der Keuschheit in der Psychologiewiederhergestellt, während die anderen erwähnten psychologischen Schulenim Widerspruch zur Keuschheit stehen, weil sie die Einheit des spirituellen,seelischen und leiblichen Elements des menschlichen Wesens zerstören. Erhat den göttlichen Hauch in der Tiefe des menschlichen Wesens entdeckt.

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Zugleich enthält Jungs Werk die Inauguration einer neuen Methode in derPsychologie. Es ist die Methode der sukzessiven Erforschung der psychischenSchichten, entsprechend den Schichten der Archäologie, der Paläontologie undder Geologie. Und wie die Archäologie, die Paläontologie und die Geologiedie Schichten, mit denen sie zu tun haben, als Archive der Vergangenheitbetrachten, als zum Raum gewordene Zeit, so behandelt die Tiefenpsychologieder Jungschen Schule die psychischen Schichten als lebendige Vergangenheitder Seele, die so weit zurückliegt, wie die in Frage stehende Schicht tief ist.Das. Maß der Tiefe ist dabei zugleich das der Geschichte der Vergangenheit derSeele, die bis jenseits der Schwelle der Geburt reicht. Man kann wohl darüberdiskutieren, ob diese Schichten kollektiv oder individuell sind, ob ihr Überlebender Vererbung oder der Wiederverkörperung verdankt wird; aber man kannnicht mehr die Realität dieser Schichten noch ihre Bedeutung als Schlüssel zur„psychischen Geschichte“ des Menschen und der Menschheit leugnen. Mehrals das: man kann auch die Tatsache nicht mehr abstreiten, daß im Reiche derPsyche nichts stirbt und daß die ganze Vergangenheit gegenwärtig lebt in denverschiedenen Schichten des Tiefenbewußtseins – des „Unbewußten“ oder desUnterbewußtseins – der Seele. Denn die paläontologischen und geologischenSchichten enthalten nur Abdrücke und Fossilien der jetzt totenVergangenheit; die psychischen Schichten aber bilden im Gegensatz dazuein lebendiges Zeugnis der gelebten Vergangenheit. Sie sind dieVergangenheit, welche fortfährt zu leben. Sie sind die Erinnerung – nicht dieintellektuelle, sondern die psychisch substantielle – der gelebtenVergangenheit. Darum vergeht und verliert sich nichts im Reiche der Psyche –die eigentliche Geschichte, d. h. die wirklichen Freuden und Leiden, diewirklichen Religionen und Offenbarungen der Vergangenheit fahren fort, inuns zu leben, und in uns selbst findet sich der Schlüssel zur eigentlichenGeschichte der Menschheit.

Daher findet sich in uns auch die „paradiesische“ Schicht oder dieGeschichte vorn Garten Eden und vom Sündenfall, welche im Buch Genesisvon Moses berichtet wird. Zweifeln Sie an der essentiellen Wahrheit dieserErzählung? – Steigen Sie in die Tiefen Ihrer eigenen Seele hinab, steigen Siehinab bis zu den Wurzeln, bis zum Ursprung des Gefühls, des Willens undder Intelligenz, und Sie werden wissen. Sie werden wissen, d. h., Sie werdendie Gewißheit haben, daß die biblische Erzählung wahr ist im tiefsten undechtesten Sinne des Wortes – in dem Sinne, daß Sie sich selbst verleugnen,das Zeugnis der inneren Struktur Ihrer eigenen Seele verneinen müßten, uman der inneren Wahrheit der Erzählung des Moses zweifeln zu können. DerAbstieg in die Tiefen Ihrer eigenen Seele beim Meditieren derParadiesesgeschichte in der Genesis wird Sie unfähig machen zu zweifeln.Solcherart ist die Natur der Gewißheit, die man daraus schöpfen kann, aberwohlgemerkt: es handelt sich dabei nicht um Gewißheit in bezug auf denGarten, seine Bäume, die Schlange, den Apfel oder eine andere verboteneFrucht, sondern vielmehr in bezug auf die grundlegenden psychischen undgeistigen Wirklichkeiten, welche diese Bilder oder Symbole enthüllen.

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Nicht die symbolische Sprache des Berichts gibt die Gewißheit seinerWahrheit, sondern was er zum Ausdruck bringt.

Er drückt in symbolischer Sprache die erste Schicht – „erste“ im Sinnevon „ Wurzel von allem, was menschlich in der menschlichen Natur ist“ –im menschlichen Seelenleben aus oder ihren „Anfang“. Nun ist dieKenntnis des Anfangs, initium auf lateinisch, das Wesen der Initiation.Initiation ist die bewußte Erfahrung des mikrokosmischen Anfangszustandes(hermetische Initiation) und des makrokosmischen Anfangszustandes(pythagoräische Initiation).

Die erstere ist ein bewußtes Hinuntersteigen in die Tiefen desmenschlichen Wesens bis zu ihrer Anfangsschicht. Ihre Methode ist dieEnstase, d. h. die Erfahrung der Grundtiefen im Innern des Selbst. Man wirddabei tiefer und tiefer, bis man in sich die Anfangsschicht oder das„Ebenbild und Gleichnis Gottes“ erweckt, und dies ist das Ziel der Enstase.Diese Erfahrung der Enstase verwirklicht sich vor allem durch den „geistigenTastsinn“. Man kann sie mit der chemischen Erfahrung vergleichen,gewonnen auf seelischer und geistiger Ebene.

Die zweite Initiationserfahrung, die wir unter historischem Gesichtspunkt als„pythagoräische“ bezeichnet haben, gründet sich vor allem auf den„geistigen Hörsinn“ oder den Sinn des Lauschens. Sie ist wesentlichmusikalisch, so wie die erstere substantiell oder chemisch ist. Diemakrokosmischen „Schichten“ („Sphären” oder „Himmel“) offenbaren sichdem Bewußtsein durch Ekstase, d. h. durch Entrückung oder Herausgehenaus sich selbst. Die „Sphärenmusik“ des Pythagoras war diese Erfahrung,und sie wurde zur Quelle der pythagoräischen Lehre über die musikalischeund mathematische Struktur des Makrokosmos. Denn die Töne, Zahlen undgeometrischen Formen waren die drei Stufen der intellektuellenSichtbarmachung der Erfahrung der unaussprechlichen „Sphärenmusik“.

Nur unter historischem Betracht haben wir die makrokosmische Initiationanhand der „pythagoräischen“ Ekstase erläutert. Denn sie ist durchaus keinVorrecht der vorchristlichen Zeit. So spricht der Apostel Paulus vonseiner eigenen Erfahrung der „Sphären“ oder der „Himmel“ in derEkstase:

„Ich kenne einen Menschen in Christus, der vor vierzehn Jahren – ob imLeibe, das weiß ich nicht, oder außer dem Leibe, das weiß ich nicht, Gottweiß es – bis zum dritten Himmel entrückt wurde.

Und ich weiß, daß der betreffende Mensch – ob im Leibe, das weiß ichnicht, oder außer dem Leibe, das weiß ich nicht, Gott weiß es – ins Paradiesentrückt wurde und unsagbare Worte vernahm, die einem Menschenauszusprechen versagt sind. (Et audivit arcana verba, quae non licet hominiloqui – kai ēkousen arrēta rēmata, ha uk exon anthrōpō lalēsai)“ (2 Kor 12,2 ff).

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Der hl. Paulus wurde also bis in den dritten Himmel oder die drittemakrokosmische Sphäre entrückt, und dann wurde er in das Paradies erhoben,wo er unaussprechliche Worte hörte ... Seine makrokosmische Einweihungdurch Ekstase fand also in der Sphäre des Paradieses statt, dessen bewußteErfahrung – „er hörte unaussprechliche Worte“ – das Ziel ist, ganz wie sieauch das Ziel der Einweihung durch Enstase ist, wo sie den Charakter derErfahrung der Ursprungs-Schicht in der Tiefe des menschlichen Wesens,des Mikrokosmos, hat. Die makrokosmische Sphäre des Paradieses und diemikrokosmische Schicht des Gartens Eden sind die „initia – die Anfänge“,in welche man sowohl in der makrokosmischen als auch in dermikrokosmischen Initiation eingeweiht wird. Die Ekstase zu den Höhenaußerhalb seiner selbst und die Enstase in die Tiefen im Innern seiner selbstführen zur Erkenntnis derselben grundlegenden Wahrheit.

Die christliche Esoterik vereinigt diese beiden Einweihungsmethoden.Der Meister hat zwei Gruppen von Schülern – die „Schüler des Tages“ und die„Schüler der Nacht“ –, von denen die ersteren Schüler des Weges der Enstaseund die letzteren die des Weges der Ekstase sind. Er hat auch noch einedritte Gruppe von Schülern „des Tages und der Nacht“, die also die Schlüsselzu beiden Toren zugleich besitzen, zu dem Tore der Ekstase und zu dem derEnstase. So war der Apostel Johannes, der Verfasser des Evangeliums des vomFleisch gewordenen Wortes zugleich derjenige, der dem Herzen des Meisterslauschte. Er hatte die doppelte makrokosmische und mikrokosmische Erfahrung– des kosmischen WORTES und des heiligsten Herzens, von dem die Litaneisagt:

„Cor Jesu, rex et centrum omnium cordium – Herz Jesu, König und Mittealler Herzen.“

Dank dieser doppelten Erfahrung ist das Evangelium, das er geschriebenhat, gleichzeitig kosmisch und menschlich intim – so hoch und so tiefzugleich. Dort sind die makrokosmische Sonnensphäre und diemikrokosmische Sonnenschicht vereinigt, was die einzigartige Magie diesesEvangeliums erklärt.

Denn die Realität des Paradieses ist die Einheit der makrokosmischenSonnensphäre und der mikrokosmischen Sonnenschicht – der Sphäre deskosmischen Herzens und des sonnenhaften Grundes des menschlichen Herzens.Christliche Einweihung ist die bewußte Erfahrung des Herzens der Welt und dersonnenhaften Natur des Menschen. Der Gott-Mensch ist dabei der „Initiator“,es gibt keinen anderen.

Was wir unter dem Ausdruck „Initiator“ verstehen, verstanden die altenChristen unter dem Wort „Kyrios“, „Dominus“ oder „Herr“. Darum schließt sichdie christliche Esoterik oder die christliche Hermetik – heute wie in derVergangenheit – in völliger Aufrichtigkeit mit ihrer Stimme an, wenn die Wortedes Credo in der Kirche ertönen:

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„Et in unum Dominum Jesum Christum,Filium Dei unigenitum,Et ex Patre natum ante onmia saecula,Deum de Deo, lumen de lumine, Deum verum de Deo vero.Genitum, non factum, consubstantialem Patri:Per quem omnia facta sunt.Qui propter nos homines, et propter nostram salutemDescendit de Coelis.Et incarnatus est de Spiritu SanctoEx Maria Virgine:Et homo factus est.“

„Und an den einen Herrn Jesus Christus,Gottes eingeborenen Sohn,aus dem Vater geboren vor aller Zeit:Gott von Gott, Licht vom Licht,wahrer Gott vom wahren Gott,gezeugt, nicht geschaffen,eines Wesens mit dem Vater;durch ihn ist alles geschaffen.Für uns Menschen und zu unserem Heilist er vom Himmel gekommen,hat Fleisch angenommendurch den Heiligen Geistvon der Jungfrau Mariaund ist Mensch geworden.”

Wir neigen uns in Ehrfurcht und Dankbarkeit vor allen großenmenschlichen Seelen der Vergangenheit und Gegenwart – den Weisen,Gerechten, Propheten, den Heiligen aller Kontinente und aller Epochen derganzen menschlichen Geschichte – und wir sind bereit, von ihnen alles, wassie lehren wollten und konnten, zu lernen; aber wir haben nur einen Initiatoroder Herrn. Gewißheit verpflichtet.

Kehren wir zurück zum Thema des Paradieses. Das „Paradies“ ist, wiewir sagten, zugleich sowohl die unterste und tiefste Schicht unserer Seeleals auch eine kosmische Sphäre. Man findet sie genauso in der Enstase wiein der Ekstase. Es ist die Region des Anfanges, also der Prinzipien. In ihrhaben wir oben die Prinzipien der drei Gelübde des Gehorsams, der Armut,und der Keuschheit gefunden. Da das Paradies der Bereich des Anfanges oderder Prinzipien ist, ist es zugleich der des Anfanges des „Sündenfalls“ oderdes Prinzips der Versuchung, d.h. des Prinzips des Überganges von Gehorsamzu Ungehorsam, von Armut zu Habsucht und von Keuschheit zuUnkeuschheit.

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Die Versuchung im Paradies ist dreifach, ganz wie es die VersuchungJesu Christi in der Wüste ist. Die wesentlichen Elemente der dreifachenVersuchung im Paradies, wie sie in der Erzählung vom Sündenfall im BuchGenesis beschrieben ist, sind:

1. Eva hörte auf die Stimme der Schlange.2. Sie sah, daß der Baum „gut zu essen wäre und lieblich anzusehen“.3. Sie nahm von seiner Frucht, „aß und gab davon auch ihrem Manne, der

bei ihr war, und er aß“ (Gen 3,6).

Die Stimme der Schlange ist die Stimme desjenigen Lebewesens („Tieres“),dessen Intelligenz die fortgeschrittenste („listigste“) ist von all denLebewesen („Tieren“), deren Bewußtsein auf die Horizontale gerichtet ist(„Tiere des Feldes“). Nun war die Intelligenz von ADAM-EVA vor demFall vertikal, ihre Augen waren noch nicht „aufgegangen“, und sie „warennackt ... Aber sie schämten sich nicht voreinander“ (Gen 2, 24), d. h., siewaren sich der Dinge im vertikalen Sinne bewußt – von oben nach unten,oder anders gesagt: in Gott, durch Gott und für Gott. Sie waren unwissendüber „nackte“ Dinge, d. h. Dinge, die von Gott getrennt sind. Die Formel,welche ihre Wahrnehmung, ihre Schau der Dinge, ausdrückte, lautete:

„Was oben ist, ist wie das, was unten ist,und was unten ist, ist wie das, was oben ist.“

Darum „schämten sie sich nicht, obwohl sie nackt waren.“ Denn sie sahendie göttliche Idealität, die sich in der Welt der Erscheinungen ausdrückt. Eswar das vertikale Bewußtsein („con-science“: das „Zusammen-wissen“ vonIdeal und Wirklichkeit), dessen Ursprünge sich in der „TabulaSmaragdina” formuliert finden. Die Formel des horizontalen Bewußtseinsder Schlange (nahasch) wäre demnach die des bloßen und einfachenRealismus:

„Was in mir ist, ist wie das, was außer mir ist,und was außer mir ist, ist wie das, was in mir ist.“

Das ist das horizontale Bewußtsein („con-science“: das „Zusammen-wissen“des Subjektiven und des Objektiven), das die Dinge nicht in Gott sieht,sondern getrennt von ihm oder „nackt“, in sich selbst, durch sich selbstund für sich selbst. Und weil das „Ich“ dabei Gott ersetzt (da dashorizontale Bewußtsein dasjenige der Gegensätzlichkeit von Subjekt undObjekt ist), sagt die Schlange, daß am Tage, an dem ADAM-EVA von derFrucht des Baumes in der Mitte des Gartens essen werden, ihnen dieAugen aufgehen und sie wie Götter sein werden – d. h. ihr „Ich” wird dieFunktion erfüllen, welche vordem von Gott erfüllt wurde –, erkennend Gutesund Böses. Sahen sie die Dinge bisher im göttlichen Licht, so werden siediese nun in ihrem eigenen Lichte sehen, d. h., die Wirkungsweise desLichtes wird nun ihnen gehören, so wie sie einmal zu Gott gehörte.

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Die Quelle des Lichtes wird von Gott auf den Menschen übergehen.Dies ist die Versuchung, die durch die Stimme der Schlange zu Eva

sprach. Das Wesen dieser Versuchung ist das Machtprinzip – die Autonomiedes Bewußtseinslichtes.

Und Eva „hörte auf die Stimme der Schlange“. Diese Stimme war für siegenauso hörbar wie die andere Stimme, die Stimme von oben, welche daseinzige Gebot aussprach:

„Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen. Von dem Baum derErkenntnis des Guten und Bösen aber darfst du nicht essen. Denn am Tage,da du davon issest, mußt du sicher sterben“ (Gen 2, 16 f).

Sie hörte also zwei Stimmen, zwei Inspirationen, die von gegensätzlichenQuellen ausgingen. Hier liegen Anfang und Ursprung des Zweifels. Zweifel istdoppelte Inspiration; Glaube ist einfache Inspiration; Gewißheit ist besiegterZweifel, wiedergewonnener Glaube.

Der Gehorsam, das Prinzip des Gehorsams, ist rückhaltlose Hingabe andie eine einzige Stimme von oben. Und genau die Tatsache, daß Eva auf eineandere Stimme hörte als die von oben, daß sie die beiden verglich, d. h. siebetrachtete, als ob sie zur gleichen Ebene gehörten, daß sie also zweifelte –diese Tatsache war ein Akt des geistigen Ungehorsams, war Wurzel undAnfang des Sündenfalls.

Daraufhin betrachtete sie den Baum und sah, daß er „gut zu essen wäreund lieblich anzusehen“. Das ist die zweite Phase der Versuchung und daszweite Stadium des Sündenfalles. Denn erst nachdem sie auf die Stimme derSchlange gehorcht hatte, betrachtete sie den Baum. Sie betrachtete ihn aufneue Art: nicht mehr so wie früher, als noch allein die Stimme von oben inihrem Wesen klang, d. h., als sie nicht die geringste Anziehung des Baumesempfand, sondern jetzt mit dem in ihrem Wesen vibrierenden Wort derSchlange, mit einem fragenden, vergleichenden, zweifelnden Blick, d. h.bereit, ein Experiment zu wagen. Denn um aus dem Zweifelherauszukommen, greift man zum Experiment. Der Zweifel treibt zumExperiment, wenn man ihn nicht überwindet, indem man sich auf eine höhereEbene erhebt.

Als sie den Baum auf diese neue Art betrachtete, erschien er ihr „gut zuessen und lieblich anzusehen.“ Sich dazu treiben zu lassen, Experimente zumachen – das ist der Anfang und das Prinzip der Habsucht, das der Armutentgegengesetzte Prinzip.

Nachdem sie den Baum auf die neue Art betrachtet hatte, streckte Eva dieHand aus, und sie „nahm von seiner Frucht und aß und gab davon auchihrem Manne, der bei ihr war, und er aß“. Das ist die dritte Phase derVersuchung und das dritte Stadium des Sündenfalles: herauszukommen ausdem Zweifel, indem man sich in das Experiment stürzt und den andernveranlaßt, daran teilzunehmen.

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Das ist Beginn und Prinzip der Unkeuschheit, entgegengesetzt dem Prinzipder Keuschheit. Denn Experimente auf der Grundlage des Zweifels machen istdas eigentliche Wesen der fleischlichen, seelischen und geistigenUnkeuschheit.

Darum macht man keine Experimente in der christlichen Esoterik oderHermetik. Niemals nimmt man hier zu Experimenten Zuflucht, um aus demZweifel herauszukommen. Man hat Erfahrung, aber man macht keineExperimente. Denn es wäre im Widerspruch zum heiligen Gelübde derKeuschheit, die Hand auszustrecken und zu nehmen vom Baum derErkenntnis. Die geistige Welt duldet keine Experimentierer. Man sucht, manbittet, man klopft an ihre Pforte, aber man öffnet sie nicht mit Gewalt. Manwartet, daß sie geöffnet werde.

Die christliche Erfahrung und Lehre von der Gnade drücken daseigentliche Wesen der Keuschheit aus, ganz so wie sie auch die Prinzipiender Armut und des Gehorsams enthalten. Es ist die Lehre von den keuschenBeziehungen zwischen dem, was unten ist, und dem, was oben ist. Gott istkein Objekt – auch kein Objekt der Erkenntnis. Er ist die Quelle dererleuchtenden und offenbarenden Gnade. Er kann nicht erkannt werden –wohl aber kann er sich offenbaren.

Das sind Keuschheit, Armut und Gehorsam auf der Grundlage derchristlichen Lehre und Erfahrung der Gnade. So ist alle christliche Esoterikoder Hermetik, einschließlich des Gesamt seiner Mystik, Gnosis und Magie,gegründet auf die Erfahrung und Lehre von der Gnade, deren eine Wirkungdie Einweihung ist. Einweihung ist ein Akt der Gnade von oben. Man gewinntsie nicht, noch erzeugt man sie durch irgendwelche äußeren oder innerentechnischen Prozeduren. Man weiht sich nicht ein; man wird eingeweiht.

Gnade ..., sind wir nicht müde von der jahrhundertelangen Wiederholungdieses Themas in den Sonntagspredigten der Kirchen, den theologischenAbhandlungen, den mystischen Schriften, den pompösen Aufzählungenendlich der „sehr christlichen“, „katholischen“, „orthodoxen“ Monarchenund „Verteidiger des Glaubens“? Haben wir es nicht immer und überall biszum Überdruß gehört und gelesen, wo Weihrauchduft aufstieg und geistigeGesänge ertönten? Kurzum, ist ein Schüler der modernen Hermetik nichtberechtigt zu bitten, daß man ihm die Predigten über diesen weichstimmenden und eintönigen Gegenstand erspart – ihm, der im Begriff ist, dasgewaltige Abenteuer der Suche nach dem Großen Arcanum zu wagen? Trautman seinem Charakter nicht zuwenig zu, wenn man ihn auffordert, auf dieherrliche magische Vierheit „Wagen, Wollen, Schweigen, Wissen“ zuverzichten, um eines weinerlichen „Kyrie eleison“ willen? –

Es gibt nichts Alltäglicheres als den Aufgang der Sonne, der sich von Tagzu Tag wiederholt während unzähliger Jahrtausende ... Indessen verdankenwir diesem alltäglichen Phänomen, daß unsere Augen – diese Organe desSonnenlichtes – alle neuen Dinge des Lebens sehen. Und so wie das Licht derSonne uns hinsichtlich der Dinge der physischen Welt sehend macht, so machtuns das Licht der geistigen Sonne – die Gnade – sehend hinsichtlich der

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Bedingungen der geistigen Welt. Man braucht Licht um zu sehen, sowohlhier wie dort.

Ebenso braucht man Luft zum Atmen und zum Leben. Ist die Luft, dieuns umgibt, nicht eine vollkommene Analogie der „gratia gratis data“, derfrei gewährten Gnade? Denn um im Geist zu leben, bedarf es deslebendigmachenden Geistes, der die Luft des geistigen Atmens ist.

Kann man künstlich eine intellektuelle, moralische oder künstlerischeInspiration erzeugen? Können die Lungen die Luft erzeugen, die sie für dieAtmung brauchen? – Das Prinzip der Gnade liegt dem Leben zugrunde –sowohl dem irdischen wie dem geistigen; und das Leben wird voll und ganz –unten und oben – beherrscht durch die Gesetze von Gehorsam, Armut undKeuschheit. Die Lungen wissen, daß man einatmen muß, und sie gehorchen. DieLungen wissen sich arm – und atmen ein. Sie lieben die Reinheit – und sie atmenaus. Selbst der Prozeß der Atmung lehrt die Gesetze von Gehorsam, Armut undKeuschheit, d. h. die Lektion der Analogie der Gnade. Die der Wirklichkeit derGnade bewußte Atmung ist der christliche „Hatha-Yoga“. Der christliche „Hatha-Yoga“ ist die vertikale Atmung des Gebetes und der Segnung. Mit anderenWorten: man öffnet sich der Gnade, und man empfängt sie.

Was die herrliche Vierheit der traditionellen Magie anbelangt – „Wagen,Wollen, Schweigen, Wissen“ –, so ist sie – mutatis mutandis – vom Meisterfolgendermaßen formuliert:

„Bittet, und es wird euch gegeben werden.Suchet, und ihr werdet finden.Klopfet an, und es wird euch aufgetan werden.

Denn jeder, der bittet, empfängt,und wer sucht, findet,und wer anklopft, dem wird aufgetan werden“ (Mt 7, 7f).

Es geht also darum, daß man zu bitten wagt, suchen will, schweigt, umanzuklopfen und zu wissen, wann man ihnen geöffnet hat. Denn Wissenwird nicht gemacht; dies offenbart sich, wenn sich die Tür öffnet.

Das ist die Formel der Synthese von Bemühung und Gnade, vom Prinzipder Arbeit und dem der Empfänglichkeit, von Verdienst und Geschenk.Diese Synthese drückt das unbedingte Gesetz allen geistigen Fortschritts ausund folglich aller geistigen Disziplin, sei sie geübt von einem einzelnenchristlichen Hermetiker, Von einer Gemeinschaft in Kloster oder Konvent,einem religiösen oder mystischen Orden oder von irgendeiner christlich-esoterischen oder hermetischen Bruderschaft. Sie ist das Gesetz, dem jederchristliche Schüler aus jeder christlichen spirituellen Schule gehorcht; und diechristliche Hermetik, d. h. die Gesamtheit der traditionellen Mystik, Gnosis,Magie und okkulten Philosophie, hindurchgegangen durch die Taufe undverklärt durch Feuer, Licht und Leben des Christentums, macht darin keineAusnahme. Hermetik ohne Gnade ist steriler, gelehrter Historismus;Hermetik ohne Bemühung ist oberflächlicher, sentimentaler Ästhetizismus.

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Doch gibt es auch das „Werk“ in der Hermetik, und dieses Werk ist das Kindder Gnade und der Bemühung.

Lieber Unbekannter Freund, wenn Sie sich in der Theologie auskennen,werden Sie hier die klare und einfache Lehre der katholischen Kirche über dieBeziehung zwischen Werken und Gnade wiedererkennen. Sie werden hier dieVerwerfung des Pelagianismus wiederfinden, dem zufolge nur die Werke(oder die Bemühungen) zählen, und ebenso die Verwerfung desProtestantismus von Luther, nach dem nur die Gnade zählt. Sie werden hierauch implizit die Lehre der katholischen Kirche wiederfinden von der „naturavulnerata, non deleta“, d. h., daß die Natur infolge des Sündenfalls nichtvöllig verdorben ist, sondern ein jungfräuliches Element bewahrt hat, welchesfolglich auch in der menschlichen Natur vorhanden ist, die daher fähig ist zuBemühungen und Werken, die zählen.

Macht also die christliche Hermetik nichts anderes, als daß sie bei derkatholischen Theologie die grundlegenden Prinzipien ihrer philosophisch-hermetischen Lehre entlehnt?

Man darf nicht vergessen, daß die christliche Hermetik keine eigeneReligion, keine eigene Kirche und noch nicht einmal eine eigene Wissenschaftist, mit denen sie der Religion, der Kirche und der Wissenschaft Konkurrenzmachen würde. Sie ist der Bindestrich zwischen Mystik, Gnosis und Magie,durch Symbole ausgedrückt, weil die Symbolik das Ausdrucksmittel ist fürdie Dimensionen der Tiefe und der Höhe (also der Enstase und der Ekstase)von allem, was universal ist (oder was der Dimension der Breite entspricht)und was traditionell ist (also entsprechend der Dimension der Länge). Weildie Hermetik christlich ist, nimmt sie das Kreuz der Universalität, derTradition, der Tiefe und der Höhe des Christentums an im Sinne desApostels Paulus, wenn er sagt:

„ .. daß ihr in Liebe festgewurzelt und festgegründet seid, damit ihrimstande seid, mit allen Heiligen zu erfassen, welches die Breite undLänge, die Höhe und Tiefe ist, und die Liebe Christi zu erkennen, die dieErkenntnis übersteigt, auf daß ihr erfüllt werdet zur ganzen Fülle Gotteshin“ (Eph 3, 17 ff).

Das ist die vollständige Formel der Einweihung.Da nun die Hermetik nach der Erfahrung und Erkenntnis der Tiefe und

der Höhe des universalen Christentums strebt, d. h. des katholischen undtraditionellen, d. h. der Kirche, entlehnt sie nichts von der. Kirche und kannihr nichts entlehnen, weil sie nichts anderes ist und nichts anderes sein kannals ein Aspekt der Kirche selbst, nämlich der Aspekt ihrer Dimensionen derTiefe und Höhe. Sie ist also Fleisch von ihrem Fleisch und Blut von ihremBlut; sie entlehnt nichts von der Kirche, weil sie ein Teil ist von ihr. Sie ist derunsichtbare Aspekt der Universalität im Raum und der Traditionalität in derZeit, welche beide in der Kirche sichtbar werden. Denn die Kirche ist nicht nuruniversal und traditionell, sondern darüber hinaus tief und erhaben.

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So ist die christliche Hermetik nur der vertikale Aspekt der Kirche, d. h.derjenige ihrer Tiefe und Höhe. Das soll keineswegs besagen, daß dieeinzelnen Hermetiker im Besitz von allem seien, was tief und erhaben – oderesoterisch – in der Kirche ist; das besagt einzig, daß man nur insoweitchristlicher Hermetiker ist, wie man um die Tiefe und die Höhe deruniversalen Tradition des Christentums weiß, und daß jede Person, die davonErfahrung und Wissen hat, die christliche Hermetik repräsentiert. Sind alsoalle Kirchenlehrer, die außer der theologischen Theorie den Weg derspirituellen Erfahrungen lehrten, und alle Heiligen und Mystiker derKirche, die diese Erfahrungen gemacht haben, zugleich Hermetiker? –Ja,sie sind es, insoweit sie Zeugen und Repräsentanten der Tiefe undErhabenheit des Christentums sind. Sie alle haben dem modernen Hermetikerviel zu sagen, und dieser hat viel von ihnen zu lernen.

Nehmen Sie zum Beispiel den „Dreifachen Weg“ des hl. Bonaventura. Dortlesen Sie:

„Beachte endlich: die Wahrheit soll sein

1. in der Ersten Hierarchie:aufgerufen durch das Seufzen des Gebets: Werk der Engel;abgelauscht beim Studium und bei der Lektüre: Werk der Erzengel;angekündigt durch Beispiel und Predigt: Werk der Fürstentümer;

2. in der Zweiten Hierarchie:erreicht als Zuflucht und Ort der Hingabe: Werk der Mächte;erfaßt durch Eifer und Strebsamkeit: Werk der Kräfte;verbunden in der Verachtung und Demütigung seiner selbst: Werk derHerrschaften;

3. in der Dritten Hierarchie:angebetet durch Opfer und Lobpreis: Werk der Throne;bewundert im Herausgehen aus sich selbst und in der Kontemplation: Werkder Cherubime;umarmt im Kuß der Liebe (amplectenda per osculum et dilectionem): Werkder Seraphime.Beachte das, was ich soeben sagte, sorgfältig, weil darin ein Brunnen des Lebensist.“

Diese kleine Seite liefert Meditationsstoff für Jahre.Kann man es sich als Hermetiker erlauben, solche Zeugnisse (und es gibt

deren Hunderte) für die geistige Welt und für ihre authentische Erfahrung zuignorieren? Fabre d’Olivet, Eliphas Lévi, Saint-Yves d’Alveydre, Guaita,Papus und Péladan verdienen wohl, studiert zu werden, ebenso wie mancheanderen Autoren der okkultistischen und hermetischen Bewegung; aber ihrStudium allein genügt nicht. Sind sie die einzigen glaubwürdigen Zeugen,und sind ihre Werke die einzigen Quellen aus erster Hand über dieWirklichkeit der geistigen Welt und ihrer Erfahrung?

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Hören wir also auf alle diejenigen, welche aus Erfahrung wissen, und suchenwir zuerst die Echtheit der Erfahrung statt Gelehrsamkeit und theoretischerSpekulation!

Kehren wir zum Thema der Versuchung zurück. Sie ist dreifach, wie wirgesehen haben. Wir können also von drei grundlegenden Versuchungensprechen, welche Bezug haben zu den drei grundlegenden Bedingungen desZustandes der Gnade des Paradieses oder zu den drei Gelübden als Basisjeglicher spirituellen Kultur nach dem Sündenfall: Gehorsam, Armut undKeuschheit. Das ist die praktische Bedeutung des Hexagramms oder desSalomonischen Siegels:

Dieses Siegel ist das der Erinnerung an das Paradies und an den Sündenfall,d. h. des Gesetzes oder der „Torah“. Denn das Gesetz ist das Kind desParadieses und der Versuchung.

Da der Neue Bund die Erfüllung des Alten Bundes ist, begann die Erlösungmit der Wiederholung der drei Urversuchungen. Doch diesmal war es der„Menschensohn“, der versucht wurde, und die Versuchung fand nicht imGarten Eden statt, sondern in der irdischen Wüste. Und diesmal war nicht dieSchlange („listiger als alle Tiere des Feldes“) der Versucher, sondern der Fürstdieser Welt, d. h. der neue Mensch, der „Übermensch“ oder der andere„Menschensohn“, der die Verwirklichung des von der Schlange gemachtenVersprechens der Freiheit sein würde, wenn er inkarniert wäre. Der Antichrist,das Ideal der biologischen und historischen Evolution ohne Gnade, ist keinevon Gott geschaffene Individualität oder Wesenheit, sondern der Egregor oderdas Phantom, welches durch die biologische und historische Evolutionhervorgebracht wird, die von der Schlange begonnen wurde, die der Urheberund Meister der biologischen und historischen Evolution ist, die die Wissenschafterforscht und lehrt. Der Antichrist ist das äußerste Produkt dieser gnadenlosenEvolution und keine von Gott geschaffene Wesenheit, da der Akt der göttlichenSchöpfring immer und ohne Ausnahme ein Akt der Gnade ist. Er ist also einEgregor oder ein künstliches Wesen, das sein Dasein der kollektiven Zeugungvon unten verdankt.

Verweilen wir noch bei dem Begriff des Egregors, um besser verstehen zukönnen, was der Antichrist ist, diese wichtige und rätselhafte Gestalt derchristlichen Esoterik oder der christlichen Hermetik, die zugleich Quelle derVersuchung in der Wüste ist.

Hören wir zu Beginn, was Robert Ambelain dazu sagt:

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„Man bezeichnet mit dem Namen Egregor entweder eine Kraft, die durcheine mächtige geistige Strömung erzeugt und dann in regelmäßigen Abständengespeist wird gemäß einem Rhythmus in Harmonie mit dem universalenLeben des Kosmos, oder eine Vereinigung von Wesenheiten, die durch eingemeinsames Kennzeichen miteinander verbunden sind.“

Das ist eine Definition, die nichts zu wünschen übrigläßt.Unglücklicherweise ist sie vernebelt durch den unmittelbar folgendenParagraphen:

„Im Unsichtbaren außerhalb der physischen Wahrnehmung des Menschenexistieren künstliche, durch Hingebung, Enthusiasmus und Fanatismuserzeugte Wesen, die man Egregore nennt. Es sind die Seelen der großen, gutenund schlechten geistigen Strömungen. Die mystische Kirche, das himmlischeJerusalem, der Leib Christi und all solche sinnverwandte Namen sindBezeichnungen, die man gemeinhin dem Egregor des Katholizismus gibt.Die Freimaurerei, der Protestantismus, der Islam und der Buddhismus sindEgregore. Die großen politischen Ideologien sind andere.“

Hier haben wir eine seltsame Mischung von Wahrem und Falschem. Wahrist, daß unsichtbare, kollektiv erzeugte künstliche Wesen existieren, d. h., daßes wirklich Egregore gibt; falsch aber ist das Durcheinanderbringen vonDingen, die ganz verschiedener Natur sind („Der Leib Christi“ und„politische Ideologien“!), ohne in der Materie zu unterscheiden. Denn wennman die mystische Kirche und den Leib Christi, die Freimaurerei und denBuddhismus als „Egregore“ klassifiziert, d. h. als „durch Hingebung,Enthusiasmus und Fanatismus erzeugte künstliche Wesen“, warum sollteman da nicht auch Gott als Egregor betrachten?

Nein, es gibt übermenschliche geistige Wesenheiten, die nicht künstlich erzeugtsind, sondern die sich offenbaren und enthüllen. Die Verwechslung zwischendem, was von oben herabsteigt, und dem, was von unten erzeugt wird, istübrigens sehr verbreitet unter den materialistischen Gelehrten wie unter denOkkultisten. So betrachten etliche Biologen die Einheit des Bewußtseins – oderdie menschliche Seele – als Epiphänomen oder als Endsumme von Millionen vonBewußtseinspunkten der Zellen des Nervensystems im Organismus. Für sieist die Seele nur ein Egregor, kollektiv erzeugt durch Millionen individuellerZellen. So ist es aber nicht. Der Egregor der Zellen besteht wohl – es ist dasPhantom elektromagnetischer Natur, welches der Auflösung nach dem Todefür einige Zeit widersteht, und das sich zum Beispiel in Häusern manifestierenkann, in denen es spukt; aber dieses Phantom hat weder etwas mit derwirklichen Seele zu tun noch mit den feinen Leibern (dem ätherischen oderLebensleib und dem astralischen oder Seelenleib), mit welchen die Seeleaußer dem physischen Leibe noch bekleidet ist. Zu sagen, daß zum Beispieldie mystische Kirche oder der Leib Christi ein Egregor sei, hieße die Theseaufstellen, daß sie ein Phantom sei, erzeugt von Millionen von Gläubigen, sowie die Phantome der Gespenster erzeugt sind durch Millionen von Zellen.

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Die Verwechslung von Seele und Phantom ist ein recht schwerer Irrtum. Nichtminder schwer ist der Irrtum im Falle der Verwechslung von Offenbarungund Erfindung, von geistigen Wesenheiten, welche sich von oben offenbaren,und Egregoren, die künstlich von unten erzeugt sind. Denn so mächtig dieEgregore auch sein mögen, sie haben doch nur eine vergängliche Existenz,deren Dauer ganz von der galvanisierenden Speisung von seiten ihrerErzeuger abhängt, während es die menschliche Gemeinschaften gründenden,inspirierenden und leitenden Seelen und Geister von oben sind, die ihrerseitsdie menschlichen Seelen speisen und belehren – so wie zum Beispiel dieErzengel (welche Volksgeister sind), die Fürstentümer (Archai oder„Zeitgeister“), die geistige Wesenheit, die hinter dem lamaistischenBuddhismus steht, ganz zu schweigen von Christus, dessen Fleisch und Blutjeden Tag die Kirche oder seinen mystischen Leib belebt und vereint.

Die ersteren werden also von den Menschen ernährt, während dieletzteren die Menschen ernähren.

Allerdings obwohl Gott, Christus, die Heilige Jungfrau, die himmlischenHierarchien, die Heiligen, die mystische Kirche oder der Leib Christiwirkliche Wesenheiten sind, existiert nichtsdestoweniger auch ein Phantomoder Egregor der Kirche, der ihr Doppelgänger ist, ebenso wie jeder Mensch,jedes Volk, jede Religion usw. ihre Doppelgänger haben. Doch ebenso wiederjenige, der in Rußland z. B. nur den Bären, in Frankreich nur den Hahn, inDeutschland nur den Wolf sieht, ungerecht ist gegenüber dem Land desHerzens, dem Land des Verstandes und dem Land der Initiative – ebenso ister der katholischen Kirche gegenüber ungerecht, wenn er in ihr statt desmystischen Leibes Christi nur ihr historisches Phantom sieht – den Fuchs.Um richtig sehen zu können, muß man richtig hinsehen, und richtighinsehen heißt versuchen, durch den Nebel der Phantome hindurchzusehen.Das ist eine der wesentlichen praktischen Vorschriften der christlichenHermetik. Dank der Bemühungen, durch die Phantome hindurchzusehen,erreicht man das Wissen um die Tiefe und Höhe, von denen der ApostelPaulus spricht und die das Wesentliche der Hermetik sind.

Was nun den Antichrist angeht, so ist er das Phantom der ganzen Menschheit,das während der gesamten historischen Evolution der Menschheit erzeugteWesen. Er ist der „Übermensch“, der im Bewußtsein all derer spukt, die sichaus eigener Bemühung, ohne Gnade, zu erhöhen versuchen. Er erschien auchFriedrich Nietzsche und zeigte ihm „in einem Augenblick alle Reiche derErde“, die existierten, existieren und existieren werden im Kreise der ewigenWiederkehr; er forderte ihn auf, sich in das Gebiet „jenseits von Gut undBöse“ zu stürzen und das Evangelium der Evolution zu erwählen und zuverkünden – das Evangelium des Willens zur Macht, daß es dieser Willeist, er allein („Gott ist tot ...“), der den Stein, die anorganische Materie, inBrot, in organische Materie, umwandelt, die organische Materie in das Tier,das Tier in den Menschen und den Menschen in den „Übermenschen“, derjenseits von Gut und Böse ist und der nur seinem eigenen Willen gehorcht(„O mein Wille, meine Notwendigkeit, du bist mein Gesetz …“).

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Er erschien Karl Marx und zeigte ihm „in einem Augenblick alle Reiche derErde“, wo alle Sklaven der Vergangenheit in souveräne Herren umgewandeltsind, die weder Gott gehorchen, den sie entthront haben, noch der Natur, diesie unterworfen haben, und ihr Brot essen, das sie nur ihrer eigenenWissenschaft und ihrer eigenen Bemühung verdanken, indem sie Steine inBrot verwandeln.

Und vielen anderen ist das Phantom der Menschheit erschienen.Es erschien auch dem Menschensohn in der Wüste.Es war die Begegnung des göttlichen Gesetzes, das Fleisch geworden war,

mit dem Gesetz der Schlange, der biologischen und historischen Evolution,das Seele geworden war.

Nun ist das göttliche Gesetz die herabsteigende Wirkung der heiligen Trinitätoder Gnade, offenbart vierzig Tage vor der Versuchung in der Wüste bei derTaufe Jesu im Jordan, die von Johannes dem Täufer voll- zogen wurde. DasGesetz der Schlange aber ist die Wirkung des tastenden Willens, der sich inSchlangenlinien vorwärts bewegt durch die Perioden und Schichten derbiologischen Evolution und von Form zu Form schreitet; es ist die Triade desWillens zur Macht, des tastenden Versuches und der Umbildung dessen, wasgrob ist, in das, was fein ist.

Die vertikale trinitarische Gnade und der triadische Geist der horizontalenEvolution begegneten sich also im Bewußtsein des „Menschensohnes“ vierzigTage nach der Jordantaufe. Damals fanden die drei Versuchungen des„Menschensohnes“ statt. Und ebenso wie die Jordantaufe das Urbild für dasheilige Sakrament der Taufe wurde, ebenso wurde die Begegnung der bei derJordantaufe empfangenen Gnade mit der Quintessenz des evolutionärenAntriebs, der auf den Sündenfall folgte, das Urbild des heiligen Sakramentesder Firmung. Damals nämlich hat die Gnade von oben sich als fest und wahrerwiesen gegenüber dem Gesetz von unten. Damals wich die Evolution vorder Gnade.

Die drei Versuchungen des „Menschensohnes“ in der Wüste waren seineErfahrung der richtunggebenden Impulse der Evolution, nämlich des Willenszur Macht, des tastenden Versuchs und der Umbildung von Grobem in Feines.Sie bedeuteten gleichzeitig die Erprobung der drei Gelübde – der Gelübde desGehorsams, der Keuschheit und der Armut.

Mit der letzten Prüfung beginnt die Erzählung der Versuchung Jesu Christibei Matthäus (Kap. 4). Denn die himmlische Fülle (pleroma), welche zurZeit der Jordantaufe herabgestiegen war, brachte die entsprechende irdischeLeere (kenoma) mit sich, die in der Erzählung des Evangeliums durchEinsamkeit, Wüste und Fasten ausgedrückt ist.

„Danach wurde Jesus vom Geiste in die Wüste geführt, um vom Teufelversucht zu werden. Und er fastete vierzig Tage und vierzig Nächte, dannhungerte ihn“ (Mt 4, 1 f).

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Nun ist Hunger des Geistes, der Seele und des Leibes die Erfahrung derLeere oder der Armut. Das Gelübde der Armut wurde also auf die Probegestellt, als der Versucher

„an ihn heran(trat) und sagte: ,Wenn du Gottes Sohn bist, befiehl, daß dieseSteine Brote werden’“ (Mt 4, 3).

„Befiehl, daß diese Steine Brote werden ...“ – das ist genau das Wesen desStrebens der Menschheit in der naturwissenschaftlichen Epoche nach demSieg über die Armut. Synthetische Harze, synthetischer Kautschuk,synthetische Fasern, synthetische Vitamine, synthetische Proteine undschließlich .... synthetisches Brot? Wann? Vielleicht schon bald, wer weiß?

„Befiehl, daß diese Steine Brot werden ...“ – das ist die Formel für dieSinnesart der Gelehrten der Evolution mit ihrem „Transformismus“, diezeigen, daß das Pflanzenreich, d. h. das Brot, nur eine Umformung desMineralreiches, d. h. „dieser Steine“, ist und daß die organische Materie – dasBrot – nur Ergebnis der physischen und chemischen Umgruppierung vonkleinen Molekülen in „Makromoleküle“, in riesige Moleküle im Prozeß derPolymerisation ist. Die „Polymerisation“ wird also heute von zahlreichenGelehrten als mögliches – sogar wahrscheinliches – Äquivalent betrachtet fürdie vom Versucher in der Wüste Vorgeschlagene Operation der Umformungvon Steinen in Brot.

Die vom Versucher vorgeschlagene Operation ist zugleich dasGrundmotiv der Lehren, welche die heutige Welt überschwemmen und diedas Wirtschaftsleben als primär ansehen und das geistige Leben als seinEpiphänomen oder als „ideologischen Überbau“ über der ökonomischen Basis.Was unten ist, ist das Primäre, und was oben ist, das Sekundäre, weil es dieMaterie ist, welche den Geist hervorbringt – das ist das gemeinsame Dogma,das dem Ökonomismus, dem Transformismus bzw. derAbstammungslehre und der Aussage des Versuchers des„Menschensohnes“ zugrunde liegt. Seine Antwort auf dieses Dogma lautet:

„Nicht vom Brot allein lebt der Mensch, sondern von jedem Worte, dasaus dem Munde Gottes kommt“ (Mt 4, 4).

Verweilen wir bei dieser Formel.Sie drückt zunächst das Wesen des Gelübdes der Armut aus. Denn das

Gelübde der Armut heißt ebensosehr vom Worte, das aus dem MundeGottes hervorgeht, wie vom Brot, das in den Mund des Menschen eingeht,leben.

Sodann fügt sie dem Gesetz der biologischen Ernährung, wonach dieniederen Reiche dem Menschen als Nahrung dienen, das neue Gesetz derGnade hinzu, wonach das dem Menschen übergeordnete Reich, das Reich derHimmel, ihn ernährt. Das bedeutet, daß nicht allein Geist und Seele desMenschen leben, d. h. Impulse, Kräfte und Substanzen von oben empfangenkönnen, sondern auch sein Körper. Die belebende geistige Wirkung dergöttlichen Magie oder der Gnade auf das geistige und seelische Leben ist

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eine den aufrichtigen Christen gemeinsame jahrtausendealte Erfahrung; aberes ist weniger bekannt, daß es Fälle gab und gibt, wo der Körper sichwährend genügend langer Zeiträume jeglicher Nahrung zu enthaltenvermochte, um hundertmal den biologischen Hungertod hervorzurufen. Solebte Therese Neumann in Konnersreuth (Bayern) jahrzehntelang nur von derheiligen Kommunion; die hl. Katharina von Siena lebte neun Jahre lang alleinvon der heiligen Kommunion; die hl. Lidwina von Schiedam (Holland) lebteebenfalls mehrere Jahre lang ausschließlich von der heiligen Kommunion – umnur gut beglaubigte Fälle zu zitieren.

Das ist die Tragweite der Worte: „Nicht vom Brot allein lebt derMensch, sondern von jedem Worte, das aus dem Munde Gottes kommt.“Ihre wichtigste Implikation ist: Da das Gesetz der Evolution, das Gesetz derSchlange, den Kampf ums Dasein mit sich bringt, und da das „Brot“ oder dieNahrung der Hauptfaktor des Kampfes ums Dasein ist, bedeutet die Tatsachedes Eintritts der Gnade in die menschliche Geschichte seit Jesus Christuszugleich die Möglichkeit der stufenweise Aufhebung des Kampfes umsDasein. Das Gelübde der Armut also wird ihn überwinden.

„Darauf nahm ihn der Teufel mit in die heilige Stadt, stellte ihn auf dieZinne des Tempels und sagte zu ihm: ,Wenn du Gottes Sohn bist, dann stürzedich hinab. Denn es steht geschrieben: Seinen Engeln wird er dichanbefehlen, und sie werden dich auf Händen tragen, damit du deinen Fuß ankeinen Stein stoßest.’ Jesus sprach zu ihm: ,Es steht auch geschrieben: Dusollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen“ (Mt 4, 5ff).

Diesmal spricht das Prinzip des tastenden Versuches, auf das die natürlicheEvolution zurückgeht. Die Methode der als „natürlich“ be- zeichnetenEvolution ersetzt seit dem Sündenfall die von Gott geschaffene Welt oderdas „Paradies“. Denn die Evolution schreitet tastend vor, von Form zuForm; sie versucht und verwirft und versucht wieder aufs neue. Die Welt derEntwicklung von den Protozoen zu den Wirbeltieren und von den einfachenWirbeltieren zu den Säugetieren, dann zu den Affen und zumPithecanthropus ist weder das Werk der absoluten Weisheit noch derabsoluten Güte. Es ist vielmehr das Werk einer sehr weitreichendenIntelligenz und eines sehr entschlossenen Willens, die ein klar umrissenesZiel verfolgen mit der Methode von „Versuch und Irrtum“. Man könntesagen, daß es sich eher um einen großen wissenschaftlichen Intellekt und umeinen Experimentierwillen handelt, die sich in der natürlichen Evolutionoffenbaren (welche man nicht mehr leugnen kann), als um göttliche Weisheitund göttliche Güte. Das Bild der Evolution, das die Naturwissenschaften –vor allem die Biologie – als Ergebnis ihrer gewaltigen Arbeit schließlichgewonnen haben, offenbart uns ohne jeden Zweifel das Werk einer sehrsubtilen, aber unvollkommenen Intelligenz und eines sehr entschlossenen, aberunvollkommenen Willens. Die Schlange also, das „listigste Tier des Feldes“,wird uns von der biologischen Welt der Evolution offenbart, nicht aber Gott.

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Die Schlange ist der „Fürst dieser Welt“, sie ist der Urheber und Lenker derrein biologischen Evolution nach dem Sündenfall. Lesen Sie „Der Mensch imKosmos“ von Pierre Teilhard de Chardin, der eine Zusammenfassung und diebeste Interpretation der natürlichen Evolution gibt, die ich kenne; studierenSie dieses Buch, und Sie können zu keinem anderen Ergebnis kommen, alsdaß die Welt der Evolution das Werk der Schlange des Paradieses ist und daßerst seit den prophetischen Religionen (es gab deren mehrere) und demChristentum die frohe Botschaft (Euangelion) eines anderen Weges als des derEvolution der Schlange existiert.

Nun schlug der Versucher dem Menschensohn die Methode vor, der erselbst seine Existenz verdankte – den Versuch: „Stürze dich hinab, und manwird sehen, ob du wirklich Sohn Gottes bist und nicht wie ich Sohn derEvolution, Sohn der Schlange“. Das war die Versuchung der Keuschheit.Denn, wie wir weiter oben auseinandersetzten, der Geist der Keuschheitschließt jeden Versuch aus. Der Versuch ist das eigentliche Wesen dessen, wasdie Bibel als „Unzucht und Hurerei“ bezeichnet. Die Unzucht – wie übrigensjedes andere Laster und auch jede Tugend – ist dreifach: geistig, seelisch undleiblich. Ihre Wurzel ist geistig: der Bereich ihrer Entfaltung und ihresWachstums ist seelisch, und das Fleisch ist lediglich der Bereich, wo sieFrucht bringt. So wird der geistige Irrtum zum Laster, und das Laster zurKrankheit.

Darum brandmarkten die Propheten Israels die geistige Hurerei des Volkesdes Alten Bundes jedesmal, wenn es sich verführen ließ durch die Kulte der„fremden Götter“ Bel, Moloch und Astarte. Diese Götter waren bloßeEgregore, Geschöpfe der kollektiven menschlichen Einbildung und deskollektiven menschlichen Willens, während der „Heilige Israels“ dergeoffenbarte Gott war – unvorstellbar, wie er war und ohne andere Beziehungzu dem menschlichen Willen, als daß er diesem das Gesetz auferlegte. Die„fremden Götter“ hatten eine seltsame Anziehungskraft für die Israeliten,weil sie Götter „dieser Welt“ waren und nicht der jenseitige Gott derOffenbarung mit dem Gehorsam, den man ihm schuldete und der daraufhinauslief, in einem geistigen Kloster zu leben gegenüber „dieser Welt undihren Göttern“. Sie waren immer versucht, sich von der Höhe und Isolierungder Zinne des Tempels hinunterzustürzen in die Schichten der kollektivenInstinktivität und zu erfahren, ob dort nicht „Engel wären, die sie auf Händentrügen, damit ihre Füße an keinen Stein stießen“, d. h. zu versuchen, in dennahen und dichten Kräften der natürlichen Evolution die richtunggebendenund schützenden Kräfte mit weniger Aufwand zu finden als in der Höheund in der dünnen Luft der Zinne des Tempels des geoffenbarten Gottes.Das Prinzip der geistigen Unzucht ist also das Vorziehen des Unterbewußtenvor dem Bewußten und Überbewußten, des Instinkts vor dem Gesetz, derWelt der Schlange vor der Welt des WORTES.

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Wie sich die beiden ersten Versuchungen auf die Gelübde der heiligenArmut und der heiligen Keuschheit bezogen, so bezieht sich die letzteVersuchung („letzte” nach dem Matthäusevangelium) auf das Gelübde desheiligen Gehorsams. Diesmal ist es der Machtwille (der NietzschescheWillen zur Macht), der wirkt:

„Wiederum nahm ihn der Teufel mit auf einen sehr hohen Berg undzeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sagte zu ihm: ,Dasalles werde ich dir geben, wenn du niederfällst und mir huldigst.’ Da sprachJesus zu ihm: ,Hinweg, Satan! Denn es steht geschrieben: Dem Herrn,deinem Gott, sollst du huldigen und ihm allein dienen“ (Mt 4, 8 ff).

Halten wir die Elemente dieser Versuchung fest: der sehr hohe Berg, alleReiche der Welt und ihre Herrlichkeit, Anbetung dessen, der die Machtdazu hat, auf den Gipfel des Berges zu erheben und dort alle Dinge derReiche seiner Welt in Besitz zu geben.

Es handelt sich also um die Annahme des Ideals des Übermenschen(„falle mir zu Füßen und bete mich an“), welcher der Gipfel der Evolutionist („er nahm ihn mit sich auf einen sehr hohen Berg“) und der, nachdem erStein-, Pflanzen-, Tier- und Menschenreich durchschritten hatte, um sieseiner Macht zu unterwerfen, deren Herr ist, d. h. ihre Zweckursache oderihr Ziel und Ideal, ihr Repräsentant oder ihr konzentrierter kollektiver Wille,und ihr Meister, der ihre spätere Evolution in seine Hände genommen hat.Nun, man muß wählen zwischen dem Ideal des Übermenschen, der „wieGott“ ist und Gott selbst.

Der heilige Gehorsam ist also die Treue zu dem lebendigen Gott; derAufruhr oder Ungehorsam ist die Parteinahme für das Ideal des Willens zurMacht – den Übermenschen.

Obwohl das sechste Arcanum des Tarot „Der Verliebte” nur dieVersuchung der Keuschheit hervorhebt, ruft es die ganze Ideenordnung derdrei Versuchungen und der drei Gelübde wach, da die drei Versuchungenim Paradies und diejenigen in der Wüste in Wirklichkeit untrennbar sind – sowie es auch die drei Gelübde sind. Denn man kann nicht „keusch“ sein,ohne arm und gehorsam zu sein, ebenso wie man nicht auf das göttliche Idealzugunsten des Ideals des Übermenschen verzichten kann, ohne gleichzeitig inden Bereich des Experimentierens zu fallen, wo es keine unmittelbare Gewißheitgibt, und in den Bereich des Gesetzes der Schlange, das folgendermaßenformuliert ist:

„Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Staub fressen alle Tage deinesLebens“ (Gen 3, 14),

d. h. in dem Bereich, wo es keine Gnade gibt.

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Doch welches ist die unmittelbare Konsequenz der zurückgewiesenenVersuchung? Die Erzählung des Evangeliums gibt darauf die Antwort:

„Da ließ ihn der Teufel, und siehe, Engel traten herzu und dienten ihm“ (Mt4, 11).

Diese Antwort gehört zur Ideenordnung und den Tatsachen des siebentenArcanums des Tarot „Der Wagen“, dessen Karte einen Mann von vorn zeigt,aufrecht auf einem Triumphwagen, der von zwei Pferden gezogen wird.

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Siebter Brief

DER WAGEN

Das Arcanum der Genesung

Die vierte Versuchung: Größenwahn, Hypertrophie des Selbstbewußtseins,Stolz – Verzicht und Lohn – Die Bewegungsweise der Engel – HeiligeStätten – Die sieben urbildhaften Wunder und die sieben Ich-bin-Worte –Der Individuationsprozeß – Archetypen – Bete und arbeite – Demut unddie ihr zugrunde liegende Erfahrung – Die Arcana des Tarot als Ideal undWarnung – „Herr der vier Elemente“ – Die Kardinaltugenden – Die dreiFormen mystischer Erfahrungen – Die beseligende Schau – Das Bündnisdes Überbewußten, Bewußten und Unbewußten – Das Gleichgewicht dersieben Kräfte.

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DER WAGEN

Das Arcanum der Genesung

„Da ließ ihn der Teufel, und siehe,Engel traten herzu und dienten ihm” (Mt 4, 11).

„Wenn der unreine Geist von dem Menschen ausgefahren ist,schweift er durch wasserlose Gegenden und sucht einen Ruheplatz.Und weil er keinen findet, sagt er: Ich will in mein Haus zurückkehren,das ich ver lassen habe .Und er kommt und findet es ausgefegt und geschmückt.Dann geht er hin und nimmt sieben andere Geis ter mit ,d ie noch schlimmer sind als er, und sie ziehen ein und wohnen darin.Und die letzten Dinge jenes Menschen werden ärger sein als die ersten“

(Lk 11, 24 ff).

„Ich bin im Namen meines Vaters gekommen,und ihr nehmt mich nicht an.Wenn ein anderer in seinem, eigenen Namen käme,den würdet ihr annehmen“ (Jo 5,43).

Lieber Unbekannter Freund,

das Arcanum „Der Wagen“ hat einen doppelten Aspekt, ebenso wie dievorhergehenden Arcana. Es stellt einerseits den dar, der die drei Versuchungengemeistert hat und den Gelübden des Gehorsams, der Armut und derKeuschheit treu geblieben ist: und es vergegenwärtigt andererseits die Gefahreiner vierten Versuchung, welche die feinste und intimste der Versuchungenund deren unsichtbare Synthese ist: die geistige Versuchung des Siegers durchseinen Sieg. Es ist die Versuchung, „in seinem eigenen Namen zu handeln“, d. h.als Meister zu agieren anstatt als Diener.

Das siebente Arcanum ist also das der Meisterschaft sowohl im Sinne derVollendung als auch im Sinne der Versuchung. Die drei Zitate aus demEvangelium, die sich am Kopf dieses Briefes befinden, zeichnen denGedankengang vor.

Paul Marteau sagt, der allgemeine und abstrakte Sinn der siebenten Karteliege darin, daß sie

„... das Inbewegungsetzen in die sieben Zustände darstellt, d. h. auf allenGebieten.“

Genau das haben wir soeben als Meisterschaft bezeichnet. DennMeisterschaft bedeutet nicht den Zustand, in welchem man bewegt wird,sondern denjenigen, in welchem man selbst in Bewegung setzt.

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Der Menschensohn widerstand dem Bewegtwerden durch die dreiVersuchungen in der Wüste; das hatte zur Folge, daß nun er Kräfte in Bewegungsetzte, die ihm dienten. „Da ließ ihn der Teufel, und siehe, Engel traten herzuund dienten ihm.“

Darin liegt ein weiteres Grundgesetz der geheiligten Magie. Man könnte esauf folgende Weise formulieren: Da das, was oben ist, so ist wie das, was untenist, setzt der unten geleistete Verzicht oben Kräfte der Erfüllung in Bewegung;ebenso setzt der Verzicht auf etwas, was oben ist, unten Kräfte der Erfüllung inBewegung.

Welches ist der praktische Sinn dieses Gesetzes?Wenn Sie hier unten einer Versuchung widerstehen oder auf eine begehrte

Sache verzichten, setzen Sie durch diese Tat Kräfte der Verwirklichung dessenin Bewegung, was oben dem entspricht, auf das Sie soeben unten verzichtethaben. Das ist, was der Meister mit dein Wort „Lohn“ andeutet, wenn er zumBeispiel sagt, daß man sich hüten soll, seine Gerechtigkeit vor den Menschenauszuüben, um von ihnen beachtet zu werden, denn:

„... sonst habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater, der im Himmel ist“ (Mt 6,1).

Lohn ist also die Handlung, die man oben in Bewegung setzt durch denVerzicht auf Wünsche nach Dingen hier unten. Es ist das „Ja“ von oben,welches dem „Nein“ von unten entspricht, und diese Entsprechung bildet eineGrundlage der magischen Realisation und ein Grundgesetz der Esoterik undchristlichen Hermetik.

Hüten wir uns, dies leicht zu nehmen, denn hier ist uns einer derHauptschlüssel der geheiligten Magie gegeben. Nicht der Wunsch bringt diemagische Verwirklichung, sondern gerade der Verzicht auf den Wunsch – denSie vorher gehegt haben, wohlgemerkt. Denn Verzicht aus Gleichgültigkeit hatkeinen moralischen, daher auch keinen magischen Wert.

Wünschen Sie und dann – verzichten Sie! Das ist die praktische magischeBedeutung des „Gesetzes“ des „Lohnes“. Zu sagen, daß man verzichten sollauf das, was man begehrt, läuft darauf hinaus zu sagen, daß man die dreiheiligen Gelübde – Gehorsam, Armut und Keuschheit – üben soll. Denn derVerzicht muß aufrichtig sein, damit er oben Kräfte der Verwirklichung inBewegung setzt, und er kann es nicht sein, wenn ihm Luft, Licht und Wärmeder heiligen Gelübde fehlen. Man muß sich also ein für allemal im klarendarüber sein, daß es keine wahre heilige Magie, Mystik, Gnosis oderHermetik geben kann außerhalb der drei heiligen Gelübde und daß das wahreSich-Üben in Magie im wesentlichen nur die Erfüllung der drei Gelübde ist.

Ist das hart? – Nein, es ist sanft, denn hierin liegt die „Konzentration ohneAnstrengung“, von der im ersten Brief die Rede war.

Verweilen wir jetzt etwas länger bei dem Text der Erzählung desEvangeliums, der sich auf das bezieht, was unmittelbar nach den dreiVersuchungen geschah. „Da ließ ihn der Teufel“ (τοτε άφίησιν αυτον ο διάβολος),sagt das Evangelium nach Matthäus, aber das Evangelium nach Lukas fügt

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hinzu: „für eine gewisse Zeit“. Nun geben diese hinzugefügten Worte Anlaß zuder Vermutung, daß noch eine Prüfung oder Versuchung – die vierte, die vielsubtiler und intimer ist – herankommen soll. Und diese nun gehört zu derUnterweisung des siebten Arcanums, das den gekrönten Menschen vorführt,welcher aufrecht auf einem Triumphwagen steht, der von zwei Pferdengezogen wird.

„Und siehe, Engel traten herzu ...“ (καί ίδου άγγελοι προσήλθον) d. h., daßsie sich jetzt nähern konnten, da der „Raum“, den sie für ihren Abstiegbenötigten, jetzt frei war. Warum und wie?

Die Engel (griechisch άγγελοι) sind Wesenheiten, die sich vertikalbewegen, d. h. von oben nach unten und von unten nach oben. „Sich bewegen“bedeutet für sie: „den Atem wechseln“, und „Entfernung“ läuft für sie auf dieZahl des veränderten Ein- und Ausatmens hinaus und auf die Intensität derdamit verbundenen Anstrengung. So würde zum Beispiel, wo wir sagen: „eineEntfernung von 300 km von der Erde“, der Engel sagen: „dreiaufeinanderfolgende Veränderungen der normalen Atmung in der Sphäre derEngel“. „Sich nähern“ bedeutet für einen Engel Atemwechsel; „sich nichtnähern können“ bedeutet, daß die „Atmosphäre“ der Sphäre, welcher er sichnähern will, so ist, daß er nicht mehr atmen kann und daß er „ohnmächtig“würde, wenn er in diese Sphäre einträte.

Darum konnten die Engel sich nicht dem Menschensohn nähern währendder Zeit, in welcher die konzentrierten Kräfte der irdischen Evolution – dieKräfte des Sohnes der Schlange – tätig waren. Sie „besetzten“ sozusagen denRaum rings um den Menschensohn derart, daß die Engel dort nicht atmen,also nicht dort eintreten konnten, ohne ohnmächtig zu werden. Sobald aber„der Teufel ihn ließ“ (Lk) und die Atmosphäre sich änderte, konnten sie sichnähern, und sie taten es.

Man kann als Folgesatz hinzufügen, daß das oben angedeutete „Gesetzder Anwesenheit“ uns einen triftigen Grund liefert, die Notwendigkeit vonKirchen, Tempeln und ganz allgemein von heiligen oder geweihten Ortenanzuerkennen. Es gibt noch andere Gründe, aber dieser würde genügen,selbst wenn es keine anderen gäbe, daß wir uns für den Schutz aller heiligenOrte einsetzen. Schützen wir also durch unsere Gedanken, Worte undHandlungen jede Kirche, jede Kapelle, jeden Tempel, wo man betet,verehrt, meditiert und Gott und seine Diener feiert!

„... Und sie dienten ihm“ (καί διηκονουν αυτω). Die Mehrzahl „sie“weist uns darauf hin, daß hier von drei Engeln die Rede ist. Jederbestandenen Versuchung entsprach ein Engel, der mit der besonderenAufgabe des Lohnes betraut war und einen besonderen Dienst erwies.Welches aber waren diese Dienste?

Er hatte sich geweigert, er, der hungrig war, zu befehlen, daß Steinezu Brot würden. Da war es das Brot gewordene „Wort, das aus dem MundeGottes kommt“, das der Engel der Armut ihm als Speise darbrachte.

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Er hatte sich geweigert, sich von der Zinne des Tempels zu stürzen. Dawar es der Hauch von der Höhe des Thrones Gottes, den der Engel derKeuschheit ihm brachte.

Er hatte sich geweigert, die Rolle des Übermenschen und des Fürstendieser Welt zu akzeptieren um den Preis der Anbetung des Ideals der Weltder Schlange. Da war es die königliche Krone der Welt Gottes, welche derEngel des Gehorsams ihm darbot.

Ebenso wie die drei Magier dem neugeborenen Kinde Gold, Weihrauchund Myrrhe als Geschenk darbrachten, ebenso boten die drei Engel demMeister nach seiner Taufe im Jordan und seiner Firmung in der Wüste dieKrone von Gold, den Hauch des Weihrauchs um den Thron Gottes unddas Nahrung gewordene göttliche Wort als Geschenk dar.

Dies geschah unmittelbar nach den drei Versuchungen in der Wüste. Eswar die Reaktion von oben auf den dreifachen Verzicht des Menschensohnesunten. Welches aber war die Auswirkung der überwundenen Versuchungennicht nur für den Überwinder allein und nicht nur unmittelbar danach,sondern auch für die äußere Welt der „vier Elemente“ und in der Folge derZeit?

Die Auswirkung davon war die Meisterung bzw. Beherrschung der Weltder Elemente, und was sich im Nachfolgenden ereignete, waren die siebenurbildhaften Wunder, welche das Johannesevangelium beschreibt, d. h. dasWunder der Hochzeit zu Kana, das Wunder der Heilung des Sohnes desköniglichen Beamten, das Wunder der Heilung des Gelähmten am TeicheBethesda, das Wunder der Brotvermehrung, das Wunder des Wandelnsauf dem See, das Wunder der Heilung des Blindgeborenen und das Wunderder Auferweckung des Lazarus in Bethanien. Der Offenbarwerdung dersieben Aspekte der Meisterschaft oder „Herrlichkeit“ entsprach diesiebenfache Offenbarung des Namens des Meisters: „Ich bin der wahreWeinstock“; „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“; „Ich bin dieTür“; „Ich bin das Brot des Lebens“; „Ich bin der gute Hirte“; „Ich bin dasLicht der Welt“ und „Ich bin die Auferstehung und das Leben“. Dies ist dersiebenfarbige Regenbogen der Offenbarung der „Herrlichkeit“ oder derMeisterschaft und die Oktave der sieben Töne der Offenbarung des„Namens“ oder der Mission des Siegers über die drei Versuchungen. Unddieser Regenbogen leuchtete rings um den leeren und dunklen Ort in derWüste auf, wo die drei Versuchungen stattgefunden hatten.

Die sieben Wunder des Johannesevangeliums sind in ihrer Gesamtheit die„Herrlichkeit“ (doxa) oder der Glanz des Sieges der drei heiligen Gelübdeüber die drei Versuchungen. Zugleich haben wir hier ein gutes Beispiel fürdie qualitative Mathematik: dreifach Gutes erzeugt, wenn es den Siegdavonträgt über dreifach Böses, siebenfach Gutes, während dreifach Böses,das über dreifach Gutes siegt, nur dreifach Böses erzeugt. Denn das Gute istqualitativ, und wenn es sich manifestieren kann, manifestiert es sich ganz inseiner unteilbaren Fülle. Das ist, was die Zahl sieben. eigentlich bedeutet –die Fülle (pleroma) oder, wenn sie sich manifestiert, die Herrlichkeit (doxa),

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von der der hl. Johannes sagt:

„... und wir haben seine Herrlichkeit geschaut“ (Jo 1, 14)

und:

„... aus seiner Fülle haben wir alle empfangen und (zwar) Gnade umGnade“ (Jo 1, 16).

Und das erste der Wunder, das der Hochzeit zu Kana, war der An- fangder Bekundung der Fülle oder Herrlichkeit:

„Diesen Anfang der Zeichen machte Jesus in Kana zu Galiläa undoffenbarte seine Herrlichkeit (doxa), und seine Jünger glaubten an ihn“ (Jo2, 11).

„Seine Jünger glaubten an ihn“ bedeutet, daß sie an seinen Namen oderseine Sendung glaubten, offenbart in sieben Aspekten durch die sieben „Ichbin“-Worte, welche oben aus dem Johannesevangelium zitiert wurden.

So war das Ergebnis der Versuchung in der Wüste die Offenbarung dersieben Aspekte der Meisterschaft oder der „Herrlichkeit“ (die siebenWunder) und die Enthüllung der Sendung oder des „Namens“ des Meisters.Und alles das war allein die Offenbarung der Herrlichkeit des Vaters durchden Sohn und die Offenbarung des Namens des Vaters durch den Namen desSohnes.

Die Möglichkeit der anderen „Herrlichkeit“ existiert gleichfalls: dieOffenbarung der Meisterschaft im eigenen Namen. Die Worte desMeisters am Kopf dieses Briefes:

„Ich hin im Namen meines Vaters gekommen, und ihr nehmt michnicht an. Wenn ein anderer in seinem eigenen Namen käme, den würdet ihrannehmen“ Jo 5, 43)

drücken es klar aus, und die Erfahrung im Bereich der okkultistischen,esoterischen, hermetischen, kabbalistischen, gnostischen, magischen,martinistischen, theosophischen, anthroposophischen, rosenkreuzerischen,templerischen, freimaurerischen, sufistischen, yogaistischen und anderenzeitgenössischen geistigen Bewegungen liefert uns reichlich Beweise, daßdiese Worte des Meisters noch nichts an Aktualität verloren haben – nichteinmal für die Wissenschaft und die scheinwissenschaftlichen sozialenund nationalen Bewegungen. Denn aus welchem anderen Grund geben z.B. die Theosophen den Mahatmas aus dem Himalaya (deren Astralleiberdurch Verdoppelung über eine große Entfernung hinweg erschienen oderdie mit Blau- oder Rotstift geschriebene Briefe herabwarfen) den Vorzugvor dem Meister, der niemals aufgehört hat, unter uns zu lehren, zuinspirieren, zu erleuchten und zu heilen, in unserer nächsten Nähe – inFrankreich, in Italien, in Deutschland, in Spanien, um nur die Länder zunennen, in denen es festgestellte Fälle der Begegnung mit ihm gegeben hat–, und der gesagt hat:

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„... ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt“ (Mt 28, 20)?

Aus welchem anderen Grund sucht man einen „Guru“ unter denhinduistischen Yogis oder den tibetischen Lamas, ohne sich auch nur halbsoviel Mühe zu geben, einen durch spirituelle Erfahrung erleuchtetenSeelenführer in unseren Klöstern, geistlichen Orden oder unter denLaienbrüdern und -schwestern zu suchen, welche die Lehre des Meistersvielleicht ganz nahe bei uns praktizieren?

Und warum betrachten die Mitglieder der Geheimgesellschaften undGeheimbruderschaften der freimaurerischen Richtung das Sakrament desFleisches und Blutes des Herrn als ungenügend für das Werk der Bildungdes Neuen Menschen, und warum suchen sie nach besonderen Ritualen, umes zu ergänzen oder sogar um es zu ersetzen?

Ja, alle diese Fragen fallen unter die Überschrift der Worte des Meisters:„Ich bin im Namen meines Vaters gekommen, und ihr nehmt mich nichtan; wenn ein anderer in seinem eigenen Namen käme, den würdet ihrannehmen.“ Warum? – Weil der Übermensch für gewisse Menschen mehrAnziehungskraft hat als der Menschensohn und er ihnen eine Karriere mitwachsender Macht verspricht, während der Menschensohn nur dieKarriere der Fußwaschung anbietet ...

Lieber Unbekannter Freund, legen Sie das, was ich soeben gesagt habe,nicht so aus, als stünde ich den erwähnten Gesellschaften, Bruderschaften,spiritualistischen und einweihenden Bewegungen ablehnend oder garfeindlich gegenüber, und verstehen Sie mich auch nicht so, als ob ich sieeiner antichristlichen Haltung beschuldigte. Legen Sie mir auch nichtMangel an Ehrfurcht vor den indischen Mahatmas und Gurus zur Last. Eshandelt sich hier um die rein psychologische Tendenz (die ich fast überallbeobachten konnte), welche das Ideal des Übermenschen dem Ideal desMenschensohnes vorzieht. Um den erwähnten Gesellschaften undBruderschaften gerecht zu werden, sollte man hinzufügen, daß, wenn dieseTendenz sich im Schoße dieser Gesellschaften und Bruderschaften desöfteren abzeichnet, sie auch fast überall auf mehr oder minder wirksame Artbekämpft wird. Es gibt immer eine Opposition zu dieser Tendenz, auchwenn diese Opposition manchmal nur in der Minderheit ist.

Wie dem auch sei, der Sieger des Arcanums »Der Wagen“ ist Sieger überdie Prüfungen, d. h. über die Versuchungen, und wenn er Meister ist, soist er es aus sich selbst. Er steht allein aufrecht in seinem Wagen; niemandist anwesend, um ihm Beifall zu spenden oder ihm zu huldigen; er hatkeine Waffen – das Zepter, das er hält, ist keine Waffe. Wenn er Meister ist,wurde seine Meisterschaft in der Einsamkeit erworben, und er verdankt sieallein den Prüfungen und nicht irgendeinem Umstande oder irgendwem vonaußen.

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Der in der Einsamkeit errungene Sieg ... Welche Herrlichkeit undwelche Gefahr enthält er zugleich! Er ist die einzige wirkliche Herrlichkeit,denn er hängt nicht von der Gunst oder von dem Urteil der Menschen ab; erist innerlicher Ruhm – das wirkliche Ausstrahlen der leuchtend gewordenenAura. Er ist jedoch gleichzeitig die realste und größte geistige Gefahr, die esgibt. „Hybris“ und „Stolz“, jene traditionellen Namen, die man dieserGefahr gibt, reichen nicht aus, um sie treffend zu bezeichnen. Sie ist mehrals das. Sie ist eher eine Art mystischer Größenwahn, wo man denbestimmenden Mittelpunkt seines eigenen Wesens, sein Ego, vergöttert, woman nur in sich selbst Göttliches sieht und wo man blind wird für dasGöttliche oberhalb und außerhalb seiner selbst. Man erfährt dann sein„höheres Selbst“ als das höchste und einzige Selbst der Welt, obwohl es nurdem gewöhnlichen empirischen Ich überlegen und weit davon entfernt ist,das Höchste und Einzige zu sein ... weit davon entfernt, Gott zu sein, mitanderen Worten ...

Es ist hier der Ort, um bei dem Problem der Identifizierung des Ich mitdem Selbst und des Selbstes mit Gott zu verweilen.

Nachdem C. G. Jung die „Freudsche“ oder sexuelle Schicht und die„Adlersche“ des Willens zur Macht im Unbewußten (d. h. im latenten oderokkulten Bewußtsein) des Menschenwesens untersucht hatte, fand er sichim Verlauf seiner klinischen Erfahrungen als Psychotherapeut einerspirituellen (mystischen, gnostischen und magischen) Schicht gegenüber.Anstatt ihr auszuweichen oder sich mit einer zersetzenden „Erklärung“von ihr zu befreien, hatte er den Mut und die Rechtschaffenheit, sich andas mühselige Studium der Phänomenologie dieser Schicht des Unbewußtenzu begeben. Diese Arbeit erwies sich als fruchtbar. Jung entdeckte dabeinicht nur die Ursachen bestimmter psychischer Störungen, sondern auchjenen tiefen und intimen Vorgang, den er als „Prozeß der Individuation“bezeichnete und der nichts anderes ist als die schrittweise Geburt einesanderen Ich (Jung nennt es das „Selbst“), das dem gewöhnlichen Ich oderEgo übergeordnet ist. Die Entdeckung des Prozesses der „zweiten Geburt“führte ihn dazu, die Skala seiner Forschungsarbeit beträchtlich zu erweitern,namentlich auf den Symbolismus, die Rituale der Mysterien und dasvergleichende Studium der zeitgenössischen und der alten Religionen.

Diese Erweiterung seines Forschungsbereiches erwies sich ebenfalls alsfruchtbar. Denn die Entdeckung C. G. Jungs (die ihn zunächst peinigte undihn fünfzehn Jahre daran gehindert hat, zu irgendeiner Menschenseeledarüber zu sprechen) hatte ihre Begleiterscheinungen, darunter dieErkenntnis. und Beschreibung einiger Gefahren oder Versuchungen, welcheder Weg der Einweihung und der Individuationsprozeß, der ihm entspricht,mit sich bringen. Eine dieser Gefahren – die zugleich Prüfungen oderVersuchungen sind – ist diejenige, die Jung mit dem Ausdruck „Inflation“bezeichnet, die den Zustand des bis zur Überspanntheit aufgeblähtenIchbewußtseins bedeutet und die in seiner äußersten Erscheinungsform inder Psychiatrie unter dem Ausdruck „Größenwahn“ bekannt ist.

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Wir haben es hier also mit einer Stufenfolge psychischer Phänomene zutun, deren Beginn sich durch relativ harmlose Formen ankündigt, wie einehohe, nicht ganz gerechtfertigte Meinung von sich selbst oder den etwasübertriebenen Wunsch, alles nach seinem eigenen Kopf zu machen, diegeradezu gefährlich werden, wenn sie sich als abwertende, negativeEinstellung aller Welt gegenüber bekunden und man dabei die Fähigkeit zurAnerkennung, Dankbarkeit und Verehrung allein auf sich selbst anwendet,und die schließlich eine kaum heilbare Katastrophe bedeuten, wenn siesich als Besessensein von leicht als solche zu durchschauenden Illusionenenthüllen – oder schlicht und einfach als Größenwahn.

Die wesentlichen Stufen der „Inflation“ sind also: übertriebenesWichtignehmen der eigenen Person, der Komplex der Überlegenheit mitNeigung zu Zwangsvorstellungen, endlich der Größenwahn.

Die erste Stufe bedeutet eine praktische Aufgabe für die Arbeit an sichselbst; die zweite Stufe ist eine ernste Prüfung, während die dritte dieKatastrophe ist.

Worum handelt es sich bei dem Prozeß der „Inflation“? – Sehen wir zuerst,was Jung selbst darüber sagt:

„Die ,übergeordnete Persönlichkeit’ ist der totale Mensch, nämlich so,wie einer wirklich ist, und nicht nur so, wie er sich vorkommt. ZurGanzheit gehört auch die unbewußte Seele, welche ihre Forderungen undLebensnotwendigkeiten hat wie das Bewußtsein (...) Ich bezeichne die,übergeordnete Persönlichkeit’ gewöhnlich als ,Selbst`, womit ich einescharfe Trennung mache zwischen dem Ich, das bekanntlich nur so weit wiedas Bewußtsein reicht, und dem Ganzen der Persönlichkeit, in welchesneben dem bewußten Anteil auch der unbewußte einbezogen ist. Das Ichsteht also dem ,Selbst` wie ein Teil dem Ganzen gegenüber. Insofern ist dasSelbst übergeordnet. Das Selbst wird auch empirisch nicht als Subjekt,sondern als Objekt empfunden, und zwar vermöge seines unbewußtenAnteils, der nur indirekt, nämlich via Projektion, zur Bewußtheit gelangenkann.“

Nun ist dieser „Weg der Projektion“ der lebendige Symbolismus,sowohl der traditionelle als auch der, welcher sich in Träumen, in der„aktiven Vorstellung“ und in Visionen kundtut. Wenn man über eine Serievon Träumen Betrachtungen anstellt, indem man Hunderte von ihnenzusammenstellt, zeigen die Träume, daß sie einer Art Plan gehorchen. Siescheinen sich einer dem anderen anzuschließen und in einem tieferen Sinneeinem gemeinsamen Ziel unterworfen zu sein,

„... so daß eine lange Traumserie nicht mehr als ein sinnlosesAneinanderreihen inkohärenter und einmaliger Geschehnisse erscheint,sondern als ein wie in planvollen Stufen verlaufener Entwicklungs- oderOrdnungsprozeß. Ich habe diesen in der Symbolik langer Traumserien sichspontan ausdrückenden unbewußten Vorgang als Individuationsprozeßbezeichnet.“

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Der Individuationsprozeß ist „die spontane Verwirklichung des ganzenMenschen“. Denn die von nun an gültige Formel für den Seelenbegriff ist:„Psyche = Ich-Bewußtsein + Unbewußtes“. Was die Rolle des Unbewußtenin dieser Formulierung betrifft, so muß man vor allem der TatsacheRechnung tragen,

„daß bei jedem Kinde das Bewußtsein im Verlaufe einiger Jahre ausdem Unbewußten herauswächst, sodann daß das Bewußtsein jeweils nurein temporärer Zustand ist, der auf einer physiologischen Höchstleistungberuht und daher regelmäßig durch Phasen des Unbewußtseins, d. h. desSchlafes, unterbrochen wird, und daß schließlich der unbewußten Psychenicht nur die längere Lebensdauer, sondern auch die Kontinuität desVorhandenseins zukommt.“

Nun ist der Individuationsprozeß der Vorgang der Harmonisierung desIchbewußtseins und des Unbewußten der Psyche. Aber

„Bewußtsein und Unbewußtes ergeben kein Ganzes, wenn das einedurch das andere unterdrückt und geschädigt wird.“

Es handelt sich um eine Harmonisierung, die nur realisierbar ist auf demWege der Umzentrierung der Persönlichkeit, d. h. der Geburt eines neuenZentrums der Persönlichkeit, das sowohl an der Natur des Ichbewußtseinswie an der des Unbewußten teilhat, eines Zentrums, mit anderen Worten,in dem ständig eine Umsetzung des Unbewußten in Bewußtsein stattfindet.Das ist das Ziel des Prozesses der „Individuation“, der zugleich eine Stufeder Einweihung ist.

Der „Individuations“prozeß geht, wie wir gesagt haben, durch dieHerstellung einer Zusammenarbeit zwischen dem Unbewußten und demBewußtsein vonstatten – und es ist der Bereich der Symbole, wo eine solcheZusammenarbeit gegeben ist, und wo sie infolgedessen beginnen kann. ImProzeß der „Individuation“ begegnet man – vielmehr erweckt man –Symbolkräfte, die Jung im Hinblick auf ihren urbildlichen Charakter mit demNamen „Archetypen“ bezeichnet.

„Der Archetypus nämlich – was man nie vergessen sollte – ist ein seelischesOrgan, das sich bei jedem findet. Eine schlechte Erklärung bedeutet eineentsprechend schlechte Einstellung zu diesem Organ, wodurch diesesbeschädigt wird. Der schließlich Leidtragende ist aber der schlechte Erklärer.Die ‚Erklärung’ sollte daher immer so ausfallen, daß der funktionale Sinndes Archetypus erhalten bleibt, d. h., daß eine genügende undsinnentsprechende Verbindung des Bewußtseins mit dem Archetypusgewährleistet ist. Letzterer nämlich ist ein psychisches Strukturelement unddaher ein vital nötiger Bestandteil des seelischen Haushaltes ... Für denArchetypus gibt es keinen ‚vernünftigen’ Ersatz, so wenig als für dasKleinhirn oder die Nieren.“

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Man soll also die Archetypen nicht leichtnehmen. Sie sind ungeheurepsychische Kräfte, welche das Bewußtsein überwuchern, überfluten undverschlingen können. Das geschieht im Falle der Identifikation desBewußtseins mit dem Archetypus. Dann bildet sich meistens eineIdentifikation mit der Rolle des Helden (oder – wenn es sich um densogenannten Archetypus „der weise Greis“ oder „die große Mutter“ handelt –eine Identifikation mit einer kosmischen Gestalt) heraus, eine ausverschiedenen Gründen sehr anziehende Identifikation.

„Diese Identität ist öfters sehr hartnäckig und für das seelische Gleichgewichtbedenklich. Gelingt die Auflösung der Identität, so kann sich die Gestalt desHelden, unter Reduktion des Bewußtseins auf menschliches Maß,allmählich bis zum Symbol des Selbstes differenzieren.“

Fügen wir hinzu, wenn sie nicht gelingt, nimmt die Gestalt des HeldenBesitz vom Bewußtsein. Dann findet die „zweite Identifikation“ oder dieEpiphanie des Heros statt.

„Die Epiphanie des Heros (zweite Identifikation) zeigt sich in einerentsprechenden Inflation: der unverhältnismäßige Anspruch wird zurÜberzeugung, daß man etwas Besonderes sei; oder die Unerfüllbarkeit desAnspruches beweist die eigene Minderwertigkeit, was die Rolle desheldenhaften Dulders (eine negative Inflation) begünstigt. Trotz ihrerGegensätzlichkeit sind beide Formen identisch, weil bewußtem Größenwahnunbewußte, kompensierende Minderwertigkeit, und bewußteMinderwertigkeit unbewußtem Größenwahn entspricht. (Man findet niedas eine ohne das andere.) Wird die Klippe der zweiten Identifikationglücklich umschifft, so kann das bewußte Geschehen vom unbewußtenreinlich getrennt, und das unbewußte Geschehen objektiv beobachtetwerden. Daraus ergibt sich die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit demUnbewußten und damit die der Synthese der bewußten und unbewußtenElemente des Erkennens und Handelns. Daraus wiederum entsteht dieVerschiebung des Persönlichkeitszentrums aus dem Ich in das Selbst.“

Das ist das Ziel des Individuationsprozesses.Nun ist die Inflation die Hauptgefahr, welche jeder läuft, der die

Erfahrung der Tiefe sucht, die Erfahrung dessen, was okkult ist und washinter der Fassade der Phänomene des gewöhnlichen Bewußtseins lebt undwirkt. Die Inflation bildet also die hauptsächliche Gefahr und Prüfung fürdie Okkultisten, Esoteriker, Magier, Gnostiker und Mystiker. Die Klösterund die geistlichen Orden wußten dies immer in Anbetracht des großenSchatzes an jahrtausendealter Erfahrung im Bereich des Tiefenlebens, den sieangesammelt haben. Darum ist ihre ganze geistige Praxis auf die Pflegeder Demut gegründet, und zwar durch Mittel wie geübten geistigenGehorsam, Gewissenserforschung, Beichte und brüderliche gegenseitigeHilfe der Mitglieder der Gemeinschaft.

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Wäre zum Beispiel Sabbatai Zwi (1625-1676) Mitglied eines geistigenOrdens gewesen, der eine ähnliche Schulung wie die geistlichen Orden undchristlichen Klöster gehabt hätte, so würde ihn seine Erleuchtung niemalsdazu geführt haben, sich (1648) einer Gruppe von Schülern als dererwartete Messias auszugeben. Er hätte sich auch nicht zum Türken machenmüssen, um sein Leben zu retten und um seine Mission fortzusetzen („Gotthat aus mir einen ismaelischen Türken gemacht; er hat befohlen und ichhabe gehorcht. Am neunten Tage nach meiner zweiten Geburt ...!“ schrieber an seine Getreuen nach Smyrna). Denn die positive Inflation wäre ihm erspartgeblieben, ganz wie es auch die negative Inflation geblieben wäre, worüberuns sein Jünger Samuel Gandur folgende Beschreibung hinterlassen hat:

„Man sagt von Sabbatai Zwi, daß er seit fünfzehn Jahren von Leidenfolgender Art niedergedrückt wird: es verfolgt ihn eine Depression, die ihmkeine Ruhe läßt und ihm nicht einmal zu lesen erlaubt, ohne daß er zu sagenvermochte, welcher Art dieser Angstzustand eigentlich sei, der über ihngekommen ist …“

Die Geschichte des erleuchteten Kabbalisten Sahbatai Zwi ist nur einextremer Fall der allgemeinen Gefahr oder Prüfung, der sich alle ausübendenEsoteriker stellen müssen. Was Hargrave Jennings über die Rosenkreuzersagt, drückt in der Tat auf glückliche Weise diese Gefahr oder Prüfung aus:

„Sie sprechen von der ganzen Menschheit als unendlich tief unter ihnenstehend; ihr Stolz geht über alle Vorstellung, obschon sie in ihrem Äußerensehr bescheiden und demütig sind. Sie rühmen sich der Armut und erklären, daßes der für sie bestimmte Stand sei, und dabei brüsten sie sich damit, dieUniversalreichen zu sein. Sie weisen alle menschlichen Leidenschaften ab oderunterwerfen ihnen als ratsame Ausflucht nur den Schein reizenderVerpflichtungen, die als zusagender Wechsel angenommen werden, oder alsPaß in einer Welt, die aus ihnen oder ihrem Trugbilde zusammengesetzt ist.Sie mengen sich recht anmutig unter die Gesellschaft der Frauen, jedoch mitHerzen, die in dieser Richtung zur Weichheit gänzlich unfähig sind; dabeikritisieren sie sie mitleidig oder verächtlich in ihrem eignen Innern als einevon den Männern völlig verschiedene Gattung von Wesen. Sie sind in ihremÄußern sehr einfach und nachgiebig, und doch hört der Eigenwert, der ihreHerzen füllt, mit seiner selbstverherrlichenden Ausbreitung erst an denendlosen Himmeln auf ... Im Vergleich zu den hermetischen Adepten sindMonarchen arm, und ihre größten Anhäufungen von Schätzen sind verächtlich.Neben ihren Weisen sind die gelehrtesten Leute reine Tölpel undDummköpfe... So sind sie gegen die Menschheit negativ; gegen alle Dingesonst positiv, im Selbst enthalten, selbst-erleuchtet, selbst alles; aber immerbereit (da es zur Pflicht gemacht), Gutes zu tun, wo immer es möglich oderrecht ist.

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Welchen Maßstab oder welche Würdigung kann man an diese ihreunmeßbare Erhebung ihres Ichs anlegen? Gewöhnliche Schätzungen versagen beider Vorstellung davon. Entweder ist der Stand dieser okkulten Philosophen derGipfel der Erhabenheit, oder er ist der Gipfel der Absurdität.“

Sagen wir: sowohl Erhabenheit als auch Absurdität, denn die Inflationist immer zugleich erhaben und absurd. Eliphas Lévi sagt darüber:

„Es gibt eine Wissenschaft, die den Menschen scheinbar übermenschlicheVorrechte verleiht. So fand ich sie in einem hebräischen Manuskript ausdem XVI. Jahrhundert aufgezählt: ...

א Aleph. – Er sieht Gott von Angesicht zu Angesicht, ohne zu sterben,und spricht vertraulich mit den sieben Genien, die die ganze himmlischeHeerschar befehligen.

ב Beth. – Er steht über aller Bekümmernis und Furcht.ג Ghimmel. – Er herrscht mit dem ganzen Himmel, und die ganze Hölle

dient ihm.ד Daleth. – Er verfügt über Gesundheit und Leben bei sich und anderen.ה He. – Durch kein Mißgeschick wird er überrascht, durch kein Unglück

niedergedrückt, durch keinen Feind besiegt.ו Vau. – Er kennt den Sinn von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.ז Dzain.. – Er kennt das Geheimnis der Auferstehung von den Toten und

besitzt den Schlüssel zur Unsterblichkeit.“

Handelt es sich hier um ein Programm oder um eine gelebte Erfahrung?Wenn es Erfahrung ist, ist es die der sehr weit vorangetriebenen Inflation.Wenn es ein Programm ist, wird derjenige, welcher es ernsthaft zuverwirklichen sucht, unweigerlich entweder der positiven Inflation(Überlegenheitskomplex) oder aber der negativen Inflation(Minderwertigkeitskomplex) zum Opfer fallen.

Wie dem auch sei, die Erfahrung oder das Programm des hebräischenManuskripts des 16. Jahrhunderts, das Eliphas Lévi zitiert, verrät einebemerkenswerte Ähnlichkeit mit der Erfahrung von John Custance, die dieserin seinem Werk beschreibt. Dort heißt es:

„Ich fühle mich Gott so nahe, so inspiriert durch seinen Geist, daß ich ineinem gewissen Sinne Gott bin. Ich sehe die Zukunft, ich mache den Plandes Universums, ich rette die Menschheit; ich bin absolut und völligunsterblich; ich bin zugleich männlich und weiblich. Das ganze Universum,das belebte und unbelebte, das Vergangene, gegenwärtige und zukünftige,ist in mir. Die ganze Natur und das ganze Leben, alle Geister wirken mitmir zusammen und sind mir verbunden; alle Dinge sind möglich. Ich bin ineinem gewissen Sinne identisch mit allen Geistern von Gott bis Satan. Ichbringe das Gute und das Böse in Einklang, und ich schaffe das Licht, dieFinsternis, die Welten, die Universen.“

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Der von John Custance beschriebene Zustand ist charakteristisch für die akuteManie, und der Autor selbst leugnet es keineswegs. Würde er ihn aber weiterhinso betrachten, so kann man sich fragen, wenn er wüßte, daß seine Erfahrungsich in der Brhadāranyaka Upanishad genau beschrieben findet, wo es heißt:

„Wer das Selbst gefunden hat und sich dessen bewußt geworden ist und indiese unerforschliche Wohnung eingetreten ist, ist der Schöpfer von allem, derSchöpfer der ganzen Welt; er ist die ganze Welt.“

Kann man indessen mit Gewißheit sagen, daß der angeführte Text derUpanishaden auf eine Erfahrung gegründet ist, die von der des John Custancevöllig verschieden ist?

Ich habe vor 38 Jahren einen ruhigen Menschen reifen Alters gekannt, deran der YMCA in der Hauptstadt eines baltischen Landes Englischunterrichtete. Er enthüllte mir eines Tages, daß er den geistigen Zustanderreicht habe, der sich durch den „ewigen Blick“ offenbart und welcher derjenigedes Bewußtseins von der Identität des Selbst mit der ewigen Wirklichkeit derWelt ist. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, gesehen vom Pfad derEwigkeit aus, wo sein Bewußtsein beheimatet war, erschienen ihm wie einoffenes Buch. Er hatte keine Probleme mehr, nicht weil er sie gelöst hätte,sondern weil er den Zustand des Bewußtseins erreicht hatte, wo sieverschwinden, weil sie ohne Bedeutung geworden sind. Denn Probleme gehörenin den Bereich der Bewegung in Zeit und Raum; wer sie transzendiert und imBereich der Ewigkeit und Unendlichkeit ankommt, wo es weder Bewegungnoch Veränderung gibt, ist frei von Problemen.

Als er mir von diesen Dingen sprach, strahlten seine schönen, blauen AugenLauterkeit und Gewißheit aus. Doch dieses Licht wich einer finsteren undunwilligen Miene, sobald ich die Frage gestellt hatte nach. dem Wert des„subjektiven Gefühls der Ewigkeit“, ohne objektiv etwas darüber hinaus zuwissen noch tun zu können, um der Menschheit zu helfen, sei es in ihremgeistigen oder sonstigen Fortschritt, sei es in ihrem geistigen, seelischen oderkörperlichen Leiden. Er hat mir diese Frage nicht verziehen, und sein mirzugewandter Rücken war sein letzter Eindruck von ihm in dieser Welt ... (Erbegab sich nach Indien, wo er bald darauf als Opfer einer Epidemie starb).

Ich erzähle diese Episode aus meinem Leben nur, lieber UnbekannterFreund, damit Sie wissen, wann und wie mir das sehr ernste Problem derFormen und Gefahren des spirituellen Größenwahns aufging und daß ich derobjektiven Erfahrung den Beginn der Arbeit über dieses Problem verdanke,von der ich hier einige Ergebnisse darlege.

Der spirituelle Größenwahn ist so alt wie die Welt. Sein Ursprung findet sich,gemäß der jahrtausendealten Tradition über den gefallenen Luzifer, oberhalb derirdischen Welt. Der Prophet Ezechiel gibt darüber die erschütterndsteBeschreibung:

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„Du warst ein Muster der Vollendung,Voll der Weisheit und vollendet schön.In Eden, dem Göttergarten, warst du,Edelsteine aller Art bedeckten dich,Karneol, Topas, Jaspis, Chrysolith, Onyx,Bergyll, Saphir, Karfunkel, Smaragd.Von Gold waren gearbeitet deine Tamburine und deine Flöten,am Tage deiner Erschaffung wurden sie bereitet.Zu einem schirmenden Kerub stelle ich dich,auf dem heiligen Gottesberge warst du,inmitten feuriger Steine gingst du einher ...Hochmütig war dein Sinnen geworden ob deiner Schönheit;du richtetest deine Weisheit zugrunde um deiner Schönheit willen.Um deiner vielen Schulden willen warf ich dich zur Erdehinab, machte dich zur Augenweide für Könige” (Ez 28, 12 ff 17).

Das ist der Ursprung der Inflation, des Überlegenheitskomplexes und desGrößenwahns oben. Und da „was unten ist, wie das ist, was oben ist“,wiederholt es sich unten im menschlichen irdischen Leben von Jahrhundert zuJahrhundert, von Generation zu Generation.

Es wiederholt sich vor allem im Leben solcher Menschen, die sich losreißenvom gewöhnlichen, irdischen Milieu und vom Bewußtseinszustand, der zudiesem gehört, und die beides transzendieren, sei es im Sinne der Höhe, derBreite oder der Tiefe. Wer nach einer höheren Ebene trachtet als der desirdischen Milieus, läuft Gefahr, hochmütig zu werden; wer die Breite jenseitsder Grenzen des normalen Umkreises seiner irdischen Pflichten und Freudensucht, läuft Gefahr, sich selbst für immer wichtiger anzusehen; wer auf derSuche nach der Tiefe ist, welche der Oberfläche der Erscheinungen desirdischen Lebens zugrunde liegt, läuft die größte Gefahr: die der Inflation, vonder C. G. Jung spricht.

Der abstrakte Metaphysiker, der die Welten ordnet nach einer selbstgewähltenOrdnung, kann jedes Interesse für das Besondere und Individuelle verlieren, sodaß er dazu kommt, die Menschen für fast ebenso unbedeutend anzusehen wiedie Insekten. Er betrachtet sie nur von oben herab. Von seiner metaphysischenHöhe aus gesehen, verlieren sie an Proportion und werden für ihn klein bis zurBedeutungslosigkeit – während er, der Metaphysiker, groß ist, da er an dengroßen Dingen der Metaphysik teilhat, die ihn mit Größe umkleiden.

Der Reformator, der die Menschheit verbessern oder retten will, fällt leicht derVersuchung zum Opfer, sich selbst als aktives Zentrum des passiven Umkreisesder Menschheit zu betrachten. Er fühlt sich als Träger einer Mission vonuniversaler Tragweite, weshalb er sich für immer wichtiger hält.

Der praktische Okkultist, Esoteriker oder Hermetiker (wenn er nichtpraktizierend ist, ist er nur Metaphysiker oder Reformator) experimentiert mithöheren Kräften, die jenseits seines Bewußtseins wirken und die in dieses

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eintreten. Um welchen Preis? – Um den Preis der Anbetung auf den Knien – oderaber um den Preis der Identifikation seiner selbst mit diesen Kräften, was in denGrößenwahn mündet.

Man spricht viel von den Gefahren des Okkultismus. Die schwarze Magiegilt gewöhnlich als größte Gefahr, vor welcher der Anfänger durch die„Meister“ gewarnt wird. Andere (vor allem Menschen, die sich mehr oderweniger in der Medizin auskennen) sehen sie in Störungen des Nervensystems.

Die Erfahrung von 43 Jahren praktiziertem Okkultismus (oder praktizierterEsoterik) hat mich jedoch gelehrt, daß die Gefahr des Okkultismus weder in derschwarzen Magie noch in Nervenstörungen liegt – wenigstens begegnet mandiesen Gefahren nicht häufiger unter Okkultisten als unter Politikern, Künstlern,Psychologen, Gläubigen und Agnostikern. Ich bin nicht imstande, irgendeinenschwarzen Magier unter den Okkultisten, die ich kenne, mit Namen zu nennen,während es mir nicht allzu schwerfallen würde, zum Beispiel einige Politikerzu nennen, die mit Okkultismus nichts zu tun hatten – die ihm sogar feindlichgegenüberstanden – und deren Einfluß und Wirkung voll und ganz mit demKonzept des „klassischen Schwarzmagiers“ übereinstimmen. In der Tat, ist esdenn schwierig, Politiker zu nennen, die einen unheilvollen, suggestiven Einflußauf die Volksmassen ausübten, indem sie sie verblendeten und sie zu Taten vonGrausamkeit, Ungerechtigkeit und Gewalt anstachelten, zu denen jeder einzelne,für sich genommen, unfähig gewesen wäre? Die durch ihren gleichsammagischen Einfluß die Menschen ihrer Freiheit beraubten und sie besessenmachten? Und ist eine Handlung, die andere Menschen ihrer moralischenFreiheit beraubt und sie besessen macht, nicht das Ziel und das eigentlicheWesen der schwarzen Magie?

Nein, lieber Unbekannter Freund, die Okkultisten – einschließlichderjenigen, welche die zeremonielle Magie praktizieren – sind weder Meisternoch Schüler der schwarzen Magie. Um die Wahrheit zu sagen, sie sinddiejenigen, die am allerwenigsten mit ihr gemein haben. Es ist wahr, daß sie –vor allem die Adepten der zeremoniellen Magie – oft Illusionen zum Opfer fallenund sich und andere täuschen, aber ist das schwarze Magie? Übrigens, wo kannman eine Gruppe von Menschen finden, die sich niemals täuscht? SelbstDoktor Faust, der einen Pakt mit dem Teufel schloß (und das betrifft allederartigen „Paktierer“, die alten und die modernen), wurde nur das naive Opfereines Schelmenstreiches von seiten des Mephistopheles (welcher der großeSchalk ist, wohlbekannt unter denen, die sich in der „okkulten Welt“auskennen); denn wie können Sie irgend etwas „verkaufen“, das Ihnenüberhaupt nicht gehört? Seine Seele hätte den Doktor Faust verkaufen können,aber niemals der Doktor Faust seine Seele, wie feierlich auch der Paktgeschlossen wurde, und gleichgültig, ob er mit Blut oder mit gewöhnlicherTinte geschrieben und unterzeichnet wurde.

Das ist die Art des Mephistopheles, denen eine Lektion zu erteilen, dieÜbermenschen sein wollen: er bringt das kindische Wesen ihrer Prätentionen ansTageslicht. Mag man auch die Naivität des armen Dr. Faust beklagen, sowird man doch dahin geführt, die „Methode des Schelmenstreichs“ des

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Mephistopheles als letztlich heilsam anzusehen. Denn was Mephistopheles tut(und andere Beispiele seiner Methode jüngeren Datums könnten zitiertwerden), ist, daß er das Lächerliche und Absurde der besagten„übermenschlichen“ Bestrebungen und Anmaßungen aufzeigt.

„Von allen Geistern, die verneinen,ist mir der Schalk am wenigsten zur Last“,

sagt Gott von Mephisto in Goethes Faust.Verurteilen also auch wir nicht den Schalk der geistigen Welt und vor allem,

haben wir keine Angst vor ihm. Verurteilen wir auch nicht den Doktor Faust,unseren Bruder, indem wir ihn der schwarzen Magie bezichtigen – wenn manschon anklagen muß, könnte man ihm höchstens kindliche Leichtgläubigkeitanlasten. Auf jeden Fall war er hundertfach unschuldiger der Menschheitgegenüber als unsere Zeitgenossen, welche die Atombombe erfunden haben – alsgute Bürger und Wissenschaftler.

Nein, weder schwarze Magie noch Nervenstörungen bilden die besonderenGefahren des Okkultismus. Seine Hauptgefahr, die jedoch nicht sein Monopolist, wird mit den drei Hauptbegriffen definiert: Überlegenheitskomplex, Inflation,Größenwahn.

In der Tat gibt es selten einen fortgeschrittenen Okkultisten, der nicht vondiesem moralischen Übel ergriffen ist oder es einmal in der Vergangenheitdurchgemacht hat. Die Tendenz zum Größenwahn zeigt sich des öfteren bei denOkkultisten. Das haben mich sowohl die Lektüre der okkultistischen Literatur alsauch Jahrzehnte persönlicher Beziehungen gelehrt. Es gibt viele Abstufungendieses moralischen Gebrechens. Es zeigt sich zunächst in einer angemaßtenSicherheit im Auftreten und in einer gewissen Lässigkeit, mit der man vonhöheren und heiligen Dingen spricht. Dann verrät es sich als „Besserwissen“ und„Alles-wissen“, d. h. in der Haltung des Meisters gegenüber jedermann.Endlich bekundet es sich als stillschweigende oder auch nicht stillschweigendeUnfehlbarkeit.

Ich will keine Stellen der okkultistischen Literatur zitieren noch Namennennen, noch biographische Tatsachen bekannter Okkultisten erwähnen, umdiese Diagnose zu beweisen oder zu illustrieren. Es wird ihnen nichtschwerfallen, lieber Unbekannter Freund, solche selbst im Überfluß zufinden. Meine Absicht ist einerseits, falsche Beschuldigungen gegenüberdem Okkultismus zurückzuweisen und andererseits die wirkliche Gefahr, dieder Okkultismus mit sich bringt, herauszustellen, damit man sich vor ihrhüte.

Was kann man gegen diese Gefahr tun, um seine moralische Gesundheitzu bewahren?

Der alte Spruch: „Ora et labora – bete und arbeite“ enthält die einzigeAntwort, die ich habe finden können. Anbetung und Arbeit bilden daseinzige Hilfsmittel, das ich kenne, das sowohl vorbeugend wie heilend wirktgegen Anwandlungen von Größenwahn. Man muß anbeten, was über unsist, und teilnehmen am allmenschlichen Bemühen im Bereich der objektiven

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Tatsachen, um die Illusionen in Schach zu halten über das, was man ist undwas man kann. Denn wer sein Gebet und seine Meditation auf das Niveauder reinen Anbetung erheben kann, wird sich immer des Abstandes bewußtsein, der den Anbetenden von dem Angebeteten trennt (und zugleich mitihm vereint). Er kommt also nicht in Versuchung, sich selbst zu verehren,was in letzter Analyse die Wurzel des Größenwahns ist. Er wird immer denUnterschied zwischen sich und dem Angebeteten im Auge behalten. Er wirdnicht, was er ist, verwechseln mit dem, was das angebetete Wesen ist.

Andererseits fällt derjenige, der arbeitet, d. h., der teilnimmt amallmenschlichen Bemühen, welches auf objektive und nachprüfbareErgebnisse hinzielt, nicht leicht der Illusion anheim bezüglich dessen, was erkann. So lernt zum Beispiel ein praktizierender Mediziner, der seine Machtzu heilen überschätzt, bald die wirkliche Grenze seines Könnens durch dasErleben seiner Mißerfolge kennen.

Jakob Böhme war Schuster und Erleuchteter. Er, der die Erfahrung derErleuchtung gehabt hatte (,,... ist mir die Pforte eröffnet worden, daß ich ineiner Viertelstunde mehr gesehen und gewußt habe, als wenn ich wäre vielJahre auf hohen Schulen gewesen ...“, schrieb er in einem Brief an denZollbeamten Lindner, „denn ich sah und erkannte das Wesen aller Wesen,den Grund und Ungrund ...“), schloß daraus keineswegs, daß er alsSchuster hinfort mehr könne als seine Zunftgenossen oder mehr, als er vorseiner Erleuchtung gekonnt hatte. Andererseits hatte ihn seine Erleuchtungdie Größe Gottes und der Welt gelehrt:

„... dessen ich mich so hoch verwunderte, wußte nicht, wie mirgeschah, und darüber mein Herz ins Lob Gottes wendete ...“,

was ihn mit Anbetung erfüllte („darüber mein Herz ins Lob Gottes wendete...“).

Die handwerkliche Arbeit und die Anbetung Gottes hatten also diemoralische Gesundheit von Jakob Böhme geschützt, und ich erlaube mirhinzuzufügen, daß meine Erfahrung im Bereich der Esoterik mich gelehrt hat,daß das, was im Falle Jakob Böhmes heilsam war, auch ausnahmslos für allediejenigen heilsam ist, die nach übersinnlichen Erfahrungen streben.

Anbetung und Arbeit – „Ora et labora“ – bilden also die bedingungsloseVoraussetzung, die „conditio sine qua non“, der praktischen Esoterik, um dieNeigung zum Größenwahn in Schach zu halten. Wohlgemerkt: um sie inSchach zu halten! Denn um gegen diese moralische Krankheit immun zuwerden, ist mehr vonnöten! Es bedarf der wirklichen Erfahrung einerkonkreten Begegnung mit einem Wesen, welches höher ist als Sie. Ichverstehe unter „konkreter Begegnung“ weder das Gefühl des „höherenSelbst“ noch das mehr oder weniger undeutliche Gefühl der „Gegenwarteines übergeordneten Wesens“, noch die Erfahrung des Stromes „derInspiration“, der Sie mit Leben und Licht erfüllt. – Nein, was ich unter„konkreter Begegnung“ verstehe, ist nichts anderes als eine wirkliche und

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wahrhaft konkrete Begegnung, d. h. von Angesicht zu Angesicht. Sie kanngeistig sein – von Angesicht zu Angesicht in einer Vision – oder auch konkretphysisch.

So begegnete die hl. Teresa von Avila (um nur ein Beispiel von mehrerenbekannten zu nennen) dem Meister, sprach mit ihm, erbat und empfingRatschläge und Hinweise von ihm in Dingen, die auf der Ebene objektiverGeistigkeit liegen (ja, die Spiritualität ist nicht ausschließlich subjektiv, siekann auch objektiv sein). Andererseits begegneten Papus und die Gruppeseiner okkultistischen Freunde Philipp von Lyon auf dem physischen Plan.Hier haben wir zwei Beispiele der konkreten Begegnung, wie ich sie verstehe.

Nun wird derjenige, welcher die Erfahrung der konkreten Begegnung miteinem höheren Wesen gehabt hat (einem Gerechten, einem Heiligen, einemEngel oder anderen hierarchischen Wesen, der Heiligen Jungfrau, demMeister ...), durch diese Tatsache selbst immunisiert gegen die Tendenz zumGrößenwahn. Die Erfahrung, dem Großen von Angesicht zu Angesichtgegenübergestanden zu haben, bringt notwendig völlige Heilung undImmunität in bezug auf jede Tendenz zum Größenwahn mit sich. Niemalskann ein menschliches Wesen, welches gesehen und gehört hat, sich selbstzum Idol machen. Mehr als das: das wahre und letzte Kriterium für dieWirklichkeit einer sogenannten „visionären Erfahrung“, d. h. bezüglich ihrerEchtheit oder Falschheit, ist in der moralischen Wirkung dieser Erfahrunggegeben, nämlich ob sie den Visionär demütiger oder anmaßender macht.Ihre Begegnungen mit dem Meister machten die hl. Teresa immer demütiger.Die irdische Erfahrung der Begegnung mit Philipp von Lyon machte Papusund seine okkultistischen Freunde demütiger. So waren diese beidenErfahrungen, so verschieden sie nach ihrem Subjekt und ihrem Objekt auchwaren, echt. Weder Papus hatte sich also über die geistige Größe desjenigengetäuscht, den er als seinen „geistigen Meister“ anerkannte, noch hatte sichdie hl. Teresa getäuscht in der Wirklichkeit des Meisters, den sie sah undsprechen hörte.

Lesen Sie die Bibel, lieber Unbekannter Freund, und Sie werden einegroße Anzahl anderer Beispiele für das folgende Gesetz finden: EchteErfahrung des Göttlichen macht demütig; wer nicht demütig ist, hat keine echteErfahrung des Göttlichen gehabt. Nehmen Sie die Apostel, die den Meister„gesehen und gehört“ haben, und die Propheten, die den Heiligen Israels„gesehen und gehört“ haben. Sie werden bei ihnen keinen Zug zur Tendenzder „Hybris“ finden, den Sie wohl bei so manchem gnostischen Gelehrtenfinden werden, der (folglich) nicht „gesehen und gehört“ hat.

Wenn es jedoch wahr ist, daß man „gesehen und gehört“ haben muß, umdie Lektion der Demut von Grund auf zu lernen, was soll man dann von denMenschen sagen, die „natürlicherweise“ demütig sind, und die nicht„gesehen und gehört“ haben?

Unbeschadet anderer auch gültiger Antworten scheint mir die Antwortrichtig, daß alle, die demütig sind, irgendwann und irgendwo gesehen undgehört haben, gleichgültig, ob sie sich daran erinnern oder nicht.

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Demut kann entweder die wirkliche (nicht intellektuelle) Erinnerungder Seele an eine geistige Erfahrung vor der Geburt sein, oder die Erinnerungeiner nächtlichen Erfahrung während des Schlafes, die im Bereich desUnbewußten bleibt, oder auch die Wirkung einer gegenwärtigen, bewußtenoder unbewußten Erfahrung, die man weder sich noch anderen eingesteht.Denn Demut ist – ganz wie die Barmherzigkeit – keine natürlicheEigenschaft der menschlichen Natur. Ihr Ursprung kann nicht im Bereichder natürlichen Evolution gefunden werden, d. h.,. daß es nicht möglich ist, sieals Frucht des Kampfes ums Dasein, der natürlichen Auslese oder desÜberlebens des Stärkeren auf Kosten des Schwächeren zu empfangen; denndie Schule des Kampfes ums Dasein erzeugt keine Demütigen; sie erzeugtnur Kämpfer, Krieger aller Art. Demut ist eine Eigenschaft, die man demWirken der Gnade zu verdanken hat, d. h., sie muß eine Gabe von oben sein.Nun sind die „konkreten Begegnungen von Angesicht zu Angesicht“, vondenen hier die Rede ist, immer und ohne Ausnahme Geschenke der Gnade,da sie Begegnungen sind, in denen das höhere Wesen sich aus eigenemAntrieb dem niederen Wesen nähert. Die Begegnung, die aus Saulus, demPharisäer, Paulus, den Apostel, machte, war nicht die Frucht seinerBemühungen: sie war eine Tat desjenigen, dem er begegnete. So ist es mitallen Begegnungen „von Angesicht zu Angesicht“ mit höheren Wesen. UnserAnteil dabei ist nur zu „suchen“, „anzuklopfen“ und zu „bitten“; dieentscheidende Tat aber kommt von oben.

Kehren wir nun zum Arcanum „Der Wagen“ zurück, dessen traditionelleBedeutung „Sieg, Triumph und Erfolg“ ist.

„Diese Bedeutung ergibt sich ganz natürlich aus dein Verhalten derPerson, und das stellt keinerlei Schwierigkeit dar”, sagt J. Maxwell.

Nun gibt es gleichwohl eine Schwierigkeit, nämlich die Beantwortung derFrage: Bedeutet das Kartenbild eine Warnung oder ein Ideal, oder beideszugleich?

Ich bin geneigt, in allen Arcana des Tarot gleichzeitig Warnungen undzu erreichende Ziele zu sehen – wenigstens haben die vierzig Jahre Studiumund Meditation des Tarot mich dies gelehrt.

So ist „Der Gaukler“ die Warnung vor dem intellektuellen Jonglieren dessich nicht um Erfahrung kümmernden Metaphysikers und vor derScharlatanerie in allen Schattierungen. Gleichzeitig lehrt er die„Konzentration ohne Anstrengung“ und den Gebrauch der Methode derAnalogie.

„Die Päpstin“ warnt uns vor den Gefahren des Gnostizismus, indem sieuns die Disziplin der wahren Gnosis lehrt.

„Die Kaiserin“ zeigt uns die Gefahren des Mediumismus und des Magismus,indem sie die Mysterien der geheiligten Magie enthüllt.

„Der Kaiser“ warnt uns vor dem Willen zur Macht und lehrt uns dieMacht des Kreuzes.

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„Der Papst“ warnt uns vor dem humanistischen Personalismus und demmagischen Pentagramm, in dem er kulminiert, indem er ihm den heiligenGehorsam und die Magie der fünf Wunden gegenüberstellt.

„Der Verliebte“ warnt uns vor den drei Versuchungen und lehrt uns diedrei heiligen Gelübde.

„Der Wagen“ endlich warnt uns vor der Gefahr des Größenwahns undbelehrt uns über den wahren Sieg, den das Selbst erringt. Der vom Selbsterrungene Sieg – das bedeutet das Gelingen des „Individuationsprozesses“nach C. G. Jung, oder das Gelingen des Werkes der wahren Freiheit, das dieFrucht der Katharsis oder Reinigung ist, die dem Photismos oder derErleuchtung vorangeht, auf die dann die Henosis oder Vereinigung folgt,gemäß der westlichen Einweihungstradition. Der „Triumphator“ desSiegeswagens kann also entweder einen an Größenwahn leidenden Krankenbedeuten oder aber einen Menschen, der die Katharsis oder Läuterung, dieerste der drei Stufen auf dem Einweihungswege, durchschritten hat.

Die These, die ich hier aufstelle, ist, daß auch die Karte des siebten Arcanums– wie alle anderen Karten der Arcana des Tarot – zwei Bedeutungen hat. DiePerson des siebten Kartenbildes bedeutet zugleich den „Triumphator“ undden Triumphator, d. h. den Größenwahnsinnigen und den geläutertenMenschen, der Herr seiner selbst ist. Wer ist dieser Mensch, Herr seinerselbst, Sieger in den Prüfungen? – Es ist der Mensch, der die vierVersuchungen in Schach hält – die drei in den Evangelien beschriebenen„Versuchungen in der Wüste“ ebenso wie die sie zusammenfassende vierteVersuchung der Hybris, das Zentrum des Dreiecks der Versuchungen – undder darum der Herr der vier Elemente ist, die das Fahrzeug seines Wesensbilden: Feuer, Luft, Wasser und Erde. „Herr der vier Elemente“ sein heißtschöpferisch sein im klaren, flüssigen und präzisen Denken; denn Kreativität,Klarheit, Flüssigkeit und Präzision sind die Offenbarungen der vier Elementeim Bereich des Denkens. Das heißt weiter, daß man ein warmes, weites, zartesund treues Herz hat, da Wärme, Weite, Sensibilität und Treue dieOffenbarungen der vier Elemente im Bereich des Gefühls sind. Das heißtendlich, daß man Eifer („homme de désir“), Weite, Geschmeidigkeit undBeständigkeit des Willens besitzt, denn dort offenbaren sich die vierElemente als Intensität, Weite, Anpassungsfähigkeit und Festigkeit.Zusammenfassend kann man sagen, daß der Herr der vier Elemente einMensch der Initiative ist, heiter, beweglich und fest. Er repräsentiert die viernatürlichen Tugenden der katholischen Theologie: Klugheit (prudentia),Stärke. (fortitudo), Mäßigkeit (temperantia) und Gerechtigkeit (iustitia) oderdie vier Kardinaltugenden Platons: Weisheit, Mut, Mäßigkeit undGerechtigkeit oder auch die vier Qualitäten des Sankarachaŷa: Viveka(Unterscheidungsvermögen), Vairagya (Gelassenheit), die „sechsKleinodien“ des rechten Verhaltens und das Verlangen nach Befreiung. Wieman auch die in Betracht kommenden vier Tugenden bezeichnen mag, immerhandelt es sich um die vier Elemente oder die Projektionen des HeiligenNamens: ;יהדה des Tetragrammaton, in der menschlichen Natur.

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Die vier Säulen, die den Baldachin auf dem von zwei Pferden gezogenenWagen der Karte des siebten Arcanums tragen, bedeuten also die vierElemente, im vertikalen Sinn genommen, d. h. in ihrer analogen Bedeutungdurch die drei Welten hindurch, die geistige, seelische und physische.

Und der Baldachin selbst, den die vier Säulen tragen, was bedeutet er?Es ist die Funktion des Baldachins, sofern man ihn als materiellen

Gegenstand nimmt, die Person, die sich unter ihm befindet, zu schützen. Er dientalso als Überdachung. In seinem geistigen Sinn genommen, zu dem man auf demWege der Analogie gelangt, drückt der Baldachin über einem Menschen,welcher eine gelbe Königskrone trägt, zwei gegensätzliche Dinge aus:entweder, daß der gekrönte Mensch ein Größenwahnsinniger ist, der sich imZustand der „splendid isolation“ befindet und der getrennt ist vom Himmeldurch den Baldachin, oder aber, daß der gekrönte Mensch ein in dasMysterium geistiger Gesundheit Eingeweihter ist und daß er sich nicht mit demHimmel identifiziert, da er sich des Unterschieds bewußt ist, der zwischenseinem Ich und dem, was oberhalb seiner ist, besteht. Mit anderen Worten, derBaldachin weist auf die Tatsachen und Wahrheiten hin, die ebenso demGrößenwahn wie der Demut zugrunde liegen. Da die Demut das Gesetz dergeistigen Gesundheit ist, schließt sie das Bewußtsein von Unterschied undAbstand zwischen dem Zentrum des menschlichen Bewußtseins und demZentrum des göttlichen Bewußtseins mit ein. Es gibt eine „Haut“ – oder einenBaldachin, wenn Sie so wollen – im Bewußtsein des Menschen, welche – ganzwie die Haut des menschlichen Körpers – das Menschliche vom Göttlichentrennt, indem sie diese gleichzeitig vereint. Diese „geistige Haut“ behütet diegeistige Gesundheit des Menschen, indem sie ihm nicht erlaubt, sichontologisch mit Gott zu identifizieren oder zu sagen: „Ich bin Gott – ahambrahmāsmi“, aber ihm gleichzeitig die Beziehung der Atmung gestattet, dieAnnäherungen und Entfernungen (die niemals Entfremdungen sind!), diezusammen das Leben der Liebe bilden. Das Leben der Liebe besteht ausAnnäherungen und Entfernungen in dem immer gegenwärtigen Bewußtseinder Nicht-Identität: sie ist analog dem Prozeß der Atmung, der aus Einatmenund Ausatmen besteht. Findet sich dies nicht in unvergleichlicher Art in demAuszug des 42. Psalmes ausgedrückt, der der 6. Satz der Messe ist:

„Emitte lucem tuam et veritatem tuam: ipsa me deduxerunt et adduxeruntin montem sanctum tuum, et in tabernacula tua – Send mir dein Licht unddeine Wahrheit, daß sie zu deinem heiligen Berg mich leiten und michführen zu deinen Hütten“?

Ja, das „Licht deiner Gegenwart (Annäherung) und die Wahrheit“, die ichdavon in mir empfange durch Reflexion (Entfernung) – führen uns „zudeinen Hütten.“

Deine Hütten ... sind das nicht Zelte, Baldachine, Altarhimmel, unterdenen das Menschliche sich in Liebe vereint mit dem Göttlichen, ohne sichmit ihm zu identifizieren noch von ihm absorbiert zu werden? Sind dieseHütten nicht aus der „Haut der Demut“ gebildet, die einzige, die uns

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schützt vor der Gefahr, die Liebe durch ontologische Identifikation zutöten, d. h. Identifikation des menschlichen Wesens mit dem göttlichenWesen („diese Seele ist Gott – ayam ātmā brahma“; „das Bewußtsein istGott – pragnanam brahma“) ebenso wie vor der Gefahr des geistigenGrößenwahns, der sich anmaßt, das Wesen Gottes anstatt sein Ebenbild zusein.

Es gibt drei Formen mystischer Erfahrung – die Erfahrung der Vereinigungmit der Natur, die der Vereinigung mit dem transzendenten menschlichenSelbst und die der Vereinigung mit Gott. Die erste Art der Erfahrung ist dieVerwischung des Unterschieds zwischen dem individuellen seelischenLeben und der umgebenden Natur. Lévy-Brühl nannte es „Participationmystique – mystische Teilhabe“, ein Begriff, den er beim Studium derPsychologie der Primitiven geprägt hat. Dieser Begriff bezeichnet denZustand des Bewußtseins, wo die Trennung zwischen dem bewußten Subjektund dem Objekt der äußeren Welt verschwindet und wo Subjekt und Objekteins werden. Diese Art der Erfahrung liegt nicht allein dem Schamanismusund dem Totemismus der Primitiven zugrunde, sondern auch dem sogenannten„mythogenen“ Bewußtsein, das die Quelle der natürlichen Mythen ist,ebenso wie jedem glühenden Wunsch von Dichtern und Philosophen nachVereinigung mit der Natur (siehe Empedokles, der sich in den Krater des Ätnastürzte, um sich mit den Elementen der Natur zu vereinigen). Die Wirkungvon Pyotl, Mescalin, Haschisch, Alkohol usw. kann manchmal (aber nichtimmer und nicht bei jedem!) der „mystischen Teilhabe“ analogeBewußtseinszustände hervorrufen.

Der charakteristische Zug dieser Art Erfahrung ist der Rausch, d. h. diezeitweilige Verschmelzung des Ich mit Kräften außerhalb desIchbewußtseins. Die dionysischen Orgien der Antike beruhten auf derErfahrung des „geheiligten Rausches“, der durch die Aufhebung derUnterscheidung zwischen Ich und Nicht-Ich hervorgerufen wurde.

Die zweite Form der mystischen Erfahrung ist diejenige destranszendenten Ich oder des Selbst. Sie besteht in der Trennung desgewöhnlichen empirischen Ich von einem höheren Ich, das oberhalb ist vonallein, was sich bewegt, und von allem, was zum Bereich von Raum und Zeitgehört. Das höhere Ich wird also als unsterblich und frei erfahren.

Wenn die „Naturmystik“ durch Rausch gekennzeichnet ist, so ist imGegensatz dazu der charakteristische Zug der Mystik des Selbst diefortschreitende Ernüchterung mit dem Ziel völliger Nüchternheit. Die auf diemystische Erfahrung des Selbst gegründete Philosophie, die dies in reinsterArt darstellt und es am wenigsten durch Hinzufügung von gewagtenintellektuellen Spekulationen entstellt, ist die der indischen Schule vonSamkhya. Dort wird das individuelle purusha in seiner Trennung von prakriti(d. h. dein Zusammenspiel von Bewegung, Raum und Zeit) als unsterblichund frei erfahren. Obwohl dieselbe Erfahrung sich im Kern des Vedantafindet, begnügen sich die Vedantisten nicht mit dieser unmittelbarenErfahrung, die nicht weniger und nicht mehr lehrt, als daß das wahre Ich des

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Menschen unsterblich und frei ist, sondern sie fügen das Postulat hinzu, daßdieses höhere Ich Gott ist („ayam ātmā brahma – diese individuelle Seele istdas Absolute“). Samkhya dagegen bleibt in den Grenzen der Erfahrung deshöheren Ich als solchem und verneint keineswegs die Vielheit der purushas(d. h. die Vielheit der höheren unsterblichen und freien Iche), noch erhebt esdas individuelle purusha in die Würde des Absoluten – was ihm eingebrachthat, als atheistisch betrachtet zu werden. Es ist atheistisch, wenn mandarunter das freie Eingeständnis versteht: „Ich habe keine Erfahrung gehabtvon irgend etwas Höherem als das unsterbliche und freie Ich; wenn ich michan die Erfahrung halte, was kann ich in Aufrichtigkeit darüber sagen?“Samkhya ist keine Religion und verdient also nicht, als atheistisch eingeordnetzu werden, ebensowenig wie es z. B. die Schule der modernen Psychologievon Jung verdient. Andererseits: kann man es denn als Beweis für denGlauben an Gott betrachten, wenn dem höheren Ich des Menschen dieWürde des Absoluten zugeschrieben wird?

Die dritte Art mystischer Erfahrung (der hier gebrauchte Ausdruck„mystisch“ umfaßt die eigentliche mystische und die gnostische Erfahrungals Einheit) ist die des lebendigen Gottes, des Gottes Abrahams, Isaaks undJakobs der jüdisch-christlichen Tradition, des Gottes des hl. Augustinus,des hl. Franziskus, der hl. Teresa, des hl. Johannes vom Kreuz derchristlichen Tradition und des Gottes der Bhagavadgita, des Ramanuja, desMadhva und des Caitanya der hinduistischen Tradition. Dort handelt es sichum die Vereinigung mit Gott in der Liebe, welche die substantielle Dualitätimpliziert, die sich in essentieller Übereinstimmung befindet.

Diese Erfahrung hat als charakteristischen Hauptzug die Synthese vonRausch der Naturmystik und Nüchternheit der Mystik des höheren Ich. Dervon der Tradition geprägte Ausdruck für den Zustand, in dem sich derglühende Enthusiasmus und der tiefe Friede gleichzeitig manifestieren, istjener der „Glückseligkeit“ (beatitudo) oder der „beseligenden Schau“(visiobeatifica). Die beseligende Schau impliziert die Zweiheit des Schauenden unddes Geschauten auf der einen Seite und ihre Einheit oder ihre innerlicheÜbereinstimmung in der Liebe auf der anderen Seite. Darum drückt dieserBegriff auf bewundernswert klare und präzise Weise das Wesen dermystisch-theistischen Erfahrung aus: die Begegnung der Seele mit Gott vonAngesicht zu Angesicht in der Liebe. Diese Erfahrung ist um so erhabener,je vollständiger die Unterscheidung und je vollkommener die Vereinigungist. Darum stellt die heilige Kabbala in den Mittelpunkt der geistigenErfahrung das heilige Antlitz (Arich Anphin) des Alten der Tage, und darumauch lehrt sie, daß die höchste Erfahrung des menschlichen Wesens – ebensowie die erhabenste Form des Todes eines Sterblichen – erreicht wird, wennGott die menschliche Seele umarmt.

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„Als unser Vater Abraham es verstanden hatte und als er all dasbetrachtete, prüfte, vertiefte, verstand, bildete, eingravierte undzusammenstellte, offenbarte sich ihm der Meister des Universums (‘adonhakol) – gesegnet sei sein Name –, nahm ihn auf seinen Schoß, umarmte seinHaupt und nannte ihn seinen Freund ...“

sagt darüber das Sepher Yetzirah. Und Johannes vom Kreuz spricht vonseinen Erfahrungen der göttlichen Gegenwart in den Zelten der Liebe nurin der Sprache der Liebe.

Die drei Formen mystischer Erfahrung haben ihre Gesetze der Hygieneoder ihre „Zelte“ oder „Häute“. Sie fallen unter das Gesetz der Mäßigkeitoder des Maßes. Andernfalls bedrohen die Raserei der Akuten Manie, derGrößenwahn und die völlige Entfremdung von der Welt (ίδιωτεία) ihre jeweiligen Anhänger.

Harnisch, Baldachin und Krone sind die drei Symbole des heilsamen Maßesin den Erfahrungsbereichen der Natur-Mystik, der menschlichen Mystik undder göttlichen Mystik.

Nun trägt „Der Triumphator“ des siebten Arcanums einen Harnisch, erbefindet sich unter einem Baldachin und er ist gekrönt. Dies ist der Fall,damit er sich nicht verliert in der Natur, damit er Gott nicht verliert im Erlebenseines höheren Ich und damit er die Welt nicht verliert in der Erfahrung derLiebe Gottes. Er hält die Gefahren der Raserei, des Größenwahns und derÜberspanntheit in Schach. Er ist gesund.

„Der Triumphator“ des siebten Arcanums ist der wahre Adept derHermetik, d. h. Schüler der zugleich göttlichen, menschlichen und natürlichenMystik, Gnosis und Magie.

Er läuft nicht; er steht aufrecht. Er sitzt nicht, versunken in Meditation; erhält ein Zepter, das ihm dazu dient, die beiden Pferde, das rote und dasblaue, zu zügeln, die seinen Wagen ziehen. Er ist nicht abwesend,eingetaucht in exaltierte Ekstase; er ist auf dem Wege und im Fortschreiten,indem er stehend auf seinem Fahrzeug verharrt. Die beiden Pferde, das blaueund das rote, haben die Anstrengung des Gehens übernommen. Dieinstinktiven Kräfte des „Ja“ und des „Nein“, der Anziehung und derAbstoßung, des arteriellen und des venösen Blutes, des Vertrauens und desMißtrauens, des Glaubens und des Zweifels, des Lebens und des Todes, der„Rechten“ und der „Linken“ endlich, symbolisiert durch die Säulen Jakin undBoas, sind in ihm zu bewegenden Kräften geworden, die seinem Zeptergehorchen. Daß sie ihm aus eigenem Antrieb dienen, macht ihn zu ihremwahren Herrn. Er vertraut sich ihnen an und sie sich ihm – das istBeherrschung gemäß der Hermetik. In der Hermetik bedeutet nämlichBeherrschung nicht Unterjochung des Niederen durch das Höhere, sondernBündnis des Überbewußten, des Bewußten und des Unterbewußten oderInstinktiven. Das ist das hermetische Ideal des Friedens im Mikrokosmos –das Urbild des Friedens in der in Rassen, Nationen, Klassen undGlaubensgemeinschaften getrennten Menschheit.

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Dieser Friede ist das Gleichgewicht oder die Gerechtigkeit, wo jede einzelneKraft, die teilhat am Leben des Mikrokosmos, ihren rechten Platz im Lebendes gesamten seelischen und physischen Organismus zugewiesen bekommenhat.

Nun, das Gleichgewicht oder die Gerechtigkeit ist Gegenstand desfolgenden, des achten Arcanums „Die Gerechtigkeit“, das das Thema desnächsten Briefes sein wird.

Wenn man die praktische Lehre – es ist immer der praktische Aspekt, deruns vor allem beschäftigt – des siebten Arcanums des Tarot zusammenfaßt,kann man sagen: Der ,;Triumphator“ ist der „Genesende“, – d. h., der„Triumphator“ hat triumphiert über die Krankheit oder die Störung desgeistigen, seelischen und körperlichen Gleichgewichts, was besagt, daß er zugleicher Zeit der „Gerechte“ ist oder derjenige, der über die vier Versuchungentriumphiert, indem er den drei heiligen Gelübden treu geblieben ist, ebenso wieihrer Wurzel und ihrer Synthese – der Demut. Das wiederum bedeutet, daß er„der freie Mensch“ oder „Herr“ ist. Er ist frei von den Einflüssen derastrologischen „Planeten“, die in unserer Zeit von C. G. Jung in Gestalt des„kollektiven Unbewußten“ mit seinen (sieben!) seelischen Hauptkräften oder„Archetypen“ wiederentdeckt worden sind. Er ist Herr der „Archetypen“ (oder„astrologischen Planeten“ bzw. der „Archonten“ der alten Gnostiker), des„Schattens“, der „Persona“, des „Animus“ und der „Anima“, des „weisen Greises“oder „Vaters“, der „Mutter“ und sogar des „Selbst“, oberhalb dessen das „Selbstder Selbste“ oder Gott ist. Mit anderen Worten, er hält die Einflüsse in Schach,insofern sie unheilvoll sind, von Mond, Merkur, Mars, Venus, Jupiter, Saturn undsogar der Sonne, von der er weiß, daß über ihr die „Sonne der Sonnen“ oderGott existiert. Er ist nicht ohne Planeten, Archetypen oder Archonten – ganzwie er nicht ohne Erde, Wasser, Luft und Feuer ist, denn diese bilden zusammendasjenige, was man im Okkultismus den „Astralleib“ oder Seelenleib nennt. DerSeelenleib ist insofern ein Leib, als er aus den kollektiven unbewußten oder„planetarischen“ seelischen Kräften zusammengesetzt ist. Die astrologischenPlaneten und die Archetypen von Jung bilden den Stoff des seelischen oderastralischen Leibes. „Der Triumphator“ des siebten Arcanums ist also der Herrdes Astralleibes.

Herr des Astralleibes. Herr der sieben Kräfte, die ihn bilden, indem er sieim Gleichgewicht hält.

Welches ist nun die achte Kraft, die die sieben Kräfte des Astralleibes imGleichgewicht hält?

Das achte Arcanum des Tarot „Die Gerechtigkeit“ gibt uns Antwort aufdiese Frage.